„Rede mit Menschen und bekomme die Dinge, die zwischen euch stehen, geregelt, bevor es zu spät ist.“ – Interview mit Fabian Neidhardt

„Wenn einer, der so viel Lebensfreude hat wie Fabian Neidhardt, ein Buch über das Sterben schreibt, dann wird daraus große Kunst“, sagt Mareike Fallwickl über „Immer noch wach“. Und da hat sie recht: In seinem Debüt erzählt Fabian Neidhardt die Geschichte von Alex, in dessen Leben es eigentlich gerade so richtig gut läuft. Gemeinsam mit seinem besten Freund Bene hat er sich den Traum vom eigenen Café erfüllt, er plant die Zukunft mit seiner Freundin Lisa. Bis er eine niederschmetternde Diagnose bekommt: Alex wird sterben.
Im Interview mit Nina Gruber erzählt der Autor von Männerfreundschaften und Familie, von seinen Erfahrungen im Hospiz und vom Leben als Straßenpoet und Botschafter des Lächelns.

Alex wird in seinem Leben mit vielen Schicksalsschlägen konfrontiert. Immer an seiner Seite: sein bester Freund Bene. Sie kennen sich seit ihrer Schulzeit, meistern gemeinsam die Höhen und Tiefen des Lebens, basteln am gemeinsamen Traum. Die beiden sind füreinander da. Sie halten sich die ganze Nacht im Arm, wenn es dem anderen schlecht geht. So wie sie gemeinsam lachen, Pläne schmieden und Witze machen, so weinen und leiden sie auch gemeinsam. Sie verstecken ihre Verletzlichkeit nicht voreinander und haben keine Angst, dabei körperliche Nähe zuzulassen. Das ist etwas, was man landläufig nicht von stereotypen „Männerfreundschaften“ gewohnt ist. War es dir wichtig, diese Art von Freundschaft zwischen zwei Männern zu zeigen?

Irgendwann, ja. (lacht) Aber ehrlich gesagt habe ich das am Anfang gar nicht beabsichtigt. Ich habe mit meinem besten Freund eine sehr ähnliche Freundschaft, inklusive der Verletzlichkeit und der Intimität. Alex und Bene haben davon ganz viel abbekommen. Dass das gar nicht so normal ist, ist mir erst im Lektorat klar geworden. Aber ich bin total froh, dass mein Unterbewusstsein das so eingearbeitet hat und dass auch einige der intimsten Szenen im Roman nicht zwischen Alex und seiner Freundin Lisa erzählt werden, sondern zwischen ihm und Bene, aber auch zwischen ihm und Kasper, dem Mann, den er im Hospiz als neuen besten Freund findet.
Ich glaube, wir Geschichtenerzähler:innen haben mit jedem Buch, jedem Film, jedem Computerspiel die Chance, durch die Beschreibung unserer Welten Utopien ein wenig realistischer zu machen. In der Welt dieses Buches muss ich nicht kommentieren, dass es Menschen verschiedener Hautfarben gibt, dass es homosexuelle Beziehungen gibt, dass Menschen Teil der Realität sind, deren Familie wahrscheinlich nicht aus Deutschland kommt. Und dass Männerfreundschaften so intim und körperlich sein können in dieser Welt, darüber habe ich nicht nachgedacht. Aber ich bin sehr, sehr dankbar, dass sie so sind.

Bene ist für Alex nicht nur ein Freund. Er wird ihm immer mehr zur Familie. Nicht zuletzt, seit seine „Kernfamilie“ immer weiter schrumpft. Was ist das eigentlich – „Familie“? Wer findet darin Platz?

Ui. Da könntest du mich auch fragen, was ist Liebe. (lacht) Ich bin mit drei Geschwistern und Eltern großgeworden, von denen ich weiß, dass ich sie liebe, wie sie mich lieben. Natürlich streiten wir uns auch und es ist nicht immer alles Liebe und Frieden und so. Aber ich denke, dass Familie auch bedeutet, mehr Energie für den Zusammenhalt aufzuwenden. Und vielleicht ist das der Punkt, in dem Bene und Alex füreinander eher Familie sind: Da kann noch die größte Scheiße passieren, aber sie werden sich immer wieder anstrengen, zusammenzufinden. Das ist verbindlicher, aber eben auch anstrengender.

