Schlagwort: Trauer

Über zwei Menschen, die einander Halt geben, in einer Zeit, die haltlos ist – Leseprobe aus „Es sind nur wir“ und Auszug aus dem „Wörterbuch der Verluste“ von Martin Peichl

Er ist ehemaliger Informatiklehrer, arbeitet an der Entwicklung von Computerspielen und schreibt; schreibt an seinem „Wörterbuch der Verluste“, in dem er festhält, was im Laufe der Zeit verloren gehen kann; schreibt von den Haaren, der Stimme, dem Verstand. Er taumelt durch eine Welt, die immer kurz vor der nächsten Katastrophe steht, verdrängt, womit er sich nicht beschäftigen will. Doch dann trifft er auf die Prepperin Mascha. Gemeinsam ziehen sie sich mehr und mehr zurück, in Maschas Haus auf dem Land … Martin Peichl vermag es, in poetischer, dichter Sprache von einem Alltag zu erzählen, der weit entfernt und doch so unglaublich nah scheint, vom Zustand unseres Planeten, von ständigen Krisen und einem Zurechtfinden der Menschen und Tiere in dieser Umgebung. Eindrücklich schreibt er über Trauer und Trost, Liebe und Freundschaft – und über ein Dasein, das gelebt werden will, gelebt werden muss, trotz aller Widerstände.

/01/ irreversible physikalische Prozesse

Wir beobachten tagtäglich irreversible physikalische Prozesse. In meiner Wohnung häuten sich Spinnen. Ihre Netze wirken verlassen, aufgegeben. Sie sammeln Staub, manchmal zittern sie gespenstisch im Luftzug. Gespenstisch auch das Licht, das durchs Fenster in die Wohnung sickert und sich in die Pfandflaschen hineinzwängt, wo langsam ein paar Tropfen Bier aufgewärmt werden, die zusammen vielleicht noch für einen letzten Schluck gereicht hätten.

Der Probealarm erinnert mich daran, dass ich meine Pflanzen gießen sollte. Zum An- und Abschwellen der Sirenen fülle ich die Gießkanne mit Wasser, bewege mich von Raum zu Raum, denke, wie unwahrscheinlich grausam es wäre, wenn sich tatsächlich eine Katastrophe ereignet hätte, und der Probealarm legt sich über den echten Alarm, weil irgendwo ein Atomkraftwerk explodiert oder der Krieg unerwartet ein paar hundert Kilometer näher gerückt ist, und die Menschen gießen Blumen, hängen Wäsche auf, skippen zum nächsten Song in der Playlist, während der Wind die Strahlung vor sich hertreibt, während Raketen starten, während Raketen einschlagen.

Mein Blick fällt auf die gebrochenen Sonnenstrahlen in den leeren Bierflaschen, ich drücke zwei Schmerztabletten aus der Blisterpackung, denke: Selfcare. Mein Handydisplay leuchtet auf, Sophia schreibt, dass sie mich liebt, ich dich auch, antworte ich und zünde mir eine Zigarette an. Die Tage sind zum Verwechseln ähnlich, seit ich nicht mehr in die Schule muss, die Tage sind austauschbar, aber ich weiß nicht, was ich lieber hätte stattdessen.

Die Schulleiterin war sichtlich erleichtert, als ich mit dem ausgefüllten Antrag auf Dienstfreistellung in ihr Büro gekommen bin, kaum Platz genommen, hatte ich auch schon ihre Unterschrift. Alles Gute für Ihr Projekt, hat sie gesagt und mir die Hand geschüttelt, ich musste fest zugreifen, um nicht abzurutschen.

Alles Gute für dein Buch, hat Sandra dann später zu mir gesagt, mich lange umarmt, und komm unbedingt zur Weihnachtsfeier. Nicht, wenn ich es verhindern kann, antworte ich. Sandra lacht, sie weiß, worauf ich anspiele. Unsere Weihnachtsfeiern sind eine Ausrede für schlechte Musik, für zu viel Alkohol und einmal zu eng mit dem jungen Kollegen tanzen, sich einmal zu oft von der älteren Kollegin mit nach Hause nehmen lassen. Die Kollegin mit der Puppensammlung. Ob sie zuschauen dürfen, habe ich sie gefragt, als sie mich an den in einer Vitrine ausgeleuchteten Puppen vorbei zu ihrem Bett geführt hat. Es ist nicht bei diesem einen Mal geblieben, wir brauchen schon lange keine Weihnachtsfeier mehr, um Sex zu haben.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich das Unterrichten vermisse. Aber nur das Läuten der Schulglocke am Stundenende fehlt mir, ein akustisches Signal, dass man etwas geschafft hat. Dass es okay ist, zusammenzupacken und zu gehen. Es war nie leicht für mich, über meinen Beruf zu sprechen. Die wenigsten Menschen haben eine konkrete Vorstellung davon, was im Informatikunterricht passiert. Also hatte ich mir eine Standardantwort zurechtgelegt: Die Kunst ist, die Nullen und die Einsen zu verstecken.

