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Zwischen Beatles-Frisuren, Flower-Power und der Sehnsucht nach der großen Welt: Mach dich bereit für eine Zeitreise in die 70er! Herbert Dutzlers Roman „Wenn die Welt nach Sommer riecht“ in 5 Songs + Leseprobe

Siegfried ist 13 – ein Alter, in dem Abenteuerromane und das Spielen draußen auf den Feldern in den Hintergrund rücken, etwas anderes dafür immer interessanter wird: Mädchen. Was zuerst lästiges Geschnatter war, hört sich plötzlich an wie engelsgleicher Gesang. Außerdem locken der erste Schluck Alkohol, der erste Zug an der Zigarette – die Kindheit ist vorbei, die Ära der Pubertät ist eingeläutet! Herbert Dutzler verwebt meisterhaft Siegfrieds persönliche Erlebnisse mit den gesellschaftlichen Umwälzungen der 1970er-Jahre. Ein Buch, das uns mit auf eine fesselnde Reise nimmt – in eine Zeit, in der sich für Sigi alles nach Sommer anfühlt, in eine Zeit voller erster Male.

1 Zimmer mit Fließwasser, warm und kalt

(…)
„Morgen kommen die Engländer!“, seufzt Tante Hermi und nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. „Hoffentlich geht das gut. Ich meine, mein Englisch … ich hab ja nur zwei Jahre gelernt, und das ist lang her.“ „Aber ich kann Englisch! Ich hab im Zeugnis einen Einser, einen lupenreinen! Ich kann ja mit denen reden!“ Die Tante zieht die Stirn in Falten. „How do you do mit die Gummischuh!“, schmettert Onkel Fredi fröhlich, geht zum Fernseher hin und dreht am Einschaltknopf. „Hau i di a mit die Goisara!“ Das ist ein beliebter Scherz, den er sehr oft anbringt. Onkel Fredi wartet auf die „Zeit im Bild“, die Nachrichtensendung um halb acht, und ich wende mich wieder meinem Buch zu.
„Ja, du! How do you do! Du hast ja nicht einmal eine Ahnung, was das bedeutet!“, sagt Tante Hermi. „Natürlich!“, erwidert Onkel Fredi. „So grüßt man sich in Amerika!“ Ich klappe mein Buch zu, denn nun muss ich mich einmischen. „Also, wir haben gelernt, dass man bis Mittag ‚Good morning‘ sagt. Danach ‚Good afternoon‘ und am Abend ‚Good evening‘. Wenn man ganz höflich ist, sagt man noch ‚Pleased to meet you‘.“
Die Tante verzieht ihr Gesicht zu einer verzweifelten Grimasse. „Sigi, das war mir jetzt schon zu viel. Wie war das noch einmal? Das muss ich mir aufschreiben!“ Sie läuft zu ihrem Schreibtisch und greift nach einem Notizblock. Ich sage ihr die Grußformeln noch einmal an. „Ich schreib mir’s einfach so auf, wie es sich anhört!“, sagt sie. „Weil wenn ich’s englisch aufschreibe, weiß ich dann nicht mehr, wie man’s ausspricht!“ „Es ist doch ganz einfach!“, prahle ich. „Das lernt man schon in der ersten Klasse! Sogar die Uschi kann das!“ „How do you do mit die Gummischuh, hau i di a mit die Goisara!“, wiederholt Onkel Fredi grölend. Er hat nicht zugehört und schon reichlich Bier getrunken. Gott sei Dank wird er dann immer zuerst lustig und dann schläfrig, während mein Papa gern zu fluchen und zu schimpfen anfängt, wenn er zu viel getrunken hat.
„Habt ihr denn noch nie Gäste aus England gehabt?“, frage ich die Tante. Sie schüttelt den Kopf, während Uschi den Kopf zur Tür hereinsteckt. „England?“, fragt sie. „Was ist mit England?“ Die Tante erklärt es ihr. „Ich muss aber nicht mit denen reden, oder?“, fragt sie. Uschi ist nämlich ein wenig schüchtern und hat überhaupt nicht gern mit fremden Leuten zu tun. Sie mag nicht einmal einkaufen gehen, hier in St. Edelgund, weil sie da die Leute im Geschäft nicht kennt.
„Natürlich nicht“, beruhigt sie die Tante. „Der Sigi wird dolmetschen. Hat er versprochen!“ Es klopft an der Wohnzimmertür, und die Tante öffnet. Draußen steht der Herr, der mit seiner Frau im zweiten Kinderzimmer wohnt. „Hätten Se wohl noch ’n Bierchen für uns, liebe Frau Wirtin?“ Er ist ein Deutscher, die sprechen so. Natürlich hat Tante Hermi, obwohl sie eigentlich keine Gastgewerbekonzession hat und kein Bier verkaufen darf. Im Geschäft kostet eine Flasche Bier zwei Schilling, und die Tante verkauft sie für vier Schilling weiter. „Das deckt mir grad die Schlepperei ab!“, sagt sie. „Ich muss ja schließlich auch die leeren Flaschen wieder zurückbringen. Und billiger als im Gasthaus ist es bei mir immer noch.“

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„Wie bist du denn überhaupt zu den Engländern gekommen?“, frage ich Tante Hermi. „Die Kurverwaltung hat sie mir vermittelt“, sagt sie. „Seit neuestem heißt unser Fremdenverkehrsbüro so. Wir sind nämlich jetzt ein Kurort. Wegen dem Wasser.“ „Das so stinkt!“, mischt sich Uschi ein. „Das würd ich nie trinken! Bäh!“ Sie streckt die Zunge heraus. „Wenn du so Kreuzweh hast wie ich“, ächzt der Onkel Fredi und hievt seine Füße auf den Couchtisch, „dann würdest alles trinken, wenn sie dir nur versprechen, dass es besser wird!“ „Ja, aber von den Füßen auf dem Tisch wird’s sicher nicht besser!“, schimpft Tante Hermi. „Was bist denn du für ein Vorbild für die Kinder! Runter mit den Flossen!“ Stöhnend gehorcht der Onkel. Es ist mir schon aufgefallen, dass hier im Haus die Tante den Ton angibt, noch mehr als bei uns zu Hause, wo Papa wenigstens meistens aufbegehrt, wenn Mama irgendwas entscheidet, ohne ihn zu fragen.
„Und die haben mich halt gefragt“, fährt die Tante fort, „ob ich auch Engländer nehmen täte, ob ich mir das zutraue. Und mit den Franzosen, da ist es ja auch gut gegangen, da haben wir uns halt mit Händen und Füßen …“ „Franzosen waren auch schon da?“, staune ich. „Wie sind denn die hierhergekommen?“ Die Tante zuckt mit den Schultern. „Genauso wie die Engländer, nehme ich an. Mit dem Auto halt.“

