Wenn die Realität der Fiktion in nichts nachsteht. True Crime von Mark Benecke und Romy Hausmann

Mark Benecke und Romy Hausmann denken sich nicht nur ihre eigenen Kriminalgeschichten aus, sondern bereiten in ihren Büchern auch tatsächliche Mordfälle auf. Sie nehmen uns mit zu forensischen Untersuchungen, lassen uns an den Ermittlungen teilhaben, bringen die Hintergründe ans Licht und geben Einblicke ins Denken von Täter*innen und die Empfindungen von Opfern und Hinterbliebenen.

Massenphänomen mit Tradition

Wenn wir ehrlich miteinander sind, dann ist sie schon etwas makaber, unsere Lust an Kriminalfällen abseits der Fiktion. War es in unseren Breiten lange ein Nischeninteresse für eingeschworene Kenner*innen – Medical Detectives um 02:00 auf Vox –, für das man zuweilen verstörte Blicke erntete, hat True Crime in den letzten Jahren einen absoluten Boom erlebt. Podcasts schossen wie Pilze aus dem Moos. Zahlreiche TV-Produktionen über die unglaublichsten Morde und abscheulichsten Serientäter*innen wurden aus dem Boden gestampft.

Das Interesse für wahre Kriminalfälle war allerdings immer schon da.

Im 19. Jahrhundert etwa hielt die Boulevardpresse ein Millionenpublikum in Atem, das gespannt die Gräueltaten von Jack the Ripper mitverfolgte. Doch was macht sie nun aus, unsere Faszination für die schonungslose Realität, die oft grausamer ist als die Fiktion selbst?

Nervenkitzel oder Verteidigungsstrategie?

Ist es etwa das Adrenalin, das unser Hirn überschwemmt und uns süchtig macht, daheim unter der sicheren Decke? Ist es die Neugier, einen Blick in den Kopf von Gewalttäter*innen zu wagen, in menschliche Abgründe zu blicken, immer in der Hoffnung, dass niemand zurückblickt? Ist es eine fast schon spielerische Freude am Rätsel oder gar der Wunsch nach Gerechtigkeit, der uns über ungelöste Kriminalfälle brüten lässt? Oder geht es um einen Lerneffekt, um Wissen, das hilft, nicht selbst zum Opfer zu werden?

Die Grenzen zum Voyeurismus sind fließend und schnell vergessen wir, dass es sich nicht nur um echte Fälle, sondern auch um echte Personen handelt, die diesen spektakulären Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sind. Individuen mit Gefühlen, mit einer Vergangenheit und einer Zukunft, die ihnen gewaltsam geraubt wurde. Um sich mit True Crime jenseits von Sensationsgier und Effekthascherei zu befassen, braucht es vor allem eines: Empathie; die Bereitschaft, sich nicht nur in die Opfer sondern auch in deren Angehörige hineinzuversetzen, die nicht nur mit dem Verlust, sondern auch damit leben müssen, dass ihre ganz persönliche Tragödie öffentlich diskutiert und in gewisser Weise auch vermarktet wird.

Romy Hausmann, fotografiert von Christian Faustus.

Romy Hausmann: viel mehr als Fakten

Eine Autorin, die Unterhaltung und Feingefühl souverän verbindet, ist Romy Hausmann. Die Spiegel-Bestseller-Autorin ist nicht nur für ihre Thriller bekannt, sondern zeigt in ihrem Buch „True Crime. Der Abgrund in dir“ (2022, dtv), dass das echte Leben mit jedem Thriller mithalten kann.

Einfühlsam sammelt sie nicht nur Fallbeispiele, sondern verdichtet die Erkenntnisse, die sie im Gespräch mit Opfern, Hinterbliebenen und Expert*innen gewonnen hat in Tagebucherzählungen, die abseits von reinen Fakten auch die Gefühle der Betroffenen in den Blick nehmen und auch danach fragen, wie diese mit dem Unfassbaren abschließen können.

Dipl.-Biol. Dr. rer. medic., M.Sc., Ph.D. Mark Benecke

Mark Benecke fotografiert von Thomas van de Scheck.

Mark Benecke: von Insekten und Kannibalen

Tiefe Einblicke in die Welt der Kriminalbiologie und forensischen Entomologie – also die Wissenschaft von Krabbeltierchen und wie man sie für Ermittlungen nutzen kann – gibt Dr. Mark Benecke, Tausendsassa und einer der prominentesten Sterne am heimischen True Crime-Himmel. Obwohl Stern vielleicht der falsche Begriff ist, denn Mark Benecke findet man eher auf der dunklen Seite des Mondes, gilt seine Leidenschaft nicht nur der Forensik, sondern auch düsterer Musik, Vampiren, Tattoos und der Gothic-Szene. In seiner Rolle als True Crime Experte, sei es in TV-Serien oder seinen eigenen Büchern, zeigt der Kriminalbiologe immer wieder, dass es sich lohnt, auf das vermeintlich Unscheinbare zu achten und das scheinbar Unmögliche in Betracht zu ziehen. Mark Beneckes Expertise und besondere Perspektive fließt auch in seine Kriminalromane ein. Zuletzt erschienen ist „Kannibal. Jagdrausch“, in dem bei den Ermittler*innen der grausige Verdacht aufkommt, dass sie es vielleicht mit einem Fall von Kannibalismus zu tun haben.

„Jeder Roman ist ein Versuch, die Welt zu begreifen.“ Ein Blick in die Werkstatt von Gudrun Lerchbaum

Gudrun Lerchbaums Sprache fesselt, rüttelt wach, zeichnet und verwischt Konturen von Protagonist*innen, die uns auch nach dem Lesen noch lange begleiten. In ihrem neuen Roman „Zwischen euch verschwinden“  folgt sie der Spur einer Frau, die viele Frauen ist. Doch woher kommt die Idee zu Maria, was hat die Autorin bewegt, inspiriert, getrieben? Ein Gastbeitrag von Gudrun Lerchbaum.

Immer geradeaus marschiere ich durch geisterstille Straßen auf den Stadtrand von Wien zu, die Sonne im Rücken. Rot-weiße Plastikgirlanden verhängen den Zugang zum Park. Eine Frau wechselt die Straßenseite, sobald sie mich sieht. Fremder Atem kann tödlich sein.

Aufwärts denkt es sich leichter

Gudrun Lerchbaum, fotografiert von Teresa Wagenhofer.

Es war im Mai 2020 während des Lockdowns, als ich überraschend ein Mail von der Dramaturgin eines deutschen Radiosenders bekam: Ob ich ihr ein Konzept für ein Krimihörspiel schicken wolle. Ein Lichtblick – mein erstes Hörspiel!

Erst wenige Wochen zuvor hatte mir die Verlegerin meines letzten Buches eröffnet, dass mein in Arbeit befindlicher Roman nicht ins Programm passe: zu phantasievoll, zu wenig hart. Nun gehört Verlagssuche nicht gerade zu den angenehmen Seiten des Schriftstellerinnendaseins. Jedes meiner bis dahin drei Bücher war in einem anderen Verlag erschienen, weil ich mich auf der Suche nach der besten Geschichte nicht gern von Genregrenzen einhegen lasse. Mit anderen Worten: Ich war auch ohne Pandemie mies drauf.

Und weil ich immer raus muss, irgendwo rauf muss, wenn ich nicht weiß, wie ich weitermachen soll, hastete ich damals den Wilhelminenberg hinauf. Ich erreichte die Weinberge und fühlte, wie sich mit dem Blick auch meine Gedanken weiteten.

Die Sorge um andere als Fundament der Gesellschaft

Ich hatte Glück. Ich musste die Pandemie nicht mehr als Alleinerzieherin in einer kleinen Wohnung durchstehen. Meine Familie kam mit den Belastungen einigermaßen zurecht und die 24-Stunden-Pflegerin der Schwiegermutter hatte sich nicht in ihre Heimat geflüchtet, sondern hielt nun schon den dritten Monat die Stellung, weil ihre Ablöse nicht einreisen durfte.

Trotz meiner beruflichen Probleme kreisten meine Gedanken um Fürsorge. Für mich ist das normal, doch vielen Menschen war erst unter dem Druck der Pandemie klargeworden, dass die Sorge um andere im Zentrum einer funktionierende Gesellschaft steht. Und schon sind sie dabei, es wieder zu vergessen.

In der Wiese auf der Hügelkuppe sitzend, erdachte ich eine Frau, die ungesehen für andere sorgt: Maria. Ihre Patientin ist in der Nacht verstorben, erstickt, ohne dass sie hätte helfen können. Verstört von dieser Erfahrung verlässt sie das Haus, um kurz Luft zu schnappen, und wünscht sich plötzlich nichts sehnlicher als – was? Ein üppiges Frühstück, das sie nicht selbst zubereiten muss. Als sie zurückkommt, steht die Polizei vor dem Haus.

Ein Anfang, eine Versuchsanordnung, wie sie jeder meiner Geschichten zugrunde liegt. Jetzt hieß es herauszufinden, was geschehen war. Hatte Maria aus Mitleid nachgeholfen? Warum sonst sollte sie nun Hals über Kopf fliehen? Ja, natürlich: Sie wusste selbst nicht, ob sie Schuld trug. Ihr Alltag verlief so eintönig, dass ihr manchmal Zeit und Realität entglitten.

Wenn die Figuren der Autorin das Heft aus der Hand nehmen

Okay, Maria ist um die vierzig, unauffällig, hat sich selbst nie wichtig genommen. Eine schweigende Antiheldin …

Halt! Ich springe auf, mache mich auf den Weg ins Tal. Bitte nicht! Eine Schweigende in einem Hörspiel? Unmöglich!

Aber was soll ich machen? Maria kriegt nun mal den Mund nicht auf. Andere müssten über sie reden. Doch bevor ich Ermittler:innen und eine empörte Öffentlichkeit über sie urteilen lasse, muss ich ihr Gelegenheit geben, die Geschehnisse aus ihrer Perspektive zu erzählen. Das klingt eher nach dem nächsten Roman, quasi als Vorarbeit zum Hörspiel. Eine spannende Story über eine auf den ersten Blick höchst langweilige Frau. Ob ich dieser Herausforderung gewachsen bin? Es gab nur eine Art, das herauszufinden!

Wie Marias Schicksal wohl mit dem der rumänischen Pflegerin zusammenhing, die ich beim Öffnen der Haustür plötzlich ganz deutlich spürte, energisch und redselig, mit rauchiger Stimme und brutal zerschlagenem Gesicht? Ich lud sie auf einen Kaffee ein, um herauszufinden, was sie mit Maria ausheckt. Gibt es noch andere Tote? Kann Maria dennoch unschuldig sein?

Aufwühlend und augenöffnend:  „Zwischen euch verschwinden“.

Von der Inspiration an den Schreibtisch getrieben

Doch bevor ich diesen Roman schreiben durfte, musste ich erst den anderen fertigstellen, den kürzlich abgelehnten. Story und Charaktere waren zu aufregend, um sie fallenzulassen. Das fand wenig später zum Glück auch Linda Müller vom Haymon Verlag. Meine Lieblingskollegin Ellen Dunne, inzwischen Glauser-Preisträgerin, hatte mich mit ihr in Verbindung gebracht. 2022 erschien dieser Roman bei Haymon unter dem Titel „Das giftige Glück“.

Endlich durfte ich mich Maria widmen, sie auf ihrer Flucht vor sich selbst und zu sich selbst begleiten. Eine weibliche Odyssee, ein spannender Entwicklungsroman. Mit Blut. Es sammelt sich am Boden zwischen den Stühlen von Krimi und Roman.

Ich glaube nicht an die oft kolportierte Regel, dass ein Buch zu 10 % aus Inspiration und zu 90 % aus Transpiration, also harter Arbeit, besteht. Für mich macht die Inspiration mindestens 51 % aus, denn ohne sie beginne ich kein Buch. Und nichts treibt mich so schnell an den Schreibtisch wie eine neue Idee, die darauf drängt, mit Leben gefüllt zu werden, sobald das aktuelle Projekt abgeschlossen ist. Ob etwas ins Genre oder ins Verlagsprogramm passt, in diese oder jene Schublade, darauf kann ich dabei keine Rücksicht nehmen.