Eine weitere wichtige Person in Alex’ Leben ist Kasper. Die beiden treffen sich im Hospiz und zwischen den beiden entwickelt sich eine ganz besondere Beziehung. Aber trotz des guten Verhältnisses zwischen den beiden gibt es viel Ungesagtes, viele ungeweinte Tränen. Kasper ist schon länger im Hospiz, er ist ein liebenswürdiger, aber eben doch sturer Mann, der es nicht so gern hat, wenn er sich helfen lassen muss. Im Roman taucht auch Benes Onkel Gregor auf, ein richtig lieber Kerl, der als Kind seinen Vater verlor und der danach den Platz des „Mannes im Haus“ einnehmen musste. Darüber beschwert er sich nicht, dennoch wird bei Kasper und bei Gregor klar: stark sein, keine Schwäche zeigen, durchhalten, sich nicht beschweren, nicht nach Hilfe fragen, alleine „klarkommen“. Was machen diese traditionell patriarchalen Erwartungen mit Männern in emotionalen Ausnahmesituationen?

Im besten Fall hebeln diese Ausnahmesituationen diese patriarchalen Erwartungen aus. Zumindest passiert das in diesem Buch: Gregor und Kasper weinen genauso und haben Alex genauso im Arm.
Ich finde deine Beobachtung total spannend, weil ich auch diese beiden Männer so nicht bewusst beschrieben habe. Die Scham, die Kasper empfindet und wegen der er sich nicht helfen lassen will, ist das wirklich etwas „Männliches“? Ich weiß es nicht. Aber wenn, dann merkt er ja, dass er damit – wortwörtlich – nicht weit kommt. Und bei Gregor denke ich, dass er eben Schicksale in seinem Leben hatte, die es ihm schwer machen, sich anders zu entscheiden. Ist ja auch bei Alex so. Ich glaube einerseits, dass mir Alex sehr nah ist. Andererseits würde ich mich nie so entscheiden, einfach, weil ich nicht das Leben mit diesen Schicksalsschlägen hatte.

Fabian Neidhardt schreibt mit links, seit er einen Stift halten kann, und erzählt Geschichten, seit er 12 ist. Nach dem Volontariat beim Radio studierte er Sprechkunst und Kommunikationspädagogik und Literarisches Schreiben. Bis Mai 2019 absolvierte er die Ausbildung zum Storyliner bei der UFA Serienschule in Potsdam. Seit 2010 sitzt er als Straßenpoet mit seiner Schreibmaschine in Fußgängerzonen und schreibt Texte auf Zuruf. 2019 entwickelte er den Prosaroboter, der auf Knopfdruck Geschichten ausdruckt. – Foto: Julian Betz

Auch wenn ich jetzt viele verschiedene Männerfiguren aus dem Roman herangezogen habe: Natürlich zeichnest du keine stereotypen Charaktere in deinem Buch. Die Menschen in „Immer noch wach“ gehen ganz unterschiedlich mit Trauer um. So auch Alex’ Mutter: Sie ist überwältigt vom Verlust und leidet still. Sie verstummt. – Worüber und mit wem Menschen sprechen wollen, sollte natürlich der einzelnen Person freigestellt sein. Aber ich hab dein Buch schon auch als Positivbeispiel dafür gesehen, dass reden und sich öffnen hilft. War dir das tatsächlich ein Anliegen? Oder projiziere ich das auf deinen Roman?

Erstmal war es mir ein Anliegen, Menschen zu unterhalten und zu berühren. Wenn dann noch etwas hängenbleibt, umso besser. (grinst) Aber ja, wenn wir von „Moral“ oder so reden wollen, dann am ehesten: Rede mit Menschen und bekomme die Dinge, die zwischen euch stehen, geregelt, bevor es zu spät ist. Ich bin bei Weitem nicht der oder die Erste mit dieser Botschaft. Aber selbst ich, der auch all die Filme und Serien und Bücher konsumiert hat, musste erst im Hospiz diesem Mann – der die Vorlage für Kasper ist – beim Sterben zusehen, um mich aufzuraffen und auch in meinem Leben die Dinge geregelt zu kriegen. Das war sehr schwer und hat mich einiges an Energie und Mut gekostet. Es ging auch nicht immer positiv aus, aber ich bin froh, das gemacht zu haben.
Und na ja, ich komme aus der Kommunikation, ich habe Sprechen studiert. Ich glaube, grundsätzlich ist Kommunikation besser als stures Schweigen. Aber: Ich habe auch schon Situationen miterlebt, die von einer Seite so dickköpfig ausgeschwiegen werden, dass die andere Seite noch so viel Energie aufwenden kann, sie wird da nicht weiterkommen. Vielleicht ist das der Bogen zur Familie: Es müssen beide Parteien dieses Gefühl von Familie haben und damit die Motivation, Dinge zu klären.