Ich bin verblüfft. Dass man so weite Reisen mit dem Auto unternehmen kann! Wir haben zwar seit ein paar Jahren einen VW Käfer, den Papa günstig von einer Nachbarin gekauft hat, deren Mann an Lungenkrebs gestorben ist. Der VW steht aber meistens im Heustadel und Papa muss ständig daran herumschrauben oder -schweißen. Mama schimpft dann immer und erinnert Papa daran, dass sie lieber noch ein wenig gespart und dann einen Ford Cortina gekauft hätte. Weil der hätte wenigstens einen ordentlichen Kofferraum, und außerdem hat der Mann von einer ihrer Freundinnen einen Ford Cortina, und da ist nie etwas kaputt. Ich kenne die Streitereien meiner Eltern praktisch auswendig, weil sie sich immer um die gleichen Dinge drehen und immer gleich ablaufen. Enden tun sie meistens damit, dass Papa die Tür hinter sich zuschlägt, zum Kirchenwirt geht und spät nachts die Stiege hinaufpoltert.

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Ich hab schon den ganzen Tag gebettelt, dass ich heute Abend die Sondersendung über Apollo 15 sehen darf. Diesmal haben die Astronauten ein Mondauto mit an Bord gehabt und sind auf dem Mond herumgefahren. Sie sind zwar gestern schon wieder zurück zur Erde gestartet, aber heute soll es eben eine Sondersendung geben, mit Filmmaterial, das bisher noch nicht gesendet worden ist. Leider bin ich der Einzige, den die Mondlandungen noch interessieren, sie sind inzwischen zum Alltag geworden und bei weitem keine Sensationen mehr. Mit 15 km/h sind die da oben herumgefahren, und auf manchen Aufnahmen kann man sehen, dass das Mondauto richtig über die Hügel hüpft. Es ist ja auch viel leichter, als es auf der Erde wäre. Auf dem Rückflug wird es noch einen spannenden Moment geben, denn der Kommandant der Kapsel muss aussteigen, um Datenkassetten einzusammeln. Es wird der erste Raumspaziergang in Mondnähe sein. Ich erkläre das alles der Tante und dem Onkel, aber die gähnen leider nur. Es ist eine Tragödie, dass sich so wenige Leute bei uns für den Fortschritt in der Wissenschaft interessieren. In zehn Jahren, das versprechen die Wissenschaftler, wird es eine ständig bewohnte Mondbasis geben, und in 20 Jahren wird man als Tourist dorthin fliegen und dabei zuschauen können, wie die Marsrakete auf dem Mond zusammengeschraubt wird.

Später im Bett lese ich noch in meinem Thor Heyerdahl und staune über so viel Mut. Mit einem aus Schilfstengeln zusammengebundenen Boot nach Amerika zu fahren, das ist eine ganz unglaubliche Geschichte. Amerika, das ist überhaupt ein Zauberwort für mich. Die ganzen Wildwestgeschichten von Karl May spielen dort, und die Raketen zum Mond, die starten auch in Amerika. Ob ich einmal auf dem höchsten Wolkenkratzer der Welt, auf dem Empire State Building, stehen werde? Das wird wohl ein Traum bleiben, fürchte ich. Denn gegen Ende der Ferien fahren wir wieder nach Caorle, mit dem Bus, weil unser Käfer für eine so weite Reise nicht taugt, sagt Mama. Weiter bin ich in meinem Leben bisher nicht gekommen.
Den nächsten Tag verbringe ich in großer Anspannung, denn wir erwarten die Engländer. Ich halte mich meist auf der Terrasse auf, damit ich sie nicht übersehe. Leider vertreibt mich zu Mittag der Regen, und ich muss mit meinem Buch unter dem Balkon Schutz suchen. Aber ich will trotzdem der Erste sein, der sie begrüßt.

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Endlich, gegen halb vier am Nachmittag, taucht ein seltsames Auto in unserer Einfahrt auf. Es ist ziemlich groß, grün und von einer Marke, die ich nicht kenne. Das Kennzeichen hat viel dickere Buchstaben als unsere und endet mit einem „G“. Ein österreichisches Auto kann es also nicht sein. „Tante Hermi!“, schreie ich und stürme durch die Terrassentür in die Küche. „Sie sind da! Die Engländer sind da!“ „Mein Gott!“ Die Tante springt auf und streicht ihre Schürze glatt. „Hoffentlich geht das alles gut!“ „Welches Zimmer kriegen sie denn?“, frage ich. „Die Nummer drei! Das mit dem Eckbalkon!“ Die Tante rennt zur Haustür, ich in ihrem Schlepptau. Die Engländer stehen hinter dem geöffneten Kofferraumdeckel und haben Schirme aufgespannt. „Sag ‚Good afternoon‘“, flüstere ich Tante Hermi noch zu. Sie schüttelt schon Hände. „Good afternoon, Missis Langdon!“, sagt sie. Und „Good afternoon, Mister Langdon!“. Es werden Hände geschüttelt, die Ankömmlinge lächeln. Er hat rötliches Haar und einen ebenso rötlichen Vollbart, während die Frau dunkelhaarig ist und in einem recht eleganten grünen Kleid steckt, das ungefähr dieselbe Farbe wie das Auto hat.
„I am Sigi!“, dränge ich mich vor, weil die Tante vergessen hat, mich vorzustellen. „And I can speak English!“ Die beiden lachen. „Wonderful!“, sagt Mrs. Langdon. Ich hab mir natürlich schon zurechtgelegt, was ich sagen werde. „May I carry your suitcase?“, frage ich und greife nacheinem Koffer, der schon auf dem Boden steht. Er ist auch grün, genauso wie Auto und Kleid. Damit er nicht nass wird, schnappe ich ihn gleich, um ihn aufs Zimmer zu tragen. Mrs. Langdon duftet auch ganz wunderbar, was mich erstaunt, weil sie doch sicher stundenlang im Auto unterwegs waren.
Mr. Langdon wuchtet einen noch größeren braunen Koffer aus dem Auto. Hinten auf dem Auto steht „Rover P6“, und es ist auch ein internationales Kennzeichen angebracht, auf dem „GB“ steht. „You have room number three!“, erkläre ich und gehe voran. Den Engländern scheint das Zimmer zu gefallen, sie loben die Aussicht auf den Zwölferkogel und hinunter ins Dorf bis zur Kirche. „Marvellous!“, zwitschert Mrs. Langdon und schiebt den Vorhang zur Seite. Mr. Langdon kramt in seiner Hosentasche und drückt mir schließlich einen Zehner in die Hand. Zehn Schilling! Dafür muss ich normal Tante Hermi zehnmal beim Abtrocknen helfen! So viel Trinkgeld habe ich noch nie bekommen! „Aber das wäre doch gar nicht nötig!“, beeilt sich Tante Hermi, die ein bisschen rot geworden ist, weil sie außer Nicken und Mit-den-Händen-Deuten noch nichts gesagt hat, nachdem sie die Langdons begrüßt hat.

