Warum Femizide als Femizide benannt werden müssen – Interview mit Sina Niemeyer zu ihrem Fotoprojekt „An jedem dritten Tag“
Mit Stand 19. November 2021 zählte Österreich den 27. Femizid des Jahres. Frauen in Österreich und der ganzen Welt leben in Strukturen, die gefährlich für sie sind und sie im schlimmsten Fall mit dem Tod bedrohen. Die Autonomen Österreichischen Frauenhäuser fassen in Zahlen, was für Frauen ab 15. Jahren in Österreich „Normalität“ bedeutet: Jede 5. Frau ist körperlicher und/oder sexueller Gewalt ausgesetzt, jede 3. erfährt eine Form von sexueller Belästigung und jede 7. erlebt Stalking. Die negativen Folgen begleiten die Betroffenen oft ein Leben lang. Dazu kommen die vielen Taten, die nicht zur Anzeige gebracht wurden, und die Zahl trans* und nicht binärer Personen, die jährlich Opfer patriarchaler Gewalt werden.
Die Fotografin Sina Niemeyer setzt sich in ihrem Projekt „An jedem dritten Tag“ mit Femiziden auseinander. Die Bilder entstanden im Rahmen von #womenincovid, einem Projekt von 24 Berliner Fotografinnen, die sich künstlerisch mit den Auswirkungen der Pandemie beschäftigen.
Nina Gruber hat sich mit Sina Niemeyer unterhalten – über ihr Fotoprojekt, über die mediale Berichterstattung zu Fällen von geschlechterspezifischer Gewalt und über ihre Herangehensweise, mit der sie den Betroffenen und ihren Angehörigen eine Stimme zurückgeben möchte.
In deinem Fotoprojekt „An jedem dritten Tag“ setzt du dich – ganz grob gesagt – mit Femiziden auseinander. Worum geht es genau in deinem Projekt?
Das Projekt besteht aus mehreren Teilen und ich habe dieses Jahr einen ersten Teil fotografiert, für den ich mit Angehörigen eines Mordopfers zusammengearbeitet habe: Noelle aus Berlin, die im August 2020 in Berlin von einem wahrscheinlich ihr unbekannten Mann erst vergewaltigt und dann ermordet wurde. Ich habe nicht versucht, die Tat zu rekonstruieren, aber diese Geschichte sozusagen in meinen Bildern nachzuerzählen. Vor allem aber auch, was das eigentlich mit der Mutter und der Schwester gemacht hat: viele atmosphärische, mehrdeutige Bilder, die den Tatort oder Details vom Tatabend zeigen, oder auch, wo Noelle noch im Leben der Angehörigen präsent ist. Es geht auch um die emotionale Welt, um dieses krasse Loch, in das die Mutter nach dem Bekanntwerden dieser Tat gefallen ist.
Ganz allgemein: „Femizid“ ist immer noch ein Wort, das in den deutschen Medien nicht oft genutzt wird, und wenn, dann im Moment vorrangig für Morde durch (ehemalige) Partner. Noelles Fall kann auf jeden Fall als Femizid definiert werden, wenn man von genderbasierter Gewalt ausgeht. Der umgekehrte Fall – dass männliche Personen in Deutschland, wenn sie allein auf der Straße unterwegs sind, vergewaltigt und ermordet werden – passiert kaum. Der Projektname „An jedem dritten Tag“ bezieht sich auf die polizeiliche Kriminalstatistik aus Deutschland, die besagt, dass an jedem dritten Tag eine Frau von ihrem (ehemaligen) Partner ermordet wird. Eigentlich ist die Anzahl an Opfern genderbasierter Gewalt aber viel höher, wenn man diese anderen Femizide – also nicht von (ehemaligen) Partnern ermordet, so wie in Noelles Fall – oder versuchte Morde an Frauen dazuzählt. Versuchte Morde werden natürlich erfasst, aber nicht als genderbasierte Gewalt. Bei versuchten Morden/Totschlag liegt es nahe, dass es ein großes Dunkelfeld gibt, so wie für alle genderbasierte Gewalt, da Anzeigen relativ selten sind oder es zu keiner Verurteilung/keinem Verfahren kommt.
In meinem Projekt wird es noch einen zweiten und dritten Teil geben, die ich nächstes Jahr fotografiere. Ein Teil davon wird sein, dass ich Tatorte von Femiziden fotografiere, mich also sozusagen durch die Statistik zur Parnterschaftsgewalt eines Jahres in Deutschland arbeite. Im anderen Teil werde ich mit einer Überlebenden zusammenarbeiten. Die fotografierte Person kann dabei sich selbst und ihre Perspektive miteinbringen.
