Andrej Kurkow über seinen neuen Roman „Kartografie der Freiheit“
Drei junge Paare aus Litauen wollen in Andrej Kurkows „Kartografie der Freiheit“ den europäischen Traum von einer besseren Zukunft zum Leben erwecken. Schnell holt sie jedoch die schmerzhafte Realität ein – entgegen dem Ideal eines Europas ohne Grenzen spalten sich Union und Gesellschaft in vermeintlich „alte“ und „neue“ Europäer. Plötzlich finden sich die jungen Paare als Fremde an den gesellschaftlichen Rand und in den finanziellen und persönlichen Ruin gedrängt. Warum es für den Autor auch zwei Arten von Europäern gibt und warum er von dem Land Litauen so fasziniert ist, erzählt er in seinem Nachwort.
Auszug aus „Kartografie der Freiheit“:
Flüchtlinge sind in den letzten Jahren in Europa zu einem zentralen Thema geworden. Immer wieder wurde die Befürchtung geäußert, Europa könne daran zerbrechen. In meinem Roman geht es nicht um Flüchtlinge. In meinem Roman geht es um Europäer, die den Wegfall der Grenzen und die europäische Zusammengehörigkeit ernst nehmen. In meinem Roman geht es um junge Leute, um Litauer, die die Rückkehr ihres Landes nach Europa als ein Signal verstehen, das „europäische Glück“ zu suchen und zu finden, als Anlass, in dem europäischen Traum „aufzugehen“: in Paris, London, Venedig und anderswo. Der europäische Traum war nie so konkret wie der American Dream. Ihn zu verstehen und zu ergründen, steht noch aus. Nicht nur für die Figuren in meinem Buch, sondern für uns alle. Warum geht es in meinem Buch um Litauen und die Litauer? Weil der einstmals größte Staat Europas – das Großfürstentum Litauen – heute ein kleines Land am Rand der Europäischen Union ist, das die anderen Europäer aus Mangel an Zeit übersehen. Im „alten Europa“ nennt man die Litauer oft in einem Atemzug mit Bosniern, Serben, Bulgaren, Polen und Ungarn und impliziert, diese Migranten seien eigentlich gar keine richtigen Europäer, auch wenn sie aus Mitgliedsländern der Europäischen Union kommen. Das „neue“ – östliche – Europa ist für die Bewohner des „alten“ Europas nach wie vor etwas nicht ganz Dazugehöriges, Unverständliches, beinahe Fremdes. Das hat auch damit zu tun, dass man viel Zeit investieren und sich mit der Geschichte und Kultur der Länder auseinandersetzen muss, wenn man dieses Europa, das so neu eigentlich gar nicht ist, verstehen will. Litauen ist nur eines dieser Länder. Bevor ich „Kartografie der Freiheit“ geschrieben habe, bin ich zwölf Jahre lang nach Litauen gereist. Jahr für Jahr, mehrere Male. Ich wusste am Anfang nichts. Irgendwann war ich unheimlich fasziniert von diesem unglaublich interessanten Land, seinem Volk, seiner Geschichte und Kultur. Ich lernte Litauisch, um noch besser zu verstehen, wie die Menschen denken. Länger als alle anderen Völker in Europa waren die Litauer Heiden. Die Black Boxes für die sowjetischen Flugzeuge wurden nur in Litauen hergestellt. Ich frage mich immer noch, ob diese beiden Tatsachen etwas miteinander zu tun haben. Mehr als andere Länder leidet Litauen unter dem europäischen Traum: Mehr als 30 Prozent der Bevölkerung sind auf der Suche nach dem europäischen Glück ins alte Europa ausgewandert, haben ihre Heimat verlassen, aber nicht vergessen. Die Osteuropäer träumen noch von einem Europa, in dem sie satt und glücklich sind und von Unheil verschont bleiben.
Andrej Kurkow wohnt in Kiew und beherrscht insgesamt elf Sprachen, unter anderem Litauisch. Foto: Fotowerk Aichner
Die Bewohner des alten Europas haben sie etwas Banales, Altmodisches und Lästiges, das ihren Erwartungen und Hoffnungen nicht gerecht geworden ist. In meinem Roman gibt es sozusagen zwei Europa: das alte und das neue und damit natürlich auch zwei Gruppen von Europäern. Die einen glauben an Europa und knüpfen all ihre Hoffnungen daran, die anderen leben einfach in Europa, ohne es bewusst wahrzunehmen. Diese beiden Europa werden in meinem Roman von den Gedanken und Wanderungen einer mir sehr wichtigen Figur verbunden: von Kukutis. Er ist weniger realistisch als die anderen Protagonisten. Halb mythische Figur, halb Mensch, stolzer Besitzer von sechs Pässen, hat er den Ersten Weltkrieg miterlebt und den Zweiten als Augenzeuge erlebt.
Er folgt den jungen Litauern, die ihr Land verlassen haben, und weiß schon vor ihnen, wo und wann ihnen ein Unglück zustoßen wird. Kukutis ist unterwegs, um ihnen zu helfen, weiß aber, dass er nie rechtzeitig zur Stelle ist. Und das ist nicht nur dem Umstand geschuldet, dass er im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren hat und nun mit einem gesunden Bein und einer Holzprothese nicht besonders schnell vorwärts kommt. Er ist die gute Seele all jener Litauer, die ihre Heimat verlassen haben. Aus der eigenen Erfahrung kennt er noch die Zeit, als West- und Osteuropa ein Ganzes, einfach Europa waren. Das ist für ihn bis heute so. Wie auch für mich, den Autor.
Ich habe den Roman 2012 zu schreiben begonnen. 2013 wollte die ukrainische Regierung den europäischen Weg nicht fortsetzen und dem Volk den europäischen Traum nehmen. Die Menschen in der Ukraine haben daraufhin eine Revolution gestartet und eine neue Staatsmacht gewählt, die das Land wieder auf europäischen Kurs gebracht hat. Wegen der Ereignisse von 2013/2014 habe ich die Arbeit an dem Roman unterbrochen. Erst 2015 konnte ich weiterschreiben. Ich war und bin bis zum heutigen Tag gleichzeitig Europa-Optimist und Europa-Realist. Vielleicht hat deswegen mein Roman nichts von einem Märchen.
Andrej Kurkow
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„Kurkow muss nicht böse oder radikal sein, um mitten ins Herz zu treffen.“
Der Stern, Annett Klimpel
„Spannung, Einfühlung, Witz und Zynismus“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Hannes Hintermeier (aus den Pressestimmen zu „Der wahrhaftige Volkskontrolleur“)