Meine Arbeit ist es, Geschichten zu schreiben und die neueste heißt: „Zwischen euch verschwinden“.

Gudrun Lerchbaum nimmt uns mit auf eine rasante Reise entlang der Schicksale jener Frauen, die ungesehen bleiben: da ist die pflegende Angehörige schwerkranker Eltern, da ist die Kellnerin in Schwarzarbeit, die ausgebeutet und erpresst wird, da ist die Ehefrau, die sich vor ihrem prügelnden Mann ins Frauenhaus rettet, und die 24-Stunden-Pflegekraft, von der viel mehr als nur Pflege erwartet wird.
Marias Wechselspiel aus Passivität und radikalen Befreiungsschlägen lässt sie dich spüren: die Hilflosigkeit und den lodernden Zorn, die aus Ungerechtigkeit und Unterdrückung entstehen.

Mehr Infos zum Buch gibt es hier!

„Es sind die Tiefen und die Wahrhaftigkeit der Personen, die mich interessieren.“ – Theresa Prammer im Interview

Auf der Bühne verkörpert Theresa Prammer die Charaktere anderer und inszeniert Geschichten. In ihren Büchern erweckt sie ihre eigenen Figuren zum Leben. Buch oder Bühne? Für Theresa Prammer ist klar, es muss kein Entweder-Oder sein. Nach wie vor ist die Autorin auch als Schauspielerin und Regisseurin tätig. Für ihre Leser*innen öffnet sie, vor allem durch die Schauspielschülerin Toni in „Schattenriss“, weit den Theatervorhang und lässt hinter die Kulissen blicken.

Du erzählst nicht nur in deinen Büchern, sondern auch auf der Theaterbühne Geschichten. Welche Gemeinsamkeiten gibt es bei den verschiedenen Erzählarten und welche Unterschiede? Welche Herausforderungen begegnen dir dabei und wie gehst du damit um?

Ich liebe beides, beim Roman entstehen die Bilder im Kopf, im Theater auf der Bühne. Beim Schreiben sehe ich die Szene immer vor mir – beim Buch eher wie im Film, die fünf Sinne der Protagonisten, ihr Innenleben und die Umgebung/Atmosphäre spielen eine große Rolle. Beim Schreiben eines Stücks ist das zwar auch wichtig, aber da fokussiere ich mich mehr auf die Interaktionen und den Dialog.

Die Herausforderungen sind immer die gleichen – die Seele und das Hirn beim Schreiben auf einen Nenner zu bringen.

Wie bereitest du dich für die Verkörperung von Rollen vor und wie gehst du bei der Erschaffung von Figuren vor?

Theresa Prammer, fotografiert von Janine Guldener.

Das Wichtigste in beiden Fällen, egal ob Rolle oder Figur, ich muss sie verstehen. Und zwar richtig verstehen, ihre Geschichte, ihre Vergangenheit, ihre Beweggründe. Im Theater kann ich den Subtext nur zeigen – das, was die Rolle vielleicht überspielt, nicht zugeben will, während sie mit dem Text etwas anderes sagt. Im Roman habe ich mehr Freiheit, ich kann die Leser ganz nah an die Person heranführen, sie in die Seele hineinführen und diese Ambivalenz direkt miterleben lassen. Ob Theater oder Buch, in beiden Fällen sind die Tiefen und die Wahrhaftigkeit der Personen das, was mich interessiert. Und ich bin sowohl beim Schreiben als auch auf der Bühne immer ein bisschen verliebt in meine Figuren.

Inspirieren dich Theater und Film für deine eigenen Geschichten als Autorin?

Unbedingt. Und auch Musik und Bücher (ich könnte ohne Buch nicht einschlafen).

Helfen dir deine Erfahrungen als Schauspielerin und Regisseurin als Autorin oder greifen diese Tätigkeiten sogar ineinander?

Auf jeden Fall. Ich glaube generell, die eigene Kreativität ist wie eine große üppige Torte. Und alles, was man kreativ tut, dekoriert diese Torte. Da kommen brennende Kerzen dazu, eine weitere Cremeschicht, Zuckerguss, Marzipan, etc. Diese Torte gehört gepflegt und beschützt, sonst schmilzt sie dahin.

Einen Einblick in ein Leben auf der Bühne erlaubst du deinen Leser*innen mit der Schauspielschülerin Toni, welche Edgar Brehm bei seinen Ermittlungen unterstützt. Wie entscheidest du, wie weit du den Vorhang für deine Leser*innen lüftest?

Ich schreibe immer mit ganz weit geöffnetem Vorhang 🙂 .

Zum Mitfiebern: „Schattenriss” von Theresa Prammer.

Decken sich Tonis Erfahrungen als Schauspielschülerin mit deinen eigenen?

Was die Schauspiel-Übungen betrifft – alles was Toni macht, habe ich auch gemacht. Und da mein Mann und ich seit sieben Jahren eine Schauspielakademie für Jugendliche leiten, bin ich da auch recht nah dran. Tonis direkte Erfahrungen decken sich vielleicht manchmal mit meinen eigenen, aber in ganz anderer Form.

Welche Tipps würdest du Toni und anderen angehenden Schauspieler*innen für ihren Traumberuf geben?

Glaub an dich. Hör nie auf zu lernen und dich weiterzuentwickeln.
Sei mutig und radikal ehrlich zu dir selbst. Finde etwas an jeder Rolle, das du liebst.
Geh mit ganzem Herzen rein, riskiere es, Fehler zu machen und zu scheitern.
Wenn du mit Rückschlägen kämpfst, frage dich: Warum geschieht das FÜR mich?
Hör dir Kritik von den für dich richtigen Leuten an. Wenn sie dich trifft, schlaf drüber, schreib deine Gedanken dazu am nächsten Morgen auf und entscheide dann, ob sie (oder welcher Teil davon) berechtigt ist. Und vergiss nie, alle „kochen nur mit Wasser“.

Edgar Brehm, ehemaliger Kommissar und jetzt Privatdetektiv, verschlossen und mürrisch, aber mit einem riesigen Herz, und Toni Lorenz, Schauspielschülerin am Konservatorium in Wien, offen, mutig und mit ihrem persönlichen Rucksack voller negativer Erfahrungen beladen: ein Ermittlerteam, das ungleicher nicht sein könnte. Und dabei doch so gut zusammenpasst.
Wenn Toni und Edgar an einem Fall arbeiten, gönnt uns Theresa Prammer keine Atempause: auf Theaterbühnen und Filmsets, auf den Straßen Wiens, von der Donau bis in den Prater lösen die beiden Fälle, die unter die Haut gehen. Emotional, aufwühlend und mitreißend bis zum letzten Wort.

Mehr Infos zum Buch gibt es hier!

„Gewalt ist ein Mittel, um Frauen auf die ihnen zugeschriebene Rolle zu verweisen.“ – Interview mit dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser

Bist du schon einmal alleine unterwegs gewesen – nur du und die Angst, dir könnte genau jetzt etwas passieren? Etwas Schreckliches, angetan von einem anderen Menschen? Wenn du eine Frau bist oder einer in dieser Hinsicht vulnerablen Gruppe, wie zum Beispiel queeren Menschen, angehörst, kennst du dieses Gefühl mit sehr großer Wahrscheinlichkeit. Dabei ist das Gewaltrisiko in den eigenen vier Wänden statistisch gesehen am größten. Aktuelle Untersuchungen ergeben: Jede dritte Frau in Österreich ist von körperlicher und/oder sexueller Gewalt innerhalb oder außerhalb von intimen Beziehungen betroffen. Was wird dagegen unternommen? Wir haben uns mit dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser darüber unterhalten.

Eure Arbeit erstreckt sich von der Frauenhelpline über Aufklärungsarbeit in verschiedensten Formen bis hin zur Umsetzung von EU-weiten Projekten und Kampagnen. All dies eint das Ziel, über das Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder zu informieren und dafür zu sensibilisieren. Diese angesprochene Gewalt ist dabei sehr vielschichtig und komplex und wirkt sich auf das ganze Leben der Betroffenen aus. Könnt ihr uns erklären, was es für Frauen und auch Kinder bedeutet, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein?

Frauen sind vielen verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt: körperlicher, sexueller, psychischer und ökonomischer Gewalt sowie Gewalt im Internet, die natürlich auch in vielen Fällen ineinandergreifen. Sich in einer gewalttätigen Beziehung wiederzufinden ist ein schleichender Prozess, die Gewalt nimmt oft mit der Zeit an Häufigkeit und Schwere zu. In dieser Gewaltspirale wechseln sich Phasen der Kontrolle, Einschüchterung, emotionaler Erpressung/Missbrauch und Aggression mit Phasen von Entschuldigungen und Versprechung von Wiedergutmachung seitens des Täters ab. Den Betroffenen wird auch durch teilweise subtile Manipulationen des Täters die Schuld an seinem Verhalten zugeschoben. Besonderer Gefahr sind Frauen in der Trennungsphase ausgesetzt, in dieser Zeit finden besonders häufig auch Femizide und Fälle von schwerer Gewalt statt. Betroffene Frauen befinden sich oftmals in prekären Abhängigkeitsverhältnissen, vor allem auch, wenn gemeinsame Kinder da sind und es kaum Zugang zu leistbarem Wohnen gibt. All das lässt die Aussage, sich doch „einfach zu trennen“, nicht legitimieren, die schmerzhafte Realität gewaltbetroffener Frauen wird dadurch verharmlost. Die Trennung von einem gewalttätigen Partner ist ein langwieriger, belastender Prozess, sowohl in ökonomischer, juristischer, emotionaler und psychischer Hinsicht. Darüber hinaus ist die Trennung die gefährlichste Phase für eine gewaltbetroffene Frau – zu diesem Zeitpunkt werden die meisten Morde an Frauen durch einen gewalttätigen Partner begangen. Kinder sind bei häuslicher Gewalt immer mit betroffen – entweder direkt, indem sie selbst Misshandlungen ausgesetzt sind, oder indirekt, weil sie die Gewalt, die ihre Mutter erleiden muss, hautnah mitbekommen.

Häufig wird betont, dass Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem ist, bei dem gerade auch staatliche Institutionen nicht genug sensibilisiert sind oder sogar an der Reproduktion von Strukturen beteiligt sind, in denen diese Gewalt möglich ist. Welche strukturellen und politischen Veränderungen müssen stattfinden, um Frauen vor Gewalt zu schützen? 

Eigentlich haben wir in Österreich gute Gesetze zum Schutz vor Gewalt, jedoch werden diese oft nicht wirksam angewendet oder ausgeschöpft, z.B. werden gefährliche und polizeibekannte Gewalttäter oft nur auf freiem Fuß angezeigt oder sogar freigesprochen, was oft zu schwereren Gewalttaten bis zu Femiziden führt. Obwohl immer mehr Frauen den Mut aufbringen, Anzeige gegen ihre Misshandler zu erstatten, bleibt die Tat für die Gewaltausübenden leider nach wie vor oft ohne ernsthafte Konsequenzen.
Für eine echte Gleichstellungs- und Gewaltschutzpolitik wäre das Wichtigste eine langfristige und gesicherte Finanzierung. Das Budget des Frauenministeriums und spezifisch der Bereich für Gewaltprävention ist grundsätzlich (auch im Vergleich zu anderen Ressorts und Ministerien) viel zu niedrig. Angesichts der immens hohen Folgekosten von Gewalt braucht es eine Erhöhung der Mittel für das Frauenministerium. Dringend finanziert werden müsste z.B. auch eine langfristige österreichweite Bewusstseinskampagne gegen Gewalt an Frauen, besonders auch für die breitere Bekanntwerdung der Nummer der Frauenhelpline (0800 222 555). Darüber hinaus benötigt es 3000 neue Vollzeitstellen im Gewaltschutzbereich und für Betreuung und Begleitung der betroffenen Frauen und ihrer Kinder.
Frauen werden in unserer Gesellschaft strukturell abgewertet – frauenspezifische Tätigkeiten wie Care-Arbeit, also Kindererziehung, Haushalt oder die Pflege kranker oder älterer Angehöriger, werden schlecht bis gar nicht entlohnt. Oft sind diese Tätigkeiten unsichtbar und werden als selbstverständlich hingenommen. Es findet eine Ausbeutung dieser reproduktiven Tätigkeiten statt, die oft rund um die Uhr geleistet werden. An diesen Ausbeutungsverhältnissen gilt es anzusetzen, es muss eine gerechte Entlohnung, z.B. in Pflegeberufen, gewährleistet werden und eine gesellschaftliche Aufwertung dieser Tätigkeiten stattfinden.

