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Die Wiederholung der Urszene: eine Psychoanalyse des Krimis

Gastbeitrag von Edith Kneifl

Ist „Ödipus Rex“ von Sophokles eine Detektivgeschichte? Nein, und doch haben beide viel gemein. Die Krimi­nalliteratur beschäftigt sich mit ähnli­chen Themen wie die klassische Psycho­analyse: mit dem ödipalen Verbrechen, seiner Aufdeckung und der damit ver­bundenen Entdeckung der Schuld und der Angst. „Kriminalschriftsteller sind die Psychoanalytiker der menschlichen Schattenseiten“ formulierte Janwillem van de Wetering.
Auch Sigmund Freud machte in einer Vorlesung für Jura-Stu­denten auf die Analogie zwischen dem Verbrecher und dem Analysierten auf­merksam: „Bei beiden handelt es sich um ein Geheimnis, um etwas Verborgenes. Aber beim Verbrecher handelt es sich um ein Geheimnis, das er weiß und verbirgt, beim Analysierten um ein Geheimnis, das auch er selbst nicht weiß. Die Aufgabe des Therapeuten ist aber die nämliche wie die des Untersuchungsrichters. Wir sollen das verborgene Psychische aufdecken und haben zu diesem Zwecke eine Reihe von Detektivkünsten erfunden, von denen uns also jetzt die Herren Juristen einige nach­ahmen werden.“
Aber nicht nur die Arbeit des Detektivs erinnert an die Arbeit des Psychoanalyti­kers. Jede Detektivgeschichte läuft ähn­lich einer Psychoanalyse ab. Krimis bau­en Ängste auf, die dann am Höhepunkt der Spannung aufgelöst werden, was dem Leser Entspannung und Erleichterung verschafft. Durch die Identifikation mit dem Täter, Opfer oder Detektiv kann der Leser seinen eigenen Impulsen nachge­ben, seinem Voyeurismus freien Lauf las­sen und seine infantile Neugier befriedi­gen.
Sollte sich der Leser mit dem Detektiv identifizieren, winkt ihm als Belohnung ein mächtiges und untadeliges Über-Ich. Durch die Identifikation mit dem Opfer lebt er seine masochistischen Tendenzen zumindest in der Phantasie aus. Manchmal wird ihm dabei sogar das seltene Vergnügen gewährt, seinem eigenen Be­gräbnis beizuwohnen. In der Rolle des Opfers wird er, je nach Plot, die alten Ängste wieder durchmachen. Als verfolg­ter Täter hingegen ist es ihm erlaubt, seine aggressiven und sadistischen Gelü­ste wenigstens in der Phantasie auszule­ben.
Aber alles dies erklärt nicht hinrei­chend die Leidenschaft für Krimis. Der wesentliche Aspekt der Kriminalge­schichte ist ein anderer: Es wird eine intensive Neugier erweckt. Die menschli­che Fähigkeit zur Neugierde erreicht laut Sigmund Freud ihren ersten und inten­sivsten Ausdruck anläßlich der „Urszene“, der Beobachtung sexueller Szenen zwi­schen Erwachsenen durch das Kind. Hier also findet sich das wichtigste Element der Detektivgeschichte wieder: das gehei­me Verbrechen!

Edith Kneifl ist die Grande Dame der österreichischen Krimiszene und prägt diese seit Jahrzehnten entscheidend mit.

Durch die aktive Wiederholung der realen oder phantasierten gefährlichen Situation, die das Kind einst passiv und sehr schmerzhaft erduldet hat, versucht es, diese zu bewältigen, das ursprünglich traumatische Erlebnis unter seine Kontrolle zu bringen, seine Neugier und die in der Wiederholung erneut ausgelöste Erre­gung dieses Mal zu befriedigen. Die unbe­wußt arrangierte Wiederholung der Ur­szene kann auch in sublimierter Form erfolgen, zum Beispiel im leidenschaftlichen Lesen von Kriminalliteratur. Auch der Liebhaber von Kriminalgeschichten versucht aktiv, erlit­tene Erfahrungen wiederzubeleben und sie dadurch zu meistern.
Bei kreati­ven Menschen findet dieser Wunsch oft Ausdruck in subli­mierter Form, also in Form von künstleri­scher Produktion. Marie Bonaparte wies in ihrer dreibän­digen psychoanalyti­schen Studie über Edgar Allan Poe und seine Arbeit den enormen Einfluß des Urszenen-Traumas bei der Entstehung seiner Geschichten nach.