Du hast selbst schon Zeit im Hospiz verbracht. Wie war es dort für dich? Was hast du darauf für dich mitgenommen?

Ich habe für die Recherche zu diesem Roman eine Woche im Hospiz gearbeitet. Das war ganz schön krass. Emotional in jeder Hinsicht. Tagsüber habe ich Dinge getan, die ich nur tun konnte, weil ich so was wie journalistische Distanz zu mir selbst wahren konnte. Abends kam ich heim, habe meiner Freundin erzählt, was ich an dem Tag erlebt habe, habe mich in den Schlaf geheult und bin am nächsten Tag wieder hin. Andererseits habe ich selten so aus vollem Herzen gelacht wie dort.
Ganz viel im Roman ist durch diese Woche beeinflusst. Besonders Kasper. Und die Zeit hat mir klar gemacht, was ich versucht habe, im Roman auch zu vermitteln: Ich sollte ein paar Dinge geregelt kriegen und machen, solange ich gut dafür Zeit habe. Und nicht erst, wenn es fast schon zu spät ist.

Neben deiner Arbeit als Schriftsteller bist du auch noch Botschafter des Lächelns. Was hat es damit auf sich?

Das wüsste ich manchmal selbst gern. (lacht) Vor 18 Jahren haben mein bester Freund und ich „Gutscheine für einmal Lächeln“ entworfen. Weil Lächeln eine der leichtesten Formen ist, das Leben ein ganz kleines bisschen besser zu machen. Das hat so gut funktioniert, dass ich mir damals diesen Titel ausgedacht habe. Ist irgendwie hängengeblieben und ist immer wieder ein ganz guter Gesprächseinstieg. Aber selbst ich kann dieses ganze Lächeln-Ding immer wieder nicht ganz ernst nehmen und ich weiß, dass es anderen auch so geht. (lacht)

Du bist auch als Straßenpoet mit deiner Schreibmaschine unterwegs. Wo trifft man dich denn da (unter normalen Umständen)? Und wie läuft das genau ab?

Wenn das Leben es zulässt (und ich mich traue), sitze ich in Kunstveranstaltungen und Fußgängerzonen und schreibe Menschen kurze Geschichten auf Postkarten. Dazu lasse ich mir zwei, drei Worte oder ein Thema geben und nehme mir insgesamt etwa 20 Minuten. Danach haben sie eine ganz eigene, frisch geschriebene Geschichte auf einer Postkarte und ich hatte eine gute Fingerübung mit Themen, auf die ich selbst oft nicht gekommen wäre. Das macht meistens ziemlich viel Spaß. (lächelt)

 

 

Fabian Neidhardts „Immer noch wach“ stellt dich vor große Fragen und große Trauer. Und es tröstet dich damit, dass es die kleinen Dinge sind, die am Ende wirklich bedeutsam sind: Wie dich deine Freundin weckt, wenn du schlecht träumst. Wie sie mit dir tanzt, auch wenn du bei der Verteilung des Rhythmusgefühls leer ausgegangen bist. Und wie dich dein bester Freund im Arm hält, wenn die Tränen kommen.
Du wirst sie von der ersten Seite an ins Herz schließen, Alex und seine Lieblingsmenschen. Und du wirst mit ihnen fühlen bis ins Innerste: die Verzweiflung, die Liebe, die Wut und die Hoffnung. In leiser, eindringlicher Sprache erzählt Fabian Neidhardt eine Geschichte von Liebe, Freundschaft und der Kraft des Zusammenhalts – tieftraurig, herzerwärmend schön und vor allem immer: Mut machend.