Schlagwort: Klassismus

„Ich begreife Sprache als etwas zutiefst Körperliches und versuche, meinen Körper und seine Verwandlungen sprachlich zu erfassen.“ – Interview mit Maë Schwinghammer

Zunächst sind die Worte ganz, ergeben Sinn, doch sobald sie Michaels Mund verlassen, fallen sie zu Boden und zerbrechen, noch bevor sie fremde Ohren erreichen, wie kleine Porzellantassen vor den Augen. Seine Mama übersetzt zwischen ihm und der Welt. Sie versteht ihn als Einzige. „Brabbeln“ sagt die Pädagogin in der Spielgruppe dazu. „Wahrnehmungsstörung“ nennen es die Ärzt*innen. Einige Jahre später hat die Welt andere Worte für Michael: Computerköpfchen, Pussy, Schwinghomo, Bärli. Namen, doch kein einziger, der diesem Ich gehört.
Eindrucksvoll und poetisch schreibt Maë Schwinghammer von einer Suche nach Verständnis, an deren Ende ein gefundenes Ich steht. Wir haben uns mit Maë über deren Debütroman „Alles dazwischen, darüber hinaus“ unterhalten.

Maë, wie würdest du selbst deinen Roman beschreiben?
„Alles dazwischen, darüber hinaus“ begleitet die Suche eines Kindes ohne Sprache bis ins Erwachsenenalter, die Suche nach der richtigen Sprache, den richtigen Wörtern für den eigenen Körper, die eigene Identität, das Geschlecht. Der Roman erzählt vom Wunsch, von anderen verstanden zu werden, und davon, sich in dieser Welt, die oft nicht zuhört, verstanden zu wissen.

Hast du selbst beim Schreiben nach etwas gesucht?
Ja, nach einem Weg und einer Sprache, die es ermöglichen, meine Lebensgeschichte mit poetischen Tönen zu erzählen und dabei auch noch zugänglich zu bleiben. Weil ich ein Buch schreiben wollte, das ich jeder Person aus meiner Familie ohne schlechtes Gewissen in die Hände drücken kann.

Apropos Familie: „Alles dazwischen, darüber hinaus“ erzählt auch von einem Weg zurück zur eigenen Familie, von einer Versöhnung mit der eigenen Herkunft. Wie würdest du selbst diese Entwicklung in deinem Roman beschreiben?
Ich glaube, das Grundthema hier ist: Angst. Die Angst der Eltern, das eigene Kind zu verlieren, weil es einen Klassenaufstieg erfährt, weil es den Namen ablegt, weil es kein Junge mehr ist und nie einer war. Gleichzeitig ist da auch die Angst der Hauptfigur, für die eigene Herkunft verurteilt und gehänselt zu werden, dieselben Wege zu beschreiten, die schon die Eltern beschritten haben. Das führt in beide Richtungen zu Abgrenzungen, schafft eine Distanz, die sich vergrößert, bis mit genügend Abstand der Sprung gewagt wird, sich wieder anzunähern. Das Gemeinsame zu suchen, anstatt das Trennende hervorzuheben.

In deinem Buch schreibst du an einer Stelle: „Vielleicht sind Probleme der Sprache immer ein Problem der anderen, der Nichtbetroffenen. Denn die Nichtbetroffenen sprechen über Betroffene und wählen dafür Worte, die Betroffene selbst nie wählen würden.“ Die Unzulänglichkeit von Sprache, ihre Grenzen, die wir Menschen immer wieder – oft schmerzhaft – spüren, nimmt in deinem Buch viel Raum ein. Welche Bedeutung hat Sprache, hat das Übertreten ihrer Grenzen für dich?
Sprache hat die größte Bedeutung in meinem Leben, meinem Schreiben und damit auch im Roman. Es geht mir weniger darum, Grenzen zu übertreten, mein Anliegen würde ich eher so beschreiben, dass ich die gedachten Grenzen verschwimmen lassen möchte. Sie sollen so undeutlich sein, dass neue Sprachen und Wörter für alle zukünftigen Identitäten und Körper möglich werden, ohne dass es Grenzübertritte benötigt, weil die Grenzen nicht länger existieren.

Teile deines Romans – wie beispielsweise der sehr eindrucksvolle Beginn – erzählen aus der Perspektive eines Kindes. Wie war es für dich, in diese Figur hineinzuschlüpfen, und welche Herausforderungen oder auch Glücksmomente hast du beim Schreiben dieser Passagen erfahren?
Es war tatsächlich sehr leicht, in diesen Ton zu wechseln, da ich lange nur Lyrik geschrieben habe und ich die Perspektive eines Kindes für überaus poetisch halte. Wörter werden vor allem als Kleinkind noch sehr frei aneinandergereiht, ohne jedes Bewusstsein für Logik oder Konsistenz. Das ermöglicht sprachliche Bilder, die sich erwachsene Menschen oder Autor*innen nicht erlauben würden, was allerdings meiner Meinung nach sehr schade ist. Die Herausforderung bei diesen Szenen war, in der Sprache konsistent zu bleiben und die kindliche nicht mit erwachsen-nüchternen Stimmen zu überlagern.

 

Maë Schwinghammer, geboren 1993, aufgewachsen in Wien-Simmering, studiert Sprachkunst, schreibt außerdem Lyrik, Theaterstücke und Essays. „Alles dazwischen, darüber hinaus“ ist Maë Schwinghammers Debütroman.

Körperlichkeit spielt in „Alles dazwischen, darüber hinaus“ eine wichtige Rolle. Die Hauptfigur durchlebt im Kindesalter eine (kurzfristige) Fazialisparese, also eine Gesichtslähmung, später werden exzessiver Sport und Muskelaufbau als Ausdrucksmittel und Identitätsmarker genutzt. Auch Sexualität und der offene Umgang mit ihr spielen im Verlauf eine immer wichtigere Rolle. Parallel dazu besteht und wächst das Gefühl der Sprachlosigkeit, des Nicht-Verstandenseins, der Fremdheit. An einer Stelle heißt es: „Du hast immer durch deine Augen gesprochen.“ Inwiefern gehören die beiden Aspekte – Körperlichkeit und Sprache – für dich in Hinblick auf deinen Roman zusammen?
Sie gehören untrennbar zusammen. Ich begreife Sprache als etwas zutiefst Körperliches und versuche, meinen Körper und seine Verwandlungen sprachlich zu erfassen. Der Roman beginnt mit einem Zitat der Mutter: „Er kann nicht sprechen lernen, wenn er seinen Körper nicht kennt.“ Das war zwar sicher nicht so gemeint, aber ich glaube, die Aussage stimmt: Das Finden zu einer Sprache ist mit dem Kennenlernen des eigenen Körpers verbunden. Ich erfahre meinen Körper, betrachte ihn, befühle ihn und versuche, ihn mit den Wörtern zu beschreiben, die mir die Sprache zur Verfügung stellt, reichen die Wörter nicht aus, versuche ich, zu neuen Wörtern zu gelangen, die dies fassen können.