Der Detektiv befin­det sich in der glei­chen Lage wie das ödipale Kind. Er fie­bert vor Neugier und projiziert seine eige­ne Erregung und sei­ne Schuldgefühle auf das Objekt seiner Nachforschungen. Es ist kein Zufall, daß die großen Detektive dieses Genres, Sher­lock Holmes, C. Au­guste Dupin, Hercule Poirot und Lord Pe­ter Wimsey unverhei­ratet sind. Selbst Miss Marple war eine alte Jungfer. Sie alle sind nichts anderes als fiktive Repräsentan­ten des ödipalen Kin­des. Deshalb kann der Detektiv auch nicht als Familienoberhaupt dargestellt werden oder gar die herrschende Moral verkörpern. Das ödi­pale Kind ist nicht wirklich moralisch. Es ist nur clever. So clever wie eben ein Kind ist, bevor die Latenzzeit seine Neu­gier und seinen Wis­sensdrang dämpft.
In der inzwischen klassisch gewordenen Kriminallitera­tur gibt es zwei ver­schiedene Arten von Detektiven. Die amerikanischen Kollegen S. F. Bauer, L. Balter und W. Hunt unterscheiden in „die Eu­ropäer“ und „die Amerikaner“. In den zwanziger und drei­ßiger Jahren ent­stand in den Verei­nigten Staaten eine Version der Detektivgeschichte, die der europäischen, was Plot und Atmosphäre betrifft, durchaus ähnlich ist, auch wenn sie sozial enga­gierter und politisch korrekt sein mag. Daß sie einen wirkli­chen Neubeginn dar­stellte, liegt eher an der Figur des private-eye, der in die­sen sogenannten „hard-boiled“ Krimis nicht nur zum zen­tralen Charakter wird, sondern auch für den Leser von enormer emotionaler Bedeutung ist. Mit Hammetts Sam Spa­de und Chandlers Philipp Marlowe be­trat die USA das Par­kett der Kriminalliteratur, auch wenn Poe in Boston geboren wurde.
Die europäischen Detektive sind eher asexuell. Sie verhal­ten sich schwer neu­rotisch. Holmes und Poirot sind nicht nur narzißtisch gestört, sondern sicherlich auch Zwangsneuroti­ker. Die amerikani­schen Detektive, zum Beispiel die beiden, die Humphrey Bo­gart darstellte, sind dagegen sexuell aktiv oder zumindest sehr phallisch und vor al­lem für Frauen at­traktiv. Außerdem neigen sie zu Brutali­tät und Gewalt, wis­sen, ihre Fäuste und – wenn nötig – auch ihre Schußwaffen zu gebrauchen. Tatsäch­lich besitzen sie eine gewisse Ähnlichkeit mit den Kriminellen, denen ihre eher intel­lektuellen europäi­schen Kollegen auf der Spur sind. Der amerikani­sche Detektiv bewegt sich selbst am Rande der Kriminalität und ist vielleicht gerade auch deswegen so faszinierend.
Die Krimi-Sucht der Europäer hat ihren Ursprung wohl eher in der Sucht nach Aufklärung. Im klassischen euro­päischen Kriminalroman steht immer das Rätsel und seine Lösung im Mittelpunkt – also das geheime Verbrechen.
Ebenso wie der europäische repräsen­tiert aber auch der amerikanische Detek­tiv das ödipale Kind. Da er seine Sexuali­tät jedoch nicht sublimiert wie sein euro­päischer Kollege, befindet er sich in viel größerer Gefahr als dieser, zum Kompli­zen des Täters zu werden. Doch gerade diese Triebhaftigkeit macht die amerikanische Detektivgeschichte emotional erre­gender als die europäische. Auch der amerikanische Detektiv wird nicht wirk­lich zum Verbrecher. Würde er tatsächlich am ödipalen Verbrechen teilhaben, dann wäre die Geschichte nicht länger eine Detektivgeschichte, sondern eine Art „Ödipus Rex“.
Die Urszene ist die dramatische Quint­essenz aller Ängste. Wie traumatisch sie erlebt wird, hängt davon ab, wie sie erfah­ren wurde: von der psychischen Entwick­lung des Kindes zu dieser Zeit, von der Beziehung zwischen den Eltern und von der Beziehung zwischen Eltern und Kind.
Aber egal, wie die Reaktion des Kindes aussieht: Sie hat immer Angst zur Folge. Ob es die Urszene verleugnet, akzeptiert oder teilnahmslos reagiert – die verdräng­te Erinnerung wird auf jeden Fall bis zu einem gewissen Grad mit einem schmerzvollen Effekt behaftet sein.
In der Kriminalliteratur wird dem Le­ser durch die graduelle Enthüllung der Indizien ein wesentliches Detail nach dem anderen dargeboten. Und schließlich wird das Verbrechen rekonstruiert, das Ge­heimnis gelüftet, das heißt: Die Urszene wird entlarvt. In einer Orgie von Nachfor­schungen kann das Kind im Leser, perso­nifiziert durch den großen Detektiv, schauen, erinnern und zusammenfügen – ohne Furcht und ohne Schande, im Ge­gensatz zu dem erschrockenen Kind, das Zeuge der Urszene war.
Die Kriminalgeschichte versucht also vom Standpunkt des Unbewußten aus, weniger schmerzvolle Urszenen zu inszenieren. Diese fiktive Urszene befriedigt vor allem die „Voyeure“. Aber der Voyeur wird durch sein Zuschauen nie vollkom­men zufriedengestellt. Er muß immer wieder hinsehen, so wie der Leser von Kriminalgeschichten unermüdlich diesel­be grundlegende mythische Erzählung von Mord, Schuld und Rache ohne Lange­weile liest, um Befriedigung zu erfahren. Wirkliche Befriedigung erlangen dabei weder Schriftsteller noch Leser oder Voyeur. Der Schriftsteller besitzt zwar we­nigstens die Kontrolle über das Gesche­hen, aber ebenso wie der Leser bleibt auch er immer nur Zuseher und nicht Teilneh­mer an diesem spannenden Ereignis.