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„And now“, sagt Mrs. Langdon, „I’d like to take a bath. After that long drive.“ Ich verstehe jedes Wort, sie spricht sehr deutlich und fast genauso wie unser Englischlehrer. Oje, denke ich mir, da wird die Tante nicht so erfreut sein. Denn wenn zwei Leute baden, dann wird bei uns das warme Wasser knapp, und weil der Boiler bloß mit Nachtstrom aufheizt, der viel billiger ist, haben dann die anderen Gäste möglicherweise kein warmes Wasser mehr für ihre Waschbecken. „Sie möchte baden!“, erkläre ich der Tante. „Selbstverständlich!“, nickt sie. „I show you the bath!“ Leider sagt sie „Bass“, ohne das „th“. Aber immerhin hat sie sich getraut. Sie geht auf den Gang hinaus und zeigt Mrs. Langdon den Weg.
„Oje“, seufzt die Tante, als wir wieder unten in der Küche sind. „Wenn die womöglich jeden Tag baden wollen, dann gute Nacht!“ „Vielleicht können wir ihnen das mit dem Boiler erklären?“, schlage ich vor. Die Tante schüttelt den Kopf. „Jetzt schauen wir einmal. Man darf die Gäste schließlich nicht vergrämen. Vielleicht geht es sich ja eh aus mit dem Warmwasser. Müssen wir halt sparen, ich mach mir zum Abwaschen was auf dem Herd heiß.“ „Schließlich“, erinnere ich sie, „steht auf dem Schild auch ‚Warmwasser‘.“ Die Tante verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. „Schilder sind geduldig!“, sagt sie. „Die müssen Geld haben wie Heu!“, fügt sie hinzu. „Das Kleid, das Auto, zehn Schilling Trinkgeld … warum die nicht in ein Hotel gegangen sind?“, fragt sie mehr sich selbst als mich. „Vielleicht, weil’s ihnen mit Familienanschluss besser gefällt!“ Die Tante wiegt zweifelnd den Kopf.
Familienanschluss bedeutet, dass sich manche Gäste am Abend zu uns ins Wohnzimmer setzen und mit der Tante und dem Onkel Wein und Bier trinken. Manchmal spielt Onkel Fredi dann auf der Ziehharmonika und alle singen dazu. Der Fernseher bleibt natürlich ausgeschaltet. Ich selber halte nicht so viel vom Familienanschluss, ich lese lieber.
Ich schleiche mich noch einmal in die Pension hinüber. Vielleicht brauchen die Engländer ja was, und ich bekomme noch einmal ein Trinkgeld. Im ersten Stock höre ich es dann kichern und platschen. Anscheinend hat Mrs. Langdon schon ihr Bad einlaufen lassen. Aber hört man da nicht zwei Stimmen aus dem Bad? Natürlich! Ein gekichertes „No, Jim!“ verstehe ich, und dann höre ich auch Mr. Langdon grummeln. Sind die beiden miteinander in die Badewanne gestiegen? Davon habe ich überhaupt noch nie gehört, dass ein Mann und eine Frau sich eine Badewanne teilen. Und wahrscheinlich ist es sogar ein bisschen unanständig. Andererseits wird es die Tante freuen, wenn ich es ihr erzähle, denn so sparen die beiden wenigstens warmes Wasser. Ich verziehe mich, bevor mich noch jemand sieht und womöglich denkt, dass ich an der Badezimmertür lausche.
Weil es noch immer regnet, gehe ich in unser Zimmer, wo Uschi gerade damit beschäftigt ist, ihrer Puppe die Haare zu kämmen. „Ich hab schon Englisch geredet!“, prahle ich. „Und die beiden Engländer, die sitzen gerade miteinander in der Badewanne!“ Uschi klappt die Kinnlade hinunter. „In der Badewanne? Miteinander?“ Ich nicke. „Wahrscheinlich seifen sie sich gegenseitig ein.“ Meine Fantasie spielt mir gerade wilde Streiche. Mrs. Langdon ist eine sehr hübsche Frau. „Aber … darf man denn das?“, fragt Uschi. Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht macht man das in England so. Und vielleicht haben sie ja auch eine Badehose an, und einen Badeanzug.“ „Aber das … der Mitzi-Oma darfst du das nicht erzählen!“, flüstert Uschi. „Die schmeißt die zwei dann nämlich gleich hinaus!“

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Zum Weiterhören: Sigis Hitparade

Danyel Gérard Butterfly
Michael Nesmith Silver Moon
John Lennon / Plastic Ono Band Power to the People
Georgie Fame & Alan Price Rosetta
T. Rex Get It On
Giorgio Son of my Father
Wolfgang Ambros Da Hofa
Rod Stewart Maggie May
Slade Coz I Luv You
The Cats One Way Wind
Can Spoon
The Beatles Lady Madonna
The Beatles All You Need Is Love
The Beatles Penny Lane
The Beatles Lucy in the Sky with Diamonds

 


„Gasperlmaier hängt noch immer das Image des Tollpatschs nach.“ – Herbert Dutzler im Interview

Franz Gasperlmaier hat bereits im Bergwerksstollen ermittelt, sich im Fasching als Trommelweib getarnt, bei Verfolgungsjagden auf Gebirgsstraßen geschwitzt und dabei diverse Verbrecher*innen gestellt. Herbert Dutzler verrät uns, was „Letztes Zuckerl” für den Franz bereithält und inwiefern sich der Ermittler der Herzen über die Jahre verändert hat.