„Als Kind habe ich mich bereits als Mädchen geträumt“ – diese Stelle beschreibt sehr eindrücklich und berührend wie die Hauptfigur im Erwachsenenalter (noch immer) empfindet. Der Wunsch nach einer Hormonersatztherapie wird von einer Therapeutin begleitet. Einer völlig fremden Person. Doch: „Meiner Therapeutin muss ich nichts beweisen, sie zweifelt niemals an meiner Identität. Beweisen muss ich es dem Gesundheitssystem, und dieses besteht darauf, dass abgesehen von meiner Therapeutin auch noch ein*e klinische*r Psycholog*in und ein*e Psychiater*in bezeugen, dass ›ich‹ ›ich‹ bin. Die Beweisführung meiner Existenz.“ Das Negieren eines Selbst und der damit oftmals verbundene Hass auf marginalisierte Menschen ist traurigerweise fest in unserer Gesellschaft verankert. Was wären in deinen Augen Stellschrauben, an denen wir gemeinsam drehen müssten, um die Lebensrealität von Betroffenen zu verbessern?
Die Abschaffung der Notwendigkeit von Diagnosen für medizinische Behandlungen wäre ein immens großer Fortschritt, aber eigentlich lässt sich an allen Stellschrauben etwas drehen. Der gesellschaftlich-politische Zugang sollte nicht sein, marginalisierten Gruppen den Zugang zu Ressourcen, Behandlungen, Dokumenten etc. von oben zu erschweren, sondern umgekehrt, aus der Perspektive dieser Gruppen gedacht, die Voraussetzungen zu schaffen, dass der Zugang möglichst einfach ist.

Von der Vorstellungsrunde in der Schule, bis zum Vergleich von Statussymbolen: Die Hauptfigur erfährt sehr früh „die feinen Unterschiede“ in unserer klassistischen Gesellschaft. Der kindliche Stolz auf die Herkunftsfamilie, auf die Arbeitsuniformen der Eltern weicht im Verlauf des Heranwachsens immer mehr einem Gefühl der Scham. Ein weiteres sehr einprägsames Beispiel für Klassenkritik im Roman ist die aufgebürdete Solidarität und die Stigmatisierung durch „Hilfsangebote“. So kümmert sich die Hauptfigur beispielsweise in der Schulzeit heimlich selbst um Förderansuchen für Klassenreisen, um die Mutter vor Schuldgefühlen zu bewahren und um der Stigmatisierung in der Klasse bestmöglich zu entgehen. Wie würde sich deiner Einschätzung nach der Roman unterscheiden, würde er nicht in der Arbeiter*innenklasse spielen?
Es würden einige Aspekte fehlen und die Hauptfigur hätte abgesehen vom Riesenprivileg, weiß zu sein, noch ein paar mehr Privilegien, die möglicherweise, aber nicht zwingend, die Entwicklungsprozesse der Hauptfigur beschleunigen könnten. Auch die Sprache und die Sicht der Hauptfigur auf die Welt wären andere, am Ende wäre es wohl ein ganz anderer Roman.

 


Alles dazwischen, darüber hinaus“ erzählt vom Aufwachsen in der Arbeiter*innenklasse, von Wurzeln in Österreich und Serbien, von der Fluidität der Geschlechter, von Sexualität, Liebe und Freund*innenschaft, von Autismus und der Annäherung an gewählte und ungewählte Familien. Ein schmerzhafter und zugleich heilsamer Roman. Ein Debüt, das beides ist: das Einfangen von Stille. Oder auch: das Weglassen von ebendieser. Überall erhältlich, wo es Bücher gibt!

Tax us now! – Warum wir endlich Steuergerechtigkeit brauchen. Ein Gastbeitrag von Marlene Engelhorn und Yannick Haan

Taxmenow Initiative für Steuergerechtigkeit ist ein Zusammenschluss von Vermögenden im deutschsprachigen Raum, die sich gegründet hat, um Antworten auf das Problem der stetig anwachsenden Ungleichheit der Vermögensverteilung in unseren Gesellschaften zu finden. Diese extreme Ungleichheit ist den Initiator*innen zufolge auch das Ergebnis einer Steuerpolitik, die systematisch Vermögende privilegiert und die Besteuerung, insbesondere von Vermögen und Erbschaften, kontinuierlich verringert hat. Das Resultat ist eine demokratiegefährdende Machtkonzentration in Form von Kapital und Einfluss in den Händen von Wenigen, die der wachsenden materiellen Unsicherheit von Vielen gegenübersteht. 

Aus einer privilegierten Position heraus setzen sich hier Vermögende ein, um ihre Vision von Wohlstand, Teilhabe und sozialer Sicherheit für alle zu ermöglichen. Wir haben mit Marlene Engelhorn und Yannick Haan, beide Mitglieder im Presseteam von taxmenow, nach ihren Beweggründen für ihr Engagement und nach ihren Zielen gefragt. Mit diesem lesenswerten Gastbeitrag haben sie geantwortet:

Wir haben beide geerbt. In sehr unterschiedlichem Maße, aber wir haben beide von einem System profitiert, das wir selbst anprangern. Wir haben beide erlebt, wie die eigenen Privilegien die Chancen verändern und wie andere in unserer Gesellschaft nie eine Chance bekommen. Während die einen in Reichtum aufwachsen und diesen meist vermehren können, haben andere nie eine Chance. Diese Ungleichheit hat System und ist politisch gewollt.


taxmenow – Initiative für Steuergerechtigkeit e.V.<br>ist eine Initiative von Vermögenden im deutschsprachigen Raum, die sich aktiv für Steuergerechtigkeit einsetzt.

„Obwohl wir die angebliche Leistungsgesellschaft rhetorisch weiter vor uns hertragen, können wir nicht behaupten, dass wirklich alle dieselben Chancen haben.“

Marlene Engelhorn & Yannick Haan, taxmenow

Die Politik hat unsere Gesellschaft so gestaltet, dass trotz Demokratie die Herkunft zum zentralen Faktor für wirtschaftlichen Erfolg geworden ist. Obwohl wir die angebliche Leistungsgesellschaft rhetorisch weiter vor uns hertragen, können wir nicht behaupten, dass wirklich alle dieselben Chancen haben. Wir leben nach wie vor in einer Gesellschaft, in der die Reichen ihren Reichtum immer weiter vermehren können und auf der anderen Seite jede*r Fünfte von Armut bedroht ist. Das Leistungsnarrativ dient letztlich nur dazu, jenen, die es wirtschaftlich „nicht schaffen”, weil sie es strukturell nie schaffen können, das Gefühl zu geben, an ihrer wirtschaftlichen Situation selbst schuld zu sein. Das Problem sitzt aber tief in den Strukturen. Und strukturelle Probleme lassen sich nun mal nicht durch individuelles Handeln lösen. Gerade weil Reichtum und Armut strukturell miteinander verbunden sind, sehen wir bei taxmenow, die wir vom jetzigen System profitiert haben, eine besondere Verantwortung, die Ungleichheit zu kritisieren.

Marlene Engelhorn und Yannick Haan sind Teil des Presseteams von taxmenow – einer Initiative von Vermögenden, die sich aktiv für Steuergerechtigkeit einsetzt. Sie finden es wichtig, dass Vermögende nicht zu den Ungerechtigkeiten, von denen sie profitieren, schweigen und sich stattdessen solidarisch an der öffentlichen Diskussion beteiligen.

