Ist das Vergessen eine unumgängliche Bedingung, um lieben und leben zu können?
Ich glaube, nicht zwingenderweise das Vergessen, aber das Vergeben. Vergessen trägt etwas in sich, das der Mensch braucht, um einen Umgang mit gewissen familiären, gesellschaftlichen, aber auch weltweiten Problemen (oder auch generationalen Traumata) finden zu können. Wenn wir selbst aber ständig nach Perfektion streben und uns keine Fehler erlauben, ebenso keine Toleranz verspüren, wenn wir mal Fehler machen, dann werden wir vermutlich zu keiner tiefergehenden Beziehung fähig sein und jegliches Vertrauen in unser Gegenüber wird geschwächt.
Wir brauchen daher eine deutlich größere Akzeptanz (was das Vergessen bitte nicht inkludieren soll, aber ein Verständnis für vieles bringen könnte). Vergessen wäre dann nur noch von peripherer Bedeutung, weil wir als Individuen auch einen Umgang mit dem eigenen Fehler finden werden, wenn wir uns nicht ständig vorhalten müssen, etwas falsch gemacht zu haben. Oder dafür angeprangert werden und damit nicht mehr dem scheinbaren „Ideal“ entsprechen, das wir zwangsweise aufbauen bzw. durch gesellschaftliche Normen aufbauen müssen (Stichwort: „Selbstoptimierung“ und „Social Media“). Wenn wir aber gegenseitig auf Anerkennung treffen, selbst wenn wir mal in ein „Fettnäpfchen“ treten, denke ich, stärkt es unser Vertrauen, das uns dann wiederum zum Lieben und Leben verhilft.
Ist das Niederschreiben für dich Befreiung oder das Schaffen von unauslöschlichen Tatsachen?
Schreiben und Vergessen sind für mich persönlich nicht vereinbar und stehen im völligen Gegensatz zueinander; vielmehr hat das Schreiben für mich mit einem Weggehen und Wiederkehren zu tun, mit einem ständigen Prozess, der nie aufhört, ob man nun aktiv vor dem weißen Blatt Papier sitzt und schreibt oder nicht. Das Schreiben an sich hat, meiner Einsicht nach, je nach Person aber immer einen anderen Charakter, ob dieser nun befreiend ist, ein erstes oder wiederholtes Ordnen von Gedanken, ein Ausbruch an Emotion oder eben auch ein unauflösliches Festhalten von Tatsachen sein muss, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen.
Bei meinem eigenen Schreiben hat es in erster Linie einen befreienden Charakter, der wiederum nichts mit Vergessen zu tun hat. Es ist eher die Suche nach den richtigen Worten, um zu einer Klarheit zu gelangen, zu einer Unabhängigkeit, die hilft, alles in sich Tragende aus dem Körper zu bekommen und für sich und andere sichtbar zu machen. Es ist dann wie ein Versuch, sein eigenes Leben und seine Verhältnisse und Verhaltensweisen wiederholt zu hinterfragen, zu rekonstruieren und neue Sichtweisen bei sich und anderen kennenzulernen, wenn einem das Schreiben einmal entgleitet oder die Führung übernimmt; dabei ist es dann besonders überraschend, wo man hingelangt, wenn man einfach mal (wie im Fieber oder im Fluss) zu schreiben ansetzt und dann langsam wieder heraustritt. Es ist, wie wenn man einem Vogel die Hand entgegenhält und hofft, dass er landet; oder wie Hilde Domin schrieb: „Man muß den Atem anhalten, bis der Wind nachlässt, und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt.“
Es ist also manchmal unergründlich und dann wieder wie eine Notwendigkeit, der man nachkommen muss.