Auf meinem Schreibtisch liegt das Kuvert mit dem Befund. Ich habe den Brief wieder zusammengefaltet und in den Umschlag gesteckt. Am liebsten würde ich ihn zurück in den Briefkasten legen. Wie geht es dir heute, schreibt Sophia, wie geht es deinem Wörterbuch? Mein Wörterbuch ist in Wahrheit ein Zettelkasten. Auf Karteikarten sammle ich Geschichten über das Verlieren und habe in den letzten Jahren immer wieder die Idee geäußert, daraus ein Buch machen zu wollen, ein Wörterbuch der Verluste, habe in zu kurzer Zeit zu vielen verschiedenen Menschen von meinem Vorhaben erzählt, jetzt denken sie, ich würde tatsächlich daran arbeiten. Manchmal, an Tagen mit Sirenenalarm zum Beispiel, überkommt mich das Bedürfnis, die Karteikarten zumindest zu sortieren. Mir ein Ordnungssystem zu überlegen, das nicht nur für mich Sinn ergibt.

Ich ziehe ein paar Karten heraus, es fällt mir schwer, meine eigene Handschrift zu entziffern, nicht alle Einträge habe ich nüchtern verfasst, ich stecke sie wieder zurück und setze mich an den Computer, um nachzusehen, was heute im Workflow auf mich wartet. Seit ich nicht mehr unterrichte, arbeite ich ein paar Stunden in der Woche für ein Entwicklerstudio, das gerade sein erstes Videospiel veröffentlicht hat. Zu meinen Aufgaben gehört es, die neuesten Patch-Notes zu kommunizieren, auf unserer Website und in diversen Foren. Die anderen im Team sind gut darin, Bugs und Glitches zu beseitigen, ich muss nur die richtigen Worte dafür finden. Sie haben mir eine Liste geschickt mit allen Änderungen, ab morgen soll die neue Version zum Download angeboten werden. Ich beschließe, mich später darum zu kümmern.

Ich stelle fest, dass ich nur die Hälfte meiner Pflanzen gegossen habe. An manchen Tagen bin ich mir nicht sicher, ob ich eine Aufmerksamkeitsstörung habe oder mich einfach nicht einlassen will. Auf diese Welt, dieses Leben. Ich zünde mir eine Zigarette an, rauche zum Fenster hinaus, in einem der Innenhofbäume haben Vögel ihr Nest gebaut. Vögel, hat mir einer der Programmierer gesagt, findet er am schwierigsten. Er kennt kein Videospiel, das sie auch nur ansatzweise überzeugend darstellt. An diesen Satz denke ich oft. Und dem Rauch von der ausgedämpften Zigarette wachsen Federn.


Aus dem „Wörterbuch der Verluste“

den Faden verlieren
Ich weiß noch nicht, wo dieser Text hinführt. Womöglich in ein Labyrinth. Was gäbe ich für einen Ariadnefaden, für einen klaren Anfang, ein eindeutiges Ende.
Stell dir eine Datingshow vor: Zehn Männer werben um eine Frau, müssen aber vorher durch ein Labyrinth gehen, dort etwas umbringen für sie, anschließend wieder rausfinden. Je nachdem, wie sympathisch und attraktiv sie die Männer findet, gibt sie ihnen mehr oder weniger Meter Faden mit auf den Weg. Und wenn sie es richtig anstellt, wenn sie sich nicht verrechnet hat, überlebt ihr Favorit. Oder zumindest einer, der ihr halbwegs gefällt.
Eine besondere Form des Irrgartens ist das Spiegelkabinett. Aber nicht die nach innen oder außen gewölbten Spiegel mit ihren Verzerrungen machen uns zu schaffen. Es sind die ebenen Flächen, die wir kaum aushalten, wo jeder auftreffende Lichtstrahl den Spiegel im selben Winkel auch wieder verlässt und wir uns eingestehen müssen: Ja, das sind wir.