Unsere Gesellschaften sind weltweit in den letzten Jahren wirtschaftlich immer weiter auseinandergedriftet. Wir sehen deutlich, dass der Reichtum bei einigen Wenigen immer mehr zugenommen hat. Aber auch in Österreich und Deutschland haben wir mittlerweile eine neue und gefährliche Dimension der Vermögensungleichheit erreicht. In Deutschland besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung rund 35 Prozent des Vermögens. Auf der anderen Seite haben 40 Prozent der Bevölkerung überhaupt kein Vermögen, sie sind den aktuellen Krisen wirtschaftlich schutzlos ausgeliefert.[1] Gleichzeitig nimmt die Armut in unserer Bevölkerung weiter zu. Jedes fünfte Kind ist heute von Armut betroffen. Und das in einem der reichsten Länder der Welt. In Österreich ist die Ungleichheit sogar noch größer. Das reichste Prozent der Bevölkerung verfügt über 40 Prozent des Vermögens.[2]

Neben der Ungleichheit können wir einen sich selbst verstärkenden und überbordenden Überfluss an Vermögen bei Einzelnen beobachten. Es sind Menschen mit unvorstellbarem Vermögen, die sich letztlich selbst verstärken. In Österreich hat Mark Mateschitz, Sohn des Red-Bull-Gründers Dietrich Mateschitz, ein Vermögen von 39,6 Milliarden US-Dollar geerbt. In Deutschland wiederum besitzt der Erbe Klaus-Michael Kühne ein Vermögen von über 40 Milliarden Dollar. Es ist kein Zufall, dass in beiden Ländern Erben an der Spitze der Vermögensliste stehen.

Historisch gesehen leiden Gesellschaften schon Jahrhunderte an Ungleichheit. Es wirkt, als sei es normal, unabänderlich, schließlich hat es immer Menschen in Reichtum und Armut gegeben. Ganz stimmt das nicht. Denn gerade die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hat deutlich mehr Regulierung, mehr Gleichheit und mehr Wohlstand für alle gekannt als jede Zeit vor ihr. Die Schere zwischen Arm und Reich konnte auf einem demokratieverträglichen Niveau gehalten werden, insbesondere durch hohe Steuern auf Einkommen und Vermögen – Steuern waren einfach ein Mittel zum Zweck einer sinnvollen Haushaltspolitik. Das ist heute nicht mehr der Fall. Wir erleben, wie die Überreichen aus jeder Krise noch reicher hervorgehen, wie die Gewinne privatisiert und die Verluste der Überreichen sozialisiert werden. „Too big to fail” lautet bis heute die Devise. Wir haben es in der Finanzkrise erlebt, wo der Staat für die Fehler der Wenigen bezahlt und die Rechnung übernommen hat. In der Corona-Krise hingen viele in der Kurzarbeit fest, während die Vermögenden ihr Vermögen weiter ausbauen konnten. Während die fünf reichsten Männer der Welt ihr Vermögen seit 2020 mehr als verdoppelt haben, haben die ärmsten fünf Milliarden Menschen mehrere Milliarden verloren.[3]

Das kann und darf so nicht bleiben. Vermögensungleichheit und Überreichtum stellen aus vielen Gründen ein wachsendes Problem für unsere Gesellschaft dar. Auf individueller Ebene wirkt sich die Vermögensungleichheit negativ auf die physische und psychische Gesundheit, die Lebenserwartung, die Bildung, den Drogenkonsum, die Selbstmordraten und die Inhaftierungsraten aus.[4] Reiche Menschen verursachen durch ihren Konsum und ihre Investitionen außerdem extrem hohe Emissionen. Nimmt man die Emissionen aus Konsum und Investitionen zusammen, so verursachen die reichsten 10 Prozent der Weltbevölkerung fast 50 Prozent der Emissionen.[5]

Aber es gibt ein zentrales Argument gegen Ungleichheit. Demokratie bedeutet, dass jeder eine Stimme hat. Demokratie bedeutet, dass jeder sich beteiligen kann und potenziell gehört wird. Sie bedeutet, dass Macht geteilt wird. Das ist der Kern des demokratischen Gedankens; die Praxis sieht aber anders aus, denn: Macht ist leider auch in einer Demokratie nie wirklich gleich verteilt. Geld bedeutet Macht, es bedeutet, Gehör in der Politik zu bekommen und Einladungen in die Medien – wir zwei, die hier schreiben, belegen das eindeutig. Wenn eine Demokratie vor allem das Wohlergehen weniger Reicher im Auge hat, dann funktioniert sie nicht mehr, dann befinden wir uns in einer Krise und entfernen uns immer weiter vom demokratischen Gedanken. Unsere extreme Ungleichheit verhindert derzeit jede Veränderung der Situation.

Die Reichen nutzen heute ihre politische Macht gegen jede Form der Veränderung. Wir erleben immer im Ergebnis politischer Entscheidungen, wie sich die Lobby des großen Geldes mit ihrem Vermögen gegen das Wohl der Gesellschaft stellt – ob es um Lieferketten, CO2-Bepreisung oder Besteuerung von Vermögen und Erbschaften geht. Die größten Gegner politischer Reformen sind Verbände, die von Milliardenunternehmen finanziert werden und ihre große Lobbymacht ungeschützt ausnutzen, um Veränderungen zu verhindern.[6] Einige Abgeordnete haben sich bereits über das aggressive Verhalten der Lobby des großen Geldes beschwert: Für den deutschen Bundestagsabgeordneten Toni Hofreiter sind die Verbände aggressiver als etwa die Rüstungs- oder Chemieindustrie.[7] Dabei verstecken sich die Lobbygruppen gerne hinter dem schwammigen Label „Familienunternehmen“.

Die Liste der Interessenvertretungen der Vermögenden ist lang und kaum einer scheut sich, drastische Worte an die Öffentlichkeit und die Politik zu richten. Nachdem das Bundesverfassungsgericht 2014 die Erbschaftssteuer in Deutschland kippte, musste diese neu geregelt werden. Der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble wollte bereits zu Beginn der Debatte über die Umsetzung des Urteils nur minimale Änderungen am System der Erbschaftsteuer vornehmen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wäre eigentlich der richtige Zeitpunkt gewesen, das Thema noch einmal grundlegend anzugehen. Doch dazu wollte sich die damalige Regierung nicht durchringen. Bis heute rühmen sich die Verbände, an der Neuregelung der Erbschaftssteuer mitgeschrieben zu haben. Leider hat die Politik auf sie gehört.


taxmenow – Initiative für Steuergerechtigkeit e.V.<br>ist eine Initiative von Vermögenden im deutschsprachigen Raum, die sich aktiv für Steuergerechtigkeit einsetzt.

„Ungleichheit, das muss man sich immer wieder vor Augen führen, ist kein Naturereignis.“

Marlene Engelhorn & Yannick Haan, taxmenow

Aber: Ungleichheit, das muss man sich immer wieder vor Augen führen, ist kein Naturereignis. Sie ist ein politisch bewusst herbeigeführter Zustand, der über die Verteilung von Ressourcen gestaltet wird. Darum kann man Armut als das eine Extrem der Verteilung nur abschaffen, wenn man auch das andere Extrem abschafft: Überreichtum. Die politische Grundlage dafür: Gesetze, die unser Miteinander so regeln, dass wir Menschen weder zur Armutsbetroffenheit verdammen noch ihnen durch extremen Reichtum Macht in die Hände drücken, die weder legitim noch reguliert ist, wie es die Demokratie eigentlich verlangen würde. Dass das gehen kann, zeigt die Geschichte.