Dieser Beitrag ist erschienen in Die Furche Nr. 26, Rubrik: Dossier, 26.6.2003.


Als ausgebildete Psychoanalytikerin begleitet uns Edith Kneifl in ihrem neuesten Werk in die Wiener Seele und bringt Licht in deren dunkle, verborgene und auch beunruhigende Ecken. Wir versumpfen in gemütlichen Absteigen, lachen laut auf, wo es in der guten Gesellschaft verpönt ist, und halten die Luft an, wenn sich die Ereignisse überschlagen. Was auch nicht zu kurz kommt: Liebesgeschichten, Intrigen, Skandale, kurzum: alles, was man an dunklen Herbstabenden braucht. „Der Wolf auf meiner Couch“ ist ab dem 19. September 2024 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich.

 


Eine Krimireise um die Welt: Leseprobe aus „Sonnige Grüße aus dem Jenseits“ von Edith Kneifl

Edith Kneifl entführt mit „Sonnige Grüße aus dem Jenseits“ ihre Leser*innen aus dem Alltag und nimmt sie mit auf 18 literarische Reisen zu verschiedensten Traum-Urlaubsorten zwischen Wüstenglut, Meeresbrise und Großstadtdschungel. Die Grande Dame des österreichischen Krimis weiß, was das Sommerlektüreherz begehrt: Liebe und Hass, Sehnsucht und Vergeltung, fatale Beziehungen und einen ordentlichen Schuss Humor. So genießt man Krimis aus aller Welt bequem von Balkonien aus und bekommt vielleicht sogar die eine oder andere Idee für den nächsten Urlaub. Tauch ein in eine Welt voller Spannung und hol dir einen ersten Eindruck mit dieser Leseprobe.