 

Seit Jahren dürfen wir Franz Gasperlmaier bei seinen Ermittlungen begleiten – in „Letztes Zuckerl“ bereits zum elften Mal. Was würdest du sagen, inwieweit hat sich Gasperlmaier in all den Jahren weiterentwickelt und inwiefern ist er der Alte geblieben? Und wie hat sich die Beziehung zwischen dir und deiner Romanfigur verändert?

Gasperlmaier hängt immer noch das Image des Tollpatschs nach, das ich ihm zu Beginn der Serie selbst verpasst habe. Mittlerweile hat er das Ungeschickte, Umständliche äußerlich abgelegt, das Zögerliche und Nachdenkliche aber sind ihm geblieben. Ich lasse Gasperlmaier nämlich immer noch sehr zaghaft auf Neues, Unerwartetes und Ungewöhnliches reagieren, das bringt auch Spannung in die Figur, sie muss sich immer wieder neuen Herausforderungen stellen, wie zum Beispiel den Entwicklungen in seiner Familie.

 

Foto: © Haymon Verlag/ Fotowerk Aichner.

Ein altbekanntes Sprichwort lautet „Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen“. Glaubst du, Gasperlmaier würde diesem Spruch zustimmen?

Ja, sicher. Er macht sich um das Wohlergehen seiner Kinder und Enkel viele Gedanken, die ihm manchmal auch den Schlaf rauben. Da Gasperlmaier bereits im ersten Band fast erwachsene Kinder hatte, fehlt mir leider der Einblick in ihre frühe Kindheit und Jugend – welche Rätsel sie ihm damals aufgegeben haben, verbleibt im Dunkel der Vergangenheit. Aber vielleicht gibt es ja einmal einen Band „Gasperlmaier – the early years“!

 

Auch Internetkriminalität wird in „Letztes Zuckerl“ thematisiert. Musstest du selbst schon mal Erfahrungen mit Internettrollen machen?

Das ist mir bisher zum Glück erspart geblieben – obwohl: Bei einigen Büchern tauchten auf der Seite eines bekannten Onlineshops sehr kurz nach dem Erscheinen anonyme Ein-Stern-Bewertungen ohne Kommentar auf – da habe ich mir schon Gedanken gemacht, wer da wohl dahinterstecken könnte!

 

Wer auf der Suche nach einer Wohnung oder einem Eigenheim ist, weiß: Es ist schwierig, etwas Passendes und noch schwieriger, etwas Leistbares zu finden. Selbst im idyllischen Altaussee versucht jemand, dubiose Immobiliendeals zu machen. Hattest du selbst bereits mit Immobilienhaien zu tun?

Da muss ich ein wenig weiter zurückgehen: Während des Studiums habe ich mit meiner damaligen Freundin und jetzigen Frau in einer Garçonnière in Salzburg gewohnt. Der Besitzer verfügte, Gerüchten zufolge, über ca. 80 Wohnungen in Salzburg und hat während der insgesamt 5 Jahre, die wir dort verbrachten, die Miete um ca. 50% erhöht – da konnten wir zum ersten und einzigen Mal spüren, wie schwierig es sein kann, in Gegenden leistbares Wohnen zu finden, die sehr stark nachgefragt sind.

 

Der Franz ist traditionsverbunden, aber auch immer wieder bereit, sich auf Neues einzulassen. Was beschäftigt ihn derzeit? Was tut sich in seinem Leben?

Da gibt es tatsächlich einiges. Gasperlmaier macht sich zu viele Gedanken darüber, ob die Partner seiner Kinder auch wirklich die richtigen für sie sind. Da ist einmal Richelle aus Vancouver, die für seinen Geschmack etwas zu mondän und zu wenig naturverbunden ist. Ob das in Altaussee gut gehen kann, fragt er sich oft. Und die Frau seiner Tochter ist ja bekanntlich Journalistin, und er hat es nicht so gern, wenn sie zusammen mit seiner Katharina in Altausseer Interna herumwühlt. Und zu guter Letzt fragt er sich natürlich auch, ob er es bei der Polizei bis zur Pension schaffen wird – nach einem durchaus unerfreulichen Erlebnis im „Letzten Zuckerl“, über das nichts verraten werden soll. Aber es ist ihm ja schon einige Male übel mitgespielt worden, das darf man hier nicht vergessen!

 

Altausseer Landidylle, Opafreuden und Internetkriminalität  findest du in „Letztes Zuckerl” von Herbert Dutzler.

 

Full House bei den Gasperlmaiers!
Die bereits erwachsenen Kinder kehren mit ihren Familien zurück ins elterliche Nest und auch außerhalb des Gasperlmaier-Hauses geht es rund: Zuerst geschieht ein Unfall mit Todesfolge, dann gräbt ein Hund nicht etwa ein Stöckchen, sondern eine Leiche aus dem Schnee. Dass es Franz Gasperlmaier bei seinen Ermittlungen mit Männern zu tun bekommt, die sich mit Frauenhass brüsten, jemand um jeden Preis Altausseer Immobilien ergattern will und ein Hauch von Marihuanaduft in der Luft liegt, lässt seinen Vorsatz, es ruhiger anzugehen, gehörig wackeln.

 

Komm mit ins Ausseerland! Hier geht’s in die Welt von Franz Gasperlmaier.

