„… manchmal haben Frauen Angst vor beidem: vor der Gewalt, in der sie leben, und vor dem Urteil der anderen.” – Natalja Tschajkowska im Interview

Autorin Natalja Tschajkowska hat mit uns im Interview über ihren neuen Roman „All die Frauen, die das hier überleben” und über Gewalt in Beziehungen gesprochen.

Dein Roman beginnt am Grab von Martas verstorbenen Ehemann Maksym. Marta nimmt Beileidsbekundungen entgegen, was sie selbst aber im Innersten spürt, ist keine Trauer, sondern Erleichterung. Was bedeutet es für einen Menschen, die eigene persönliche Freiheit erst durch den Tod einer anderen Person zurückzuerlangen? Was leitest du daraus über zwischenmenschliche Abhängigkeit ab?

Bevor ich mit dem Schreiben dieses Romans begann, hatte ich mir genau so einen Anfang ausgedacht. Mit der Szene auf dem Friedhof wollte ich zeigen, wie müde und erschöpft ein Mensch durch das Leben mit jemandem, der einen missbraucht, sein kann. So erschöpft, dass im Herzen kein Mitgefühl und kein Schmerz mehr vorhanden sind. Da sind nur noch Leere und eine gewisse Erleichterung. Das zeigt, dass Frauen wie Marta im Allgemeinen vieles in der Beziehung nicht erfahren – keine Liebe, keine Fürsorge, keine Freude. Sie sind abhängig von der Stimmung ihres Mannes. Sie haben sich selbst verloren. Manchmal geschieht das ganz leise, Tag für Tag, und dann ist es zu spät. Und diese Szene ist wie eine Befreiung, aber ohne zu solchen Taten zu verleiten. Dies ist nur ein Buch, kein Handbuch, wie man aus einer missbräuchlichen Beziehung herauskommt.

Der Roman liest sich streckenweise wie ein Thriller – da gibt es diesen mysteriösen Tod und diese untergründige Spannung, die die Leser*innen durch das ganze Buch trägt. Wie lebensnah, wie realistisch ist dein Buch?

Grundsätzlich ist das Buch nur eine Fiktion, aber es wurde aufgrund von Beobachtungen von Menschen, die ich kenne, geschrieben. Leider haben viele dieser Frauen unter häuslicher Gewalt gelitten. Zum Beispiel ist die Szene, in der der Ohrring in Form eines Rings durch den Aufprall zusammengedrückt wird, wirklich passiert. Ich habe also viele Momente aus dem Leben von Frauen, die ich kenne, übernommen, natürlich mit ihrem Einverständnis.

 

© Volodymyr Tschajkowsky
Natalja Tschajkowska ist eine ukrainische Autorin. Sie hat mehrere Kurzgeschichten und Romane verfasst. Neben dem Schreiben arbeitet sie in der Kommunikationsbranche. Mit „All die Frauen, die das hier überleben“ erscheint das erste Mal eines ihrer Werke auf Deutsch.

Anhand der Geschichte von Marta und ihrem verstorbenen Mann Maksym sezierst du die vermeintlich unergründlichen Prozesse, die eine liebevolle Beziehung zur wahrhaften Hölle werden lassen. Eine Thematik, die in der Literatur kaum bis gar nicht behandelt wird. Was denkst du, woran liegt das?

Nach der Veröffentlichung des Romans bin ich erneut zu der Überzeugung gelangt, dass solche Literatur wirklich notwendig ist. Der Grund dafür ist einfach: Nicht jeder versteht die Tiefe des Schmerzes, der manchmal hoffnungslos ist, mit dem eine Frau konfrontiert wird. Man hört oft den Satz: „Warum ist sie nicht gegangen?”, aber manchmal haben Frauen Angst vor beidem: vor der Gewalt, in der sie leben, und vor dem Urteil der anderen. Und aus diesem Grund schweigen sie. Und aus demselben Grund ist dieses Thema ein Tabu. In der Belletristik habe ich Bücher über häusliche Gewalt gelesen, manche sorgfältig geschrieben, manche ergreifend. Ich bin mir nicht sicher, aber mir scheint, dass Autor*innen, die ein solches Thema anschneiden, auch mit Kritik rechnen müssen. Vielleicht ist das der Grund, warum dieses Thema oft umgangen wird.

Häusliche Gewalt, psychische und physische Gewalt gegen Frauen, toxische Beziehungen, Machtmissbrauch, Misogynie … das alles sind Themen, die gerade mehr und mehr in der Öffentlichkeit thematisiert werden. Häufig verfällt die Debatte aber in eine Richtung, in der die Schuldzuweisungen verdreht werden. Wie siehst du diese Form der Auseinandersetzung mit dem Thema? Wie war dein Ansatz in dieser Hinsicht beim Schreiben deines Romans?

Ich wollte das Bild einer Frau mit Schwächen schaffen, die Angst hat, besorgt und nicht immer in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen. Eine gewöhnliche Frau mit gewöhnlichen Gefühlen, die nicht weiß, wie sie sich aus der Situation befreien kann. In der Literatur sehen wir oft starke Frauen, aber nicht jeder ist im Leben stark. Marta hat Angst, bereut viele ihrer Handlungen, redet sich manchmal ein, dass alles gut werden würde und dass man einem Menschen eine zweite Chance geben sollte. Der Roman will zeigen, wie Marta aus ihrer Schwäche stärker wird, wie sie lernt, Entscheidungen zu treffen, zu kämpfen, wie sie ihre Angst Schritt für Schritt überwindet.
Sie kämpft allein. Denn oft haben solche Frauen Angst, dass sie nicht gehört werden und die Pfeile der Anschuldigungen nicht in Richtung ihres Mannes fliegen, sondern in ihre eigene. Sie ist auch vorsichtig, weil sie die ihr nahestehenden Menschen nicht gefährden will.