 

Das Haus am Fluss

Das einstöckige Haus an der Themse stand seit langem leer. Hin und wieder sah man Harry im Garten die Hecken stutzen. Er war nicht mehr der Jüngste. Sein Haar war ergraut und spärlich geworden, aber er hatte sich sein kindliches Lächeln bewahrt. Harry kam jeden Tag hierher, so wie früher, als Miss Guinney noch hier wohnte. Er war ihr Mädchen für alles gewesen.
Eines Nachts war sie von einem Ausflug nach London nicht mehr zurückgekehrt.
Nach ihrem Verschwinden tauchten zwei Polizisten auf und stellten Harry Fragen, die er nicht beantworten konnte. Er beteuerte nur immer wieder, nicht zu wissen, wo sich seine Herrin aufhielt.
Nach dem Besuch der Polizei machten viele böse Geschichten die Runde. Harry hörte den Männern im Pub aufmerksam zu, äußerte sich aber nicht dazu, obwohl er Miss Guinney als Einziger näher gekannt hatte. Selbst wenn es stimmte, was die Leute erzählten, seine Miss würde schon ihre Gründe gehabt haben.
Miss Guinney war eine attraktive Frau, groß und schlank und mit breiten Schultern wie ein Mann. Das Schönste an ihr waren ihre langen blonden Haare. Sie trug sie nie offen, sondern immer straff nach hinten gekämmt und hochgesteckt, was sie sehr streng aussehen ließ. Man konnte sich jedoch vorstellen, wie prachtvoll es sein musste, wenn sie über ihren muskulösen Rücken flossen. Harry hätte zu gerne ihr Haar einmal offen gesehen, aber er wagte es nicht, sie heimlich beim Kämmen zu beobachten.
All ihre Zimmer lagen im Obergeschoss, ein Schlafzimmer, ein Kabinett, das ihr als Ankleideraum diente, ein Bad und noch ein Raum, der immer versperrt war. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche, ein Esszimmer und ein geräumiger Salon, der einer überdimensionalen Rumpelkammer glich. Sosehr Harry sich auch bemühte, Ordnung zu schaffen, Miss Guinney gelang es immer wieder in kürzester Zeit, ein Chaos zu hinterlassen. Jeden Vormittag fand er schmutzige Gläser, leere Tonic- und Gin-Flaschen und überquellende Aschenbecher im Salon. Auf dem Orientteppich lagen die Kleider, die sie am Vortag getragen hatte. Er ließ sie jede Woche reinigen, obwohl er wusste, dass Miss Guinney sie ohnehin kein zweites Mal mehr anziehen würde.
Die Fenster des Salons gingen zum Fluss hinaus. Der Blick auf das liebliche Themse-Tal war fantastisch. Der Fluss schlängelte sich durch zwei steinerne Brücken, die von Trauerweiden umrahmt wurden. Die prächtigen Herrenhäuser am anderen Ufer ließen sich allerdings nur erahnen. Sie versteckten sich in verwunschenen Parkanlagen. Aus der Ferne grüßte ein Kirchturm. Dahinter erhoben sich sanfte grüne Hügel. Ins nächste Dorf brauchte man zu Fuß eine Viertelstunde. Doch Miss Guinney pflegte nicht oft zu Fuß zu gehen. Sie stand nie vor Mittag auf. Nachmittags saß sie dann meist draußen auf der überdachten Veranda und gab sich dem Müßiggang hin. Den prächtigen Garten, der bis zur Themse hinunterreichte, betrat sie nur selten, er war Harrys Reich.
Liebevoll kümmerte er sich um die Rosen, Hortensien und Rhododendronsträucher. Er hatte nur Blumen in Miss Guinneys Lieblingsfarben Pink und Violett gepflanzt. Verirrte sich hin und wieder ein andersfarbiges Gewächs hierher, wurde es sofort von ihm entfernt.
Während ihrer Mußestunden durfte er sich im Garten nicht blicken lassen. Als er es einmal wagte, nachmittags den Rasen zu mähen, erhob sie ihre Stimme. Es war das einzige Mal in all den Jahren, dass er ein scharfes Wort zu hören bekam. Daraufhin ließ er sich zwei Tage nicht bei ihr blicken.
Sonst sprach sie immer mit leiser Stimme, in der ein gewisses Gähnen lag. Es schien, als würde sie das Sprechen langweilen. Harry sprach auch nicht gern, nicht nur weil die meisten Leute lachten, wenn er den Mund aufmachte, sondern weil er nichts zu sagen hatte. Anfangs dachten die Dorfbewohner, Miss Guinney müsse immens reich sein oder irgendwo einen reichen Ehemann versteckt halten, denn sie besaß Unmengen von Schmuck und teuren Kleidern. Sie zog sich nicht nur täglich zweimal um, sondern trug auch jeden Tag etwas anderes. Man sah sie nie zweimal im selben Kleid. Sie hatte das Haus vor nunmehr sieben Jahren relativ günstig erstanden, weil es sehr nahe am Fluss lag, feucht war und schon halb verfallen, als sie einzog. Früher hatten Überschwemmungen Haus und Garten übel mitgespielt, doch seit flussaufwärts ein Staudamm errichtet worden war, gab es keine Probleme mehr mit dem Hochwasser. Die Grundstückspreise waren mittlerweile stark gestiegen.
Das romantische Thames Valley war eine begehrte Wohngegend, nicht nur wegen der Nähe zu Schloss Windsor und der Universitätsstadt Oxford, sondern auch, weil die Hauptstadt des Britischen Empires mit dem Auto in einer guten Stunde erreichbar war.