Um betroffenen Frauen wirkungsvoll helfen zu können, braucht es Wissen – Wissen um diese strukturellen Probleme und um die Faktoren, die Gewalt gegen Frauen begünstigen. Wann sind Frauen, wann bin ich selbst besonders gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden?

Gewalt an Frauen passiert überall auf der Welt und ist ein weltweites Problem. Sie kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor und hängt weder mit Einkommen oder Bildung, noch mit der Herkunft oder Staatszugehörigkeit zusammen – Frauen bzw. Migrantinnen aus anderen Herkunftsländern sind also generell nicht häufiger von Gewalt betroffen, jedoch haben es gewaltbetroffene Migrantinnen aufgrund von prekären Lebensumständen (Flucht, etc.) besonders schwer, sich aus einer Situation häuslicher Gewalt zu befreien. Diese Faktoren bzw. Hindernisse machen die Situation von gewaltbetroffenen Migrantinnen im Vergleich zu betroffenen Österreicherinnen schwieriger.

Ein besonders wichtiger Faktor, um der Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken bzw. sie zu verhindern, ist die Prävention gegen Gewaltbereitschaft. Was sind eurer Meinung nach sinnvolle Präventionsmaßnahmen?

Wie in anderen Ländern leben wir auch in der österreichischen Gesellschaft in einem Patriarchat. Gewalt ist ein Mittel, um Frauen auf die ihnen zugeschriebene Rolle zu verweisen.
Es fehlen langanhaltende, flächendeckende und umfassende Kampagnen zum Thema Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, um das Bewusstsein und das Wissen in der breiten Bevölkerung zu erhöhen. Eine gute und effektive Maßnahme, um patriarchalen und frauenverachtenden Einstellungen in der Gesellschaft entgegenzuwirken, sind möglichst flächendeckende Präventionsworkshops und Seminare in Schulen zu häuslicher Gewalt und Geschlechtergerechtigkeit, besonders auch für Burschen zu den Themen toxische Männlichkeit und stereotypische Frauen- und Männerbilder, um Gewalt schon im Vorhinein zu verhindern.

Viele betroffene Frauen schämen sich für das, was ihnen passiert, oft kommt es zu einer Täter-Opfer-Umkehr und sie sind gesellschaftlichen Verurteilungen ausgesetzt. Wie kommt es zu den vielen Vorurteilen, mit denen dieses Thema behaftet ist, und wo muss hier ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden? Wie kann das am besten gelingen?

Trotz aller Fortschritte seit den 1970er Jahren ist das Thema geschlechtsspezifische Gewalt leider immer noch mit Scham assoziiert. Es wird selten darüber gesprochen und oft bekommen die Betroffenen vom Umfeld keinen Rückhalt, sie werden noch immer für die Tat des Mannes verantwortlich gemacht (sogenanntes victim blaming). Das hat leider oft zur Folge, dass sich gewaltbetroffene Frauen keine Hilfe holen.
Patriarchale Vorstellungen von Geschlecht spielen dabei ebenfalls eine große Rolle. Wir haben in Österreich seit Jahren Regierungen mit Beteiligung (rechts-)konservativer Parteien – im rechten bzw. konservativen politischen Spektrum wird Gewalt an Frauen verharmlost und oft als ein „importiertes Problem“ dargestellt. Gewalt von Männern gegenüber Frauen wird immer noch viel zu oft im Sinne eines patriarchalen Männlichkeitsbildes mit „Männer sind halt so“ abgetan und verharmlost und diese Männer werden auf diese Weise nicht zur Verantwortung für ihr eigenes Verhalten gezogen.
Auch verbale Gewalt an Frauen wird oft gesellschaftlich toleriert und Hass im Netz hat sich in den letzten Jahren deutlich gesteigert. Hierbei hat die Verrohung der Sprache im Umgang und Diskurs deutlich zugenommen. Gewalt durch Worte ist auch psychische Gewalt und der Weg von der psychischen Gewalt zur körperlichen Gewalt ist oft ein kurzer.
In der Berichterstattung der Medien über Gewalt an Frauen, besonders im Boulevard, werden leider nach wie vor immer wieder patriarchale Klischees reproduziert. Immer noch werden Fälle von Gewalt von Männern an Frauen als „Familientragödie“, „Beziehungsdrama“ oder „Einzelfall“ verharmlost sowie der Täter entschuldigt. Von den Medien wünschen wir uns, dass Journalist*innen sich über verantwortungsvolle und sensible Berichterstattung zum Thema Gewalt an Frauen und Kindern informieren – z.B. über den vom Verein AÖF erstellten Leitfaden zu verantwortungsvoller Berichterstattung – und diese auch anwenden.

Gemeinsam mit diesem Umdenken muss auch das Gespür dafür geschärft werden, wo jede*r einzelne aktiv werden kann. Wie übernimmt man als Einzelperson Verantwortung und kann betroffenen Frauen am besten helfen?

Um gesellschaftliche Veränderungen zu schaffen, braucht es flächendeckende langfristige Bewusstseinsarbeit. Das kann u.a. durch Projekte, wie das Nachbarschaftsprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ erreicht werden, das der Verein AÖF aktuell in mehreren Wiener Bezirken und an insgesamt 25 Standorten in ganz Österreich durchführt.
„StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ ist ein nachhaltiges und zukunftsorientiertes Gesamtpaket in der Gewaltprävention, das alle Menschen, insbesondere Nachbar*innen einlädt und befähigt, sich aktiv gegen Femizide und gegen häusliche Gewalt an Frauen und Kindern zu engagieren. Es richtet sich explizit und direkt an die Zivilgesellschaft, bindet diese aktiv ein und weist ihnen konkrete und anwendbare Handlungsmöglichkeiten auf, um sie zu involvieren und zu zeigen, was jede*r Einzelne*r beitragen kann. Durch das Aufzeigen von Unterstützungsmöglichkeiten klärt StoP auf, was bei Verdacht auf Partnergewalt zu tun ist, wie sich Nachbar*innen selbst schützen und wie sie Gewalt verhindern können. Nachbar*innen können z.B. die Gewalthandlung unterbrechen, indem sie anläuten und nach etwas Unverfänglichem fragen (z.B. Zucker ausleihen). Auf diese Weise wird dem Täter signalisiert, dass die Nachbarschaft mithört und der Betroffenen wird signalisiert, dass sie nicht allein ist. Nachbar*innen verbünden sich mit anderen Personen, wie Familie und Freund*innen, informieren sich und überlegen, wie sie helfen können. Zudem können Nachbar*innen betroffene Frauen und Kinder niederschwellig über wichtige Notrufnummern, wie z.B. die Frauenhelpline 0800 222 555, Anlaufstellen, etc. informieren. StoP ermutigt Personen, eine klare Haltung gegen (häusliche) Gewalt/Partnergewalt einzunehmen, genau hinzuschauen und zivilcouragiert zu handeln. Entsprechend ist StoP auch ein Appell an die österreichische Zivilgesellschaft, sich aktiv einzusetzen und sich eindeutig und klar gegen Gewalt an Frauen und Kindern zu positionieren. Mehr Informationen auf stop-partnergewalt.at.

 

Es gibt zahlreiche Initiativen und Plattformen, die über häusliche Gewalt informieren und Hilfe bieten. Hier ein paar davon:

Das Start-Up Frontline entwickelt Trainings und digitale Tools für Betroffene und jene, die mit Opfern häuslicher Gewalt in Kontakt stehen.

SOS@Home bietet Aufklärungsarbeit sowie ein Netzwerk aus Hilfeleistenden und Initiativen.

In Deutschland:

Das bundesweite Hilfetelefon richtet sich an Frauen*, die Gewalt erfahren haben, aber auch Angehörige sowie Freund*innen werden anonym beraten. Es ist jederzeit und kostenfrei unter +49(0)8000 116 016 erreichbar.

Hier können Frauenhäuser und Fachberatungsstellen in ganz Deutschland gesucht werden.

In Österreich:

Frauenhelpline gegen Gewalt, rund um die Uhr, anonym, kostenlos und mehrsprachig: 0800 222 555 www.frauenhelpline.at

Onlineberatung für Mädchen und Frauen im HelpChat, täglich 18-22 Uhr und jeden Freitag von 9-23 Uhr, mehrsprachig: www.haltdergewalt.at

Frauenhäuser bieten Frauen*, die häusliche Gewalt erleben, und ihren Kindern eine sichere Wohnmöglichkeit. Frauenhäuser sind für alle Gewaltopfer offen, unabhängig von Nationalität, Einkommen oder Religion.

Das Nachbarschaftsprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ setzt da an, wo häusliche Gewalt passiert, am Wohnort, in der Nachbarschaft, und hilft, häusliche Gewalt früh zu erkennen und zu unterbrechen.

BAKHTI – EmPOWERmentzentrum für gewaltbetroffene Mädchen* mit einem Zusatzangebot für mitbetroffene Burschen*: www.bakhti.at  und www.burschen.bakhti.at

Infowebsite für Kinder und Jugendliche: www.gewalt-ist-nie-ok.at

„Im Krankenhaus sind wir Nebenfiguren in der Lebensgeschichte unserer Patient*innen“ – David Fuchs im Interview

Sechs Nächte, vier Wände, zwei Unbekannte, eine Frage: Haben alle Menschen das gleiche Maß an Fürsorge verdient, ganz ungeachtet ihrer Vergangenheit? Dieses moralische Dilemma steht in David Fuchs’ neuem Buch „Zwischen Mauern“ im Mittelpunkt. Wir haben uns mit dem Schriftsteller, der auch als Palliativmediziner in Linz arbeitet, über die Arbeit an seinem dritten Roman, das Krankenhaus als „Bouillonwürfel des Lebens“ und schrullige Kuriositäten des Ärztealltags unterhalten.

In deinem neuen Roman spielt eine sogenannte Sitzwache eine zentrale Rolle. Worin besteht die Aufgabe einer Sitzwache?

Eine Sitzwache ist eine Person, die z.B. in einem Krankenhaus dafür da ist, am Bett eines/einer Kranken – häufig Menschen mit Demenz – zu wachen, d.h. daneben zu sitzen, sich – wenn möglich und gewünscht – mit den Menschen zu unterhalten; vor allem aber, um dafür zu sorgen, dass niemand stürzt oder sich anderweitig in Gefahr bringt.

Warst du selbst schon einmal Sitzwächter?

Nein, war ich nicht, aber ich hätte mir nicht selten gewünscht, dass es eine Sitzwache gegeben hätte. An der Palliativstation haben wir viel Personal, auch Ehrenamtliche, aber z.B. an internistischen oder neurologischen Stationen ist die Betreuung von verwirrten Patient*innen oft eine große Herausforderung.

Welche Bücher würdest du dir für eine Nachtwache in den Rucksack packen?