 

den Verstand verlieren
Es sind nicht die Windmühlen, gegen die Don Quijote anreitet, seine Riesen, die sich bei mir eingebrannt haben, sondern sein Kampf gegen die Weinschläuche über seinem Bett, sein nächtliches Fuchteln und Schlitzen, die Rotweinspritzer, die er für Blut hält. Zurück bleiben ein überschwemmtes Gästezimmer und Don Quijotes vorübergehender Triumph über die Monster, die er überallhin mitnimmt.
Wir nennen Menschen verrückt, die nicht an dem Platz bleiben wollen, den wir ihnen zugewiesen haben. Wie ein Gegenstand, den man verlegt hat, den man nicht wiederfindet, nicht mehr braucht.
Wenn ich Wein trinke, merke ich, wie die Welt mit jedem Schluck weniger schief wird, bis zu einem bestimmten Punkt, dann kippt sie wieder, jetzt in die andere Richtung. Die Kunst ist: die Balance zu finden, zwischen zu viel und zu wenig Alkohol, zwischen zu vielen Riesen und zu wenigen Windmühlen.

 

Final Girl
Die letzte Überlebende in Horrorfilmen. Ihre Rolle ist es, bis zum Showdown durchzuhalten, bis zur letzten Konfrontation mit dem Killer, der nach und nach ihre Freundinnen und Freunde umgebracht hat.
Das Final Girl ist intelligent und trickreich, am Schluss ist sie die Einzige, die von den Ereignissen berichten kann, eine durch das erlebte Trauma nur eingeschränkt verlässliche Erzählerin. Bei mehrteiligen Filmreihen ist sie außerdem das Bindeglied zum Sequel. Es gibt aber keine Garantie, dass sie auch einen zweiten, einen dritten Film überlebt.
Ich frage mich, wie viele letzte Überlebende es geben kann, was passiert, wenn für denselben Film versehentlich zwei Final Girls gecastet werden.

 

sich verrechnen
Die Existenz einer Hälfte suggeriert die Existenz einer zweiten. Warum sie getrennt wurden, ist nicht immer klar. Ebenso wenig, ob sie zusammengeführt wieder ein Ganzes ergeben. Umgangssprachlich nehmen wir es nicht so genau, da gibt es auch Hälften, die nicht gleich groß sein müssen. Oder wir reden von einer besseren Hälfte. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass es auch schlechtere geben muss.
Eine mathematische Anwendung, die ich mir von Julian abgeschaut habe, ist das sogenannte Bisektionsverfahren. Es erleichtert die Lösung eines Problems, indem man es in zwei etwa gleich große Teilprobleme zerlegt, die wiederum zerteilt werden können. Bis man vor lauter kleinen und kleinsten Problemen steht und vergessen hat, was man ursprünglich lösen wollte. Vielleicht habe ich das Prinzip aber auch falsch verstanden.

 

aus den Augen, aus dem Sinn
Als 1982 das Videospiel E.T. the Extra-Terrestrial floppt, nachdem das Entwicklungsteam nur fünf Wochen Zeit hatte, um das Spiel rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft fertigzubekommen, bleibt Hersteller Atari auf 3,5 Millionen unverkauften Modulen sitzen. Um vom kommerziellen Misserfolg abzulenken und Lagerkosten zu sparen, werden diese ein Jahr später großteils geschreddert, der Rest bei einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf einer Deponie vergraben.
2014 werden ein paar Hundert Stück ausgegraben und im Internet versteigert. Der höchste bei der Auktion erzielte Preis für eines der Spiele ist 1 535 Dollar, ein Vierzigfaches von dem, was es zum Erscheinungstermin gekostet hat. Falls mich jemand fragt, was ich mir zu Weihnachten, was ich mir zum Geburtstag wünsche.

 



„Gewalt ist ein Mittel, um Frauen auf die ihnen zugeschriebene Rolle zu verweisen.“ – Interview mit dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser

Bist du schon einmal alleine unterwegs gewesen – nur du und die Angst, dir könnte genau jetzt etwas passieren? Etwas Schreckliches, angetan von einem anderen Menschen? Wenn du eine Frau bist oder einer in dieser Hinsicht vulnerablen Gruppe, wie zum Beispiel queeren Menschen, angehörst, kennst du dieses Gefühl mit sehr großer Wahrscheinlichkeit. Dabei ist das Gewaltrisiko in den eigenen vier Wänden statistisch gesehen am größten. Aktuelle Untersuchungen ergeben: Jede dritte Frau in Österreich ist von körperlicher und/oder sexueller Gewalt innerhalb oder außerhalb von intimen Beziehungen betroffen. Was wird dagegen unternommen? Wir haben uns mit dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser darüber unterhalten.