Coming of Age in Österreich: Drei Haymon-Autor*innen im Interview

Ach, Kindheitserinnerungen: Mit dem Postbus ewig in die Schule brauchen, Jollyeis im Freibad im Sommer genießen, Skifahren lernen (bevor man überhaupt Lesen und Schreiben kann) … Viele Erinnerungen teilen wir mit anderen, viele sind ganz unterschiedlich: Es gibt unzählige verschiedene Lebenswelten in diesem Land, so viele einzigartige Kindheiten und Coming-of-Age-Erlebnisse in Österreich. Vieles, was fast schon als kollektives Kindheitsgedächtnis zählt, ist nur eine Seite, eine Perspektive. Jede*r hat schöne, aber auch schwere Erinnerungen. Vielleicht auch welche, an die man nicht so gern zurückdenkt oder auch erst als Erwachsene*r richtig einordnen kann. Was hat sich seitdem geändert, was ist genau gleichgeblieben? Was vermisst man – und was gar nicht? Im Interview erzählen Nada Chekh, Herbert Dutzler und Precious Chiebonam Nnebedum vom Eiskunstlaufen und Comiclesen, von den Süßigkeiten, die unsere uns Eltern niemals erlaubt hätten (hätten sie davon gewusst) und von den Lektionen, die sie erst heute verstehen gelernt haben …

Nada Chekh ist kritisch, laut und ehrlich. In den 1990ern und 2000ern wuchs sie im Wiener Gemeindebau auf. Heute schreibt sie als Journalistin darüber, was die multiethnische Community in Österreich bewegt.
Foto: © Zoe Opratko

Was ist deine prägendste oder präsenteste Kindheitserinnerung?

Nada Chekh: Es gibt viele Erinnerungen aus meiner Kindheit, die mir – je nach Gefühlslage – in den Kopf kommen. Als ich zwölf Jahre alt war, wollte ich unbedingt Eiskunstläuferin werden. Mich in einem Verein anzumelden, konnten sich meine Eltern damals nicht leisten, aber dafür hat mein Vater mich mehrmals die Woche zu einem Eislaufplatz gebracht, wo ich nach der Schule abends zwei Stunden lang üben konnte. Einmal hatte ich den ganzen Platz im Außenbereich für mich alleine, und es schneite gerade so richtig dicke Flocken, und der Himmel war ganz erleuchtet davon, obwohl die Sonne bereits vor Stunden untergegangen war. Ich drehte ganz glückselig ein paar einfache Pirouetten vor mich hin und spürte so eine Ruhe in mir, wie selten zuvor. Lustigerweise erinnert mich der Song „Blue Dress“ von Depeche Mode an diesen Moment, obwohl ich mir gar nicht sicher bin, ob dieses Lied damals über die Anlage gespielt wurde.

Herbert Dutzler: Wenn ich versuche, mich zurückzuerinnern, fallen mir fast nur Szenen im Freien ein, wo ich mit anderen Kindern zusammen war. Meist beim Radfahren, Fußball spielen oder einfach nur im riesigen Haselnussbusch herumhängen. Ein besonderer Nachmittag sticht aber heraus: Ich war in Bad Aussee bei einem Schulfreund zu Besuch, der eine riesige Sammlung von Micky-Maus-Heften hatte. Ich bin den ganzen Nachmittag auf der Veranda gesessen, der Regen rauschte durch die Bäume im Garten, und ich war völlig in die Comics vertieft.

Precious Chiebonam Nnebedum: Die präsenteste Erinnerung, die ich an meine Kindheit habe, muss mein siebter Geburtstag sein. Das war das Jahr, in dem ich jeden einzelnen Tag genossen habe, und es scheint wirklich sehr, sehr bedeutsam in meiner Erinnerung zu sein. Um ehrlich zu sein, habe ich an dem Tag nicht viel gemacht, aber eine Sache, die ich sehr lebhaft erinnere, ist, dass ich zu Hause einen kleinen Kuchen mit meinen Cous*inen gegessen habe, die zu Besuch gekommen waren. Danach habe ich ein bisschen Geld von der Familie bekommen, und es war nicht einmal viel, aber für eine Siebenjährige war ich reich. Ich bin damit mit meinen Cous*inen zum Laden an der Ecke gegangen und habe Süßigkeiten und Milchpulver gekauft, denn das war für uns damals eine Delikatesse, R.I.P. an unsere Zähne.
Ich bin mir zwar nicht hundertprozentig sicher, aber ich glaube ich habe auch eine Geburtstagskarte bekommen. Es muss eine rosa und blau glitzernde Geburtstagskarte gewesen sein, ich habe vergessen, von wem. Und ich war einfach glücklich. Es ist nicht viel passiert, aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass dieses Alter der Höhepunkt war. Und jedes Mal, wenn ich denke, oh Mann, Erwachsensein ist eine Abzocke, erinnere ich mich an mein siebtes Jahr zurück. Denn damals war ich einfach am glücklichsten.

Herbert Dutzler ist in den 1960er Jahren in Altaussee im Salzkammergut großgeworden, heute schreibt er Bestseller.
Foto: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

 

Was waren die größten Kämpfe, die du als junge*r Erwachsene*r ausfechten musstest?

Precious Chiebonam Nnebedum: Ich bin sehr dankbar und erkenne an, dass ich zu den wenigen POC in Österreich gehöre, die das Privileg hatten, in sehr jungen Jahren die Möglichkeit geboten zu bekommen, einflussreich zu werden und eine beeindruckende Liste von Erfolgen anzuhäufen. So sehr ich weiß, dass dies eine lobenswerte Tatsache ist, ging es auch mit vielen Unsicherheiten, Zweifeln und Fragen einher. Eine der größten hatte definitiv damit zu tun, ob ich überhaupt das Recht hatte, in bestimmten Räumen zu sein, in die ich hineinging. Ich betrat politische Räume, ich betrat leitende, autoritäre Räume und Rollen, und jedes Mal hinterfragte ich die Tatsache, ob es einer jungen Schwarzen Frau erlaubt war, dort zu sein, ob sie dort sein sollte und ob sie überhaupt etwas Wertvolles beizutragen hatte oder ob sie einfach nur eine Beobachterin sein durfte. Ich denke, das Schwierige daran war, dass mir klar wurde, dass das nur in meinem Kopf war, aber aus irgendeinem Grund war es dennoch sehr schwer, diese Hürde zu überwinden und einfach zu handeln.
Ich muss wirklich Anerkennung zollen, wo Anerkennung gebührt, und offenlegen, dass es nur durch die Gnade Gottes war, dass ich in den meisten Fällen tatsächlich gehandelt und gesprochen habe. Ich habe eine Einstellung entwickelt, die besagt: „Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht ich, wer dann?“ Ich könnte nie sagen, dass es allein meine Leistung war. Ich verdanke das dem Support und Rückhalt von den Menschen um mich herum – meinen Geschwistern, meiner Familie, meinem Partner, meiner Community. Menschen, die Dinge in meinem Leben gesehen und über mich gesprochen haben, so oft, dass ich einfach daran glauben musste. Ich musste daran glauben, um weiterzukommen, und letztendlich habe ich das getan.