David Fuchs
David Fuchs, geboren 1981 in Linz, ist Autor und Palliativmediziner. Mit schnörkelloser Sprache lenkt er unseren Blick auf die Dinge, die sich zwischen und in uns abspielen. Sensibel zeichnet er uns in unseren menschlichsten Momenten: in unserer unfreiwilligen Komik, in unseren einschneidendsten Augenblicken, in unserer tiefsten Nähe zueinander. Portrait: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Es müssten Bücher sein, in denen man immer wieder kurz lesen kann, die man weglegen und wieder zur Hand nehmen kann, wenn es passt. Neben mir liegt z.B. gerade „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ von Nick Cave und Sean O’Hagan, das sich gut eignen würde – eine Serie von wunderbaren Gesprächen über Kunst, Musik und das Leben. Einen Lyrikband hätte ich sicherlich auch mit dabei: einen, den ich schon gut kenne, den ich einfach irgendwo aufschlagen und in dem ich mich sofort zu Hause fühlen kann: „im felderlatein“ von Lutz Seiler oder „Die Worte, die Worte, die Worte“ von W.C. Williams.

In „Zwischen Mauern“ meldet sich die Protagonistin Meta ehrenamtlich für die Aufgabe. Warum, glaubst du, entschließt sie sich dazu?

Es gibt viele Motive, um ehrenamtlich tätig zu werden, wahrscheinlich so viele, wie es Ehrenamtliche gibt. Meta hat sich wahrscheinlich dazu entschieden, weil sie hofft, Sinn in dieser Tätigkeit zu finden, den sie in ihrem Beruf nicht findet. Sie geht das durchaus naiv an – im positiven wie im negativen Sinn.

Metas Vorstellungen über ihren freiwilligen Dienst ändern sich nach wenigen Nächten zwangsläufig. Kommen ähnliche Situationen in der Praxis oft vor?

Viele Menschen beginnen mit hohem Idealismus im Gesundheitsbereich zu arbeiten oder starten eine Ausbildung. Dass es dann zu einer Konfrontation mit der Realität kommt und diese hohen Erwartungen bis zu einem gewissen Grad gedämpft werden, liegt in der Natur der Sache. Wichtig ist in der Praxis, diesen Idealismus behutsam auf den Boden der Realität zu bringen – die Personen sollen ja viele Jahre hier arbeiten. Andererseits kann natürlich ein bestehendes Team profitieren, wenn alte Gewohnheiten hinterfragt und neue Möglichkeiten aufgezeigt werden.

Der Roman dreht sich auch um ein moralisches Dilemma. Warum zweifelt sie letztendlich daran, in das Pflegeheim zurückzukehren?

Metas Weltbild ist zu Beginn des Romans recht schwarz/weiß. Was sie sich letztlich erkämpfen muss, ist ein Gefühl für die Graustufen dazwischen, für einen gangbaren Weg in einer nicht idealen Situation. Das ist übrigens auch etwas, was vielen Leuten in aktuellen aufgeheizten Diskussionen gut zu Gesicht stünde.

Es gibt eine illustre „Ahnenreihe“ von Ärzt*innen, die sich erfolgreich schriftstellerisch betätigten, mit William Carlos Williams hast du deinem Roman auch die Lyrik eines „Ärztedichters“ vorangestellt. Geht mit dem Arztberuf ein besonderer Blick auf unser Dasein einher?

Menschen gewähren uns Zugang zu intimen und entscheidenden Momenten ihres Lebens, auch zu ihren Körpern, zu ihrer Psyche, und das bedingt einen besonderen, einen im besten Sinn privilegierten Blick auf unser Dasein, der nicht ohne Einfluss auf das eigene Leben bleibt. Das betrifft natürlich nicht nur Ärzt*innen, sondern gleichermaßen die Pflege und andere Gesundheitsberufe.

In einem Interview hast du einmal eine Schriftstellerin zitiert, die schrieb: „Ein Text sollte sein wie ein Bouillonwürfel. So konzentriert und eingekocht und der Leser gibt dann sein Wasser dazu.“ Ist das Krankenhaus als Ort konzentrierter existentieller Erfahrungen manchmal wie ein Bouillonwürfel des Lebens?

Im Krankenhaus sind wir Nebenfiguren in der Lebensgeschichte unserer Patient*innen, und das sehr oft an entscheidenden Wendepunkten in ihrer Existenz, z.B. am Beginn oder eben, wie in meinem Fall, am Ende des Lebens. Diese hohe Dichte an schönen, an schrecklichen, jedenfalls aber wichtigen Momenten, die wir miterleben, ist schon sehr besonders und ein großer Schatz.

 

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David Fuchs im Haymon- Videointerview 2018

Du wirst bestimmt häufig gefragt, ob und wie dein Ärztedasein dein Schreiben beeinflusst. Wie verhält es sich umgekehrt, hat die Schriftstellerei deinen Alltag im Krankenhaus verändert?

Ich glaube, dass ich durch das Schreiben mehr Bewusstsein für die Geschichten meiner Patient*innen entwickelt habe, auch für die Sprache, in der sie diese Geschichten erzählen. Es tut auch gut, diesen zweiten Beruf zu haben, diese ganze andere Welt zu kennen, um nicht aus dem Blick zu verlieren, dass das Krankenhaus, wenn es auch einen großen Teil meines Lebens bestimmt, nicht mein ganzes Leben ist.

Auch in deinem letzten Roman „Leichte Böden“ geht es – neben einigen anderen – um die Frage, ob jedem Menschen ungeachtet seiner Vergangenheit gleich viel Fürsorge zusteht. Ist dein Schreiben auch ein Weg, einen Umgang mit dieser Frage zu finden, die sich in deiner Rolle als Arzt eigentlich gar nicht stellen darf?

Es ist eine wichtige und vor allem eine sehr alltägliche Frage, die mich deswegen auch schriftstellerisch beschäftigt. Jeder Mensch verdient die gleiche Fürsorge, und wir urteilen nicht; allerdings geht es nicht spurlos an uns vorüber, welches Verhalten Patient*innen zeigen, welche Vergangenheit sie haben oder wie sympathisch sie uns sind. Alle Menschen werden krank, und so sind wir eben mit einem Querschnitt der Gesellschaft konfrontiert.

Spannend finde ich, wie es uns gelingen kann, damit umzugehen und wichtig ist mir, dass wir uns auch eingestehen dürfen, dass es bei manchen Menschen einfach sehr schwierig ist, das Maß an Fürsorge und Professionalität aufrechtzuerhalten, das wir uns wünschen.

Was Außenstehenden oft als kalte, sterile Institution erscheint, wird in deinem Roman trotz des etwas verlassenen Settings als facettenreicher und menschelnder Lebensraum gezeichnet. Wir lernen eine interessante Parallelwelt kennen, die von strengen Routinen, aber auch von schrulligen Kuriositäten geprägt ist. Ist die landläufige Vorstellung, die wir uns von Gesundheitseinrichtungen (und deren Angestellten!) machen, oft zu abstrakt und unpersönlich?

Ja klar. 😊 Der Alltag ist menschelnder, auch humorvoller und schrulliger, als man sich das vielleicht gemeinhin vorstellt. Ich behaupte ja immer, dass „Scrubs“ die Krankenhausserie mit dem vielleicht höchsten Grad an Realismus war.

Hallende menschenleere Gänge, vereinzeltes Schnarchen, Ächzen, Rascheln hinter den Türen, allein klackern wir durch das nächtliche Pflegeheim: Der Handlungsort von „Zwischen Mauern“ versprüht eine einzigartige Atmosphäre, die einen in ihren Bann zieht. Und einen ein bisschen auf sich selbst zurückwirft. Fällt in der Nacht das Abstreifen des privaten Menschen für die Rolle, die man als Personal einnimmt, schwerer?

Ich arbeite selbst schon seit einigen Jahren nicht mehr nachts, habe die besondere Atmosphäre aber immer gemocht. Die Arbeitsdichte ist in der Nacht meist nicht geringer als untertags, aber der Grad der Erschöpfung ist bei allen Berufsgruppen höher. Da mag es schon oft schwerer fallen, gut in der Rolle zu bleiben und Grenzen zu spüren.

 

Bist du neugierig geworden? „Zwischen Mauern“ findest du ab 19. September in deiner Lieblingsbuchhandlung . Alle Infos zum Buch findest du hier!

„Ich lese täglich Lyrik. Wie andere morgens ihre Yoga-Übungen machen, ziehe ich einen Band mit Gedichten aus dem Regal“ – Sabine Gruber im Interview

Über Lesen als Yoga, Schreiben als Bedürfnis, Recherche als diffuses Schnüffeln und was es eigentlich bedeutet, den Nachlass einer Autorin zu betreuen. Über diese Dinge haben wir mit der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin Sabine Gruber gesprochen, die gerade ihren 60. Geburtstag gefeiert und ihren neuen Roman „Die Dauer der Liebe“ veröffentlicht hat. Im folgenden Interview gibt sie uns einen spannenden Einblick in ihre literarische Arbeit, ihre Inspirationen und ihren kreativen Prozess.

Wir gratulieren Ihnen  ganz herzlich zu Ihrem 60. Geburtstag dieses Jahr. Im Laufe Ihres erfolgreichen literarischen Schaffens haben Sie Erzählungen, Romane, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke und Essays veröffentlicht und waren zudem als Universitätslektorin tätig. Gab es gewisse Meilensteine oder Herausforderungen, die Sie als Schriftstellerin besonders geprägt haben? Und: Was hat Sie ursprünglich zu dieser Berufswahl inspiriert?

Vielen Dank für die Glückwünsche!

Mit Sicherheit war der RAI-Kurzgeschichten-Preis 1985 eine Ermunterung weiterzuschreiben. Und als ich nach dem Studium als Lektorin an der Universität Venedig tätig war, stellte mir mein ehemaliger Diplomarbeit-Betreuer, Professor Sigurd Paul Scheichl, die richtigen Fragen, ob ich denn die Universitätslaufbahn einschlagen oder doch lieber schreiben wolle. Er verstand früher als ich, daß beides gleichzeitig nicht möglich ist.

An einem der ersten Schultage im Gymnasium wurden wir gefragt, warum wir uns für das Humanistische Gymnasium (mit Latein und Altgriechisch) entschieden hätten. Meine Antwort war damals schon, im Alter von 14 Jahren, ich wolle Journalistin oder Schriftstellerin werden. Es gab keine „Inspiration“ zu dieser Berufswahl, es war auch keine „Wahl“, es war vielmehr ein Bedürfnis, ein Verlangen, mich auszudrücken, zu lesen, die eine Welt, aus der ich kam, zu überwinden, neue auszudenken, mich in anderen, mir fremden Bücher-Welten aufzuhalten.

Welche Bücher oder Autor*innen haben Sie in den Anfängen Ihres Schreibens besonders fasziniert? Welche tun es heute? (Wie) Hat sich Ihre Einstellung zum Schreiben verändert?

Ich komme aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, ich las, was ich zwischen die Finger bekam: Bücher aus der Schulbibliothek und Pfarrbücherei, Bücher von meinem Vater (Karl May, Ernst Hemingway, Joseph von Eichendorff usw.), Zeitschriften und Magazine, auch die Regenbogenpresse, da meine Großmutter einen Zeitungsladen besaß und bei uns von der Illustrierten Quick (gibt es seit 1992 nicht mehr) bis zu den Comic-Heften alles herumlag. Heute lese ich nur mehr Bücher, die literarisch wertvoll sind. Sobald ich sprachliche und/oder formale Mängel bemerke, lege ich ein Buch weg. Mit 60 gilt es keine Zeit zu verlieren. Zuletzt hatte ich fast alle Bücher von Anne Carson und Maggie Nelson gelesen, aber auch die Essays von Lukas Bärfuss, der sich den radikalen Blick „von unten“ bewahrt hat.

 

Foto von Till Raether

© privat

Trauer, Verlust und Schmerz sind zentrale Motive in Ihrer Lyrik. Finden Sie, die Lyrik eignet sich besonders gut dafür, mit diesen Themen umzugehen und diese Emotionen zu verarbeiten? Wo liegen Ihrer Meinung nach die Stärken (oder auch Schwächen) der Lyrik im Vergleich zu anderen literarischen Gattungen?

