„Eine befreiend weite Welt“ – Auf dem Steyr-Puch-Waffenrad durchs Weinviertler Grenzland
Er braucht keinen Laptop, keine Täterprofile. Er blickt seinem Gegenüber genau in die Augen und weiß, was Sache ist. Simon Polts Ermittlungsmethoden haben nicht viel gemein mit den Segnungen der Forensik, des Profiling oder ballistischen Gutachten. Dass man im malerischen Pulkautal allerdings mit C.S.I.-Chic und Hightech- Kriminalistik nicht unbedingt weiterkommt, das musste bisher noch jeder Hauptstadt-Polizist einsehen, der in die Weinviertler Kellergassen beordert wurde.
Hier kommt es auf andere Eigenschaften an, denn die Menschen, die Landschaft, die Luft, die Zeit – hier im Weinviertler Grenzland ist einfach alles ein wenig anders. Und so liegt es immer wieder am längst pensionierten Simon Polt, Verbrechen aufzuklären, von denen natürlich auch das idyllische Wiesbachtal nicht verschont bleibt.
Foto: © Michael Himmel, mit freundlicher Genehmigung der Initiative Pulkautal
Die Landschaft, in der sie leben ist den Menschen hier eingeschrieben – sie bevölkern „eine merkwürdig zeitlose Gegend, eine, die Gedanken das Fliegen lehrt, kein armseliger Hinterhof, sondern eine befreiend weite Welt, in der man nicht den Kopf heben muss, um in den Himmel zu schauen”. Im Gespräch mit Georg Hasibeder gibt Autor Alfred Komarek einen Einblick in die zeitlose Welt des Weinviertels. Wo man sich in der Stille der Weinkeller in einer anderen Dimension wähnt als übertags, und die Hauptstadt Wien so unendlich weit weg zu sein scheint.
Auf dem Waffenrad durchs Grenzgebiet – kommt mit auf eine Erkundungsreise durchs Wiesbachtal.
Das vollständige Gespräch ist in der neuen Taschenbuchausgabe von „Alt, aber Polt” enthalten.
Das nördliche Weinviertel war immer schon eine Grenzregion – wenn Simon Polt über die Feldwege oder durch die Kellergassen geht oder auf seinem alten Steyr-Puch-Waffenrad fährt, dann hat er die Grenze zu Tschechien meist in Sichtweite. Inwieweit hat diese Grenzlage die Menschen und das Leben geprägt?
Das Hügelland des Weinviertels ist von seinem Wesen her weit und offen, nicht dafür geeignet, zu umfangen, zu schützen und zu bergen. Was immer ins Land kommt, hat Wirkung, nur Veränderung hat Bestand – und das gilt auch für die Grenze. Lange Zeit war sie nicht viel mehr als ein Gartenzaun zwischen zwei Ländern der Habsburgermonarchie, blieb auch nach deren Zerfall weitgehend durchlässig. Erst mit dem Zweiten Weltkrieg begann ihre zunehmend radikale Aufrüstung. Für Polt war das Leben am „Eisernen Vorhang“ viele Jahre lang Alltag. Als dann innerhalb weniger Tage die Welt neu geordnet wurde, bedeutete das für das Weinviertel nicht nur Gutes. Als Gendarm musste Polt erleben, wie die neue Freiheit auch als willkommenes Spielfeld für die Kriminalität wahrgenommen wurde – nachzulesen in Polterabend, dem vierten Band. Das alles nährt die Überzeugung, dass angesichts der bewegten Vergangenheit und vieldeutigen Gegenwart die Zukunft mit wachsamer Skepsis zu erwarten sei. Argwohn, Vorsicht und Misstrauen gehören im Grenzland nun einmal zum Leben, aber auch die bedingungslose Bereitschaft zu helfen – weil man hier ja letztlich aufeinander angewiesen ist.
Was hat sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs geändert? Ist der Nachbar Tschechien ein Stück näher gerückt?