Herbert Dutzler: Da ging es vor allem um Kleidung und Haare. Meine Eltern hatten wenig Verständnis dafür, dass es unbedingt Jeans sein mussten, und noch dazu welche einer bestimmten Marke (Levis). Später mussten Jeans her, die einen V-Cut am Knie hatten, der irgendwann in den Siebzigern ein modisches Must-have war. Und unten mussten sie so weit ausgestellt sein, dass man die Schuhspitzen drinnen verstecken konnte. Die Haare waren auch ein ständiges Thema. Sie mussten zumindest so lang sein, dass man sie unterhalb der Ohren zusammenführen konnte, sonst war man komplett und völlig out. „So stellt sich der Bub nicht unter den Christbaum!“, hieß es, wenn die Frisur für die Feiertage dem Vater unpassend erschien.

Nada Chekh: Ich glaube, dass im Allgemeinen der Kampf um meine Privatsphäre der schwierigste in meiner Jugend war. Also nicht nur räumlich – es gab in unserer Wohnung nur drei Schlafzimmer für fünf Kinder und meine Eltern – sondern auch persönlich. Solange man finanziell und strukturell von seiner Familie abhängig ist, gelten auch deren Regeln unter dem Dach. Je erwachsener ich wurde, desto mehr spürte ich gewisse Rollenbilder, die mir als Frau auferlegt wurden. Dazu gehörte nicht nur, keinen Kontakt zum anderen Geschlecht zu haben, sondern auch eine Unfreiheit über meinen eigenen Körper. Als Jugendliche reagierte ich sehr empfindlich und frustriert auf diese Kontrolle, das hat mich ziemlich geprägt. Ich habe mich zudem nie mit meiner Religion wirklich identifiziert, was mich eine Stufe weiter von meiner Familie, meiner Muttersprache und den Sitten entfremdet hat.

 

Precious Chiebonam Nnebedum wuchs in Nigeria und Österreich auf. Nachdem sie zahlreiche Poetry-Slam-Bühnen gestürmt hat, lebt die Lyrikerin und Musikerin heute in Wien.
Foto: © Ella Börner

Gibt es etwas, das dir deine Eltern früher vermittelt haben, das für dich heute noch sehr wichtig ist? Oder gibt es vielleicht Haltungen, Werte, die dir deine Eltern mitgegeben haben, die du irgendwann beim Älterwerden verworfen hast?

Herbert Dutzler: Meine Mutter hat mich ab der ersten Klasse Volksschule wöchentlich in die Bibliothek mitgenommen, wofür ich ihr heute noch dankbar bin. Das Regal mit den Büchern für Leseanfänger war für mich die reinste Wunderkammer, und ich hatte alle Bücher darin noch vor dem Ende der ersten Klasse durch. Die politische Einstellung meiner Eltern und ihre Haltung fremden Menschen gegenüber ist ein Wert, den ich mit etwa 16 endgültig verworfen habe. Ihre Haltung war von distanzloser Verherrlichung einer schrecklichen Vergangenheit geprägt, was später auch zu gröberen Auseinandersetzungen geführt hat, als mein politisches Interesse erwachte und in eine völlig andere Richtung ging.

Nada Chekh: Heute finde ich es sehr schade, dass ich mich in meiner zweiten Muttersprache Arabisch niemals wohlgefühlt habe, obwohl meine Eltern mehrere Offensiven dazu gestartet haben, dass ich richtig lesen und schreiben lerne. Leider hat es mit Diktaten von Koransuren und Gebeten beim Sprachunterricht kaum funktioniert, weil ich nicht religiös war. Das ist so eine Sache, die ich meinen Eltern beim Aufwachsen vorgeworfen habe – dass sie mir die arabische Sprache vor allem über die islamische Religion näherbringen wollten, obwohl ich mich sehr heftig dagegen gesträubt habe. Auch über die Tatsache, dass die Bekannten meiner Eltern sich ohne Weiteres über meinen deutschen Akzent lustig machen konnten, habe ich mich lange geärgert. Mittlerweile sehe ich das gelassener, womöglich weil ich stattdessen Russisch gelernt habe und zuhause mit meinem Mann eine quasi „neue Muttersprache“ spreche, die ich an meine Kinder weitergeben würde, sollte ich eines Tages welche haben.

Precious Chiebonam Nnebedum: Eine der vielen Haltungen, die ich von meinen Eltern übernommen habe, ist die „offene-Haustür-Regel“. Unser Zuhause war immer offen, für jeden, seien es Cous*inen, die kamen und übernachteten. Wir hatten Tanten, Onkel, wir hatten Freund*innen, die kamen und übernachteten. Es wurde nie wirklich in Frage gestellt, ob wir genug zu bieten und teilen hatten, es war einfach die Tatsache klar, dass Menschen Bedarf hatten und wir immer bereit waren, zu helfen. Das ist etwas, dem ich auch heute noch folge. Immer wenn Freund*innen oder Familie oder wer auch immer in meiner Nähe sind, ist meine erste Aussage: „Hast du einen Platz zum Schlafen? Möchtest du bei mir bleiben?“ „Möchtest du abhängen? Ich kann für dich kochen. Du kannst kommen und so lange bleiben, wie du möchtest.“ Das ist mir zuallererst von meinen Eltern eingeprägt worden, bevor es später von Freund*innen und meiner Community verstärkt wurde.
Es gibt jedoch auch bestimmte Dinge, die ich von meinen Eltern gelernt habe und von denen ich mich nun langsam distanziere. Eines davon wäre die Vorstellung, dass Kreativität oder der Wunsch, kreativ zu arbeiten und eine Karriere daraus zu machen, definitiv in einer Sackgasse enden wird. Mir wurde tausendmal gesagt: „Ja, du kannst schreiben, du kannst auftreten, du kannst singen, du kannst all das tun. Aber du brauchst einen richtigen Job. Du brauchst einen richtigen Abschluss.“ Ehrlich gesagt sehe ich die Wahrheit in dieser Angst. Aber ich weiß trotzdem, dass es so viel Potenzial gibt, wenn man die Disziplin und die Arbeit und den Aufwand investiert, um eine Karriere im kreativen Bereich zu starten und aufrechtzuerhalten. Etwas, das ich immer noch anstrebe.

