Titelbild Sonne

Natalka Sniadanko über unabhängige Frauen und Aristokraten – und die Spuren einer ukrainisch-österreichischen Geschichte.

In ihrem frisch aus dem Ukrainischen übersetzten Roman „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“ schildert Natalka Sniadanko den Kampf, sich im politischen und gesellschaftlichen Rahmen selbst zu verwirklichen und unabhängig zu werden: als Mensch – aber auch als Staat. Im Interview mit Nina Gruber erzählt sie von den Herausforderungen und patriarchalen Schranken, vor denen ukrainische Frauen stehen, die ein selbstbestimmtes Leben führen möchten. Von einer ukrainisch-österreichischen Geschichte, die nach vielen Jahren erst langsam wiederentdeckt wird. Und von der wunderbaren Freiheit in der Literatur, ein Gedankenexperiment zum Roman heranwachsen zu lassen.

Erzherzog Wilhelm von Habsburg-Lothringen – bei diesem Namen klingelt bei den meisten von uns vermutlich noch nichts. Dabei fügt sich der aristokratische Outlaw neben Kaiserin Sisi und Kronprinz Rudolf ausgezeichnet in die Reihe seiner erlesen exzentrischen Verwandtschaft. Welche Rolle spielt er für die ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts?

Es gibt nicht viele Habsburger außer Kaiser Franz Joseph, die in der Ukraine bekannt sind. Es ist eine lang vergessene Geschichte. Nicht mal die schöne Sisi wird man heute in der Ukraine kennen. Erzherzog Wilhelm aber ist eine Ausnahme. Er hat sogar einen ukrainischen Namen: Wasyl Wyschywanyj, was so viel wie „der Bestickte“ heißt und sich auf ein traditionell besticktes ukrainisches Hemd bezieht, einer Art von Tracht, die immer noch sehr populär ist.
Natürlich war Wilhelms Geschichte zur sowjetischen Zeit aus den Geschichtsbüchern völlig ausradiert. Erst in den 1990ern, als die Ukraine nach dem Zerfall der UdSSR unabhängig wurde, erfuhr man vom ihn und von den Plänen ukrainischer Politiker nach dem ersten Weltkrieg, ihn zum König der Ukraine zu machen. Die Ukraine hatte damals gute Chancen, einen unabhängigen Staat zu bilden. Und für eine kurze Zeit kam es sogar dazu. Dann aber wurde das Land – wie schon so oft in den Jahrhunderten davor – zwischen Russland und Polen geteilt. Eine romantische Vision der Westukrainischen Republik unter Führung der Habsburger klang auch in den 1990ern für viele recht attraktiv. Es gab sogar Gerüchte, dass Wasyl Wyschywanyj nicht gestorben war, sondern immer noch lebte. Man wollte ihn in Sibirien gesehen haben, unter anderen sowjetischen Dissidenten, und dann wieder zur Zeit der Unabhängigkeit in Lwiw (Lemberg).
Diese Gerüchte habe ich zum ersten Mal in meiner ersten Zeit als Studentin der ukrainischen Philologie gehört, als ich zu den ersten Student*innen gehörte, die ukrainische Geschichte nicht mehr nach dem sowjetischen Lehrplan gelernt hatten, sondern ganz anders. Danach gab es immer wieder Bücher über Wilhelm. Eines der besten Sachbücher über ihn hat ohne Zweifel Timothy Snyder geschrieben: „The Red Prince“ (dt. Übersetzung: „Der König der Ukraine“). Und so kam ich auf die Idee, Erzherzog Wilhelm tatsächlich im sowjetischen Lwiw weiterleben zu lassen

Wilhelm spielt eine besondere Rolle in der Beziehung der Ukraine mit Österreich. Aber auch über ihn hinaus wird diese Verbindung lebendig und zeigt sich in vielen deiner Figuren und Schauplätze. Was sind deine Lieblingsspuren dieser gemeinsamen, dieser europäischen Geschichte?