 

 

Das entzückende Cottage stammte aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Es war umgeben von üppiger Vegetation und sah sehr hübsch aus, nachdem Harry es renoviert hatte. Doch in letzter Zeit ließ Miss Guinney es wieder verkommen. Sie wollte ihre Ruhe haben und erlaubte Harry weder das undichte Dach zu reparieren noch die verrostete Gartenpforte zu erneuern. Die Gerüchte über ihr sagenhaftes Vermögen verstummten. Eine Frau mit Geld würde doch so ein schmuckes Häuschen nicht verwahrlosen lassen, sagten sich die Nachbarn, und die Neider wurden weniger. Miss Guinneys Alter ließ sich schwer schätzen. Sie hatte sich in den sieben Jahren, die sie hier lebte, kaum verändert. Die Meinungen über ihre Schönheit waren jedoch geteilt. Manche fanden sie früher hübscher, andere wieder behaupteten, sie würde von Jahr zu Jahr schöner. Auffällig war, dass sie keinen Mann hatte. Sie ließ sich nicht nur Miss nennen, sondern man sah sie auch nie mit einem männlichen Wesen. Außer mit Harry natürlich, aber der war ein armer Narr. Böse Zungen unterstellten ihr, dass sie nur so viel Sorgfalt auf ihr Aussehen verwendete, um sich einen Mann zu angeln. Im Dorf lebte ein Mann, der es besser wusste. Er hatte sich ein Jahr lang vergeblich um ihre Gunst bemüht. Obwohl er nicht übel aussah und sogar über das nötige Kleingeld verfügte, um einer anspruchsvollen Frau fast jeden Wunsch erfüllen zu können, hatte sie ihn ebenso abgewiesen wie alle anderen, die es bei ihr versucht hatten.