Welcher Sache – das kann ein Lied, eine Fernsehsendung, eine Süßigkeit etc. sein –, die es nicht mehr gibt, träumst du heute noch hinterher?

Nada Chekh: Ui, da gibt es mehrere Sachen. Es gab in Wien ein supertolles Café namens Berfin, das ich als junge Studentin mit meiner Mutter und meinen Geschwistern gerne besucht habe. Es hatte ein wunderbares orientalisches Flair, ohne kitschig zu sein. Wir waren früher manchmal sogar mehrmals die Woche dort, haben Shisha geraucht und miteinander getratscht, da habe ich sehr schöne Erinnerungen daran. Und das erste (und letzte) Mal, als ich in Ägypten war, war mit sechs Jahren. Ich kann mich gut an den Strand in Alexandria erinnern, wo es Verkäufer gab, die Freska – so eine Art Honigwaffel – verkauften. Als Kind habe ich diese Süßigkeit geliebt, aber eben nur bei diesem einen Besuch gegessen. Bis heute denke ich an diese großen, runden Waffeln und frage mich öfter, ob ich sie jemals wieder essen werde.

Herbert Dutzler: Die großen Samstagabendshows, die es heute kaum mehr gibt, waren absolute Straßenfeger, und die ganze Familie saß gebannt vor dem Fernseher. Die beliebteste von allen war „Einer wird gewinnen“ mit Hans Joachim Kulenkampff. Und den habe ich sogar einmal auf dem Balkon seines Pensionszimmers in Bad Aussee gesehen (von unserer Terrasse aus). Das war eine echte Sensation. Allerdings gibt es die meisten dieser Shows auch heute noch zu sehen – Youtube vergisst nichts!

Precious Chiebonam Nnebedum: Definitiv die Fernsehsendung: „The Grim Adventures of Billy and Mandy“ aus meiner Kindheit!

Wenn Eltern die Psyche eines Kindes zermürben, bis es zur Eskalation kommt – Ein Gastbeitrag von Herbert Dutzler

In Herbert Dutzlers Kriminalroman „Am Ende bist du still“ erzählt er eine Geschichte mit höchst brisanter Thematik: Helikoptereltern, die ihren Kindern die Luft zum Atmen und den Raum zur freien Entfaltung nehmen. Im Roman kommt es zur schlimmsten aller Konsequenzen: ein Kind mit dem unstillbaren Wunsch nach Rache an seiner eigenen Mutter.

Durch seine jahrelange Erfahrung als Lehrer weiß Herbert Dutzler, wie sehr manche Eltern versuchen, ihre Kinder zu kontrollieren und zu perfektionieren und welche Auswirkungen das haben kann. Gerade dadurch schafft er es, die Atmosphäre im Elternhaus von Protagonistin Sabine beklemmend realistisch wirken zu lassen …

Ein Gastbeitrag

Eine Mutter, die man sich nicht wünscht

Schon als ich das erste Mal mit meinem Verleger, Markus Hatzer, über meinen Roman „Am Ende bist du still“ sprach, schüttelte er lachend den Kopf und meinte nur „Die Mutter!“ Und nachdem mehrere andere Testleser*innen das Manuskript gelesen hatten, wurde mir immer klarer, dass es nicht ausschließlich ein Roman über eine rachsüchtige Tochter, sondern vor allem auch über eine Mutter ist. Eine, die man sich nicht wünscht, ganz sicher nicht.

Das wirft natürlich die Frage auf, ob es solche Mütter überhaupt gibt oder ob der Charakter der Mutter – im Roman, glaube ich, kommt kein einziges Mal ihr Vorname vor – nur die literarische Verdichtung eines ganz bestimmten Typus ist und daher in dieser Ausformung in der Realität gar nicht existiert.

Eine Mutter, die sich nicht um ihr Kind kümmert, sondern eine einwandfrei funktionierende Kopie ihrer selbst auf den Weg ins Leben schicken will. Ein Kind, das nicht quietscht, knackt und schmutzt, sondern eines, das sich nur Drehbuchautor*innen gnadenlos kitschiger Fernsehserien vorstellen können. Ein Kind, das gerade gut genug dafür ist, einen Hintergrund für die Konsumwünsche der Mutter abzugeben – es macht schließlich unbändigen Spaß, ein kleines Mädchen ganz nach eigenen Vorstellungen zurichten und einkleiden zu können. Ob dieses Kind selbst auch etwas will – na, darüber könnte man zwar in stillen Stunden einmal nachdenken, will man aber nicht.

Ein Erfahrungsschatz von 2700 Müttergesprächen

Wenn Liebe zur Last wird: Viele Kinder fühlen sich durch die erdrückende Zuwendung ihrer Eltern in einen goldenen Käfig gesperrt.

Und was Mütter betrifft, brauche ich mein Licht als Experte mit jahrzehntelanger Erfahrung wirklich nicht unter den Scheffel stellen. Ich habe es überschlagen: In 35 Jahren Unterrichtstätigkeit habe ich schätzungsweise 3000 Gespräche mit Erziehungsberechtigten geführt. Und 90 Prozent davon waren, das scheint bei uns eine hartnäckige Tradition zu sein, Mütter. Also circa 2700 Müttergespräche.

Jetzt lassen wir einmal alle die Mütter beiseite, mit denen man sachliche Gespräche führen konnte, die man verstand und die einen verstanden, die ihre Kinder mit Geduld, Humor, Zuwendung und Gelassenheit erzogen, wie ich es für vernünftig halte. Solche, die ihr Kinder ernst nehmen, ihnen zuhören und wissen, dass es oft Zeit braucht, bis Krisen und Probleme überwunden werden. Die lassen wir jetzt beiseite, denn die sind, mit Verlaub, literarisch, nun ja, wie soll man es sagen, etwas uninteressant. Was soll man schon schreiben über eine Familie, in der mehr oder weniger alles funktioniert, ohne dass man sich gegenseitig an die Gurgel geht? Wie gesagt, im wirklichen Leben sehr schön, in der Literatur nicht zu gebrauchen.

