„Was man im Gericht lernt, ist, WIE seltsam und abstoßend das alles sein kann.“ – Interview mit Gerichtsreporter Michael Möseneder
Michael Möseneder kennt Wiens Gerichtssäle in- und auswendig. Nicht, weil er selbst so ein schlimmer Finger ist. Es liegt einfach ganz in der Natur seines Berufs: Michael Möseneder ist Gerichtsreporter. Seit Jahren wohnt der Journalist den spannendsten, kuriosesten und erschütterndsten Verhandlungen bei. Manche Gerichtsprozesse sind so absurd wie das Leben: Da ist zum Beispiel der Fall von der untalentierten Betrüger-Omi, vom Mann, der eine Straßenbahn stahl, oder die trennungsbedingte Meerschweinchen-Vendetta. Ein Best-of versammelt Michael Möseneder in seinem Buch „Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof“. Wenn man einen guten Einblick in die Wiener Justizwelt bekommen möchte, fragt man also am besten ihn. Nina Gruber hat mit Michael Möseneder über den Alltag im Prozesssaal, Gerichtskibitze und Ermahnungen von der Richterschaft gesprochen.
Einen Gerichtssaal zu betreten, das ist den meisten von uns vermutlich ein wenig unheimlich. Dennoch: Was hinter verschlossenen Türen stattfindet, ist gleichzeitig doppelt interessant. Kann man als „Zuschauer*in“ einfach so an einer Verhandlung teilnehmen?
Ja, fast alle Gerichtsverhandlungen in Österreich sind öffentlich. Das bedeutet, man kann den Saal theoretisch jederzeit betreten und verlassen. Die so genannten Gerichtskibitze – vorwiegend pensionierte Männer – verbringen so ihre Freizeit. Nur manchmal, beispielsweise wenn Opfer von Sexualdelikten aussagen, kann die Öffentlichkeit zeitweise ausgeschlossen werden
Wie findet man spannende oder besonders kuriose Prozesse?
Die jeweiligen Verhandlungen, die an einem bestimmten Tag stattfinden, kann man bei Gericht erfragen, manchmal liegt auch eine Liste auf. Bei besonders spektakulären, so genannten clamorosen Prozessen gibt es bereits im Vorfeld entsprechende Medienberichte. Als Journalist oder Journalistin hat man natürlich Quellen, die Tipps geben. Und manchmal kann es auch Zufall sein, einen besonders aberwitzigen Prozess zu erleben.
Du warst im Rahmen deiner Funktion als „Blutchroniker“ für die Tageszeitung DER STANDARD schon bei zahlreichen Verhandlungen. Erinnerst du dich noch an deine erste?
Nein, leider, in meinem Alter bin ich froh, wenn ich mich noch an die Prozesse der vergangenen Woche erinnern kann. Wenn man täglich ein bis zwei Verfahren miterlebt, verschwimmt die zeitliche Erinnerung etwas. Die inhaltliche Erinnerung ist aber größtenteils glücklicherweise erhalten geblieben. Manche Geschichten bleiben aber einfach mehr im Gedächtnis, die sind mir bei der Auswahl für das Buch sofort wieder eingefallen.
In Gerichtssälen wird man naturgemäß nicht immer mit den positiven Seiten der Menschen konfrontiert. Hat dein Beruf deine Sicht auf die Menschheit mit den Jahren verändert?
Eigentlich nicht. Dass Menschen aus seltsamen Gründen noch seltsamere Dinge machen, ist mir bereits länger bekannt. Was man im Gericht lernt, ist, WIE seltsam und abstoßend das alles sein kann. Allerdings lernt man beispielsweise auch, wie unterschiedlich Menschen reagieren, wenn ihnen etwas Schlimmes passiert.
Nicht alle Fälle sind zum Glück bitterernst, manche sogar besonders kurios und die Verhandlung voller absurder Situationen. Gelingt es dir immer, in deiner möglichst neutralen, beobachtenden Rolle zu bleiben?
Ich bemühe mich in den meisten Fällen wirklich. Aber manchmal entkommt mir ein Lacher oder ich reiße ungläubig die Augen auf, da ich fast nicht glauben kann, was ich eben gehört habe. Von der Richterschaft ermahnt wurde ich bisher aber nur in zwei Fällen – völlig zu Recht, da Beifalls- und Missfallskundgebungen in Verhandlungssälen verboten sind.
Du siehst: Zum Glück musst du nicht erst ein Verbrechen begehen, um einen Einblick in die Gerichtswelt zu bekommen. Die kann unterhaltsam, tragisch, schauerlich, absurd sein. Ob du zum Verurteilen, Fremdschämen oder Mitfühlen tendierst, bestimmte Geschichten einfach überblättern musst oder alles fassungslos in dich aufnimmst, bei Michael Möseneders „Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof“ wirst du schmunzeln, grübeln, empört den Kopf schütteln und dich verstört fragen: „Ist das wirklich passiert?!“