Marta versucht nach Kräften, sichtbare Male, die von der Gewalt Maksyms zeugen, vor ihren Freund*innen, ihrer Familie zu verbergen. Was denkst du, warum Marta das macht, warum sie sich niemandem anvertraut?

Es sieht nicht so aus, als könne sie niemandem vertrauen, es ist eher so, dass sie sich für die Situation schämt, in der sie sich befindet. Ich treffe oft Frauen, denen von Kindheit an beigebracht wurde, über Probleme in der Familie zu schweigen, zu ertragen, nichts und niemandem etwas zu erzählen, weil die Gesellschaft die Tatsachen verurteilen und verdrehen kann. Auch auf gesetzlicher Ebene ist es nicht immer möglich, Gewalt zu ahnden. Einem Mann mag es verboten sein, sich einer Frau zu nähern, aber würde das einen Mann wie Maksym aufhalten? Nicht unbedingt. Marta schweigt, weil sie Angst hat. Und wie ich schon sagte, ist sie besorgt über das Schicksal der Menschen, die ihr nahe stehen.

„Gaslighting“ oder „Love Bombing“ sind Begriffe, die man immer öfter hört. Immer mehr Menschen, besonders auch jüngere, tauschen sich auf Social-Media-Plattformen über Phänomene wie diese und auch über ihre eigenen Erfahrungen aus. Auch du bist auf deinem Instagram-Account sehr aktiv. Was ist deine Einschätzung: Werden wir sensibler, feinfühliger bezüglich toxischen Verhaltens in der Partnerschaft und anderen Beziehungs-Themen, die lange Zeit tabuisiert wurden und als „privat“ galten?

Es ist traurig, das zugeben zu müssen, aber ich habe den Eindruck, dass wir an diesem Thema noch arbeiten müssen. Ich bin davon überzeugt, dass in allen Gewaltsituationen der Vergewaltiger die Schuld trägt und das Opfer der Gewalt leidtragend ist. Und der Vergewaltiger kann keine Ausreden finden. Aber es kommt oft vor, dass die Opfer beschuldigt werden, es provoziert zu haben, man hört den formelhaften Spruch „selbst schuld”. Das ist erschreckend. Deshalb dürfen diese Themen kein Tabu sein, die Menschen müssen darüber sprechen. Auf Instagram sieht man unterschiedliche Positionen – von Verständnis für das Thema bis hin zur vollständigen Verurteilung von Marta. Daher fällt es mir schwer zu sagen, dass wir sensibler geworden sind und bereit sind, Unterstützung zu leisten.
Nach der Veröffentlichung des Buches erhielt ich viele Nachrichten von Leser*innen, die entweder selbst etwas Ähnliches erlebt hatten oder jemand aus ihrer Familie. Es waren zu viele Nachrichten und da wurde mir wieder einmal klar, dass wir über dieses Thema sprechen müssen. Die Menschen wollen gehört werden. Aber manchmal haben sie Angst, ihre Meinung und ihren Standpunkt zu äußern. Ich sage immer, dass manchmal die beste Unterstützung darin besteht, nicht zu urteilen. Wenn die Menschen aufhören, die Opfer häuslicher Gewalt zu verurteilen, wenn sie aufhören, Mutmaßungen anzustellen und die Situation in Frage zu stellen – „wer auch immer sie festgehalten hat, ich wäre entschlossener gewesen”, „ich hätte das nicht zugelassen”, „sie ist schwach, ich bin stark” –, werden die Opfer selbstbewusster werden. Sie werden keine Angst haben, aus toxischen Beziehungen auszusteigen und allgemeine Verurteilung zu erfahren. Es hängt viel von der Gesellschaft ab. Das ist zumindest meine Überzeugung.

Jede*r von uns hat eine individuelle Lebensrealität, unterschiedliche Einflusssphären, Talente, Fähigkeiten, Möglichkeiten. Jede*r von uns hat eine Stimme. Und jede einzelne Stimme ist entscheidend, um der Gewalt ein Ende zu bereiten. Es gibt zahlreiche Initiativen und Plattformen, die über häusliche Gewalt informieren und Hilfe bieten. Hier ein paar davon:

Das Start-Up Frontline entwickelt Trainings und digitale Tools für Betroffene und jene, die mit Opfern häuslicher Gewalt in Kontakt stehen.

In Deutschland: Das bundesweite Hilfetelefon richtet sich an Frauen*, die Gewalt erfahren haben, aber auch an Angehörige sowie Freund*innen werden anonym beraten. Es ist jederzeit und kostenfrei unter +49(0)8000 116 016 erreichbar.

In Österreich: für (akute) Hilfe: frauenhelpline.at

Frauenhäuser bieten Frauen*, die häusliche Gewalt erleben, und ihren Kindern eine sichere Wohnmöglichkeit. Frauenhäuser sind für alle Gewaltopfer offen, unabhängig von Nationalität, Einkommen oder Religion.

SOS@Home bietet Aufklärungsarbeit sowie ein Netzwerk aus Hilfeleistenden und Initiativen.