Bis in die 1980er Jahre gab es in den westlichen Ländern eine demokratieverträgliche Ungleichheit. Es gab Ungleichheit, aber sie hielt sich auf einem relativ niedrigen Niveau. Individueller sozialer Aufstieg war für viele weiße Cis-hetero-Männer noch möglich. Inwieweit patriarchale und strukturell rassistische Verschränkungen die damaligen Aufstiegschancen einer spezifischen Gruppe, deren Mitglieder gesellschaftlich und strukturell als politisches Subjekt anerkannt waren, vorbehalten haben, ist umfangreich belegt, aber wir beide haben nicht ausreichend Expertise, um das gründlich auszuführen. Dennoch wollen wir es dringend anmerken, da Intersektionalität bei einer seriösen Kritik an Ungleichheit nicht ausgeklammert werden kann. Zurück in der Nachkriegszeit konnten also gerade die Babyboomer-Jahrgänge einen wirtschaftlichen Aufstieg erleben. Das System war wirklich nicht perfekt, aber es ist ein eindrückliches Gegenbeispiel zu heute.

In unserer Generation ist die Situation nämlich ganz anders. Wir haben eine hohe und verfestigte Ungleichheit. Wir haben eine Ungleichheit, die immer weiter und immer schneller wächst. Und wer heute mindestens Millionär:in werden will, muss im Lotto gewinnen oder erben. Es ist ohne bestehende finanzielle Rücklagen und Glück nicht mehr möglich, durch Arbeit oder Anstrengung ein Vermögen aufzubauen.


taxmenow – Initiative für Steuergerechtigkeit e.V.<br>ist eine Initiative von Vermögenden im deutschsprachigen Raum, die sich aktiv für Steuergerechtigkeit einsetzt.

„Wer heute durch Geldanlage andere für sich arbeiten lässt, zahlt weniger Steuern als die Mehrheit der Bevölkerung, die ein reguläres Arbeitseinkommen selbst erwirtschaftet.“

– Marlene Engelhorn & Yannick Haan, taxmenow

Diese wirtschaftliche Situation der Gesellschaft ist vor allem auf die Veränderung des Steuersystems zurückzuführen. Seit den 1980er Jahren wurden sowohl in Österreich als auch in Deutschland sämtliche Steuern mit Bezug auf Vermögen massiv gesenkt. In Österreich wurde beispielsweise die Erbschaftsteuer 2008 komplett abgeschafft. In Deutschland wiederum haben wir die absurde Situation, dass vor allem sehr hohe Erbschaften nicht besteuert werden.[8] Die Steuer unterstützt damit die Umverteilung von Vermögen aus der Mitte nach oben in die Gesellschaft. Klassische Vermögensteuern gibt es in beiden Ländern nicht mehr und Aktiengewinne werden niedriger besteuert als Arbeitseinkommen und obendrein nicht progressiv. Wer heute durch Geldanlage andere für sich arbeiten lässt, zahlt weniger Steuern als die Mehrheit der Bevölkerung, die ein reguläres Arbeitseinkommen selbst erwirtschaftet. Eine neue Studie kommt obendrein zu dem Ergebnis, dass die Steuer- und Abgabenquote von Millionär*innen in Deutschland bei 29 Prozent und in Österreich bei 30 Prozent liegt. Eine Durchschnittsfamilie kommt in Deutschland dagegen auf 43 Prozent, in Österreich auf 42 Prozent.[9] Diese Zahlen zeigen die Absurdität und Ungerechtigkeit unseres Steuersystems. „Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache“, das war einmal der Leitsatz unseres Steuersystems. Heute hat sich das System ins Gegenteil verkehrt. Das ist der zentrale Grund, warum die Ungleichheit in unserer Gesellschaft in den letzten 30 Jahren geradezu explodiert ist. Und hier liegt auch der zentrale politische Hebel, um die Ungleichheit zu reduzieren. Die London School of Economics hat die Auswirkungen von Steuersenkungen für Reiche über einen längeren Zeitraum untersucht. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Steuerpolitik – anders als oft propagiert – keinen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum hatte. Im Gegenzug ist die Ungleichheit durch den Umbau des Steuersystems explodiert.[10]

Deshalb halten wir bei taxmenow einen Umbau unseres Steuersystems für zentral. Wir brauchen eine Erbschaftsteuer, die diesen Namen auch verdient und endlich die hochvermögenden Erb*innen besteuert. Wir brauchen eine Vermögensteuer. Und wir brauchen eine progressive Besteuerung von Kapitalerträgen. Wir wissen heute, welche verheerenden Folgen die Ungleichheit für unsere Gesellschaft hat. Ein Steuersystem, wie wir es vorschlagen, wäre keine Revolution, im Gegenteil. Es wäre die logische Fortführung eines Steuersystems, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Motor des Wohlstands bewährt hat. Zumindest, bis die neoliberale Ideologie den Rückwärtsgang eingelegt hat und nun versucht, uns ins feudale Zeitalter zurück zu katapultieren. Die Demokratie wird dabei aber auf der Strecke bleiben.

Steuerpolitik ist in Zahlen gegossene Sozialpolitik. Deshalb ist es Zeit für einen Wandel. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der auch die Reichen verpflichtet sind, ihren Teil beizutragen. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der jede*r eine echte Chance hat. Und wir brauchen eine Gesellschaft, in der alle eine politische Stimme haben. Es ist an der Zeit, unsere Gesellschaft zum Wohle der Vielen zu verändern.

Daher gilt heute mehr denn je: tax us now!


Du möchtest mehr über die Tätigkeiten der Initiative für Steuergerechtigkeit taxmenow erfahren? Unter taxmenow.eu findest du alle Informationen.

Vielleicht bist du jetzt auch neugierig, wie die ungleich verteilte Teilhabe, die anwachsende Ungleichverteilung von Mitteln, Zugängen, Öffentlichkeit und Wohlstand sich in den Lebensrealitäten von marginalisierten Menschen auswirkt. Und wie dieses sich verschärfende Problem auf unser gesellschaftliches Zusammenleben wirkt, wie es Ungerechtigkeiten hervorbringt, verstärkt oder deren Beseitigung verhindert.

We’ve got you covered: In den Büchern unserer Autor*innen kannst du aus erster Hand nachempfinden, wie gläserne Decken gesellschaftlichen Aufstieg verhindern, soziale Benachteiligung direkt und indirekt mit psychischen Erkrankungen, Extremismus, der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zusammenhängt. Und sie zeigen Wege auf: Wie wir uns ein anderes Zusammenleben vorstellen können, wie wir die Spirale der Ungerechtigkeit durchbrechen können und wie wir einem guten Leben für alle (!) einen Schritt näherkommen.

Du findest in unseren Buchtipps „Own Voice“ und Analyse, Anklage und Utopie, Wut, aber auch Zuversicht.

Schau jetzt rein und entdecke unsere Sachbücher und Essays zum Thema!