Miss Guinney war nicht unfreundlich zu ihren Verehrern, sie behandelte alle gleich oder, besser gesagt, gleichgültig. Sie war nicht arrogant, sondern einfach nur desinteressiert an anderen.
Kein Mensch, außer Harry, überschritt je die Schwelle ihrer Haustür. Sie empfing keine Gäste, hatte keine Freunde, nicht einmal Bekannte. Den Nachbarn schenkte sie ein kurzes Nicken, wenn sie ihnen zufällig auf der Straße begegnete. Da sie selten ausging, brauchte sie auch nicht oft zu nicken. Direkte Nachbarn hatte sie sowieso keine. Das nächste Haus lag mindestens hundert Meter entfernt. Ohne komplizierte Ausreden zu erfinden, lehnte sie jede Einladung ab. Während der letzten Jahre belästigte man sie nur mehr selten mit Einladungen. Das Interesse an ihr flaute ab.
Miss Guinney besaß selbst ein altes Boot mit einem Außenbordmotor. An besonders heißen Tagen fuhr sie hinaus und ließ sich von der Strömung flussabwärts treiben. Sie war dann oft stundenlang unterwegs, da die Rückfahrt mit dem schwachen Motor mühselig war. Auch während dieser Bootsfahrten war sie immer elegant gekleidet. Harry hatte sie noch nie in Shorts oder gar in einem Badeanzug gesehen.
Er genoss vor allem die Ruhe in ihrem Haus. Es gab nicht viel zu tun. Nur selten trug sie ihm Besorgungen auf. Sie war auch nicht anspruchsvoll, was das Essen betraf, sondern begnügte sich meistens mit Salat, Sandwiches oder Fish & Chips.
Wenn es draußen kühl wurde, begab sie sich in ihre Zimmer im ersten Stock und erschien erst zum Abendessen wieder, entsprechend gekleidet und noch schöner als am Tag. Harry servierte ihr das Dinner im Esszimmer. Er aß in der Küche, bekam aber das Gleiche wie sie. Nach dem Essen ging er nach Hause. Er wohnte unten am Fluss in einem vermoderten Bootshaus, das ebenfalls zum Cottage gehörte. In den Wintermonaten ließ ihn der Wirt in einem Abstellraum des Pubs schlafen. Harry war in all den Jahren nie auf die Idee gekommen, Miss Guinney zu fragen, ob er nicht in der Küche auf der Bank des riesigen Kachelofens schlafen dürfe. Was sie an den langen Abenden allein zu Hause machte, wusste er nicht. Vielleicht sah sie fern? Es brannte immer sehr lange Licht im ersten Stock, aber die dunklen Vorhänge waren zugezogen, in dem einen verschlossenen Raum auch tagsüber.
An den Wochenenden hatte Harry frei. Anfangs war er auch samstags erschienen. Sie hatte ihm jedoch freundlich, aber bestimmt zu verstehen gegeben, dass sie ihn bis Montagmittag nicht zu sehen wünschte. Harry hasste die Wochenenden. Er vertrieb sich die Tage mit Fischen und hing abends meistens im Pub herum.
Die Leute waren bald dahintergekommen, dass Miss Guinney jeden Samstag das Dorf verließ. Nachmittags, immer um die gleiche Zeit, stieg sie in ihren alten pinkfarbenen Bentley und raste die Landstraße hinunter. Einer ihrer Verehrer hatte einmal versucht, ihr nachzufahren. Bis nach London war er ihr gefolgt. Am Stadtrand hatte sie ihn abgeschüttelt. Auch bei seinem zweiten Versuch war sie ihm entwischt.
Anfangs munkelte man allerlei über diese regelmäßigen Ausflüge von Miss Guinney. Dann einigte man sich darauf, dass sie schließlich irgendwann ihre Einkäufe erledigen musste. Ab diesem Zeitpunkt galt der Samstag als Miss Guinneys Einkaufstag. Allerdings kehrte sie oft erst in den frühen Morgenstunden aus London zurück. Manchmal war es bereits hell, wenn Harry den Motor ihres Wagens hörte. Den Bentley parkte sie immer neben dem Cottage unter einer alten Esche.
