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„Ich begreife Sprache als etwas zutiefst Körperliches und versuche, meinen Körper und seine Verwandlungen sprachlich zu erfassen.“ – Interview mit Maë Schwinghammer

Zunächst sind die Worte ganz, ergeben Sinn, doch sobald sie Michaels Mund verlassen, fallen sie zu Boden und zerbrechen, noch bevor sie fremde Ohren erreichen, wie kleine Porzellantassen vor den Augen. Seine Mama übersetzt zwischen ihm und der Welt. Sie versteht ihn als Einzige. „Brabbeln“ sagt die Pädagogin in der Spielgruppe dazu. „Wahrnehmungsstörung“ nennen es die Ärzt*innen. Einige Jahre später hat die Welt andere Worte für Michael: Computerköpfchen, Pussy, Schwinghomo, Bärli. Namen, doch kein einziger, der diesem Ich gehört.
Eindrucksvoll und poetisch schreibt Maë Schwinghammer von einer Suche nach Verständnis, an deren Ende ein gefundenes Ich steht. Wir haben uns mit Maë über deren Debütroman „Alles dazwischen, darüber hinaus“ unterhalten.

Maë, wie würdest du selbst deinen Roman beschreiben?
„Alles dazwischen, darüber hinaus“ begleitet die Suche eines Kindes ohne Sprache bis ins Erwachsenenalter, die Suche nach der richtigen Sprache, den richtigen Wörtern für den eigenen Körper, die eigene Identität, das Geschlecht. Der Roman erzählt vom Wunsch, von anderen verstanden zu werden, und davon, sich in dieser Welt, die oft nicht zuhört, verstanden zu wissen.

Hast du selbst beim Schreiben nach etwas gesucht?
Ja, nach einem Weg und einer Sprache, die es ermöglichen, meine Lebensgeschichte mit poetischen Tönen zu erzählen und dabei auch noch zugänglich zu bleiben. Weil ich ein Buch schreiben wollte, das ich jeder Person aus meiner Familie ohne schlechtes Gewissen in die Hände drücken kann.

Apropos Familie: „Alles dazwischen, darüber hinaus“ erzählt auch von einem Weg zurück zur eigenen Familie, von einer Versöhnung mit der eigenen Herkunft. Wie würdest du selbst diese Entwicklung in deinem Roman beschreiben?
Ich glaube, das Grundthema hier ist: Angst. Die Angst der Eltern, das eigene Kind zu verlieren, weil es einen Klassenaufstieg erfährt, weil es den Namen ablegt, weil es kein Junge mehr ist und nie einer war. Gleichzeitig ist da auch die Angst der Hauptfigur, für die eigene Herkunft verurteilt und gehänselt zu werden, dieselben Wege zu beschreiten, die schon die Eltern beschritten haben. Das führt in beide Richtungen zu Abgrenzungen, schafft eine Distanz, die sich vergrößert, bis mit genügend Abstand der Sprung gewagt wird, sich wieder anzunähern. Das Gemeinsame zu suchen, anstatt das Trennende hervorzuheben.

In deinem Buch schreibst du an einer Stelle: „Vielleicht sind Probleme der Sprache immer ein Problem der anderen, der Nichtbetroffenen. Denn die Nichtbetroffenen sprechen über Betroffene und wählen dafür Worte, die Betroffene selbst nie wählen würden.“ Die Unzulänglichkeit von Sprache, ihre Grenzen, die wir Menschen immer wieder – oft schmerzhaft – spüren, nimmt in deinem Buch viel Raum ein. Welche Bedeutung hat Sprache, hat das Übertreten ihrer Grenzen für dich?
Sprache hat die größte Bedeutung in meinem Leben, meinem Schreiben und damit auch im Roman. Es geht mir weniger darum, Grenzen zu übertreten, mein Anliegen würde ich eher so beschreiben, dass ich die gedachten Grenzen verschwimmen lassen möchte. Sie sollen so undeutlich sein, dass neue Sprachen und Wörter für alle zukünftigen Identitäten und Körper möglich werden, ohne dass es Grenzübertritte benötigt, weil die Grenzen nicht länger existieren.