© Sina Niemeyer, aus dem Projekt „An jedem dritten Tag“. Sina Niemeyer ist Fotografin. Für ihr Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. In ihrer Arbeit setzt sie sich u. a. mit Intimität, menschlichen Beziehungen und Weiblichkeit auseinander. Die Fotos ihres Projekts „An jedem dritten Tag“ wurden in der Ausstellung IN WAVES gezeigt.
Du hast erwähnt, dass bei der medialen Verwendung des Begriffs „Femizid“ meist konkret Partnerschaftsgewalt gemeint ist. Wie ist dein genereller Eindruck von der medialen Darstellung von Femiziden? Wie unterscheidet sich dein Konzept der Auseinandersetzung?
Ganz oft wird es ja sowieso schon mal gar nicht als Femizid oder als Gewalt gegen Frauen benannt, sondern als „Familiendrama“ oder „Ehestreit“ bezeichnet. Was da letztendlich fehlt, ist die strukturelle Ebene, nämlich dass Gewalt gegen Frauen, trans* und nicht binäre Personen in der Regel von cis Männern ausgeht und man nach wie vor von einer patriarchalen Struktur der Gesellschaft sprechen kann. Mir ist in dieser Hinsicht eine intersektionale Perspektive wichtig, da sich die Gewalt auch gegen trans* und nicht binäre Personen wendet.
Der strukturelle Aspekt wird ganz oft außer Acht gelassen. Also sowohl die Tatsache, dass das eben keine „Einzeltaten“ oder „Dramen“ sind, sondern dass dahinter Gewaltstrukturen stehen, die immer wieder reproduziert werden und um die sich nicht gekümmert wird.
Es gibt kaum Studien dazu, es gibt sehr wenige Programme für potenzielle Täter. Es gibt in der Schule kaum Ansätze, sich mit Gewalt – und gerade auch männlicher Gewalt – zu beschäftigen oder überhaupt Ansätze, Männern und Jungen anzubieten, sich mit Emotionen auseinanderzusetzten. Gleichzeitig wird auch das Täterbild oft außer Acht gelassen. Was aber häufig passiert: Trägt der Täter einen Namen, der auch nur ansatzweise „ausländisch“ klingt, dann wird es darauf geschoben. Aber das eigentliche Problem – der Mann, der diese Gewalt ausübt – bleibt sehr oft im Hintergrund. Sowohl die Täterbenennung als auch das, was thematisch oder strukturell dahintersteht, wird nicht erwähnt.
Dafür gibt es oft kurze, schockierte Meldungen – das war auch bei Noelle der Fall –, die extrem reißerisch sind. Und ganz oft gibt’s da auch immer noch dieses Narrativ, in dem danach gefragt wird, ob nicht die Frau oder das Mädchen selbst schuld waren, weil sie etwas „zu kurzes“ trugen oder betrunken waren. Wobei nichts davon keinerlei Form von Gewalt rechtfertigt. Aber genau das passiert in den Medien immer noch, dass darin herumgestochert und geschachert wird, aber die Tat dafür nicht in den größeren Kontext gesetzt wird.
Das ist etwas, dem ich mit meinem Projekt entgegenwirken möchte. Und wo ich vor allem den Betroffenen Raum gebe, alles in ganz enger Absprache mit den Angehörigen mache. So kamen im Projekt auch einige Bildideen direkt von Noelles Mutter. Für mich ist es das Allerwichtigste, dass die Betroffenen, mit denen ich arbeite, sich in meiner Arbeit wiedererkennen und dass sie dadurch eine Stimme bekommen. Genau um die geht es letztendlich. Es ist schön und gleichzeitig unabdingbar, als positive Rückmeldung zu bekommen, dass die Angehörigen, die gerade keine Kraft dafür haben, sich selbst für das Thema einzusetzen, es schätzen, dass ich dieses Sprachrohr für sie sein kann.
Welche Rolle nimmt die Kamera für dich – als Fotografin, als Mensch, als Frau – bei diesem besonderen Projekt ein? Was hat das Projekt mit dir gemacht?
