Sprengt den Parthenon!
„Wir sind die verträumten Irren dieser Erde,
die mit dem entflammten Herzen, dem enthemmten Blick.
Wir sind die unerlösten Denker und die tragisch Liebenden.“
– Jorgos Makris, „Wir, die Wenigen“ (1950)
Zerstörung als Kunst, Zerstörung als Befreiung. Was vielen von uns als größtmöglicher Akt der Barbarei erscheint, als Zivilisationsbruch schlechthin, das ist für Jorgos Makris eine Geste der Emanzipation: „Sprengt den Parthenon!” – so lautet sein ungeheuerlicher Aufruf am 18. November 1944.
In Tagen, in denen uns der blindwütige Bildersturm des „Islamischen Staates” erschüttert, liest sich sein Programm heute wie ein verdammenswerter Aufruf zum Terrorismus. Und doch lohnt sich die Auseinandersetzung mit seinem subversiven Werk, denn es berührt uns in den Grundfesten unserer Gesellschaft und lässt tief blicken. Christos Chryssopoulos nimmt in seinem neuen Roman das provokante Manifest des Künstlers auf und wagt ein ungeheuerliches Gedankenexperiment: Ein Buch wie pures Dynamit.
Hoch thront die Akropolis über Athen, der übergroße Schatten den sie wirft, erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Als Symbol für die Zivilisation schlechthin, als „Wiege der Demokratie” und als Ausgangspunkt europäischer Kultur verkörpert sie wie kaum ein anderes Monument ein gemeinsames Erbe, das sich tief in unser Selbstverständnis und unser kollektives Unterbewusstsein eingegraben hat. Eines das die nationale Identität determiniert, ein Monument, wie ein unüberwindbares Mahnmal, das an eine glorifizierte Vergangenheit erinnert. Die Akropolis als Über-ich einer Gesellschaft, als gigantische Vaterfigur, die an die eigene Unzulänglichkeit appelliert, ein unerbittlicher Patriarch, dem man nicht gerecht werden kann.
Jorgos Makris
Für den Surrealisten Makris stand das Emblem abendländischer Überlegenheit für einen lähmenden Kult: Der Parthenon lastet schwer auf den Schultern der (griechischen) Gesellschaft, die nicht aus seinem Schatten treten kann. Die Auslöschung aller antiken Denkmäler propagierte der streitbare Künstler jahrzehntelang in Pamphleten, Interventionen und Debatten. In Traktaten der „Bewegung der Verantwortungslosen“, wie sich Anfang der 1950er Jahre eine größere Gruppe von Intellektuellen und KünstlerInnen nannte, in der auch Jorges Makris Mitglied war, wird die Zerstörung von antiken Denkmälern als nihilistisch motivierter Akt erklärt, der das Ende des „lächerlichen und verlogenen Überlebensgetues“ und der Anziehung von stümperhaften „Amateurtouristen und Eunuchen“ zum Ziel habe.
Christos Chryssopoulos erlebt die schwierigen Verhältnisse in Griechenland hautnah und sieht es als Pflicht, in seinen Büchern Stellung zu beziehen. Der 1968 in Athen geborene Schriftsteller, Übersetzer und Fotograf studierte Wirtschaftswissenschaften und Psychologie. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. verlieh ihm die Französische Republik 2015 den Titel des Ritters der Wissenschaften und Künste. Christos Chryssopoulos ist Mitglied des Europäischen Kulturparlaments und schreibt regelmäßig für die nationale und internationale Presse. Seine Bücher werden weltweit übersetzt. Mit „Parthenon“ (2018) erscheint erstmals ein Werk von Christos Chryssopoulos in deutscher Sprache. Foto: Tom Langdon
Die freilich provokanten Thesen, die Makris mit revolutionärem Pathos vorbrachte, mögen verstören und gerade angesichts der fatalen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts – aus gutem Grund – indiskutabel scheinen. Und doch werfen sie Fragen auf, die auch vor dem Hintergrund der griechischen Wirtschaftshavarie und Identitätskrise aktueller sind denn je.
Was wäre, wenn die Akropolis eines Tages einfach nicht mehr da wäre? Würde aus den rauchenden Trümmern der Tempelanlage Neues entstehen? Nach dem Schock die Befreiung, das Aufatmen, die Erlösung?
Makris’ radikaler Gedanke ist der Ausgangspunkt für Christos Chryssopoulos’ Gedankenexperiment. Kann die Zerstörung des übermächtigen Monuments ein schöpferischer Akt der Befreiung sein? Kann man seine Vergangenheit auslöschen? Und was tritt an ihre Stelle?
Parthenon
„Parthenon” beginnt mit der vollendeten Tatsache. 60 Jahre nach Makris’ Manifest erwacht die Stadt und ihr Wahrzeichen liegt in Trümmern. Ein junger unbescholtener Mann hat das jahrtausendealte Symbol zum Einsturz gebracht. Getrieben von der Sehnsucht, sich und die Griechen von der hemmenden Bürde ihres übermächtigen antiken Erbes zu befreien. In einer Zeit, in der sich die griechische Kultur auf eins reduziert hat, nämlich einen Haufen schmutziger Steine, physisch und moralisch verschmutzt von den Horden ungepflegter und ungebildeter Touristen, die keinen Unterschied zwischen einem römischen Tempel und einem griechischen Tempel sehen würden.
So ging der Protagonist Ch.K. den ganzen Weg bis ans Ende seiner Idee, die fest verankert ist mit seinem Gewissen, dass nur die Folgen der Handlung wichtig sind … Und die Reaktion der Behörden lässt nicht lange auf sich warten. Nach dem ersten Schock, geht man der sofortigen Aufklärung des Verbrechens nach, bis immer mehr Details ans Tageslicht kommen und der Täter schließlich entlarvt ist und seine gerechte Strafe erfährt.
Hier setzt die Auseinandersetzung mit der politischen Dimension von Kunst, der Frage der Performativität von Literatur und jene nach Identität ein: Was ist eine Stadt, eine Nation ohne Monument? Was bleibt, außer dem Gefühl von Schutzlosigkeit, wenn man dessen entledigt wird? Was ist die gerechte Strafe für eine so tiefschürfende Tat?
In der Art einer journalistischen Untersuchung, eingebettet mit Archivdokumenten und Zeugenaussagen, macht Christos Chryssopoulos die große Ambivalenz jeder nationalen Identität zum Thema. Es ist ein mutiger, sprachlich kraftvoller Roman über die Konstruktion einer Nation und die Poesie der Zerstörung, der – nun erstmals aus dem Neugriechischen übersetzt – dazu beiträgt, die Lücke der griechischen Gegenwartsliteratur zu erschließen.
Wir laden Sie ein, auf eine längst überfällige Reflexion über das Warum einer ewigen und systematischen Bewunderung für die Überreste einer scheinbar „glorreichen“ Vergangenheit und über den aufwendigen Versuch, die Geschichte frei von allen Übeln neu zu schreiben.
„Die Profanierung des Nicht-Profanierbaren
ist die politische Aufgabe der kommenden Generation.“
Giorgio Agamben, „Profanierung“