„Man könnte für eine Gesellschaft sorgen, in denen weniger Gründe produziert werden, hassen zu müssen oder beschämt zu werden.“ – Videointerview mit Olivier David

„Für gewöhnlich liest unsereins nicht vor Publikum aus Büchern, unsereins trägt  Sicherheitsschuhe beim Arbeiten, hat Kopfhörer auf den Ohren gegen den Lärm, hat Schmerzen irgendwo, lehnt, wo er kann, gähnt, so oft es geht.“  Das schreibt Olivier David in seinem Essay-Band „Von der namenlosen Menge“. In einem Video-Interview haben wir uns mit dem Autor unterhalten, der im Supermarkt, als Malerhelfer, Kellner, Lagerarbeiter, Schauspieler gearbeitet hat, ehe er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte. Darüber, was es heißt, seinen zugewiesenen Platz zu verlassen, darüber, was es bedeutet, eine authentische Sprache zu finden, die sein Herkunftsmilieu nicht preisgibt. Eine Sprache der Analyse, aber auch eine der Wut, der Einsamkeit, der Scham. 

Warum gesellschaftliche Gewalt so oft unsichtbar bleibt, wieso es wichtig ist, die Geschichten der depriviligierten Milieus festzuhalten und was dies mit einer Veränderung der Machtverhältnisse zu tun hat, könnt ihr in unserem Haymon-Interview nachhören und in einer gekürzten, redigierten Version unten nachlesen.

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Im Feuilleton liest man ja immer wieder, dass klassenbewusste, soziologisch angehauchte Literatur eine Art Hochphase erlebt, und deswegen möchte ich auch mit Blick auf dein Buch ein bisschen provokant fragen, ob unter diesen Vorzeichen Armut überhaupt noch ein tabuisiertes Thema ist?

Die Art und Weise, wie über Armut gesprochen wird, ist nicht tabuisiert, es gibt in den letzten Jahren nicht nur in der Literatur, sondern auch im Journalismus auf eine Art ein großes Willkommenheißen für solche Themen. Das hat natürlich auch irgendwie mit dem Druck von unten zu tun, dass für mehr Diversität gesorgt werden soll. Die Frage ist aber, und das gilt für den Journalismus, aus dem ich eigentlich komme, und für die Literatur gleichermaßen: Was darf man und was darf man nicht, also welche Rollen werden einem zugeschrieben? Und wenn man sich das anschaut, dann ist es im Journalismus ganz stark so, dass Menschen objektifiziert werden, das heißt, dass sie einfach ganz konkrete Funktionen erfüllen und innerhalb von bestimmten Schablonen funktionieren sollen. Und jetzt könnte man mit gewissem Recht sagen, dass es in der Literatur anders ist, aber ich bin da vorsichtig geworden, weil ich glaube, der Grund, warum bestimmte Armutsgeschichten oder bestimmte Klassengeschichten Erfolg haben, liegt darin, dass sie in bestimmten Rahmen funktionieren, wo sie Grundsätzliches nicht in Frage stellen und wo sie elementare Widersprüche nicht ansprechen. Also wo sie mit politischer Sprache arbeiten und sich hinter einem Kunstbegriff verstecken, wenn es dann darum geht, Dinge konkret werden zu lassen. Ich bemerke das immer wieder, sobald man sich aufmacht, seinen Platz zu verlassen – und mein Platz ist es mit meinem ersten Buch gewesen, meine eigene Geschichte erzählen zu dürfen. Sobald ich meinen Platz verlasse, wird es skandalisiert, dann wird einem gesagt, das steht dir gar nicht zu. Du bist hier, um deine Geschichte zu erzählen. Und das ist für mich kein Begriff von ehrlicher Teilhabe und kein ehrlicher Begriff von Interesse. Wenn wir Leute einladen, teilzuhaben, dann müssen wir ertragen, dass die eine andere Analyse von der Welt haben. Und das erlebe ich sowohl in der Literatur als auch im Journalismus und eben auch in der Politik nicht.

Olivier David, 1988 in Hamburg-Altona geboren, ist Schriftsteller und Kolumnist. Nach der Schule arbeitete er mehrere Jahre in einem Supermarkt, bevor er eine Schauspielausbildung begann. Olivier David jobbte als Kellner, Malerhelfer und Lagerarbeiter, nebenbei spielte er Theaterstücke für Kinder. Mit 30 gelang ihm der Quereinstieg in den Journalismus. 2022 erschien sein erstes Buch „Keine Aufstiegsgeschichte – Warum Armut psychisch krank macht“. Für die Tageszeitung „nd“ schreibt Olivier David die Kolumne „Klassentreffen“, für das Schweizer Magazin „Das Lamm“ die Kolumne „David gegen Goliath“.

www.oliviercyrilldavid.com

Es wird eine Sprache gewählt, die an den Machtverhältnissen nichts ändert, sondern sie im Gegenteil reproduziert. Wie findet man das – eine Sprache in der man „authentisch“ zum Beispiel über sein Herkunftsmilieu oder seine Zugehörigkeit sprechen kann? 

Ich habe einen Fundus aus 35 Jahren Gefühlen, Erleben, Erfahrungen – von Gewalt, von Deklassierung – in mir und bin mit vielen starken Gefühlen sozialisiert. Auch heute noch bin ich von vielen starken Gefühlen wie Wut und Trauer und großer Angst und Einsamkeit umgeben. Dafür eine Sprache zu finden – das hat einfach lange gebraucht.
Der erste Essay den ich für dieses Projekt geschrieben habe, war der Essay, wo es um die Beschaffenheit armer Körper geht. Wodurch sind arme Körper determiniert, was beeinflusst die Leben von armen Menschen und auch ihre Körper? Da war mir gleich klar, das muss etwas Gehetztes, das muss irgendwie zwischendurch etwas Atemloses bekommen, das muss etwas Grundwütendes haben, das muss diese Wut ausdrücken, die meine Muskeln gespürt haben, als ich am Fließband gearbeitet habe. Diese Hoffnungslosigkeit, wenn du merkst: Ah, okay, zwei Kollegen werden gerade von deinem Fließband weggenommen und du siehst, die Pakete stapeln sich. Und diese ganze Wut, unter einem Maleranzug zu stecken und der Bürgermeister von Hamburg, der später dann unser Bundeskanzler geworden ist, Olaf Scholz, geht mit einem Tross aus 50 Anzugträgern an dir vorbei und verdient in einer Minute so viel wie du in einem ganzen Monat. Dieses auf seinen Platz zurückgewiesen werden. Diese Gefühle, die müssen irgendwie in Sprache gegossen werden und letzten Endes ist es mir leichtgefallen, eine Sprache für diese Wut zu finden, für dieses Atemlose. Es ist mir nicht so leichtgefallen, eine Sprache zu finden für die leisen Töne in mir, für die Einsamkeit. Weil ich gewohnt bin, meine Leerstellen zu überschreiben mit Aktion.

Das Schwierige an dem Essay-Band war, diese Sprachen zu verbinden: also analytische Sprache und die Sprache der Wut miteinander zu verbinden, oder die emotionale Sprache zu verbinden mit den Teilen, in denen ich auf die Suche gehe, was es denn in der Literatur schon für Gedanken zu den Themen gibt, die ich verhandle. Und das zusammenzubringen, mit Momenten, an die ich mich erinnere, meiner Familie, mit Momenten von Menschen aus meinem Umfeld, mit meinen Gefühlen – das zusammen zu verwurzeln, das war für mich eine große Herausforderung. Da einen gemeinsamen Ton, eine Temperatur zu finden.

Olivier David beschäftigt sich in „Von der namenlosen Menge“ anhand von Beobachtungen und Erfahrungen mit dem Einfluss von Klasse auf sein Leben – und die Leben derer, die er seine Leute nennt. In sprachgewaltigen, intimen, wütenden und dabei einfühlsamen Essays schreibt er über innere Migration, vom Fremdsein und einer blauen Angst.