Teile deines Romans – wie beispielsweise der sehr eindrucksvolle Beginn – erzählen aus der Perspektive eines Kindes. Wie war es für dich, in diese Figur hineinzuschlüpfen, und welche Herausforderungen oder auch Glücksmomente hast du beim Schreiben dieser Passagen erfahren?
Es war tatsächlich sehr leicht, in diesen Ton zu wechseln, da ich lange nur Lyrik geschrieben habe und ich die Perspektive eines Kindes für überaus poetisch halte. Wörter werden vor allem als Kleinkind noch sehr frei aneinandergereiht, ohne jedes Bewusstsein für Logik oder Konsistenz. Das ermöglicht sprachliche Bilder, die sich erwachsene Menschen oder Autor*innen nicht erlauben würden, was allerdings meiner Meinung nach sehr schade ist. Die Herausforderung bei diesen Szenen war, in der Sprache konsistent zu bleiben und die kindliche nicht mit erwachsen-nüchternen Stimmen zu überlagern.

 

Maë Schwinghammer, geboren 1993, aufgewachsen in Wien-Simmering, studiert Sprachkunst, schreibt außerdem Lyrik, Theaterstücke und Essays. „Alles dazwischen, darüber hinaus“ ist Maë Schwinghammers Debütroman.

Körperlichkeit spielt in „Alles dazwischen, darüber hinaus“ eine wichtige Rolle. Die Hauptfigur durchlebt im Kindesalter eine (kurzfristige) Fazialisparese, also eine Gesichtslähmung, später werden exzessiver Sport und Muskelaufbau als Ausdrucksmittel und Identitätsmarker genutzt. Auch Sexualität und der offene Umgang mit ihr spielen im Verlauf eine immer wichtigere Rolle. Parallel dazu besteht und wächst das Gefühl der Sprachlosigkeit, des Nicht-Verstandenseins, der Fremdheit. An einer Stelle heißt es: „Du hast immer durch deine Augen gesprochen.“ Inwiefern gehören die beiden Aspekte – Körperlichkeit und Sprache – für dich in Hinblick auf deinen Roman zusammen?
Sie gehören untrennbar zusammen. Ich begreife Sprache als etwas zutiefst Körperliches und versuche, meinen Körper und seine Verwandlungen sprachlich zu erfassen. Der Roman beginnt mit einem Zitat der Mutter: „Er kann nicht sprechen lernen, wenn er seinen Körper nicht kennt.“ Das war zwar sicher nicht so gemeint, aber ich glaube, die Aussage stimmt: Das Finden zu einer Sprache ist mit dem Kennenlernen des eigenen Körpers verbunden. Ich erfahre meinen Körper, betrachte ihn, befühle ihn und versuche, ihn mit den Wörtern zu beschreiben, die mir die Sprache zur Verfügung stellt, reichen die Wörter nicht aus, versuche ich, zu neuen Wörtern zu gelangen, die dies fassen können.

„Als Kind habe ich mich bereits als Mädchen geträumt“ – diese Stelle beschreibt sehr eindrücklich und berührend wie die Hauptfigur im Erwachsenenalter (noch immer) empfindet. Der Wunsch nach einer Hormonersatztherapie wird von einer Therapeutin begleitet. Einer völlig fremden Person. Doch: „Meiner Therapeutin muss ich nichts beweisen, sie zweifelt niemals an meiner Identität. Beweisen muss ich es dem Gesundheitssystem, und dieses besteht darauf, dass abgesehen von meiner Therapeutin auch noch ein*e klinische*r Psycholog*in und ein*e Psychiater*in bezeugen, dass ›ich‹ ›ich‹ bin. Die Beweisführung meiner Existenz.“ Das Negieren eines Selbst und der damit oftmals verbundene Hass auf marginalisierte Menschen ist traurigerweise fest in unserer Gesellschaft verankert. Was wären in deinen Augen Stellschrauben, an denen wir gemeinsam drehen müssten, um die Lebensrealität von Betroffenen zu verbessern?
Die Abschaffung der Notwendigkeit von Diagnosen für medizinische Behandlungen wäre ein immens großer Fortschritt, aber eigentlich lässt sich an allen Stellschrauben etwas drehen. Der gesellschaftlich-politische Zugang sollte nicht sein, marginalisierten Gruppen den Zugang zu Ressourcen, Behandlungen, Dokumenten etc. von oben zu erschweren, sondern umgekehrt, aus der Perspektive dieser Gruppen gedacht, die Voraussetzungen zu schaffen, dass der Zugang möglichst einfach ist.