Eure Arbeit erstreckt sich von der Frauenhelpline über Aufklärungsarbeit in verschiedensten Formen bis hin zur Umsetzung von EU-weiten Projekten und Kampagnen. All dies eint das Ziel, über das Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder zu informieren und dafür zu sensibilisieren. Diese angesprochene Gewalt ist dabei sehr vielschichtig und komplex und wirkt sich auf das ganze Leben der Betroffenen aus. Könnt ihr uns erklären, was es für Frauen und auch Kinder bedeutet, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein?

Frauen sind vielen verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt: körperlicher, sexueller, psychischer und ökonomischer Gewalt sowie Gewalt im Internet, die natürlich auch in vielen Fällen ineinandergreifen. Sich in einer gewalttätigen Beziehung wiederzufinden ist ein schleichender Prozess, die Gewalt nimmt oft mit der Zeit an Häufigkeit und Schwere zu. In dieser Gewaltspirale wechseln sich Phasen der Kontrolle, Einschüchterung, emotionaler Erpressung/Missbrauch und Aggression mit Phasen von Entschuldigungen und Versprechung von Wiedergutmachung seitens des Täters ab. Den Betroffenen wird auch durch teilweise subtile Manipulationen des Täters die Schuld an seinem Verhalten zugeschoben. Besonderer Gefahr sind Frauen in der Trennungsphase ausgesetzt, in dieser Zeit finden besonders häufig auch Femizide und Fälle von schwerer Gewalt statt. Betroffene Frauen befinden sich oftmals in prekären Abhängigkeitsverhältnissen, vor allem auch, wenn gemeinsame Kinder da sind und es kaum Zugang zu leistbarem Wohnen gibt. All das lässt die Aussage, sich doch „einfach zu trennen“, nicht legitimieren, die schmerzhafte Realität gewaltbetroffener Frauen wird dadurch verharmlost. Die Trennung von einem gewalttätigen Partner ist ein langwieriger, belastender Prozess, sowohl in ökonomischer, juristischer, emotionaler und psychischer Hinsicht. Darüber hinaus ist die Trennung die gefährlichste Phase für eine gewaltbetroffene Frau – zu diesem Zeitpunkt werden die meisten Morde an Frauen durch einen gewalttätigen Partner begangen. Kinder sind bei häuslicher Gewalt immer mit betroffen – entweder direkt, indem sie selbst Misshandlungen ausgesetzt sind, oder indirekt, weil sie die Gewalt, die ihre Mutter erleiden muss, hautnah mitbekommen.

Häufig wird betont, dass Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem ist, bei dem gerade auch staatliche Institutionen nicht genug sensibilisiert sind oder sogar an der Reproduktion von Strukturen beteiligt sind, in denen diese Gewalt möglich ist. Welche strukturellen und politischen Veränderungen müssen stattfinden, um Frauen vor Gewalt zu schützen? 

Eigentlich haben wir in Österreich gute Gesetze zum Schutz vor Gewalt, jedoch werden diese oft nicht wirksam angewendet oder ausgeschöpft, z.B. werden gefährliche und polizeibekannte Gewalttäter oft nur auf freiem Fuß angezeigt oder sogar freigesprochen, was oft zu schwereren Gewalttaten bis zu Femiziden führt. Obwohl immer mehr Frauen den Mut aufbringen, Anzeige gegen ihre Misshandler zu erstatten, bleibt die Tat für die Gewaltausübenden leider nach wie vor oft ohne ernsthafte Konsequenzen.
Für eine echte Gleichstellungs- und Gewaltschutzpolitik wäre das Wichtigste eine langfristige und gesicherte Finanzierung. Das Budget des Frauenministeriums und spezifisch der Bereich für Gewaltprävention ist grundsätzlich (auch im Vergleich zu anderen Ressorts und Ministerien) viel zu niedrig. Angesichts der immens hohen Folgekosten von Gewalt braucht es eine Erhöhung der Mittel für das Frauenministerium. Dringend finanziert werden müsste z.B. auch eine langfristige österreichweite Bewusstseinskampagne gegen Gewalt an Frauen, besonders auch für die breitere Bekanntwerdung der Nummer der Frauenhelpline (0800 222 555). Darüber hinaus benötigt es 3000 neue Vollzeitstellen im Gewaltschutzbereich und für Betreuung und Begleitung der betroffenen Frauen und ihrer Kinder.
Frauen werden in unserer Gesellschaft strukturell abgewertet – frauenspezifische Tätigkeiten wie Care-Arbeit, also Kindererziehung, Haushalt oder die Pflege kranker oder älterer Angehöriger, werden schlecht bis gar nicht entlohnt. Oft sind diese Tätigkeiten unsichtbar und werden als selbstverständlich hingenommen. Es findet eine Ausbeutung dieser reproduktiven Tätigkeiten statt, die oft rund um die Uhr geleistet werden. An diesen Ausbeutungsverhältnissen gilt es anzusetzen, es muss eine gerechte Entlohnung, z.B. in Pflegeberufen, gewährleistet werden und eine gesellschaftliche Aufwertung dieser Tätigkeiten stattfinden.

