Leseprobe aus „Eine Blume ohne Wurzeln“ von Nada Chekh
Coming of Age – zwischen Wiener Gemeindebau und rigiden Rollenbildern:
Nada Chekh wuchs zwischen den moralischen Vorstellungen und Werten ihrer Eltern, dem wachsamen Blick „ihrer Community“ und jenen, zu denen sie gehören will und eigentlich auch gehört, auf. Aber Zugehörigkeit ist so viel mehr als nur ein Wort. Und schwer zu finden, wenn man in mehreren Welten lebt. Dann sind da noch die eigenen Wünsche und die Bedürfnisse, das Leben selbst zu gestalten. Mit viel Einfühlungsvermögen und Humor reflektiert Nada Chekh über das Erwachsenwerden in verschiedenen Kulturen. In eindringlichen Anekdoten lässt sie uns ganz nah an sich heran, nimmt uns mit in das Daheim ihrer Kindheit und Jugend. Nimmt uns an der Hand und zeigt uns, wie Selbstermächtigung aussehen kann. Sie schreibt über das Aufstehen im Religionsunterricht, über die Komplikationen, die für eine junge Frau wie sie bei Dates oder Student*innen-Parties lauern. Sie erzählt von der selbstverständlichen Bewertung von Mädchen und Frauen, vom Risiko, eigene Entscheidungen zu treffen, und vom Risiko, es nicht zu tun. Es geht aber auch um das Zusammenfinden, immer und immer wieder, das aufeinander Zugehen, Stück für Stück. Denn manchmal ist es gerade der Abstand, der zu einer neuen Nähe – und zu sich selbst – führen kann.
Vorwort
Das vorliegende Buch ist die Nacherzählung einer Geschichte, die ich selbst nicht glauben würde, hätte ich sie nicht durchlebt. Womöglich ist „Geschichte“ auch nicht der passende Begriff für diese langwierige Reise zu meinem heutigen Leben, das sich so stark von jenem unterscheidet, das mir vorgelebt wurde.
Als Tochter arabisch-muslimischer Migranten, die in den 90ern und frühen 2000ern in einem Gemeindebau, wie die in Wien typischen sozialen Wohnbauten genannt werden, in Wien-Favoriten aufwuchs und dort zur Schule ging, habe ich nie Frauen aus der Community gesehen, die so waren, wie ich es heute bin. Weltoffenheit und Toleranz, zum Beispiel gegenüber der LGBTQ+-Community, weibliche Unabhängigkeit oder Freizügigkeit sind keine erstrebenswerten Dinge in der Community, in der ich, gemeinsam mit meinen Geschwistern, in erster Generation unserer Familie in Österreich aufwuchs. Dieses Aufwachsen, diese Reise erstreckt sich über viele Etappen und birgt auch einige dunkle Abschnitte, mit denen ich mich bis zu dem Moment, in dem ich sie für dieses Buch aufarbeitete, nicht beschäftigen wollte – oder konnte.
Dieses Buch handelt von der Erfahrung, in einer Welt zu leben, in der es ein „Wir“ und ein „die Anderen“ gibt, und reicht bis zu der Erkenntnis, dass selbst, wenn ich mich zu den „Anderen“ zugehörig fühlen würde, diese mich niemals als eine von „ihnen“ sehen würden. Es geht um einen Kampf um Privatsphäre, um das Recht, über meinen Körper und mein Leben verfügen zu können, den ich zuerst mit mir selbst führen musste, bevor ich mich außenstehenden Gegnerinnen und Gegnern stellen konnte. Eine große Stütze beim Schreiben über diese Vergangenheit waren meine persönlichen Tagebücher, die ich umso minutiöser führte, je einsamer ich mich auf diesem Weg fühlte. Bei all der Dramatik erlebte ich aber auch freudige Momente beim Schreiben dieses Buches, in denen sich unerwartete Verbindungen erschlossen oder auch schöne und skurrile Erinnerungen miteinflossen.