Der Garten war umgeben von hohen Hecken und nur von der Themse aus einsehbar. Ein besonders hartnäckiger Bewunderer hatte eine Zeitlang versucht, sich ihr vom Fluss her zu nähern. Doch sie hatte sich sofort in ihr Haus zurückgezogen, wenn sein Boot aufgetaucht war. Schließlich gab er auf. Ebenso wie die gefürchteten anglikanischen Frauenvereine bald aufgaben, Miss Guinney als Mitglied gewinnen zu wollen. Sie wurde für verrückt erklärt, nicht so verrückt wie Harry, aber auch sie schien eben nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Die Damen verloren das Interesse an ihr und ihren Ausflügen nach London.
Bis sie eines Tages nicht mehr zurückkam. Man wartete einen Tag, zwei Tage, nahm an, sie wäre verreist. Aber Harry schien nichts von einer Reise zu wissen. Als sie nach zwei Wochen noch immer nicht aufgetaucht war, begann die Polizei erneut Nachforschungen anzustellen. Sie brachen die Haustür auf, da Harry behauptete, keinen Schlüssel mehr zu haben. Miss Guinney hatte ihm alle Schlüssel abgenommen, als sie ihn hinausgeworfen hatte. Nach ihrer letzten London-Tour hatte sie Harry in ihrem Bett vorgefunden und kurzerhand vor die Tür gesetzt.
Die Polizisten machten selbst vor dem ersten Stock nicht halt. Harry versuchte, die Police officers daran zu hindern, Miss Guinneys Schlafzimmer zu betreten, denn sie hätte niemals geduldet, dass diese wildgewordene Horde in ihr kleines privates Reich eindrang. Nicht einmal er hatte den ersten Stock betreten dürfen. Aber gegen diese Meute von Scotland Yard hatte er keine Chance. Verzweifelt klammerte er sich an die Beine eines Inspektors. Dieser versetzte ihm einen heftigen Stoß und Harry stürzte die Treppe hinunter. In dem mysteriösen Zimmer im ersten Stock entdeckten die Männer von Scotland Yard dann Anzüge in allen Größen, Maßhemden, Lederschuhe, goldene Uhren und leere Brieftaschen.
Miss Guinney hatte sich ein sonderbares Museum eingerichtet. Zuerst dachte die Polizei, sie hätte diese Sachen nur gestohlen. Später stellte sich heraus, dass die Besitzer dieser hübschen Sachen als vermisst gemeldet waren, verschollen in der fernen Großstadt, manche schon vor Jahren.
Die Gerüchte überstürzten sich. Die schöne Miss Guinney musste sehr wählerisch gewesen sein.
Anscheinend hatte sie sich nur mit wohlhabenden Männern eingelassen.
Der Londoner Nobelstrich wirkte verwaist ohne sie, „die Lady im Bentley“, wie sie von ihren Kolleginnen respektvoll genannt worden war, da sie ihren Kunden immer in ihrem schönen Wagen zu einem letzten Genuss verholfen hatte.
Als Harry abends aus dem Pub in das Bootshaus zurückkehrte, erzählte er Miss Guinney, dass die Polizei heute nicht nur die Leichen von drei ihrer ehemaligen Kunden, sondern auch ihren alten pinkfarbenen Bentley im Stausee gefunden hatte.
Miss Guinney antwortete ihm nicht. Sie konnte nicht, lag sie doch unter den morschen Brettern des Bootshauses, friedlich schlummernd im Schlammbett des Flusses. In ihrem weißen langen Hals steckte eine Heckenschere. Der Knoten in ihrem Haar hatte sich gelöst. Die langen blonden Strähnen breiteten sich auf den sanften Wellen der Themse aus. Harry entfernte zwei Bretter. Er konnte sich nicht sattsehen an ihrem wundervollen Haar, das sie endlich offen trug.