Um betroffenen Frauen wirkungsvoll helfen zu können, braucht es Wissen – Wissen um diese strukturellen Probleme und um die Faktoren, die Gewalt gegen Frauen begünstigen. Wann sind Frauen, wann bin ich selbst besonders gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden?

Gewalt an Frauen passiert überall auf der Welt und ist ein weltweites Problem. Sie kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor und hängt weder mit Einkommen oder Bildung, noch mit der Herkunft oder Staatszugehörigkeit zusammen – Frauen bzw. Migrantinnen aus anderen Herkunftsländern sind also generell nicht häufiger von Gewalt betroffen, jedoch haben es gewaltbetroffene Migrantinnen aufgrund von prekären Lebensumständen (Flucht, etc.) besonders schwer, sich aus einer Situation häuslicher Gewalt zu befreien. Diese Faktoren bzw. Hindernisse machen die Situation von gewaltbetroffenen Migrantinnen im Vergleich zu betroffenen Österreicherinnen schwieriger.

Ein besonders wichtiger Faktor, um der Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken bzw. sie zu verhindern, ist die Prävention gegen Gewaltbereitschaft. Was sind eurer Meinung nach sinnvolle Präventionsmaßnahmen?

Wie in anderen Ländern leben wir auch in der österreichischen Gesellschaft in einem Patriarchat. Gewalt ist ein Mittel, um Frauen auf die ihnen zugeschriebene Rolle zu verweisen.
Es fehlen langanhaltende, flächendeckende und umfassende Kampagnen zum Thema Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, um das Bewusstsein und das Wissen in der breiten Bevölkerung zu erhöhen. Eine gute und effektive Maßnahme, um patriarchalen und frauenverachtenden Einstellungen in der Gesellschaft entgegenzuwirken, sind möglichst flächendeckende Präventionsworkshops und Seminare in Schulen zu häuslicher Gewalt und Geschlechtergerechtigkeit, besonders auch für Burschen zu den Themen toxische Männlichkeit und stereotypische Frauen- und Männerbilder, um Gewalt schon im Vorhinein zu verhindern.

Viele betroffene Frauen schämen sich für das, was ihnen passiert, oft kommt es zu einer Täter-Opfer-Umkehr und sie sind gesellschaftlichen Verurteilungen ausgesetzt. Wie kommt es zu den vielen Vorurteilen, mit denen dieses Thema behaftet ist, und wo muss hier ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden? Wie kann das am besten gelingen?