Für manch einen Leser oder eine Leserin mag es eine gewöhnliche, wenn nicht sogar banale Sache sein, sich gegen die eigene Familie aufzulehnen, und, wenn nötig, auch einen Bruch mit ihr in Kauf zu nehmen. Doch aus einer Community kommend, in der Familie über allem steht, waren meine Entscheidungen, die ich damals treffen musste, kein leichtes Unterfangen. Ich weiß, dass es gerade sehr viele junge Frauen gibt, die auf eine Geschichte wie meine warten – egal, ob sie ebenso aus muslimischen Familien stammen oder auch anders kulturell geprägt sind, oder ob sie einfach wissen, wie sich religiös-konservative und patriarchale Strukturen am eigenen Leib nun einmal anfühlen.
Nicht nur im Zuge meiner Tätigkeit als Journalistin bei dem transkulturellen Magazin biber, sondern auch als Speakerin an Wiener Schulen begegne ich immer wieder Mädchen und jungen Frauen, die einen ähnlichen Hintergrund haben wie ich, von denen manche sagen: „Du hattest einfach Glück mit deiner Familie, dass du dein Leben selbst in die Hand nehmen konntest.“ In Wahrheit ist dies jedoch das Ergebnis eines phasenweise endlos scheinenden, oft auch schmerzhaften Prozesses – wie man hier nachlesen wird –, den ich ohne jene wunderbaren und ermutigenden Menschen, die ich kennenlernen durfte, nicht hätte durchstehen können.
Auch wenn ich selbst ohne Vorbilder aufgewachsen bin, mit denen ich mich identifizieren hätte können, bin ich mir ihrer Wichtigkeit bewusst. Es kommt vor, dass ich gefragt werde: „Was bedeutet es, den Mut aufzubringen, sich von konservativen und religiösen Vorstellungen zu lösen?“ Die ehrliche Antwort sieht so aus: Ich bin keine „mutige“ Frau. Im Gegenteil, in meinem bisherigen Leben war ich in vielerlei Hinsicht von tiefer Angst getrieben. Die Angst davor, ein Leben führen zu müssen, das nicht meinen eigenen Überzeugungen entspricht, wurde jedoch an einem bestimmten Punkt noch größer als die Angst, von meiner Familie verstoßen zu werden, weil sich unsere Weltansichten nicht vereinbaren ließen. Rückblickend kann ich sagen, dass ich viele Dinge auch aus Notwendigkeit tun musste, um meine Integrität und Eigenständigkeit überhaupt installieren zu können. Es ist denkbar schwer, seine persönlichen Grenzen festzusetzen und Privatsphäre einzufordern, wenn man nie vermittelt bekommen hat, dass man – gerade als Frau – eine schützenswerte Privatsphäre hat.
Bevor wir uns nun gemeinsam in meine Geschichte stürzen, möchte ich noch einige wichtige Anmerkungen vorweg anführen: Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Namen in diesem Buch zum Schutz der Identität der realen Personen geändert. Zudem möchte ich noch erwähnen, dass ich genderinklusive Sprache in diesem Buch aus Gründen der Einfachheit und zum Erhalt des Leseflusses nach eigenem Ermessen verwendet habe. Mit dem generischen Maskulinum sind selbstverständlich alle Menschen, unabhängig von ihrer persönlichen Identifikation oder Nicht-Identifikation mit dem männlichen Geschlecht mitgemeint, sofern sie sich mitgemeint fühlen.
Dieses Buch soll keine Anleitung zum Ausbruch aus konservativen Familien darstellen, sondern gibt meine individuelle Erfahrung in dieser Sache wieder. Sollte Dich das Lesen von Szenen über Krieg, Gewalt, Depression, Selbstverletzung und ähnlich „triggernde“ Themen verstören, so möchte ich hier davor warnen.
Nachdem wir das alles nun geklärt haben und Du immer noch weiterlesen möchtest: Wollen wir auf eine Reise gehen?
Aus dem Buch „Eine Blume ohne Wurzeln“ von Nada Chekh, ab 31. Oktober 2023 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich.
Nada Chekh ist kritisch, laut und ehrlich. Interkulturelle Konflikte, die tief in den persönlichen Lebensalltag und die engsten Beziehungen eindringen, hat sie hautnah erlebt. Ihre Erfahrungen prägen, was sie heute tut: Als Journalistin, die ihre Anfänge unter dem Namen Nada El-Azar bei „biber“ machte, schreibt sie darüber, was die multiethnische Community in Österreich bewegt, rüttelt an den Missständen in unserer Gesellschaft, fordert Debatten heraus und spricht über Langzeittabus, aber auch Potenziale, die ein Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen bereit halten kann.