Vieles hat sich verändert – oder auch nicht. Das Weinviertel ist aus seiner Randlage in die Mitte Europas gerückt. Der Weinexport nach Tschechien läuft gut. Es gibt Zusammenarbeit über die Grenze hinweg, Tourismus in beiden Richtungen. Auf dem Polt-Weg, der – auch entlang der Grenze – Wanderern und Radfahrern die Schauplätze der Romane und die Drehorte der Filme näher bringt, sind deutlich mehr tschechische Gäste unterwegs.
Aus der aufgeregten, neugierigen, auch berechnenden Begegnung ist selbstverständliches Nebeneinander geworden, auch Miteinander, von Fall zu Fall. Aber die Grenze in den Köpfen gibt es noch immer. Kränkungen, Unrecht und Gewalt im Krieg, aber auch noch in den Jahren danach, sind nicht vergessen. Die Menschen hier lernen rasch, sich auf neue Gegebenheiten einzustellen, sie sind aber auch geübt im Wechselspiel von vernünftiger Nähe und sorgsamer Distanz.
„Die Leute hier mögen ihre Nachbarn von drüben nicht. Es hat auf beiden Seiten viel Unrecht gegeben, im Krieg und nachher“, sagt Simon Polt in Polt muß weinen. Gibt es dieses Misstrauen, diese Vorbehalte gegenüber dem tschechischen Nachbarn auch heute noch?
Die älteren Menschen im Grenzland haben diese Vorbehalte noch immer, und halten sie mit zornigem Eifer am Leben. Die Jüngeren wollen eigentlich nichts mehr von all dem wissen. Immerhin gibt es jetzt ein paar Discos und Events mehr, die Leben in eine ereignisarme Gegend bringen.
Ein „Gefängnis, in dem es nicht mehr auszuhalten war“, „Eine Grenze mit Stacheldraht, Bodenminen, Scharfschützen. Eine Gegenwart ohne Zukunft. Menschen ohne Stolz und ohne Zuversicht.“ – so äußert sich Ingenieur Seidl über das Leben im Wiesbachtal. Hat er mit dieser Diagnose recht?
Er hat völlig recht, wenn man jene Zeit in den 1970er Jahren betrachtet, die Peter Seidl dazu trieb, anderswo sein Glück zu versuchen. Ich bin vor gut vier Jahrzehnten ins Pulkautal gekommen, weil es mir nicht gelingen wollte, in Wien heimisch zu werden. Für mich, der ich im Weinviertel zu Gast war, nicht um meine Existenz kämpfen musste, war diese schwere Melancholie faszinierend, eine Gegenwart, die in sich gefangen stillhielt, weil zu allem anderen die Kraft fehlte. Erst viel später habe ich erkannt, dass diese Lähmung dem Weinviertel jene Schätze unversehrt erhielt, die sich heute als großes Zukunftskapital dieses Lebensraumes erweisen: die ruhige, kraftvolle Kontinuität bäuerlichen Lebens und dessen althergebrachten, in dieser Form einzigartigen Schauplätze: Straßendörfer und Kellergassen im Einklang mit der Landschaft, in die sie klar und behutsam eingezeichnet sind.
Grenzland ist das nördliche Weinviertel nicht nur durch seine Nähe zur österreichisch-tschechischen Grenze. Grenzland ist es auch durch seine Lage an der Peripherie, knapp 75 Autokilometer von Wien entfernt und dennoch in der tiefen Provinz. Mit welchem Blick schaut man im Wiesbachtal auf die österreichische Hauptstadt?
Seit jeher berührt es mich im Pulkautal, dem Wiesbachtal im Roman, eigenartig intensiv, wie weit entfernt, ja kaum existent hier eine Großstadt wie Wien sein kann. Hingegen empfinde ich beim Begriff „Provinz“ Unbehagen, weil er auch rückständig, kleingeistig und eng meint. Das Weinviertel ist aber keine gestrige, sondern eine merkwürdig zeitlose Gegend, eine, die Gedanken das Fliegen lehrt, kein armseliger Hinterhof, sondern eine befreiend weite Welt, in der man nicht den Kopf heben muss, um in den Himmel zu schauen.