Von der Vorstellungsrunde in der Schule, bis zum Vergleich von Statussymbolen: Die Hauptfigur erfährt sehr früh „die feinen Unterschiede“ in unserer klassistischen Gesellschaft. Der kindliche Stolz auf die Herkunftsfamilie, auf die Arbeitsuniformen der Eltern weicht im Verlauf des Heranwachsens immer mehr einem Gefühl der Scham. Ein weiteres sehr einprägsames Beispiel für Klassenkritik im Roman ist die aufgebürdete Solidarität und die Stigmatisierung durch „Hilfsangebote“. So kümmert sich die Hauptfigur beispielsweise in der Schulzeit heimlich selbst um Förderansuchen für Klassenreisen, um die Mutter vor Schuldgefühlen zu bewahren und um der Stigmatisierung in der Klasse bestmöglich zu entgehen. Wie würde sich deiner Einschätzung nach der Roman unterscheiden, würde er nicht in der Arbeiter*innenklasse spielen?
Es würden einige Aspekte fehlen und die Hauptfigur hätte abgesehen vom Riesenprivileg, weiß zu sein, noch ein paar mehr Privilegien, die möglicherweise, aber nicht zwingend, die Entwicklungsprozesse der Hauptfigur beschleunigen könnten. Auch die Sprache und die Sicht der Hauptfigur auf die Welt wären andere, am Ende wäre es wohl ein ganz anderer Roman.

 


Alles dazwischen, darüber hinaus“ erzählt vom Aufwachsen in der Arbeiter*innenklasse, von Wurzeln in Österreich und Serbien, von der Fluidität der Geschlechter, von Sexualität, Liebe und Freund*innenschaft, von Autismus und der Annäherung an gewählte und ungewählte Familien. Ein schmerzhafter und zugleich heilsamer Roman. Ein Debüt, das beides ist: das Einfangen von Stille. Oder auch: das Weglassen von ebendieser. Überall erhältlich, wo es Bücher gibt!

„Ich wünsche mir mehr Diversität, also: mehr Autor*innen aus allen möglichen Welten, mit allen möglichen Hintergründen, mit verschiedensten Geschichten und Figuren. Sonst hat der Krimi keine Zukunft.“ – Till Raether im Interview

Wie alle Literatur verändert sich der Kriminalroman konstant, und immer wieder ist es notwendig, sich die Frage zu stellen: Welche Komponenten braucht ein Krimi, um zeitgemäß zu sein? Der Koblenzer Autor Till Raether spricht mit uns im Interview darüber, was einen „guten Krimi“ ausmacht und was gesellschaftspolitische Entwicklungen damit zu tun haben. 

Lieber Till, vor Kurzem wurde dein Roman „Die Architektin“ von der Hamburger Kulturbehörde zum „Buch des Jahres“ ausgezeichnet. Außerdem hast du u.a. ein großartiges Buch über Zuversicht geschrieben: „Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?“ Und natürlich kennt man deine beliebten Danowski-Krimis. Du bist also in verschiedenen Genres unterwegs. Seit wann schreibst du als Krimi-Autor und wie ist deine Faszination dafür entstanden?
Mein erster Kriminalroman ist 2014 erschienen, ich hab aber schon als Kind angefangen, Krimis zu schreiben. Ich erinnere mich an einen, der „Der Mörder kam im Leichenwagen“ hieß. Meine Mutter war treue Leserin und Sammlerin der rororo-Thriller, deren dunkle Einbände und die geheimnisvollen Titel haben mich von Anfang an fasziniert.

Der Krimi, wie wir ihn heute kennen, hat sich über Jahrhunderte entwickelt. Friedrich Schiller war im deutschsprachigen Raum beispielsweise einer der ersten, der über Kriminalfälle schrieb. Wie nimmst du das Genre wahr? Hat es sich in deiner Wahrnehmung stark verändert in den letzten Jahren?
Ich finde es erstaunlich, wie groß der Unterschied zwischen Kriminalromanen und Krimis im deutschsprachigen Fernsehen ist. Während die Krimiliteratur eine große Bandbreite von Geschichten und Personen erzählt, wird im Fernsehen in den allermeisten Fällen die klassische Polizeierzählung mit Verbrechen, Ermittlung und Lösung erzählt, zwischendurch ein bisschen Privatleben und Sprüche. Ich glaube, durch die Fernseh-Krimis könnte der Eindruck entstehen, dass der deutschsprachige Krimi erstarrt ist, aber ich finde ihn recht lebendig und vielfältig.