Vor allem der vorletzte Lyrikband war eine Art Requiem auf meinen verstorbenen Lebensgefährten Karl-Heinz Ströhle. Der letzte Band „Am besten lebe ich ausgedacht“ besteht auch aus Reisegedichten, die sich mit bestimmten Orten, Bauten etc. auseinandersetzen.  Ob ich Lyrik oder Prosa schreibe, hat meist profane Gründe: Für die Romane bedarf es eines langen Atems, der Konzentration, der ökonomischen Sicherheit – Lyrik entsteht meist zwischen größeren Projekten. Ich möchte die Gattungen gar nicht gegeneinander ausspielen. Die Themen der Literatur ändern sich nicht, es gilt neue Formen zu finden, sowohl in der Lyrik, wo ich für mich zuletzt die Zwischenform „Journalgedicht“ gefunden habe, als auch in der Prosa, in der ich mich schon lange vom chronologischen, auktorialen Erzählen entfernt habe.

Unterscheiden sich Ihr kreativer Prozess, Ihre Herangehensweise oder Ihre Schreibroutine, je nachdem, ob Sie Gedichte oder Romane verfassen?

Ich lese täglich Lyrik. Wie andere morgens ihre Yoga-Übungen machen, ziehe ich einen Band mit Gedichten aus dem Regal, das ist eine gute Einübung ins Schreiben, ich werde beim Lesen mit dem Wesentlichen konfrontiert. Ich glaube, dass es eine Möglichkeit ist, Konzentration zu üben. Dieses Ritual bleibt gleich, egal ob ich Lyrik oder Prosa schreibe. Und sowohl der Prosa, aber auch einigen Gedichten, gehen Recherchen voraus.

Gemeinsam mit Renate Mumelter verwalten Sie den literarischen Nachlass der Meraner Schriftstellerin Anita Pichler, zu deren Werk Sie auch Anthologien und Bücher herausgegeben haben. Welche Bedeutung hat das Konservieren und Aufbewahren von Erinnerungen bzw. das Erinnern in Ihrer literarischen Arbeit und für Sie selbst?

Nachlassarbeit bedeutet vor allem, die Bücher lieferbar zu halten. Eine Autorin existiert nur, wenn ihr Werk vorhanden ist. Deswegen ist es für Autorinnen und Künstlerinnen wichtig, dass sie zu Lebzeiten entscheiden, wer sich darum kümmern soll, dass sie die entsprechenden Personen gesetzlich dazu berechtigen.

Ich notiere viel, sammle Dokumente, Bücher, nutze Fotos als Erinnerungsspeicher. W.G. Sebald sagte einmal in einem Interview, man müsse auf eine diffuse Weise recherchieren, so wie ein Hund sucht, also in alle Richtungen, rauf und runter, langsam, schnell. Meine abgelegten Notizen und Bilder können zu einem späteren Zeitpunkt alte Erinnerungen freisetzen, sie enthalten Reste von Geschichten, die sich neu formulieren lassen. Den eigenen Erinnerungen ist nicht zu trauen, aber das spielt für die Literatur keine Rolle, denn es gilt ohnehin, das Eigene zu verfremden und sich das Fremde einzuverleiben.

Woran arbeiten Sie aktuell?

Ich sammle Material für einen neuen Roman, aber darüber detailliert zu sprechen,  ist noch zu früh. Mein Großonkel Luis Gruber (1919-1944) hat ein interessantes Tagebuch hinterlassen, das er vom Tag der Einberufung durch die Deutsche Wehrmacht bis wenige Tage vor seinem Tod in der Nähe von Witebsk/Belarus geführt hat, das wird möglicherweise eine Rolle spielen.

Vielen Dank für das Gespräch!

„Sie will und bekommt beides, Erfolg und Liebe, wenn auch nacheinander und nicht gleichzeitig, wie wir es heute erwarten würden.” Bettina Balàka im Interview

Zwei außergewöhnliche Frauen voller Wut und Ambitionen, ein Vater, dessen Erfolg auf bröckelnden Säulen errichtet ist und eine Revolution, die nicht nur einen ganzen Kontinent wachrüttelt. In ihrem neuen Roman „Der Zauberer vom Cobenzl“ erzählt Bettina Balàka eine Geschichte von Magie und Wissenschaft, Feuer und Forschung. Sie erschreibt eine Bühne, für Reichenbachs Tochter Hermine, die wahre Protagonistin in der Lebensgeschichte des Freiherrn und seiner Suche nach der Existenz von „Od“,  eine Kraft, die aus allen Dingen und Lebewesen strömt – doch sehen kann sie kaum jemand. Wie ihre Schwester Ottone verliebt sich Hermine in einen Mann, der ihr ferngehalten wird. Beide Töchter werden vom Vater gefördert – Hermine in ihren Forschungen, Ottone in der Musik – aber doch zurückgehalten. Und beide brechen aus.

Welche Möglichkeiten hat eine Frau des 19. Jahrhunderts wirklich?“ eine der leitenden Fragen, die uns in Ihrem Buch „Der Zauberer vom Cobenzl“ begleiten. Hermine und Ottone werden beide durch die Zeit, in der sie leben, eingeschränkt. Obwohl sie einen Vater haben, der die Talente der beiden fördert, anstatt sie zu verstecken – eine unterstützende Haltung, die nicht üblich war. Ottone wird als talentierte Musikerin gefördert, Hermine unterstützt ihn mit ihrem wissenschaftlichen Eifer und Geschick. Aber wo endet die Bereitschaft von Reichenbach, seine Töchter wirklich frei sein zu lassen?

Zu dem Zeitpunkt, als Hermine und Ottone sich ernsthaft verlieben, hat Reichenbach bereits eine Reihe von traumatischen Verlusten hinter sich. Innerhalb weniger Jahre sterben seine geliebte Gattin, sein Vater sowie sein treuer Freund und Mentor Fürst Salm. Dann entzieht man Reichenbach auch noch Anstellung und Zuhause in Blansko, sein Bruder begeht Selbstmord. Durch seine fragwürdige Od-Forschung verliert er in der wissenschaftlichen Welt an Reputation, infolge des Gerichtsverfahrens gegen den jungen Fürsten Salm, den Sohn seines Freundes, wenden sich weitere gesellschaftliche Kreise von ihm ab. In dieser Situation sind die Töchter die einzigen Menschen, die ihm noch aus seiner Glanzzeit bleiben, sie repräsentieren für ihn Kontinuität und Stabilität in seiner brüchig gewordenen Existenz. Die Methode, mit der er sie zu halten versucht, entspricht dem patriarchalen Zeitgeist: Er erklärt die von ihnen gewählten Männer für sozial inadäquat und untersagt seinen erwachsenen Töchtern den Umgang respektive die Heirat – und damit den Auszug. Die zugrundeliegende Motivation aber ist gewissermaßen zeitlos: die Angst, eine vertraute Lebenssituation für eine völlig neue aufzugeben. Man könnte dabei durchaus auch an Jelineks „Klavierspielerin“ denken, wo die Mutter ebenfalls alle Männer für unzulänglich erklärt, um die Tochter bei sich zu behalten.

Hermine ist – wie ihr Vater – der Forschung verfallen. Entgegen den damaligen Rahmenbedingungen kann sie diese Leidenschaft ausüben. Der Zugang zur Universität ist ihr zwar verboten, jedoch kann sie bei Dr. Unger in Graz am Joanneum ihre Forschung etablieren. Auch er fördert sie sehr. Öfter als selten ist jedoch ihr Ehestand Thema. „In der wissenschaftlichen Arbeit beherrscht sie alles so gut wie ein Mann – wenn nicht gar besser als mancher – und sieht dabei nicht einmal schlecht aus. Aber wer will mit so einer Frau verheiratet sein?“, sagt er zu bzw. über Hermine. Hermine ärgert dies. Es ist ein altes Klischee, dass eine Frau nicht Karriere bzw. Erfolg und Liebe zugleich wollen kann. Beides aber macht Hermine aus. War es Ihnen in Ihrem Roman wichtig, dass Hermine nach beidem streben darf?

Hermine ist nicht bereit, hier irgendwelche Abstriche zu machen und sich dem Klischee zu beugen. Schon bevor sie sich in ihren späteren Ehemann verliebt, schwört sie, dass sie heiraten würde, „und zwar glücklich, und sei es nur, um die Ungers zu ärgern“. Sie will und bekommt beides, Erfolg und Liebe, wenn auch nacheinander und nicht gleichzeitig, wie wir es heute erwarten würden. Dabei hilft ihr aber auch ein sehr glücklicher Zufall. Mit Carl Schuh, einem Pionier der Daguerreotypie, lernt sie einen Mann kennen, der nicht nur ihre naturwissenschaftlichen Interessen teilt, sondern sich auch durch ihre Bildung nicht bedroht fühlt und kein Problem damit hat, mit ihr auf Augenhöhe zu sprechen. Dennoch gibt Hermine mit der Eheschließung ihre wissenschaftliche Karriere auf, auch, um die Trennung vom Vater endgültig zu besiegeln. Aus heutiger Sicht wäre das nicht politisch korrekt, aber für sie ist es stimmig. Sie hat in der Botanik für eine Frau ihrer Zeit außergewöhnliche Anerkennung erreicht, nun, mit dreißig, nimmt sie sich den Raum, sich anderen Aspekten des Daseins zu widmen. Ich musste dabei durchaus an heutige erfolgreiche Frauen wie Julia Roberts denken, die sich mit der Geburt ihrer Kinder eine Auszeit vom Filmbusiness nahm und auch dazu steht, das Familienleben zu genießen.

Besonders die Natur – die Pflanzenphysiologie – ist es, die Hermine fasziniert. Schon als kleines Kind hat sie die Wiesen und den Wald geliebt, später dann (verbotenerweise) Höhlen erkundet. Warum spielt die Natur so eine große Rolle für sie?

 

© Alain Barbero

Hermine wächst im Einflussbereich zweier leidenschaftlicher Naturforscher auf: ihr eigener Vater und dessen Mentor Fürst Salm. Beide besitzen chemische Labors, sind Pioniere der Höhlenforschung, haben museumsreife Sammlungen und Bibliotheken. In den Parks und Glashäusern der Schlösser beobachtet sie die Pflanzenzucht. Von ihrem Vater wird sie intensiv gefördert, er schenkt ihr das erste Brennglas und zeigt ihr, wie man ein Herbar anlegt. Gleichzeitig ist die wilde, ungebändigte Natur ihr Sehnsuchtsort, ein Symbol der Freiheit, wo es keine Mauern und Konventionen gibt.

Die Beziehung der zwei Schwestern zueinander ist – wie es Geschwisterbeziehungen oft sind – vielschichtig und komplex. Als Kinder sind sie quasi wie Zwillinge, später wandelt sich die tiefe Verbundenheit, sie werden einander Feindinnen, aber auch das nicht wirklich. Als erwachsene Frauen ist wieder eine Annährung zu spüren. Ist es sogar Ottone schlussendlich, die Hermine auf einen Weg bringt, den sie gehen muss?

Indem Ottone als Erste den Schritt wagt, sich vom Vater zu lösen, eröffnet sie auch für Hermine diese Option. Hermine zieht aber nicht nur von zu Hause aus, um ihrem Vater gegenüber ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren, sondern auch, um ihrer Schwester beizustehen. Ottone hat den geliebten Mann an eine andere verloren, ist in ihrer neu gewonnenen Freiheit traurig und allein. Als Hermine das erkennt, ist der Entschluss zu ihr zu ziehen, schnell gefasst. Wie ein Schutzengel wacht sie über ihre kleine Schwester, gemeinsam durchleben sie die aufwühlende Zeit der Revolution.

War von Anfang an klar, dass nur Hermine die Geschichte erzählen kann? Dass auch wir als Leser*innen ihr am nächsten sein sollen?