Also erinnert man sich, nachdem der Plan gefasst worden ist, eine alles erstickende Mutterfigur in einem Roman auf- und abtreten zu lassen, an die – Gott sei Dank seltenen – Begegnungen mit Müttern, die man auch zu Hause gleich weitererzählt, weil man den Schrecken irgendwie loswerden muss. Die Gespräche mit hysterischen Furien ebenso wie tief besorgten, weinerlichen Frauen, die nicht nur ihren Kindern, sondern sogar hartgesottenen Lehrerveteranen bleibende Schuldgefühle zu implantieren vermögen.

Schlaflose Nächte und verunsicherte Kinder

Da war jene Mutter, die mir erklärt hat, die Rechtschreibschwäche der Tochter werde gezielt bekämpft, indem man täglich mehrere Stunden konzentriert übe. Das Mädchen war ein zerfahrenes Nervenbündel, das bei jedem Laut zusammenzuckte und keinen zusammenhängenden Satz mehr herausbrachte. Zumindest in Gegenwart der Mutter. Wahrscheinlich wäre auch ich selber nach einem solchen wochenlangen Übungsdrill zusammengebrochen und hätte nicht einmal mehr einfachste Wörter richtig schreiben können.

Und da war die, die mit tiefen Augenringen in die Sprechstunde kam, erklärte, sie könne selbst in den Nächten vor Schularbeiten nicht mehr schlafen und müsse, ebenso wie ihr Sohn, regelmäßig am Morgen vor der Schularbeit erbrechen. Wie wird sich das Kind gefühlt haben, dem jeden Morgen mit weinerlicher Stimme deutlich vorgeführt wurde, welch schwere Schuld es am elenden Zustand der Mutter trug?

Und da war jene aufgetakelte Mutter, deren Parfumwolke einem fast den Atem nahm. Nach dem Sprechtag stieß einen der Schulwart kumpelhaft in die Seite und erklärte, er wisse schon, warum man sich die Dame als letzte ins Klassenzimmer geholt habe, als keiner mehr draußen gewartet habe. Sie sei Geschäftsfrau, könne sich nicht ständig um das Kind kümmern, das im übrigen nicht der Sohn ihres jetzigen Lebensabschnittspartners sei. Sie habe Geld investiert, Nachhilfe bezahlt, biete alles, was sich ein Kind nur wünschen könne. Wie es möglich sei, dass ihr Sohn derart schlechte Leistungen erbringe. Ob das nicht, man überlege ja nur, an der Unfähigkeit der Lehrperson liege? Der Sohn, so erinnere ich mich, war ein Schatten, der in der Schule herumschlich, ohne Kontakt zu anderen Kindern aufnehmen zu können, der so wenig Distanzgefühl besaß, dass er an einen so nahe herantrat, bis er einen berührte, und der im Turnunterricht nicht einmal in der Lage war, einen Ball zu werfen, geschweige denn, zu fangen.

Drei Beispiele, aus denen man sich als Autor dann ein Schreckgespenst von einer Mutter zusammensetzt, das es glaubwürdig erscheinen lässt, dass sie von ihrer Tochter gehasst wird.

Autor Herbert Dutzler weiß durch seine Tätigkeit als Lehrer nur zu gut, wie viel Druck Eltern oftmals auf ihre Kinder ausüben. Foto: Haymon Verlag/ Fotowerk Aichner.

Schwarzmalerei?

Ist denn das zulässig, wird man fragen, ist denn das realistisch, darf man denn das, sich eine so abgrundtief unsympathische Figur ausdenken, sollte man nicht lieber auch die guten Seiten eines Charakters darstellen, anstatt einseitige Schwarzweißmalerei zu betreiben?

Die Arbeit an literarischen Charakteren ist aber immer eine Verdichtung eigener Lebenserfahrung.

Die fiktiven Charaktere werden aus Merkmalen konkreter zusammengesetzt, sodass sich im besten Fall eine stimmige, glaubwürdige Figur ergibt, die aber immer fiktiv, erfunden bleibt, weil sie in ihrer Ganzheit so nicht existiert. Aber existieren könnte.

Dazu kommt, dass ich bisher nur Romane aus personaler Erzählperspektive verfasst habe, das heißt, die Geschichten werden ausschließlich aus dem Blickwinkel einer einzigen Person erzählt, man folgt immer den Handlungen und Gedanken dieser einen Person. Und von dieser kann man jetzt natürlich nicht Objektivität und Distanz erwarten, diese Person steht den anderen Charakteren des Romans mit Gefühlen, manchmal sogar mit Vorurteilen behaftet, gegenüber.

Nicht autobiographisch

Fast immer steht, bei Gesprächen nach Lesungen zum Beispiel, die Frage im Raum, inwieweit Charaktere und Ereignisse in einem Roman autobiographisch sind. Natürlich war auch meine Mutter das eine Mal zu ängstlich, zu besorgt, ein anderes Mal zu dominant, ein wieder anderes Mal unbeherrscht und voller Zorn. An solche Einzelheiten, ich nenne sie einmal Gedankensplitter, erinnert man sich während des Schreibens, versucht die eine oder andere Situation, das eine oder andere Gefühl aus der Kindheit wachzurufen, um schließlich eine glaubwürdige Komposition eines Charakters abliefern zu können. Aber so ist eben literarisches Schreiben – als autobiographisch kann man es, denke ich, deshalb nicht bezeichnen.

Zum Ende möchte ich noch eine Bitte um Verzeihung anfügen, die ich auch schon in der Danksagung des Romans vorgebracht habe: Ich möchte mich bei der überwältigenden Mehrheit aller Mütter entschuldigen, denn die ist nicht so wie die Mutter in meinem Roman.

Und: Verschenken Sie das Buch nicht zum Muttertag. Unpassend!

Brandaktuell und nervenzerreißend spannend: „Am Ende bist du still“.

 

Sabine kann sie nicht mehr ertragen: ihre Mutter, die sie ständig überwacht und die ihr, schon seit sie ein kleines Mädchen war, vorschreibt, was sie zu tun, zu fühlen, zu denken hat. Und die auch ihre erwachsene Tochter nicht loslassen will. Bis Sabine nur noch einen einzigen Ausweg sieht: Sie muss sich befreien. Ihre Mutter muss sterben.

Verstörend nachvollziehbar und nervenzerreißend spannend erzählt Dutzler eine Geschichte, die tragischer nicht sein könnte. Ein einzigartiges Feuerwerk aus verstörender Spannung und dem unstillbaren Wunsch nach Vergeltung! Lasst euch mitreißen!

Mehr Infos zum Buch gibt es hier.