In einem Vortrag bei der Tagung „Kriminalerzählungen der Gegenwart“ der Universität Bonn im April 2021, der auf 54Books nachzulesen ist, sagst du: „Noch viel realistischer über die Polizei zu schreiben, wäre eine Flucht in die Recherche. Aber noch viel literarischer über die Polizei zu schreiben, wäre eine Flucht in die Kunst. Was also soll ich tun, als Genre-Autor?“ Wie schaust du inzwischen auf deine bisherigen Bücher, deine Herangehensweise(n) und auf die deiner Kolleg*innen?
Ich persönlich habe meine Reihe über den Hamburger Kommissar Adam Danowski gerade mit dem siebten Band beendet, und am Ende verlässt Danowski die Polizei. Ehrlich gesagt auch deshalb, weil ich immer noch ratlos bin, wie man heute Polizei erzählen kann, ohne die ganze Zeit die gleichen Strukturen abzubilden und die gleichen Geschichten und Figurenkonstellationen zu wiederholen. Ich bewundere Kolleg*innen, die da länger durchhalten, aber ich finde andererseits, dass Ratlosigkeit auch keine Schande ist. Im Moment arbeite ich jedenfalls an einem psychologischen Thriller, bei dem die Polizei keine Rolle spielt.

 

Veränderung im Krimi-Genre, Krimi-Autor Till Raether im Interview.

Till Raether, geboren 1969 in Koblenz, arbeitet als freier Autor in Hamburg, u.a. für das SZ-Magazin. Er wuchs in Berlin auf, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München, studierte Amerikanistik und Geschichte in Berlin und New Orleans und war stellvertretender Chefredakteur von Brigitte. Sein Sachbuch „Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?“ stand 2021 wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Seine Romane „Treibland“ und „Unter Wasser“ wurden 2015 und 2019 für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert, alle Bände um den hypersensiblen Hauptkommissar Danowski begeisterten Presse und Leser*innen. Band 2 „Blutapfel“ wurde vom ZDF mit Milan Peschel in der Hauptrolle verfilmt, weitere Danowski-Fernsehkrimis sind in Vorbereitung. Till Raether ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Von der klassischen Detektivgeschichte bis hin zum Thriller, von Cozy-Crime bis Noir gibt es viele Facetten der Spannungsliteratur. Was braucht es, damit ein Krimi zeitgemäß ist?
Eine gewisse Bereitschaft, die Regeln des Genres oder des Sub-Genres hier und da zu durchbrechen. Und ich finde schon auch, dass ein gewisses Verantwortungsbewusstsein dazugehört, also, sich die Frage zu stellen, ob wir beim Krimischreiben zum Beispiel bestimmte Formen von Gewalt als Unterhaltung ausbeuten.

Nicht selten wird der Krimi als Trivialliteratur bezeichnet, ja, geradezu abgewertet. Wie lautet deine Antwort darauf?
Ich finde die Bezeichnung Trivialliteratur irgendwie völlig veraltet. Genreliteratur wie der Krimi folgt nun mal bestimmten Regeln, das heißt, es gibt Vereinbarungen zwischen Autor*innen und Leser*innen, dass bestimmte Erwartungen im Genre erfüllt werden. Trivial finde ich persönlich vielmehr Literatur, bei der Altbekanntes auf handwerklich lieblose Weise zum x-ten Mal wiederholt wird. Das gibt es außerhalb des Genres genauso häufig oder häufiger als innerhalb des Genres, nach meiner Leseerfahrung.

Uns, unsere Gesellschaft beschäftigen viele brisante Fragen. Sollen im Krimi-Genre aktuelle gesellschaftspolitische Themen ihren Raum finden, oder macht es für dich einen „guten Krimi“ aus, dass er zeitlos ist?
Ich denke, dass aktuelle gesellschaftspolitische Themen eigentlich immer die gleichen sind, weil es dabei immer um Machtstrukturen in der Gesellschaft geht. Darum kann ich heute noch die Sjöwall-Wahlöö-Krimis aus den Sechzigern und Siebzigern lesen, obwohl ich weit entfernt von der schwedischen Gesellschaft der damaligen Zeit bin. Ich finde eher Krimis altbacken und schnell veraltet, die die Gesellschaftspolitik ihrer Zeit ignorieren und nur Psychologie erzählen.

Wie würdest du die Zukunft des Genres einschätzen und was würdest du dir für den Krimi wünschen?
Ich wünsche mir mehr Diversität, also: mehr Autor*innen aus allen möglichen Welten, mit allen möglichen Hintergründen, mit verschiedensten Geschichten und Figuren. Sonst hat der Krimi keine Zukunft.

Welche(r) Krimi(s) hat/haben dich in letzter Zeit total begeistert?
Die Aosawa-Morde“ von Riku Onda, „Milchmann“ von Anna Burns und, völlig unbegreiflicherweise bisher nicht auf Deutsch übersetzt, „Lady Joker“ von Kaoru Takamura.

Wir haben deine Neugierde geweckt und du hast Lust auf noch mehr gemischte Krimis bekommen? Wirf einen Blick in unsere aktuelle Vorschau, hier kannst du weitere facettenreiche Bücher entdecken.