Hermine bot sich aus zwei Gründen als Erzählerin an. Erstens ist sie eine ebenso außergewöhnliche historische Figur wie ihr Vater, und zweitens hat sie lange gelebt, nämlich bis 1902 (sie wurde 83 Jahre alt). Dadurch kann sie als einzige Überlebende der Familie die Geschichte Reichenbachs bis zu dessen Tod erzählen. Sie befürchtet, dass er und all seine Errungenschaften vergessen werden könnten, doch wir Nachgeborenen wissen, dass sie selbst noch viel mehr vergessen wurde. Indem ich sie die Erinnerung an ihren Vater wachhalten ließ, wollte ich sie mit einer ganz eigenen Stimme versehen und damit ebenfalls dem Vergessen entreißen – genauso wie ihre Schwester Ottone, die ja schon mit 28 starb.

Mit Wörtern konnte man sich in die Ewigkeit einschreiben, egal, ob man sie selbst erfunden hatte oder ob sie aus dem eigenen Namen gebildet wurden.“ Carl Ludwig Freiherr von Reichenbach ist einer, der stets versucht, voranzukommen. Er kann es – wie man so sagt – nicht sein lassen. Brennt darauf, in die Geschichte einzugehen. Was hat Sie an der historischen Figur so fasziniert, dass Sie diese in einem Roman verarbeitet haben?

Allein die Tatsache, dass Reichenbach so umfassend vergessen wurde, war faszinierend für mich. Er kommt zwar ab und zu als Kuriosum in Wien-Büchern vor, aber allgemein bekannt ist er keineswegs. Vor allem seine großen Leistungen in Mähren werden kaum erwähnt, was möglicherweise damit zu tun hat, dass dieser so nahe Landstrich viele Jahrzehnte durch den sogenannten „Eisernen Vorhang“ abgetrennt war. In Reichenbach personifiziert findet man einen Konflikt, der bis zum heutigen Tag anhält: Wo scheidet sich die evidenzbasierte Wissenschaft von der Esoterik und anderen Pseudowissenschaften? Von der Modernisierung der Holzverkohlung und der Eisengussproduktion über die Entdeckung des Paraffins bis zur Meteoritenforschung war Reichenbach auch nach heutigen Maßstäben ein auf der Seite des Realen und Faktischen stehender Pionier. Erst mit seiner Od-Forschung bog er in eine Richtung ab, in die ihm andere zeitgenössische Wissenschaftler nicht mehr folgen wollten. Wir leben nun in einem für viele postfaktischen Zeitalter und gerade in der Pandemie kamen wieder Debatten auf, wie es sich mit der Realität von Dingen verhält, die man nicht sehen kann: Viren, Impfungen etc. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie es mit dem Od weiterging. Ein Vierteljahrhundert nach Reichenbachs Tod wurden die Röntgenstrahlen entdeckt, die vom Menschen ja ebenfalls weder gesehen noch gefühlt werden können. Damals hofften seine Anhänger, dass nun auch die Od-Forschung rehabilitiert werden könnte, was aber bekanntlich bis heute nicht der Fall ist. Die Homöopathie dagegen, die Reichenbach leidenschaftlich ablehnte, gibt es noch immer.

Ihr Schreibprozess umfasst viel Recherchearbeit, das Sichten von historischen Dokumenten und Quellen. Wie lernen Sie dadurch die Figuren kennen, über die Sie schreiben? Wie erhalten diese Figuren ihre Charaktereigenschaften, ihre Stärken und Schwächen?

Es entsteht schon während der Recherche eine sehr enge Bindung zu den Figuren. Ich versuche, sie charakterlich komplex zu gestalten, wie reale Menschen nun mal sind – nur gute Lichtgestalten oder rein abstoßende Bösewichte fände ich langweilig. Dabei ist es mir wichtig, auch Verhaltensweisen, die wir heute ablehnen würden, im Zeitkontext verständlich zu machen. Schließlich sind wir ja alle in unseren Haltungen und Einstellungen den Einflüssen der jeweiligen Gegenwart ausgesetzt. In einer Rückprojektion über Menschen der Vergangenheit permanent überlegen den Kopf zu schütteln bedeutete ja auch anzunehmen, dass wir im Besitz der endgültigen Weisheit sind. Wahrscheinlicher ist aber, dass man sich schon in wenigen Jahrzehnten über so manches wundern wird, was uns jetzt selbstverständlich erscheint.

 

Bist du neugierig geworden? „Der Zauberer vom Cobenzl“ liegt ab 8.August in der Buchhandlung deines Vertrauens. Alle Infos zum Buch findest du hier!

„In der Literatur herrschen immer noch deutlich unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen“ – Veronika Schuchter im Interview

Auch die Literatur(branche) braucht nachhaltige, strukturelle Veränderungen und eine Perspektivenerweiterung. Denn: patriarchale Machtstrukturen beeinflussen immer noch was wir lesen und wie darüber gesprochen wird. Wie sich das äußert und auch was wir dagegen tun können haben wir mit Veronika Schuchter besprochen. Sie ist Germanistin, Genderforscherin, Literaturkritikerin und freie Lektorin. Im folgenden Interview gibt sie einen Überblick über die Auswirkungen von Ungleichheit und schiefen Machtverhältnissen im Literaturbetrieb, außerdem spricht sie über Kanonkritik sowie literarische Identitätspolitik.

 

In deinem Forschungsprojekt „Literaturkritik als Gender-Diskurs“ hast du dich mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich die Kategorie Gender auf die Literaturkritik auswirkt. Herrschen im Literaturbetrieb unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen* bzw. werden Autorinnen und Autoren unterschiedlich bewertet und welche Faktoren spielen hier eine Rolle? Und was lässt sich hier im Hinblick auf nicht-binäre Autor*innen beobachten?

Es herrschen leider immer noch deutlich unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen, das beginnt beim Verdienst, bei Vorschüssen und es hört damit auf, wie über Autorinnen gesprochen wird. Autoren werden meist zu ihrem Werk befragt, Autorinnen zu ihrer Person, oder wie es ist im Literaturbetrieb als Frau. Es ist wichtig auch darüber zu sprechen, doch das Werk sollte im Mittelpunkt stehen. Hier sind immer noch althergebrachte Rollenmuster am Werk, die oft gar nicht bemerkt werden, aber nur schwer zu überwinden sind. Nicht-binäre Autor*innen werden häufig auf diese Eigenschaft reduziert, das war etwa bei Kim de l’Horizon der Fall. Der Roman „Blutbuch“, der den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, wurde aus der identitätspolitischen Perspektive gelesen, dabei ist er viel mehr als das, etwa ein sehr berührender Text über die Mutter der erzählenden Figur.

In ihrem Roman „Das Licht ist hier viel heller“ thematisierte Mareike Fallwickl bereits 2019 die toxischen patriarchalen Strukturen in der Kulturbranche. Ihre Erzählung handelt von einem Schriftsteller, der sich die traumatische Geschichte einer Frau aneignet und damit sein literarisches Comeback feiert. Der Umgang mit Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch wach?“ erinnert die Autorin stark an den Plot ihres Romans: „Wie mein Protagonist Wenger steht Stuckrad-Barre vor allem selbst im Rampenlicht. Beide legen männerdominierte Machtstrukturen offen – und profitieren dabei von ebendiesen Strukturen. Die geschädigten Frauen haben diese Stimme nicht“, führt sie in einem Interview aus. Wie wichtig ist deiner Meinung nach die Perspektive und Biografie der Schreibenden? Inwiefern spielt es für die Vermittlung von feministischen, queeren, antirassistischen und dekolonialen Inhalten bzw. Lebensrealitäten von intersektional diskriminierten Menschen eine Rolle, wer über wen erzählt und welche Realitäten dadurch vermittelt werden?

Das ist eine sehr komplexe Frage, die sich nicht eindeutig beantworten lässt. Durch die identitätspolitische Sensibilisierung der letzten Jahre neigen momentan viele dazu, dass sie literarische Texte durch die Biografie der Autorin/des Autors beglaubigt haben wollen. Das ist verständlich, aber das Schöne an Literatur ist ja, dass man sich in andere hineinversetzen kann. Wenn jeder nur noch über die eigenen Erfahrungen schreibt, würde das die Literatur sehr arm machen. Sonst kann ich genauso gut nur dokumentarische Texte lesen, die auf Fakten basieren. Natürlich gibt es Themen, die mehr Sensibilität erfordern. Wir sollten aber nicht anfangen, Autor*innen vorschreiben zu wollen, welche Perspektiven sie einnehmen dürfen. Wir müssen woanders ansetzen: Ich plädiere stark dafür, wieder stärker auf die Texte einzugehen. Die Lesekompetenz muss gefördert werden, der Literaturbetrieb muss diverser werden und die Literaturkritik bzw. Literaturvermittlung muss der Aufgabe nachkommen, Texte besser einzuordnen. Stuckrad-Barre ist dafür ein gutes Beispiel: Kann ein Mann einen Me-Too-Roman schreiben? Natürlich. Aber das hat Stuckrad-Barre nicht gemacht, sondern er hat einen Schlüsselroman über sich selbst geschrieben. Die Literaturkritik sollte genug Kompetenz haben, um dem Marketing hier nicht auf den Leim zu gehen. Es geht also mehr darum, welche Bücher bekommen Aufmerksamkeit? Dann können die Leser*innen selbst entscheiden, wie wichtig ihnen die Biografien der Autor*innen sind.

Das Patriarchat prägt nicht nur unsere Gesellschaft und unseren Alltag, sondern es beeinflusst auch, was und wie wir lesen. Wo äußern sich deiner Meinung nach patriarchale Machtverhältnisse in der Literaturforschung und -vermittlung am deutlichsten und welche Möglichkeiten siehst du als Wissenschaftlerin und Lehrende, ihnen entgegenzuwirken ? 

Patriarchale Verhältnisse äußern sich in der Forschung und Literaturvermittlung vielfältig, besonders deutlich bei den Untersuchungs- bzw. Vermittlungsgegenständen. Wem Aufmerksamkeit gewidmet wird und wie über Literatur von Frauen und andere marginalisierte Gruppen gesprochen wird, ist noch deutlich androzentrisch und patriarchal geprägt, was auch durch die Unterrepräsentation dieser Gruppen in führenden Positionen bedingt ist. Über Literatur von Frauen wird beispielsweise deutlich weniger berichtet, in Interviews fragt man sie dann danach, wie sie sich als Frau im Literaturbetrieb fühlen, statt sich mit ihrem Text zu beschäftigen.

Ein erster, wichtiger Schritt ist es, Bewusstsein zu schaffen. Momentan tut sich da viel. Verlagsprogramme werden unter die Lupe genommen, quantitative Untersuchungen zu Geschlechterverhältnissen in verschiedenen Kulturbereichen erstellt usw. Mir persönlich ist es auf der einen Seite wichtig, Schieflagen zu belegen und herauszufinden, wie sie entstehen. Auf der anderen Seite möchte ich aber auch Vielfalt aufzeigen. Es ist ja nicht so, als hätte es keine Texte von Frauen, Texte in denen LGBTIQ+-Themen zentral sind, gegeben, sie sind nur oft nicht bekannt. Die lasse ich in meine Lehre miteinfließen.

Gibt es bestimmte Kriterien, nach denen du die Leselisten für deine Seminare zusammenstellst? Ist das Bedürfnis von Studierenden spürbar, sich diversitätskritischer mit Lektürelisten auseinanderzusetzen?

Das kommt ganz drauf an, worum es in meinem Seminar geht. Dieses Semester unterrichte ich ein Seminar zu Diversität und Gender, dementsprechend divers sieht die Literaturliste aus. Es geht auch nicht immer darum, von wem ein Text geschrieben wurde, sondern wie wir ihn heute behandeln, ob er noch anschlussfähig ist. Da kann man etwa von Grillparzers „Medea“ einiges lernen, obwohl er ein vermutlich heterosexueller cis-Mann war. Das Bedürfnis von Studierenden nach diverseren Lektürelisten und einem anderen Blick auf die Literatur hat in den letzten Jahren stark zugenommen und viele Lehrende kommen dem auch erfreulicherweise nach. Gerade auch für die Lehramtsstudierenden ist es wichtig, dass sie gut an diese Thematiken herangeführt werden und auch Texte kennenlernen, mit denen sie in der Schule später gut arbeiten können.