In deinem Buch, so mein persönlicher Eindruck, steckt auch eine Art Rehabilitation von verpönten oder geächteten Emotionen in unserem Diskurs. Also Wut, Frust, Scham, Ohnmacht – die Art und Weise, wie darüber oft öffentlich geredet wird, ist eine des Tone-Policings, eine der Verdrängung,  der Pathologisierung, der Ächtung. Diese Emotionen markieren oft einfach individualisiertes Versagen für das Ergebnis gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Hat zum Beispiel die Wut für dich auch eine Art subversives Potenzial?

Die Wut hat absolut machtvolles, auch subversives Potenzial. Gleichzeitig ist sie im Regelfall schädlich. Zunächst für einen selbst und dann notwendigerweise auch für andere. Wut oder Ohnmacht sind an sich keine guten Gefühle. Es sind Gefühle, denen man mit einer bestimmten Klassenposition dann häufiger ausgesetzt ist.
So ist es auch mit der Scham. In aller Regel schadet Scham dem Individuum. Da ist es wahrscheinlicher, dass Menschen sich durch konstante Beschämung nicht empowern können und dass sie nicht die  Möglichkeiten haben, den Blick zu öffnen und zu sagen: „Dass ich beschämt werde, ist schon ein Fall von Individualisierung sozialer Benachteiligung“. Das ganze Leben über wurde mir signalisiert, dass ich das Problem bin und ich wurde beschämt für Dinge, die institutionell schiefgegangen sind, und genauso ist es auch mit der Wut. Wut richtet sich zuerst gegen einen selbst und dann gegen andere und in aller Regel ist Wut nichts Progressives, aber ich suche nach Schreibweisen, wie man dem Schreiben für betroffene Menschen gerecht werden kann. Für mich ist es dann keine Option, diesen bürgerlichen Impetus von einer Caroline Emcke zu wählen, die sagt „Hass ist per se destruktiv“. Das ist für mich eine Art von Gaslighting. Die Menschen kriegen ein Gefühl auferlegt, das nicht zu ihnen gehört, sie sind nicht mit dem Hass geboren, sondern sie werden zu Hassenden gemacht über die gesellschaftliche Position, in die sie hineingeboren werden. Und sie dann dafür zu beschämen, dass sie diese Hassgefühle haben und dass diese sich vielleicht in einer nicht ganz adäquaten Art und Weise veräußern, das ist Victim Blaming. Diejenigen, die benachteiligt sind, werden für ihre Benachteiligung und die Gefühle, die diese Benachteiligung in ihnen auslöst, ein zweites Mal beschämt, ein zweites Mal zur Verantwortung gezogen. Und das, obwohl sie für beides nicht viel können. Da gibt’s auch Gegenbegriffe und da habe ich mich  natürlich auch auf die Suche gemacht nach Autor*innen, die anders denken. Zum Beispiel Şeyda Kurt, die sagt, erstmal ist Hass nur ein Gefühl und erstmal ist es notwendig, dass wir uns mit unseren Gefühlen auseinandersetzen. Auch als Gesellschaft. Vielleicht ist Hass auch ein politisches Gefühl und vielleicht muss man auch nach den Gründen fragen, warum Leute hassen und das macht Emcke nur ganz marginal. Und damit zahlt sie natürlich ein, in so eine bürgerliche Idee von „Leute, die hassen, sind schlecht.“ Wir kennen diese linksbürgerlichen Schilder auf den Demos gegen Rechts: „Hass macht hässlich“ und „Wer hasst, ist dumm“ und so. Ich habe das auch vor zehn Jahren so ähnlich gedacht und so ähnlich gesagt. Das finde ich aber unüberlegt, es ist performativ, weil es einfach nur darum geht, etwas zu verurteilen, aber nicht nach den Gründen für den Hass zu fragen. Denn am Ende haben die Gesellschaften, in denen wir leben, viel davon in der Hand. Man kann Gesellschaft auf eine sehr gute Art und Weise steuern. Man könnte für eine Gesellschaft sorgen, in denen weniger Gründe produziert werden, hassen zu müssen oder beschämt zu werden. Und für diese Gesellschaft habe ich versucht zu schreiben. Ob es gelungen ist, müssen andere sagen.


Wir entpolitisieren gesellschaftliche Gespräche permanent. Wir müssen zu einer Repolitisierung gesellschaftlicher Phänomene zurückkommen, indem wir sagen: „In allem was wir machen, steckt Gesellschaft drin“.

– Olivier David

Geschichten von der unteren Klasse, Literatur über soziale Herkunft – meist sind das Erzählungen von Aufbruch und Aufstieg. Olivier Davids Essays kreisen um diejenigen, die unten geblieben sind. Die mit den schmerzenden Körpern, die Nachtarbeitenden, die Vergessenen – und um ihn selbst. Wie fühlt es sich an, mit dem eigenen Körper und der eigenen Gesundheit den Wohlstand höherer Klassen zu bezahlen? Wie selbstbestimmt kann die Entscheidung, allein zu bleiben, sein, wenn soziale Beziehungen durch Vereinzelung, Geldmangel und eingeschränkte Teilhabe unter Druck stehen? Wie soll Geschichte weitergegeben werden, wenn es kein kollektives Gedächtnis armer Menschen gibt?

Auf dieses Kapitel wollte ich mit der Frage hinaus. Ich glaube, dir gelingt es, auch im besten Sinne aufklärerisch zu wirken mit deinem Buch. Und zwar mit erschreckenden Zahlen: In jedem Jahr erkranken 43% der Frauen der untersten Klassen an psychischen Erkrankungen. Ein Drittel der Männer in den marginalisierten Milieus in Deutschland erleben ihren 65. Geburtstag nicht. Warum ist diese gesellschaftliche Gewalt öffentlich so unsichtbar? 

Ich glaube, wir haben uns als Gesellschaft abgewöhnt, da hinzuschauen, eigentlich liegt alles vor unserer Nase. Ich war vor ein paar Wochen in dem Archiv von der Lokalzeitung in Hamburg, in der ich Volontariat gemacht habe, für die Recherche an einem Buchprojekt, das sich mit den 1970er Jahren auseinandersetzt. Und da wurden früher in so kleinen Spalten am Rand jede Woche die Unfallzahlen rausgegeben, da wurden auch Kapitalverbrechen bekannt gegeben und ich habe gesehen, was für eine gewalttätige Gesellschaft das war. Da waren Nachrichten zu finden: „Mann tötet seine Kinder“, in einer kleinen Spalte mit vier Zeilen. Das wäre heute eine Woche lang in allen Medien deutschlandweit Aufhänger gewesen. Das war den Leuten vier Zeilen wert, weil die ganze Zeitung voll war damit.