Nicht weit von meiner Wohnung in Lwiw gibt es einen Wyschywanyj-Platz. Es ist ein winziges Viereck mit einem Kinderspielplatz und einigen Bänken. Meine Kinder gehen täglich über diesen Platz in die Schule, wo sie einen verstärkten Deutschunterricht haben und samt Abitur auch die Prüfung für das deutsche Sprachdiplom ablegen müssen. Es gibt nur zwei solche Schulen in Lwiw, und bald werden sie keine Sprachdiplomprüfung mehr ablegen können, denn das System wird abgeschafft. Der Platz aber bleibt, hoffe ich, wobei es außer diesem Platz kaum Andenken an Wilhelm in der Ukraine gibt. Es gibt noch eine Wyschywanyj-Straße in Tscherniwzi (Czernowitz), und das war es auch schon.
In Wien wurde ich auch nicht fündig. Ich habe einmal vergebens eine Erinnerungstafel auf dem Haus gesucht, in dem er zuletzt in Wien lebte und das letzte Mal ausgegangen ist, bevor er auf der Straße vom sowjetischen Geheimdienst gekidnappt wurde, um für immer zu verschwinden. So viel zur gemeinsamen ukrainisch-österreichischen Geschichte und zu ihren Spuren in Lwiw, die in der sowjetischen Zeit fast völlig ausradiert wurden. Nur die Architektur hat teilweise überlebt. Sonst nicht viel.
Es blieb nur eine gewisse nostalgische Sehnsucht nach Franz Joseph und der k.u.k-Zeit. Diese Zeit blieb als eine Art goldene Ära in der Erinnerung der Ukrainer*innen. Galizien, die ärmste Provinz der Monarchie, war natürlich kein Vielvölkerparadies, wie es in der nostalgischen Version dargestellt wird. Aber die Zeit steht im Vergleich mit den Jahren des sowjetischen Terrors natürlich viel besser da. Man lernte mehrere Fremdsprachen und durfte überall in Europa studieren, was für junge Ukrainer*innen erst seit Kurzem wieder möglich ist und mit vielen Hindernissen verbunden ist. Man hatte bessere Verbindungen nach Europa als jetzt, Reisefreiheit, schöne Kaffeehäuser, schöne Häuser, man fühlte sich als Teil Europas. Das durfte man später Jahrzehnte lang nicht mehr. Selbst heute fühlt man sich in der Ukraine nicht so.

Den Geschichtsbüchern zufolge geht Erzherzog Wilhelms Leben 1948 zu Ende. Aber du lässt ihn in deinem Roman wiederauferstehen. Mit dem Leben eines reichen Aristokraten hat sein Dasein anschließend aber nichts mehr gemeinsam. Gewinnt Wilhelm damit auch ein Stück Autonomie?

Lwiw:Lemberg im Westen der Ukraine

Lwiw/Lemberg im Westen der Ukraine war knapp 150 Jahre lang bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das multiethnische Zentrum des Habsburger Königreichs Galizien und Lodomerien.

Dieses Buch war für mich ein Versuch mir vorzustellen, wie z. B. das Leben meiner Großeltern aussehen könnte, wenn diese alte Welt immer noch existieren würde, unzerstört vom sowjetischen Totalitarismus. Die Hauptfiguren dieses Buches würden in der sowjetischen Realität zugrunde gehen, selbst wenn sie den Krieg überlebt hätten. Sie würden nicht in dieser Realität überleben können, rein psychisch nicht. Aber dafür ist die Literatur da: Sie erlaubt es, das Unmögliche zu beschreiben und zu genießen. Wilhelms Leben in meinem Roman ist seinem Leben in meiner Fantasie ähnlicher als seinem Leben in der Realität. Ihn in einer sowjetischen Umgebung zu zeigen, würde seine Persönlichkeit um eine Dimension erweitern. Ich habe mir Wilhelm als sehr anpassungsfähig an das neue System vorgestellt. Der Roman ist für mich wie eine virtuelle Realität, eine Erweiterung der Realität.