Trotz aller Fortschritte seit den 1970er Jahren ist das Thema geschlechtsspezifische Gewalt leider immer noch mit Scham assoziiert. Es wird selten darüber gesprochen und oft bekommen die Betroffenen vom Umfeld keinen Rückhalt, sie werden noch immer für die Tat des Mannes verantwortlich gemacht (sogenanntes victim blaming). Das hat leider oft zur Folge, dass sich gewaltbetroffene Frauen keine Hilfe holen.
Patriarchale Vorstellungen von Geschlecht spielen dabei ebenfalls eine große Rolle. Wir haben in Österreich seit Jahren Regierungen mit Beteiligung (rechts-)konservativer Parteien – im rechten bzw. konservativen politischen Spektrum wird Gewalt an Frauen verharmlost und oft als ein „importiertes Problem“ dargestellt. Gewalt von Männern gegenüber Frauen wird immer noch viel zu oft im Sinne eines patriarchalen Männlichkeitsbildes mit „Männer sind halt so“ abgetan und verharmlost und diese Männer werden auf diese Weise nicht zur Verantwortung für ihr eigenes Verhalten gezogen.
Auch verbale Gewalt an Frauen wird oft gesellschaftlich toleriert und Hass im Netz hat sich in den letzten Jahren deutlich gesteigert. Hierbei hat die Verrohung der Sprache im Umgang und Diskurs deutlich zugenommen. Gewalt durch Worte ist auch psychische Gewalt und der Weg von der psychischen Gewalt zur körperlichen Gewalt ist oft ein kurzer.
In der Berichterstattung der Medien über Gewalt an Frauen, besonders im Boulevard, werden leider nach wie vor immer wieder patriarchale Klischees reproduziert. Immer noch werden Fälle von Gewalt von Männern an Frauen als „Familientragödie“, „Beziehungsdrama“ oder „Einzelfall“ verharmlost sowie der Täter entschuldigt. Von den Medien wünschen wir uns, dass Journalist*innen sich über verantwortungsvolle und sensible Berichterstattung zum Thema Gewalt an Frauen und Kindern informieren – z.B. über den vom Verein AÖF erstellten Leitfaden zu verantwortungsvoller Berichterstattung – und diese auch anwenden.

Gemeinsam mit diesem Umdenken muss auch das Gespür dafür geschärft werden, wo jede*r einzelne aktiv werden kann. Wie übernimmt man als Einzelperson Verantwortung und kann betroffenen Frauen am besten helfen?

Um gesellschaftliche Veränderungen zu schaffen, braucht es flächendeckende langfristige Bewusstseinsarbeit. Das kann u.a. durch Projekte, wie das Nachbarschaftsprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ erreicht werden, das der Verein AÖF aktuell in mehreren Wiener Bezirken und an insgesamt 25 Standorten in ganz Österreich durchführt.
„StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ ist ein nachhaltiges und zukunftsorientiertes Gesamtpaket in der Gewaltprävention, das alle Menschen, insbesondere Nachbar*innen einlädt und befähigt, sich aktiv gegen Femizide und gegen häusliche Gewalt an Frauen und Kindern zu engagieren. Es richtet sich explizit und direkt an die Zivilgesellschaft, bindet diese aktiv ein und weist ihnen konkrete und anwendbare Handlungsmöglichkeiten auf, um sie zu involvieren und zu zeigen, was jede*r Einzelne*r beitragen kann. Durch das Aufzeigen von Unterstützungsmöglichkeiten klärt StoP auf, was bei Verdacht auf Partnergewalt zu tun ist, wie sich Nachbar*innen selbst schützen und wie sie Gewalt verhindern können. Nachbar*innen können z.B. die Gewalthandlung unterbrechen, indem sie anläuten und nach etwas Unverfänglichem fragen (z.B. Zucker ausleihen). Auf diese Weise wird dem Täter signalisiert, dass die Nachbarschaft mithört und der Betroffenen wird signalisiert, dass sie nicht allein ist. Nachbar*innen verbünden sich mit anderen Personen, wie Familie und Freund*innen, informieren sich und überlegen, wie sie helfen können. Zudem können Nachbar*innen betroffene Frauen und Kinder niederschwellig über wichtige Notrufnummern, wie z.B. die Frauenhelpline 0800 222 555, Anlaufstellen, etc. informieren. StoP ermutigt Personen, eine klare Haltung gegen (häusliche) Gewalt/Partnergewalt einzunehmen, genau hinzuschauen und zivilcouragiert zu handeln. Entsprechend ist StoP auch ein Appell an die österreichische Zivilgesellschaft, sich aktiv einzusetzen und sich eindeutig und klar gegen Gewalt an Frauen und Kindern zu positionieren. Mehr Informationen auf stop-partnergewalt.at.

 

Es gibt zahlreiche Initiativen und Plattformen, die über häusliche Gewalt informieren und Hilfe bieten. Hier ein paar davon:

Das Start-Up Frontline entwickelt Trainings und digitale Tools für Betroffene und jene, die mit Opfern häuslicher Gewalt in Kontakt stehen.

SOS@Home bietet Aufklärungsarbeit sowie ein Netzwerk aus Hilfeleistenden und Initiativen.

In Deutschland:

Das bundesweite Hilfetelefon richtet sich an Frauen*, die Gewalt erfahren haben, aber auch Angehörige sowie Freund*innen werden anonym beraten. Es ist jederzeit und kostenfrei unter +49(0)8000 116 016 erreichbar.

Hier können Frauenhäuser und Fachberatungsstellen in ganz Deutschland gesucht werden.