Wir sehen auch heute noch diese Nachrichten, aber wir entziehen ihnen Logiken und Schlüsse. Wenn wir zum Beispiel über Migration reden, dann reden wir ganz häufig eigentlich über Klasse. Gerade, wenn man eine konservative Einlassung zur Migration betrachtet: „Wir müssen die Migration begrenzen“. Letzten Endes geht’s da sehr oft um Klasse, und wir schauen nicht hin und unsere medialen und politischen Diskurse verkürzen und individualisieren Dinge, die passieren, auf den Moment der Tat. Wie Bourdieu sagt, wenn wir uns Gewalt anschauen, dann müssen wir hinter die Gründe für Gewalt schauen. Oftmals sind sie eben sozialer Natur. Wenn du zu Hause geschlagen wirst, ist es wahrscheinlicher, dass du selber Gewalt anwendest. Menschen, die aus der unteren Klasse kommen, wenden häufiger Gewalt an als Menschen, die mehr Geld haben. Natürlich können die es auch anders maskieren, in einer 200 Quadratmeter großen Wohnung fällt’s leichter, die Gewalt zu verbergen.

Was ich eigentlich sagen will, ist: Wir entpolitisieren gesellschaftliche Gespräche permanent. Wir müssen zu einer Repolitisierung gesellschaftlicher Phänomene zurückkommen, indem wir sagen: „In allem was wir machen, steckt Gesellschaft drin“.

Wie gesagt, reden wir hier auch von psychischen Erkrankungen: 33% der Frauen der untersten sozialen Statusgruppe in Deutschland erkranken innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung. Das sind epidemische Ausmaße! Wir haben 14 Millionen, wahrscheinlich mehr, Armutsbetroffene und noch mal vier bis fünf Millionen, die nah dran sind, die nicht weit in den Rückspiegel schauen müssen, um die Armut zu sehen. Wir haben 40% der Menschen in Deutschland, die nicht mal 1000 € gespart haben. Das sind alles Leute, auf die diese Frage zutrifft und das bedeutet, dass Millionen Menschen in diesem Land aufgrund ihres sozialen Status psychisch erkranken. Weil wir sehen in den höheren sozialen Statusgruppen, die das Robert Koch Institut in dieser von dir zitierten Studie erfasst, da sind die Erkrankungszahlen auf einmal fast nur noch ein Drittel. Das heißt, psychische Erkrankung ist ein Ding, und darüber zu sprechen wird langsam populär und das ist gut und notwendig. Aber es wird eben entpolitisiert, indem zu wenig über die sozialen Hintergründe dieser Sachen gesprochen wird.

Auch noch ein letztes Beispiel aus dem Essay „Der arme Körper“: Es vergeht in Zeitungen keine Woche, in der nicht irgendwelche Bauarbeiter von Gerüsten fallen, in der nicht Leute erschlagen werden, in der nicht Müllmänner ums Leben kommen – ich habe in meiner Zeit des Volontariats zwei tote Müllmänner aufgeschrieben, die von ihren Müllautos überfahren worden sind, beim Ausrangieren oder sonst was. Das sind eben originär die Menschen aus der Arbeiter*innenklasse, die während ihrer Arbeitszeit sterben, weil sie körperliche Arbeit ausüben und das ist eigentlich eine politische Sache. Das heißt, da beginnt die Selektion schon im Kindergarten und in der Vorschule, und über diese Selektion kann man eine Wahrscheinlichkeit ausrechnen, wie viel früher eine Person stirbt. Abhängig davon, welchen Beruf sie ausübt. Also, ob sie einen körperlich-handwerklichen Beruf ausübt, oder ob sie im Büro sitzen darf. Und daraus ergibt sich eine Wahrscheinlichkeit, wann dein Leben zu Ende ist und mit welchen Vorerkrankungen du frühzeitig, ja, ermordet wirst, denn das lässt sich eben bis zu einem gewissen Grad steuern. Also eigentlich müsste es so sein, dass Leute, die körperlich arbeiten, zum Beispiel 15 Jahre früher in Rente gehen, denn jeder dritte Mann aus der Armutsklasse stirbt vor Beginn seines Renteneintritts. Dass wir das nicht machen, bedeutet einfach, dass es Leute gibt in diesem Land, die aufgrund ihres sozialen Status ermordet werden. So drastisch muss man es leider sagen.


Wer erinnert sich an meine Tante, die Steine auf die Polizei geschmissen hat? Wer erinnert sich an meinen Vater, der im Gefängnis saß? Wenn ich es nicht mache, dann macht’s vielleicht keiner.

– Olivier David

Das ist gesellschaftliche Gewalt, die zugedeckt wird und ich glaube, es ist ja tatsächlich auch die Herausforderung, die Schicksale zwar nachempfindbar zu machen und gleichzeitig diesen Scheinwerfer auf diesen Klassenaspekt zu richten. Denn Ideologie – das haben wir schon vor Kurzem festgestellt – sind immer die anderen. Klar muss aber sein, dass konservative Kräfte, die Machtverhältnisse unangetastet lassen und reproduzieren, sich immer unsichtbar machen und ich glaube dagegen schreibst du ja auch an.
Dieses klassenbewusste, „auto-ethnographische“ Schreiben wirft ja immer Prämissen auf, die auf den ersten Blick ganz deterministisch wirken können. Gibt’s trotzdem etwas, das Olivier David hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lässt?

Zuversicht ist ein schwieriges Konzept für mich, ich glaube, deswegen hat es mich zum Beispiel sehr viel gekostet, den letzten Essay zu schreiben. Weil ich mir das eben nicht erlauben wollte, da ohne Zuversicht rauszugehen. Ich finde, man muss auch die Zuversicht von der falschen Zuversicht trennen. Man changiert da zwischen so einem Aufwerten von Klasse, da gibt’s viele Lebensläufe von Menschen, die unter großer Kraftanstrengung versuchen, ihre Würde zu erhalten und denen das auch möglich ist. Und dann gibt es wieder den deterministischen Blick darauf, dass es am Ende des Tages eben auch die Frage sein kann, wie lange einen der Staat überhaupt leben lässt in einem Land.

Es geht eben in dem Buch nicht nur um mich, sondern auch um Geschichten, um Menschen um mich herum, und da muss man einfach nur hinhören und dann im Zweifel mal etwas übersetzen, wenn Leute den Zugang nicht dazu haben, dass sie Dinge so sagen, wie sie eigentlich gemeint sind. Da, wo Hoffnung da ist, muss auch – und das ist auch ein Satz aus dem Buch – von ihr berichtet werden. Ich treffe keine Empfehlungen am Ende des Buches und sage nicht, so und so und so muss es sein. Aber man muss Möglichkeiten von Hoffnung aufzeigen, wenn man ein Produzent von symbolischen Gütern ist. Alles andere wäre gefährlich, weil letzten Endes gehören wir Menschen hier im globalen Norden – Leute, die das Privileg haben, über ihre soziale Situation und über die soziale Situation von ihrem Teil der Gesellschaft zu schreiben – zu den privilegiertesten Menschen mit den meisten Ressourcen auf diesem ganzen Planeten.

Natürlich ist im Vergleich zu Multimilliardären mein Einfluss ein Witz. Aber ich glaube auch dieser alten Version von mir, die am Fließband gearbeitet hat, die arbeitslos war, die Nachtschichten, Frühschichten und Spätschichten gemacht hat und die bekifft Käse geschnitten hat hinter der Käsetheke, auch dieser Person bin ich verpflichtet. Und diesen alten Lebenslauf von mir würde ich verraten, wenn ich nicht sagen würde, dass eine andere Welt möglich ist. Ich glaube, da gibt’s einen schmalen Grat dazwischen, die Leute zu verführen, und zu sagen: „Kommt alle mit!“ Und im Gegenteil zu sagen, „Nee, es ist sinnlos“.