Natalka Sniadanko kennt in Lwiw jede Ecke und hat ein Herz für exzentrische Figuren. Als Autorin spielt sie gerne Zeitmaschine und mixt historische Fakten und literarische Fiktion kräftig durch, um uns Geschichte mal ganz anders erleben zu lassen. Foto: Kateryna Slipchenko

Als junger Mann treibt sich Wilhelm in Hafenkneipen rum, lässt sich tätowieren, in der Zwischenkriegszeit lässt er sich von seiner reichen Verwandtschaft ein ausschweifendes Leben im verruchten Paris finanzieren, er verbringt Jahre als Spion im Untergrund. Seine Enkelin Halyna erlebt eine im Vergleich mit Wilhelm sicherere Jugend- und Erwachsenenzeit. Als ihr Sohn zur Welt kommt, passiert aber etwas: Anders als beim Lebemann Wilhelm ist Halynas Dasein nun geprägt von dieser einen Erwartung an sie – die perfekte Mutter zu sein. Woher kommt diese Ungleichheit in Freiheit und Unabhängigkeit der beiden?

Die Ukraine von heute ist ein tief patriarchaler Staat und Halyna fühlt sich als Frau dementsprechend diskriminiert. Alle ihre Erwartungen und Pläne muss sie zurückstecken, weil die Gesellschaft von ihr nur eine, ihre „Hauptrolle“ erwartet – die Mutterrolle. Und diese Erwartungen hat sie schon als Kind verinnerlicht, sie versucht nicht mal, dagegen zu kämpfen, sie leidet nur darunter.

Die sowjetische Version einer unabhängigen Frau lautete: Die Frauen dürfen berufstätig sein, denn es macht sie unabhängig. Aber sie dürfen ihre Familie nicht „vernachlässigen“, was im Alltag eine doppelte oder sogar dreifache Belastung bedeutet – nach der Arbeit muss die Frau noch die gesamte Hausarbeit leisten und sich um die Kinder und ihren Mann kümmern.

Halyna ist nicht berufstätig, was ihr teilweise den Alltag entlastet, sie ist aber auch nicht frei und nicht glücklich in ihrer Rolle. Man kann sie natürlich schwer mit Wilhelm vergleichen. Trotz Halynas Zeitvorsprung hat Wilhelm als Mann und Aristokrat viel mehr Freiheiten, aber auch nicht alle. Sein Wunsch, sich die ukrainische Identität anzueignen, wurde nicht akzeptiert. Er wurde deshalb aus der Familie ausgeschlossen. Auch seine Lebensweise wurde nicht geduldet. Das zeigt nur, wie langwierig und schwer der Weg zur individuellen Befreiung ist. Aus Sicht der anderen ukrainischen Frauen ist Halyna privilegiert: Als Hausfrau, die zumindest kein Geld verdienen muss, ist sie von einem wesentlichen Teil der ihr auferlegten Pflichten befreit. Genauso ist Wilhelm privilegiert und wird dafür beneidet. Beide aber leiden unter dem Mangel an persönlichen Freiheiten und ihrem Recht auf Selbstverwirklichung.

 

Bist du jetzt neugierig geworden auf diesen Generationenroman über (persönliche) Unabhängigkeit und über eine aus heutiger Sicht überraschend gemeinsame, europäische Geschichte? Hier findest du mehr Informationen zum Roman, in der Persönlichkeiten die Hauptrolle spielen, die aus der Reihe tanzen: in einem Reigen aus Lwiw und Wien, aus Habsburger Monarchie, Sowjetunion und 21. Jahrhundert.

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?

Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Natalka Sniadanko haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Maria Matios, Oleksij Tschupa, Kateryna Babkina, Jurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!