Ganz allgemein gefragt: Braucht es überhaupt einen Kanon? Kann der nicht einfach abgeschafft oder verändert werden und wer kann etwas dazu beitragen?

Den Kanon gibt es nicht, es gibt viele Kanones, die nach ganz unterschiedlichen Kriterien aufgebaut sind. Gemeinhin wird damit so etwas wie ein Bildungskanon gemeint – was muss ich gelesen haben? Kanones sind essenziell, weil sie dem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach Austausch entspringen. Es ist wichtig, dass wir Texte haben, die viele Menschen kennen, damit wir uns darauf beziehen können, in Diskussion treten können. Wenn niemand weiß, was die anderen lesen, würde das den sozialen Faktor der Literatur empfindlich schwächen. Ich bin zwar beim Lesen allein, aber Literatur geht auf das mündliche Erzählen zurück. Unsere Märchen sind ein Kanon! Unsere ganze Kultur ist ein großer Kanon, wenn man so will. Und jeder kann etwas dazu beitragen, indem er über Texte spricht. Wichtig ist vor allem, dass die großen kanonbildenden Instanzen, die Literaturkritik, die Literaturwissenschaft, das Verlagswesen, diverser werden – dann wird auch „der“ Kanon diverser. Es geht also eher darum, den Kanon positiv aufzuladen und nicht als hierarchische, patriarchal geprägte Liste zu verstehen, sondern als bunten Fundus an Texten, über die wir sprechen können und der gefüllt werden muss mit Texten, die eben nicht mehr in erster Linie privilegierte Gruppen repräsentiert.

 

Behauptetes Klassikertum: Warum deine Leseliste ein diskriminierender Boys-Club ist und wie wir das jetzt ändern!

Literaturklassiker“– das klingt nach einer überzeitlichen, objektiven, allgemeingültigen Auswahl. Bücher, die so eingeordnet sind, sind über jede Kritik erhaben, schließlich haben sie sich über viele Jahre bewährt und – so sagt man – stehen beispielhaft für ganze Literaturepochen und Gesellschaften. Sie bieten Orientierung, nach der wir uns alle sehnen und können uns Wissen über Herrschaftsverhältnisse, ästhetische Werte, geschichtliche Entwicklungen vermitteln. So weit, so gut – aber stimmt das überhaupt?

Teresa Reichl ist Germanistin (inkl. Staatsexamen fürs Lehramt), Literaturnerd, Kabarettistin mit Solo-Programm, Youtuberin – und: Autorin. Auf Instagram (@teresareichl), Tiktok und Youtube wird sie von mehreren Tausend Menschen gefeiert. Denn: Teresa Reichl geht den Erzählungen auf den Grund, die wir rund um die großen Autoren und ihre Bücher erschaffen haben. Ihr Ziel: Jugendlichen die Freude am Lesen zu vermitteln. Den literarischen Kanon diverser zu gestalten. Lehrkräfte dabei zu unterstützen, neue und andere Bücher in den Unterricht zu bringen. Und vor allem: Literatur endlich feministisch zu machen.
Foto: © Lolografie

Teresa Reichl hat sich durch die Deutsch-Lehrpläne für die Oberstufen aller deutschen und österreichischen Bundesländer geackert und kommt zum Schluss, dass auf den Leselisten fast ausschließlich Werke von Menschen versammelt sind, die in die Kategorien männlich, weiß, christlich, cis, nicht-behindert, aus der „Oberschicht“ und hetero fallen. Und weil Klassiker nicht nur für die Lehrpläne, sondern für sehr viele Lebensbereiche den (zumindest behaupteten) Qualitätsstandard setzen, sieht es in Zeitungen, Buchhandlungen, Uni-Bibliotheken und vielleicht auch in deinem Regal genauso wenig divers aus.

Aber können solche Listen, in denen immer wieder der gleiche kleine Ausschnitt einer Gesellschaft zu Wort kommt, wirklich die Realität ihrer Zeit abbilden und für ihre Gesamtheit sprechen? Ist es wirklich so, dass Frauen oder migrantifizierte Menschen nichts geschrieben haben? – Bullshit!, sagt Teresa Reichl und zeigt auf, wie über viele Jahrhunderte Stimmen bewusst verdrängt und unsichtbar gemacht wurden. Und dass wir deswegen heute nicht so tun dürfen, als wüssten wir nichts von patriarchalen, klassistischen, rassistischen, ableistischen Strukturen, die den Großteil der Menschen von Teilhabe und Kanonisierung ausgeschlossen haben und dies bis heute tun.

Es ist deshalb Zeit für den nächsten logischen feministischen Schritt: Die Literatur und ihre Geschichte werden umgeschrieben. Werden divers. Werden endlich korrigiert. Teresa Reichl hat einen ausgewachsenen Alternativ-Kanon zusammengestellt. Um zu zeigen, dass es Bücher (ja, auch alte!) von Autor*innen gibt, von denen immer behauptet wird, sie hätten nichts geschrieben.

Ihr Buch “Muss ich das gelesen haben?” und die folgende Liste sollen dabei nur ein Anfang sein. Du kennst Bücher, die auf dieser Liste fehlen und die unbedingt ergänzt gehören?

Reiche deine Must-Reads unter www.mussichdasgelesenhaben.com ein! Holen wir die verdrängten Stimmen zurück in die Literaturgeschichte und bauen wir gemeinsam einen Alternativ-Kanon, der viele Perspektiven kennt!

Komödien

  • Dürrenmatt, Friedrich: Der Besuch der alten Dame, 1956
  • Fleißer, Marieluise: Pioniere in Ingolstadt, 1928 (oder 1929 oder 1968)

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Das Testament, 1745

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Der Witzling, 1745

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die Hausfranzösinn oder die Mammsell, 1744

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, 1732

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die ungleiche Heyrath, 1743

  • Hauptmann, Gerhart: Der Biberpelz. Eine Diebskomödie, 1893

  • Hauptmann, Gerhart: Schluck und Jau, 1899

  • Lessing, Gotthold Ephraim: Minna von Barnhelm, 1767

  • Viebig, Clara: Pharisäer, 1899

Frauen [1]

  • Fleißer, Marieluise: Fegefeuer in Ingolstadt, 1924
  • Goethe, Cornelia: Briefe und Correspondance Secrete 1767-–1769, 1990
  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Panthea, 1744 (oder 1772)
  • Haushofer, Marlen: Die Mansarde, 1969
  • Haushofer, Marlen: Die Wand, 1963
  • Haushofer, Marlen: Eine Handvoll Leben, 1955
  • La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, 1771
  • Reuter, Gabriele: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens, 1895
  • Schwarz, Sibylla: Gesang wider den Neid. Sibylla Schwarz – Barockdichtung aus Greifswald, 2013
  • Schwarz, Sibylla: Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden, 2021
  • Viebig, Clara: Wildfeuer, 1896

Judentum

  • Becker, Jurek: Jakob der Lügner, 1969
  • Frank, Anne: Tagebuch, 1947
  • Kerr, Judith: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, 1971
  • Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen, 1975
  • Levoy, Myron: Der gelbe Vogel, 1977
  • Seghers, Anna: Das siebte Kreuz, 1942
  • Seghers, Anna: Transit, 1944
  • Tergit, Gabriele: Effingers, 1951

Islam

  • Abdel-Samad, Hamed: Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland, 2019
  • Daas, Fatima: Die jüngste Tochter, 2021
  • El Masrar, Sineb: Muslim Girls. Wer wir sind, wie wir leben, 2010
  • El Masrar, Sineb: Muslim Men. Wer sie sind, was sie wollen, 2018
  • Jagiella, Leyla: Among the Eunchs. A Muslim Transgender Journey, 2021
  • Yaghoobifarah, Hengameh und Aydemir, Fatma: Eure Heimat ist unser Albtraum, 2019
  • Yaghoobifarah, Hengameh: Ministerium der Träume, 2021

Sinti*zze und Rom*nja

  • Müller, Josef „Muscha“: Und weinen darf ich auch nicht … Ausgrenzung, Sterilisation, Deportation – eine Kindheit in Deutschland, 2002
  • Reinhardt, Dotschy: Gypsy. Die Geschichte einer großen Sinti-Familie, 2008
  • Stojka, Ceija: Meine Wahl zu schreiben – ich kann es nicht. Gedichte (Romanes, deutsch) und Bilder, 2003
  • Stojka, Ceija: Reisende auf dieser Welt. Aus dem Leben einer Rom-Z, 1992
  • Stojka, Ceija: Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Z, 1988
  • Tschawo, Latscho: Die Befreiung des Latscho Tschawo. Ein Sinto-Leben in Deutschland, 1984
  • Tuckermann, Anja: „Denk nicht, wir bleiben hier!“ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner, 2005
  • Tuckermann, Anja: Muscha, 1994

Behinderte Autor*innen [2]

  • Aguayo-Krauthausen, Raúl: Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Das Leben aus der Rollstuhlperspektive, 2014
  • AWO-Kreisverband Siegen-Wittgenstein/Olpe (Hrsg.): Bei Hörgeschütz: Ruhig Blutdruck, Geschichten aus dem echten Leben, 2013
  • Barroso, Carlos: Mein Leben und ich, 2010
  • Ebner, Amelie: Willkommen im Erdgeschoss: Wie ich mich mit 17 im Rollstuhl wiederfand, 2017
  • Feldwieser, Sabine (Hrsg.): Das Leben ist, bevor man stirbt. Texte und Bilder zu Sterben, Tod und Jenseits von Menschen mit geistiger Behinderung, 2011
  • Fohrmann, Petra: Ein Leben ohne Lügen! Die Tagebücher der Dagmar B., 2005
  • Fraas, Christine (Hrsg.): ICH kann schreiben. Briefe, Bilder und Geschichten von Hermine, 1999
  • Hanousek-Mader, Iris (Hrsg.): Es war die Eule in mir, 2014
  • Herbrand, Monika (Autorin) & Can Gercekoglu (Co-Autor): Wenn ich tanzen will. Autismus zum Anfassen, 2012
  • Huainigg, Franz-Joseph (Hrsg.): Kann nicht schlafen. Literaturpreis Ohrenschmaus: die besten Texte, 2012
  • Keller, Christoph: Jeder Krüppel ein Superheld. Splitter aus dem Leben in der Exklusion, 2020
  • Koenig, Michaela: Traust du mir das zu, 2000
  • Krieger, Armin: Einsamer Junge, 2005
  • L’Audace, Luisa: Behindert und stolz: Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht, 2021
  • Melle, Thomas: Die Welt im Rücken, 2018
  • Mevissen, Katharina: Ich kann dich hören, 2019
  • Paulmichl, Georg: Ins Leben gestemmt. Neue Texte und Bilder, 1994
  • Paulmichl, Georg: Verkürzte Landschaft. Texte und Bilder, 1990
  • Paulmichl, Georg: Vom Augenmass überwältigt. Briefe, Glossen und Bilder, 2001
  • Reeh, Alexander: Immer nach den Sternen greifen, 2009
  • Russ, Michael et al.: Special poetics. Neue Texte, 2005
  • Stabenow, Peter: Fantasie und Wirklichkeit, 2013
  • Tucker, Bonnie Poitras: Der Klang von fallendem Schnee. Leben ohne zu hören, 2018

Queere Autor*innen

  • Amborn, Erich: Und dennoch Ja zum Leben: die Jugend eines Intersexuellen in den Jahren 1915–1933, 1981
  • Anonym: Der Liebe Lust und Leid der Frau zur Frau, 1895
  • August Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg: Ein Jahr in Arkadien – Kyllenion, 1805
  • Conradi, Lou: Baby Butch, 2019
  • De l’Horizon, Kim: Blutbuch, 2022
  • Elbe, Lili: Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Eine Lebensbeichte, 1932
  • Giese, Linus: Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war, 2020
  • Kühnert, Phenix: Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau, 2022
  • Pelny, Marlen: Liebe / Liebe, 2021
  • Russo, Meredith: Als ich Amanda wurde, 2016
  • Schaefers, Marius: In den buntesten Farben, 2022
  • Slater, Dashka: Bus 57. Eine wahre Geschichte, 2017
  • Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen, 1891
  • Weirauch, Anna Elisabet: Der Skorpion (Band 1, 2 und 3), 1919, 1921, 1931