In Österreich:

Frauenhelpline gegen Gewalt, rund um die Uhr, anonym, kostenlos und mehrsprachig: 0800 222 555 www.frauenhelpline.at

Onlineberatung für Mädchen und Frauen im HelpChat, täglich 18-22 Uhr und jeden Freitag von 9-23 Uhr, mehrsprachig: www.haltdergewalt.at

Frauenhäuser bieten Frauen*, die häusliche Gewalt erleben, und ihren Kindern eine sichere Wohnmöglichkeit. Frauenhäuser sind für alle Gewaltopfer offen, unabhängig von Nationalität, Einkommen oder Religion.

Das Nachbarschaftsprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ setzt da an, wo häusliche Gewalt passiert, am Wohnort, in der Nachbarschaft, und hilft, häusliche Gewalt früh zu erkennen und zu unterbrechen.

BAKHTI – EmPOWERmentzentrum für gewaltbetroffene Mädchen* mit einem Zusatzangebot für mitbetroffene Burschen*: www.bakhti.at  und www.burschen.bakhti.at

Infowebsite für Kinder und Jugendliche: www.gewalt-ist-nie-ok.at

„Ich lese täglich Lyrik. Wie andere morgens ihre Yoga-Übungen machen, ziehe ich einen Band mit Gedichten aus dem Regal“ – Sabine Gruber im Interview

Über Lesen als Yoga, Schreiben als Bedürfnis, Recherche als diffuses Schnüffeln und was es eigentlich bedeutet, den Nachlass einer Autorin zu betreuen. Über diese Dinge haben wir mit der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin Sabine Gruber gesprochen, die gerade ihren 60. Geburtstag gefeiert und ihren neuen Roman „Die Dauer der Liebe“ veröffentlicht hat. Im folgenden Interview gibt sie uns einen spannenden Einblick in ihre literarische Arbeit, ihre Inspirationen und ihren kreativen Prozess.

Wir gratulieren Ihnen  ganz herzlich zu Ihrem 60. Geburtstag dieses Jahr. Im Laufe Ihres erfolgreichen literarischen Schaffens haben Sie Erzählungen, Romane, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke und Essays veröffentlicht und waren zudem als Universitätslektorin tätig. Gab es gewisse Meilensteine oder Herausforderungen, die Sie als Schriftstellerin besonders geprägt haben? Und: Was hat Sie ursprünglich zu dieser Berufswahl inspiriert?

Vielen Dank für die Glückwünsche!

Mit Sicherheit war der RAI-Kurzgeschichten-Preis 1985 eine Ermunterung weiterzuschreiben. Und als ich nach dem Studium als Lektorin an der Universität Venedig tätig war, stellte mir mein ehemaliger Diplomarbeit-Betreuer, Professor Sigurd Paul Scheichl, die richtigen Fragen, ob ich denn die Universitätslaufbahn einschlagen oder doch lieber schreiben wolle. Er verstand früher als ich, daß beides gleichzeitig nicht möglich ist.

An einem der ersten Schultage im Gymnasium wurden wir gefragt, warum wir uns für das Humanistische Gymnasium (mit Latein und Altgriechisch) entschieden hätten. Meine Antwort war damals schon, im Alter von 14 Jahren, ich wolle Journalistin oder Schriftstellerin werden. Es gab keine „Inspiration“ zu dieser Berufswahl, es war auch keine „Wahl“, es war vielmehr ein Bedürfnis, ein Verlangen, mich auszudrücken, zu lesen, die eine Welt, aus der ich kam, zu überwinden, neue auszudenken, mich in anderen, mir fremden Bücher-Welten aufzuhalten.

Welche Bücher oder Autor*innen haben Sie in den Anfängen Ihres Schreibens besonders fasziniert? Welche tun es heute? (Wie) Hat sich Ihre Einstellung zum Schreiben verändert?

Ich komme aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, ich las, was ich zwischen die Finger bekam: Bücher aus der Schulbibliothek und Pfarrbücherei, Bücher von meinem Vater (Karl May, Ernst Hemingway, Joseph von Eichendorff usw.), Zeitschriften und Magazine, auch die Regenbogenpresse, da meine Großmutter einen Zeitungsladen besaß und bei uns von der Illustrierten Quick (gibt es seit 1992 nicht mehr) bis zu den Comic-Heften alles herumlag. Heute lese ich nur mehr Bücher, die literarisch wertvoll sind. Sobald ich sprachliche und/oder formale Mängel bemerke, lege ich ein Buch weg. Mit 60 gilt es keine Zeit zu verlieren. Zuletzt hatte ich fast alle Bücher von Anne Carson und Maggie Nelson gelesen, aber auch die Essays von Lukas Bärfuss, der sich den radikalen Blick „von unten“ bewahrt hat.