© Sina Niemeyer, aus dem Projekt „An jedem dritten Tag“
Die Kamera ist für mich immer auch ein Mittel, um für mich eine Grenze zu schaffen. In dem Moment, in dem ich die Kamera erhebe, schaffe ich sozusagen eine Barriere zwischen mir und dem, was vorliegt. Das kann hilfreich sein. Gleichzeitig ist die Kamera ein Verarbeitungstool, das mir hilft, das, was vor mir liegt oder erzählt wird, sofort in etwas Konstruktives zu verwandeln. Ich bleibe nicht hilflos zurück, sondern ich kann es umwandeln und etwas daraus produzieren bzw. in seiner Form abwandeln. Das ist ermächtigend und wichtig beim Fotografieren solcher Themen. Gleichzeitig kann ich dadurch etwas schaffen, das länger steht – also die Erzählung. Die Bilder des Projekts sind ja relativ still und nicht unbedingt eindeutig, und das macht, glaube ich, für die Betrachtenden einen Raum für eigene Deutung auf.
Susan Sontag hat gesagt, dass jedes Bild eine Aufforderung zum Hinsehen ist. Spannend finde ich dabei, dass in meinen Bildern eigentlich nichts Eindeutiges zu sehen ist, das heißt, das Bild wird wieder auf einen selbst zurückgeworfen und man wird intensiv dazu angeregt, hinzuschauen, zu überlegen und nachzudenken.
Und was das Projekt mit mir selbst macht? Es ist natürlich sehr anstrengend, sich solchen Themen zu widmen, und ich merke auch immer wieder, dass ich mir die Arbeit gut einteilen muss. Mit Noelles Mutter habe ich von Anfang an besprochen, dass wir beide gut formulieren müssen, wenn eine Grenze erreicht ist oder wir mal eine Pause brauchen. Das hat auch gut funktioniert.
Als ich jünger war, wollte ich Anwältin werden, dachte mir aber irgendwann: Okay, vielleicht kann ich damit gar nicht erreichen, was mir wichtig ist. Meine Fotografie hingegen ist auch meine Form von Aktivismus. Sie ist meine Sprache, die ich habe, um Menschen auf das aufmerksam zu machen, was ich für wichtig halte oder was mehr Aufmerksamkeit bekommen sollte.
Mit „An jedem dritten Tag“ bist du Teil von #womenincovid. Wie ist dieses Projekt zustande gekommen? Was sind – wenn man das so nennen kann – eure Schlüsse, die ihr aus eurer künstlerischen Arbeit und eurer Auseinandersetzung gezogen habt?
© Sina Niemeyer, aus dem Projekt „An jedem dritten Tag“
Als Corona angefangen hat, hatte ich das Gefühl, dass zwei Diskussionen auf der Strecke geblieben sind: die Klimakrise und das Thema Gleichberechtigung bzw. Gewalt gegen Frauen auf allen Ebenen. Also ein Thema, bei dem ich das Gefühl hatte, dass die #MeToo-Bewegung da eigentlich ordentlich was angestoßen hat und das Thema stetig in Diskussion geblieben ist. Dann kam Corona – und alles war nur noch Corona, andere Themen wurden vergessen.
Irgendwann haben ein paar Kolleginnen und ich gesagt: Hey, es wird die ganze Zeit alles abgesagt, lasst uns mal selbst etwas organisieren. Etwas, das auf jeden Fall stattfinden können wird, indem wir es draußen machen. Das Thema dieser Gruppenausstellung war für uns als Fotografinnenkollektiv relativ schnell klar: Machen wir was zu Frauen in der Pandemie. Zum Beispiel zur Mehrfachbelastung von Müttern, besonders alleinerziehender Mütter, die unter der Pandemie noch mehr leiden und noch stärker belastet sind als davor schon.
Bei 24 Fotografinnen gibt es natürlich auch 24 unterschiedliche Meinungen. Aber was man dennoch als Fazit ziehen kann, ist, dass die Pandemie vorher schon bestehende Problematiken verstärkt hat. Diese Problematiken wurden (medial) teilweise sichtbarer, teilweise aber eben auch nicht. Manche wurden angesprochen, aber es wurde dann nicht gehandelt – zum Beispiel beim Thema häusliche Gewalt. Genau auf diese Themen wollen wir mehr Aufmerksamkeit lenken, ihnen mehr Raum geben und sie auch länger stehen lassen.
Die Ausstellung IN WAVES #womenincoved war 2021 in Berlin zu sehen. Wer es nicht dorthin geschafft hat, kann die Arbeiten der 24 Fotografinnen in diesem Magazin bewundern.
Jede*r von uns hat individuelle Einflusssphären, Talente, Fähigkeiten, Möglichkeiten. Jede*r von uns hat eine Stimme. Und jede einzelne Stimme – unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität – ist entscheidend, um der Gewalt und Diskriminierung ein Ende zu bereiten. Es gibt zahlreiche Initiativen und Plattformen, die über die weltweite Lebenssituation von Frauen informieren und sich engagieren. Lass sie uns unterstützen!