Es muss eben über die Hoffnung berichtet werden und, das ist ja auch das Erzählprinzip überhaupt, den Leuten muss ihre Geschichte wiedergegeben werden. Dort, wo ihnen vielleicht die Möglichkeiten fehlen, sie zu konservieren. Den Wert ihrer Geschichte anzuerkennen, das ist absolut notwendig und das ist natürlich auch ein Teil dessen, was mich interessiert an Literatur. Dass ich versuche, Zeugnis zu geben, denn: Wird meine Familie sonst gelebt haben, wenn ich nicht über sie schreibe? Die Menschen in meiner Familie erinnern sich natürlich sehr genau an ihr eigenes Leben, aber wer erinnert sich an ihr Leben in zehn, 20 Jahren? Dagegen strotzen natürlich die Archive der Herrschenden und der Reichen vor Heldengeschichten. Wer kann nicht aus dem Stand fünf Geschichten zu Elon Musk erzählen, aus den letzten zehn Jahren, die der crazy, crazy Unternehmer irgendwie auf die Reihe gekriegt hat? Aber wer erinnert sich an meine Tante, die Steine auf die Polizei geschmissen hat? Wer erinnert sich an meinen Vater, der im Gefängnis saß? Wenn ich es nicht mache, dann macht’s vielleicht keiner. Und da will ich so eine Art Erinnerungsversicherung sein für meine Leute.


Eigentlich müsste es so sein, dass Leute, die körperlich arbeiten, zum Beispiel 15 Jahre früher in Rente gehen, denn jeder dritte Mann aus der Armutsklasse stirbt vor Beginn seines Renteneintritts. Dass wir das nicht machen, bedeutet einfach, dass es Leute gibt in diesem Land, die aufgrund ihres sozialen Status ermordet werden. So drastisch muss man es leider sagen.

– Olivier David

Das finde ich auch einen schönen Gedanken, dass das Buch dann als manifestierte Erinnerung irgendwann im Regal stehen wird – quasi performativ wird. Ein Artefakt, in dem sich zumindest deine Version der Geschichte deiner Eltern oder deiner Verwandten materialisiert. Und genau das ist es ja, was der Arbeiterklasse vorenthalten wird. Schon der Titel „Von der namenlosen Menge“ geht ja zurück auf die Erzählung von Éric Vuillard über den 14. Juli, wo man nach der französischen Revolution sehr genau wusste, wie viele goldene Türknäufe aus den Palästen entwendet wurden, aber über die Protagonist*innen der Aufstände in Paris wurde überhaupt nichts dokumentiert. Vielleicht ist diese Vorstellung ja auch ein bisschen romantisierend und vielleicht auch ein bisschen naiv, aber da steckt ein Stück materialisierte Erinnerung und Geschichte drin.

Ist genau der Aspekt vielleicht auch ein sensibles Thema, dass du deine Version der Geschichte festhältst? Wie geht es dir mit der Vorstellung, dass zum Beispiel dein Vater dieses Buch lesen könnte und sein Leben vielleicht anders interpretiert hätte als du mit diesem spezifisch klassenbewussten, politischen Zugang?

Also zuerst einmal zum ersten Teil, der keine Frage war: Ich sehe und meine das genau so. Für mich ist das Schreiben eine Möglichkeit, Dinge festzuhalten und sie auch später ausgedruckt zu haben, Bücher zu haben, die Zeugnis liefern. Ich finde das auch nicht naiv, sondern für mich ist das eine ganz konkrete, haptisch erfahrbare Art, sich in die Welt einzuschreiben, im wahrsten Sinne des Wortes.

Und zur Frage: Wir können nicht durch die Welt gehen, ohne andere Menschen zu verletzen. Wenn ich über meinen Vater schreibe, dann verletze ich ihn damit und es ist eine andere Verletzung, als wenn ich ihm sage, ich mag dich nicht (was nicht der Fall ist, ich mag meinen Vater). Weil das ein Buch ist, ist es ja noch an eine Leser*innenschaft gerichtet, insofern multipliziert sich diese Verletzung sogar. Wie geht man damit um als Schreibender? Ich versuche, so wenig gewalttätig zu sein und so präzise zu arbeiten wie möglich. Um den Grat zwischen Fiktion, also meiner Idee von meinem Vater, und meinem Vater so schmal wie möglich zu halten. Aber in dieser schmalen Spur verliert sich immer Deutung. Eines der Essays im Buch ist ein Brief, den ich an meinen Vater geschrieben habe, der ergeht sich vor Vermutungen, eben weil ich die Leerstellen, die ich von meinem Vater habe, füllen muss, denn wir leben seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr in einem Land. Und meine Besuche bei ihm, oder die Male, die wir uns gesehen haben in den letzten 25 Jahren, die können diese Leerstellen nicht füllen. Also gibt’s sozusagen eine kleine Brücke. Es hat immer eine Fallhöhe und es wird immer Gewalt transportiert. Die Frage ist, glaube ich, mit welcher Intention das geschieht und ob es vorsätzlich geschieht, oder ob die Gewalt ein Nebenprodukt ist von einer Äußerung. Und so ist es beim Schreiben auch, eben mit dieser erweiterten Zuhörer*innenschaft oder Leser*innenschaft. Da geht’s glaube ich darum, sensibel zu sein.

Auf der anderen Seite diese Geschichten nicht zu erzählen, da frage ich mich, ob das nicht die viel größere Gewalt ist.  Schreiben bedeutet auch Interpretation, und man kann natürlich nicht behaupten, ich erzähle jetzt alle Geschichten von allen Menschen aus der unteren Klasse. Das wäre essenzialisierend, man würde sagen, so wie die Leute sind, so liegt die hundertprozentige Wahrheit.

Was passiert aber jetzt mit Leuten, die arm und wahnsinnig rechts sind? Haben die dann recht, weil sie arm sind? Ich glaube, vielleicht ziehen sie falsche Schlüsse aus einem ehrlich empfundenen Leid. Und die Aufgabe von uns Schreibenden oder uns Menschen, die fürs Schreiben und fürs Denken und fürs Reden bezahlt werden, ist, zu schauen, was zwischen diesen Worten liegt. Und zu sehen, wenn jemand verhärmt vor dir sitzt, dem nur noch sieben oder acht Zähne im Gesicht stehen, wenn der dir sagt, er hat ein glückliches Leben, dann noch mal selber nachzudenken und zu sagen, welcher Kiefer erzählt dir von seinem glücklichen Leben? Der, der verspannt ist, bis ins Gehtnichtmehr? Welche Zähne erzählen dir von einem Leben, welcher Blick erzählt von einem Leben? Und versuchen, das zu dechiffrieren und natürlich geht dabei immer etwas verloren. Und natürlich wird dabei immer Gewalt reproduziert, das geht nicht anders. Aber ich glaube, der wesentliche Punkt ist es, den Vorsatz zu haben, diese Geschichten trotzdem erzählen zu müssen und erzählen zu wollen. Und den Vorsatz zu haben, an einer Literatur zu schreiben, die den eigenen Leuten objektiv nützt, in denen man die Gewalt, die sich an ihnen ausdrückt als politische Kraft verortet. Also für eine Welt zu schreiben, in denen es die Menschen, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind, objektiv besser haben, weil sie egalitär ist.*

 

Fotos: © Martin Lamberty
* Die kursive Passage wurde nach dem Interview schriftlich ergänzt.