 

Foto von Till Raether

© privat

Trauer, Verlust und Schmerz sind zentrale Motive in Ihrer Lyrik. Finden Sie, die Lyrik eignet sich besonders gut dafür, mit diesen Themen umzugehen und diese Emotionen zu verarbeiten? Wo liegen Ihrer Meinung nach die Stärken (oder auch Schwächen) der Lyrik im Vergleich zu anderen literarischen Gattungen?

Vor allem der vorletzte Lyrikband war eine Art Requiem auf meinen verstorbenen Lebensgefährten Karl-Heinz Ströhle. Der letzte Band „Am besten lebe ich ausgedacht“ besteht auch aus Reisegedichten, die sich mit bestimmten Orten, Bauten etc. auseinandersetzen.  Ob ich Lyrik oder Prosa schreibe, hat meist profane Gründe: Für die Romane bedarf es eines langen Atems, der Konzentration, der ökonomischen Sicherheit – Lyrik entsteht meist zwischen größeren Projekten. Ich möchte die Gattungen gar nicht gegeneinander ausspielen. Die Themen der Literatur ändern sich nicht, es gilt neue Formen zu finden, sowohl in der Lyrik, wo ich für mich zuletzt die Zwischenform „Journalgedicht“ gefunden habe, als auch in der Prosa, in der ich mich schon lange vom chronologischen, auktorialen Erzählen entfernt habe.

Unterscheiden sich Ihr kreativer Prozess, Ihre Herangehensweise oder Ihre Schreibroutine, je nachdem, ob Sie Gedichte oder Romane verfassen?

Ich lese täglich Lyrik. Wie andere morgens ihre Yoga-Übungen machen, ziehe ich einen Band mit Gedichten aus dem Regal, das ist eine gute Einübung ins Schreiben, ich werde beim Lesen mit dem Wesentlichen konfrontiert. Ich glaube, dass es eine Möglichkeit ist, Konzentration zu üben. Dieses Ritual bleibt gleich, egal ob ich Lyrik oder Prosa schreibe. Und sowohl der Prosa, aber auch einigen Gedichten, gehen Recherchen voraus.

Gemeinsam mit Renate Mumelter verwalten Sie den literarischen Nachlass der Meraner Schriftstellerin Anita Pichler, zu deren Werk Sie auch Anthologien und Bücher herausgegeben haben. Welche Bedeutung hat das Konservieren und Aufbewahren von Erinnerungen bzw. das Erinnern in Ihrer literarischen Arbeit und für Sie selbst?

Nachlassarbeit bedeutet vor allem, die Bücher lieferbar zu halten. Eine Autorin existiert nur, wenn ihr Werk vorhanden ist. Deswegen ist es für Autorinnen und Künstlerinnen wichtig, dass sie zu Lebzeiten entscheiden, wer sich darum kümmern soll, dass sie die entsprechenden Personen gesetzlich dazu berechtigen.

Ich notiere viel, sammle Dokumente, Bücher, nutze Fotos als Erinnerungsspeicher. W.G. Sebald sagte einmal in einem Interview, man müsse auf eine diffuse Weise recherchieren, so wie ein Hund sucht, also in alle Richtungen, rauf und runter, langsam, schnell. Meine abgelegten Notizen und Bilder können zu einem späteren Zeitpunkt alte Erinnerungen freisetzen, sie enthalten Reste von Geschichten, die sich neu formulieren lassen. Den eigenen Erinnerungen ist nicht zu trauen, aber das spielt für die Literatur keine Rolle, denn es gilt ohnehin, das Eigene zu verfremden und sich das Fremde einzuverleiben.

Woran arbeiten Sie aktuell?

Ich sammle Material für einen neuen Roman, aber darüber detailliert zu sprechen,  ist noch zu früh. Mein Großonkel Luis Gruber (1919-1944) hat ein interessantes Tagebuch hinterlassen, das er vom Tag der Einberufung durch die Deutsche Wehrmacht bis wenige Tage vor seinem Tod in der Nähe von Witebsk/Belarus geführt hat, das wird möglicherweise eine Rolle spielen.

Vielen Dank für das Gespräch!