„Ich habe Menschen kennengelernt, die vor der betäubenden Wucht der Stille im Weinkeller panisch geflohen sind, zurückgeworfen auf ihr unverstelltes Selbst.”
Gerade das städtische Publikum hat die Weinviertler Provinz in den letzten Jahren neu für sich entdeckt: Als charmanten Gegenentwurf zur modernen, hektischen Stadt, als Projektion einer ersehnten und erhofften Authentizität. Was bedeutet diese Entwicklung für das Weinviertel, welche Chancen und welche Risiken birgt sie in sich?
Wenn schon Provinz, dann unter anderen Vorzeichen, und charmant lasse ich schon gar nicht gelten. Ich habe Menschen kennengelernt, die vor der betäubenden Wucht der Stille im Weinkeller panisch geflohen sind, zurückgeworfen auf ihr unverstelltes Selbst. Vermutlich üben sie inzwischen wieder hektisch urbanes Chillen. Der Direktor einer internationalen Kette von Luxushotels gestand nach ein paar Ewigkeiten vor dem Presshaus und unter dem Nussbaum, dass dieser Luxus in seinen Fünf-Sterne-Häusern leider, leider um kein Geld zu haben ist.
Als Gegenentwurf zur großen Stadt lasse ich das Weinviertel aber sehr wohl gelten, als Anderswelt: verstörend, bereichernd, ein ebenso forderndes wie hilfreiches Umfeld für die Reise zu sich selbst.
Zu den Risken: Ich sehe schon die Entdecker nahen: kluge Leute, die im Weinviertel verborgenes Potential mit unwiderstehlichen Alleinstellungsmerkmalen erkennen. Diese wortreichen Propheten werden dann unendlich einfühlsam und wissend das Weinviertel zu Tode lieben: als Marke abseits gängiger Marken, die es nun zu profilieren gilt: noch spröder der Reiz, noch stiller die Stille, noch rustikaler das Bauernland, insgesamt alles noch echter als echt. Und durch die Dörfer radeln Polizisten, verkleidet als Gendarmerie-Inspektor Polt.
Alfred Komarek: Alt, aber Polt
Auf eine andere Form von Grenze als jene zwischen Österreich und Tschechien, zwischen Großstadt und Land, auf eine unsichtbare Grenze nämlich ist Polt während seiner Zeit in Uniform immer wieder gestoßen – eine Grenze, die die Dorfgemeinschaft zwischen sich und dem Gendarmen gezogen hat: Er war respektiert, anerkannt, durfte manchmal auch hineinschauen in den inneren Kreis dieser Gemeinschaft, Teil von ihr war er aber nie. Nun, in Alt, aber Polt, hat man das Gefühl, Simon Polt gehört nun doch ganz dazu: als Gemischtwarenhändler, Wirt und Weinbauer im Kleinen. Wann hat Polt endgültig Zutritt erhalten?
Natürlich gehört Polt dazu. Es muss sich niemand mehr vor seinem Beruf fürchten, und eine anständige Familie hat er ja auch zuwege gebracht. Aber die Grenzen um ihn sind neu gezogen: Rund um Polt, den Gemischtwarenhändler, dem seine liebenswerte Enklave noch für eine Weile gegönnt ist, um Polt, den Wirt, den man als sehr nützliches Kuriosum gerne leben lässt, und um den privaten Polt, der alt geworden ist und somit sachte an den Rand rückt, dorthin, wo er unter seinesgleichen ist, und sich hoffentlich nicht in Dinge einmischt, von denen er nichts mehr versteht.
Das vollständige Gespräch findet ihr in Alfred Komareks neuestem Polt Krimi „Alt, aber Polt”.
Simon Polt ermittelt übrigens bald wieder auf euren Fernsehschirmen: „Alt, aber Polt” wird verfilmt, unter anderem mit Erwin Steinhauer und Iris Berben in den Hauptrollen.