Bi_PoC [3]

  • Ayim, May: blues in schwarz-weiss, 1995
  • Ayim, May: Weiter gehen. Gedichte, 2020
  • Aziz, Amina et al.: Encyclopaedia Almanica: Diese neue deutsche Enzyklopädie ist eine Verweigerung, 2020
  • Götting, Michael: Contrapunctus, 2015
  • Ha, Kien Nghi: Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond, 2021
  • Hagen, Zoe: Tage mit Leuchtkäfern, 2016
  • Hasters, Alice: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten, 2019
  • Hierse, Lin: Wovon wir träumen, 2022
  • Hügel-Marschall, Ika: Daheim unterwegs. Ein deutsches Leben, 1998
  • Khabo Koepsell, Philipp (Hrsg.): Afro Shop, 2014
  • Michael, Theodor: Deutsch sein und schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen, 2013
  • Obulor, Evein; RosaMag (Hrsg.): Schwarz wird großgeschrieben, 2021
  • Ogette, Tupoka: exit racism. rassismuskritisch denken lernen, 2019
  • Oguntoye, Katharina; Opitz, May; Schultz, Dagmar: Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, 1986
  • Otoo, Sharon Dodua: Adas Raum, 2021
  • Otoo, Sharon Dodua: Die Dinge, die ich denke, während ich höflich lächle … und Synchronicity. Zwei Novellen, 2017
  • Park Hong, Cathy: Störgefühle. Über anti-asiatischen Rassismus, 2022
  • Phạm, Khuê: Wo auch immer ihr seid, 2021
  • Thomae, Jackie: Brüder, 2019
  • Thomas, Angie: The Hate U Give, 2017
  • Wenzel, Olivia: 1000 Serpentinen Angst, 2020
  • Zöllner, Abini: Schokoladenkind. Meine Familie und andere Wunder, 2013

„Arbeiter*innenklasse“

  • Baron, Christian: Ein Mann seiner Klasse, 2020
  • Baron, Christian; Barankow, Maria (Hrsg.): Klasse und Kampf, 2021
  • Darer, Harald: Blaumann, 2019
  • Gluchowski, Bruno: Der Honigkotten, 1969
  • Helms, Karl Heinrich: Krupp & Krause, 1965
  • Hüser, Fritz; Von der Grün, Max (Hrsg.): Aus der Welt der Arbeit – Almanach der Gruppe 61 und ihrer Gäste, 1966
  • Johnson, Uwe: Mutmassungen über Jakob, 1959
  • Mayr, Anna: Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht, 2020
  • Strittmatter, Erwin: Ole Bienkopp, 1963
  • Sudermann, Hermann: Die Ehre, 1889
  • Sudermann, Hermann: Frau Sorge, 1887
  • Sudermann, Hermann: Im Zwielicht, 1887
  • Von der Grün, Max: Irrlicht und Feuer, 1967
  • Von der Grün, Max: Männer in zweifacher Nacht, 1962
  • Wolf, Christa: Der geteilte Himmel, 1964

[1] Vieles aus Frauenliteratur von Nicole Seifert

[2] Vieles von diewortfinder.com

[3] Vieles von eulemagazin.de

Eine Liebe, allen Hindernissen zum Trotz, festgehalten für die Ewigkeit

Eine Vielzahl an Briefen, jahrzehntelang auf einem Dachboden vergessen. Der Inhalt: voller Sehnsucht, Frustrationen, Alltagserlebnisse, Berichte und Liebesbekundungen. Die Verfasser: zwei Männer im England der 40er-Jahre, der eine Student, der andere Professor der Philosophie.

Ludwig Wittgenstein gilt als einer der führenden Philosophen des 20. Jahrhunderts. Die Überlegungen in seinem Werk „Tractatus logico-philosophicus“ haben die Geschichte der modernen Philosophie grundlegend verändert.
Ben Richards war Student der Medizin an der Universität in Cambridge.

Was die beiden verbindet?
Eine innige Beziehung, festgehalten in mehr als 370 Briefen. Der Altersunterschied von 35 Jahren und die Ablehnung der Gesellschaft gegenüber homosexuellen Beziehungen rücken in den Hintergrund. Stattdessen erzählen die Briefe von den Leben zweier Männer, ihren Ängsten, Zukunftsträumen und einer tiefen Verbundenheit miteinander. Ergänzt durch Abbildungen beigelegter, getrockneter Pflanzen, Fotografien und Zeichnungen werden die Worte lebendig, lassen uns spüren, welche Zuneigung Wittgenstein und Richards füreinander empfinden.

Aus dem Englischen übersetzt, geben die Briefe einen erstmaligen, bisher unbekannten Einblick in diesen Teil des Privatlebens von Ludwig Wittgenstein und zeigen ihn von einer neuen Seite: als Liebenden und Geliebten, geplagt von Verlustängsten, Einsamkeit und dem Wunsch, alles mit Richards teilen zu wollen – bis zum letzten Brief kurz vor seinem Tod im April 1951.

>>I think of you constantly with love …<< Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Ben Richards 1946-1951, herausgegeben und übersetzt von Alfred Schmidt

Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 31.8.1946

2, Cwmdonkin Terrace
Swansea
31.8.46.

Mein lieber Ben,
danke für Deinen Brief! Du sagst, Du bist sehr geneigt, gedankenlos zu sein. Ich nehme an, das ist so. Aber ob das allein erklärt, dass Du mir einen Monat lang nicht geschrieben hast, obwohl Du wusstest, was Du wusstest – ich werde es nicht sagen. – Bitte urteile selbst. Du kannst es besser als ich. – Wenn Du nach Swansea kommst, möchte ich, dass Du eine gute Zeit hast. Und Du weißt natürlich, dass eine gute Zeit mit uns (egal ob wir ernst sind oder nur herumalbern) ganz auf der Tiefe und Wärme unserer Beziehung beruht. Wenn sie da ist, dann kann ich Dir eine gute Zeit versprechen. Wenn nicht, komm nicht. Wie auch immer – Gott segne Dich! Mögest Du im Laufe der Zeit ein bisschen weniger gedankenlos, weniger egoistisch, freundlicher und zuverlässiger werden. Und bitte vergib mir, wenn ich Dich verletzt habe, indem ich selbst dumm und gemein war!
Lass mich wissen, ob und wann Du kommst.
In Liebe, wie immer
Ludwig

Bitte lies diesen Brief noch einmal langsam durch. In Liebe Ludwig
Gott segne Dich! Noch einmal.

Ben Richards an Ludwig Wittgenstein, 1.9.1946

GREENOGE
40, SWAKELEYS ROAD
ICKENHAM
UXBRIDGE
RUISLIP 2114
1. September 1946

Lieber Ludwig,
ich hoffe, es geht Dir sehr gut und Du bist glücklich. Ich habe gerade zwei weitere Briefe von Dir bekommen, die aus Norwegen nachgeschickt wurden; einer datiert mit 3. August und mit etwas Minze, die
immer noch ziemlich stark riecht, und eine Postkarte vom 2. Juli vom Swansea Civic Center (das Du mir sicherlich unbedingt zeigen willst), die zuerst nach Langdale geschickt wurde, dann zum King’s College,
dann nach Ickenham, dann nach Turtagrö, dann zurück nach Ickenham und schließlich runter nach Cornwall. Ich habe mich sehr über beide gefreut – vielen Dank!
Das Wetter in Cornwall ist immer noch so schlecht wie zuvor. Am Dienstagabend wurden sieben von acht Dutzend Hummerfangkörben in einem Sturm zertrümmert, der auch die meisten unserer Zelte umgeweht hat. Am nächsten Tag haben wir alle unsere Campingsachen in Mr. Michells Scheune gebracht und Platz für alle gefunden, um drinnen zu schlafen. Einigen anderen Campern wurde in derselben Nacht zum zweiten Mal in drei Wochen die Zeltstange gebrochen, und sie haben aufgegeben und sind am Donnerstag nach Hause gefahren. Ich fahre jetzt für eine Woche nach Skye, wo es normalerweise ziemlich nass ist.
Ich hoffe, wir sehen uns am 12. Kannst Du mich bitte wissen lassen, welche Züge Du mir empfiehlst und was Deine Pläne sind? Ich kann den Schubert wieder mitbringen, und ich möchte mit Dir und allein etwas lesen und lange Spaziergänge machen. Kannst Du William James’ Buch noch einmal bekommen oder hast Du Vorschläge für Bücher, die ich mitbringen könnte?
Immer in Liebe,
Ben

Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 6.9.1946

2 Cwmdonkin Terrace
Swansea
6.9.46.

Mein lieber Ben,
danke für Deinen Brief aus Uxbridge. Es tut mir sehr leid, dass Du in Cornwall so ein Pech mit dem Wetter hattest. Natürlich war es auch hier schlimm, nur hatte ich ein festes Dach über dem Kopf. Leider habe ich Dir am Sonntag, den 1., einen Brief nach Cornwall geschickt, der Dich nicht erreicht haben kann und vielleicht wieder auf eine wilde Gänsejagd geschickt wird. Das ist bedauerlich, denn der Brief war mir wichtig. Ich meinte jedes Wort, das ich schrieb, sehr ernst. Eine Sache, die ich geschrieben habe, möchte ich hier wiederholen, falls Du den Brief nicht erhältst. Ich sagte, ich möchte, dass Du eine wirklich gute Zeit hast, wenn Du nach Swansea kommst, und dass, wie Du weißt, eine gute Zeit für uns auf der Tiefe und auf der Wärme unserer Beziehung beruht; dass, wenn sie da sind, wir eine gute Zeit haben werden, wenn aber nicht, Du nicht kommen solltest; und dass, wie auch immer Du fühlst, Gott Dich segnen möge! Wenn Du am 12. kommst, ist es wunderbar. Dein bester Zug, denke ich, ist der 13:55 Uhr aus Paddington (vergewissere Dich aber). Er kommt hier gegen 19 Uhr an und ich werde am Bahnhof sein. – Ich habe keine psychologischen Bücher hier. Tatsächlich denke ich, es wäre vielleicht besser, wenn ich jetzt keine Psychologie mit Dir lese, weil mein Gehirn oft sehr müde ist. Ich habe ziemlich viel gearbeitet und tue es immer noch und ich muss mich vielleicht entspannen. Ich würde gerne Tolstoi mit Dir lesen, sagen wir „Hadschi Murat“ oder „Der Tod des Iwan Iljitsch“. Könntest Du es mitbringen? (Und, wenn Du möchtest, auch etwas Psychologie, nur für den Fall?) Mein Geist fühlt sich, wie gesagt, manchmal etwas erschöpft an und ich werde viel von Deiner Nachsicht, Geduld und Freundlichkeit brauchen.
Lass mich wissen, ob Du kommst und, wenn ja, wann. Telegrafiere einfach. – Sollte ich aus unvorhergesehenen Gründen daran gehindert werden, Dich vom Zug abzuholen, nimm bitte am Bahnhof den Bus Nr. 74 (alle zeigen Dir, wo er hält) und sag dem Schaffner, dass Du an der Haltestelle „Uplands“ aussteigen möchtest. Von dort sind es 2 bis 3 Minuten zu Fuß (und jeder wird Dir den Weg weisen).
Nochmals: Gott segne Dich. Ich denke immer in Liebe an Dich.
Ludwig

Das Wetter war die letzten zwei Tage besser. Nicht weit von Swansea gibt es einen Ort, an dem viele Pferde und Fohlen grasen. Die Fohlen sind lieb und so zahm, dass man ihnen nahe kommen und sie streicheln
kann usw. Neulich, als ich mit einem von ihnen sprach, habe ich bemerkt, dass ich dieselben Worte verwende, die ich oft benutze, wenn ich mit Dir spreche. Das ist eine Tatsache, in Liebe Ludwig