„Gerade für queere Lebensrealitäten braucht es auch Fantasie, sich ein Leben über die bestehenden Normen hinaus vorzustellen“ – Luca Mael Milsch im Interview

Wie werde ich zum Menschen, der ich sein möchte? Wie kann ich überhaupt herausfinden, wie diese Person sein soll, welche Dinge ihr wichtig sind? Wie kann ich mich befreien, von Erwartungen, Einschränkungen, Denkmustern, die mich über mein ganzes bisheriges Leben hinweg so stark geprägt haben?
Im Gespräch mit Autor*in Luca Mael Milsch über Lucas Debütroman „Sieben Sekunden Luft“ wird klar, dass es nicht einfach ist, sich diesen zentralen Lebensfragen zu stellen. Aber auch, dass das Ergründen dieser Fragen ein Überlebensmittel sein kann. Wie viel Mut, Klarheit und auch Vorstellungskraft es benötigt, an so vielen vermeintlichen Gewissheiten zu rütteln, das geht aus diesem Interview hervor. Nicht zuletzt aber auch, welchen Schmerz rigide gesellschaftliche Vorstellungen verursachen – bei jenen, die sich verbiegen, um diesen Normen entsprechen zu können und bei jenen, die sich ihrer entledigen und vor den Puzzleteilen ihrer Identitätskonstruktion stehen. Wir haben uns mit Luca Mael Milsch ausführlich unterhalten – über den Roman, Glaubenssätze, Verantwortung und Sichtbarkeit.

Hallo Luca, wie geht es dir?

Ich bin aufgeregt und neugierig! Es ist kurz vor Erscheinen des Romans. Ich frage mich, wie die Menschen ihn lesen werden. Bisher habe ich schon sehr berührende Nachrichten bekommen und ich bin gespannt auf die persönlichen Begegnungen bei den Veranstaltungen.

Dein Roman thematisiert – unter anderem – die Komplexität des Menschseins und die Unmöglichkeit eines freien Selbst. Würdest du sagen, dass wir alle in irgendeiner Form nicht ehrlich „wir selbst“ sein können? Und woran liegt das?

Mit dem Roman wollte ich über die Frage nachdenken, inwieweit wir uns von Erfahrungen und Überzeugungen lösen können. Wie ist es möglich, sich wieder etwas anzunähern, das man im Laufe der Entwicklung fast verloren hätte? Und wie können wir eine Sprache für die eigene Verortung in dieser Welt finden? Anpassung funktioniert für die Hauptfigur Selah nicht, aber „sie selbst“ zu sein hat die Figur nicht gelernt. In „Sieben Sekunden Luft“ habe ich mich der Darstellung dieses innerlichen Spannungszustands gewidmet.

© Ana Maria Sales Prado

Luca Mael Milsch ist freie*r Übersetzer*in, Lektor*in, Kurator*in, Moderator*in und Autor*in. Nach dem Studium der Literaturwissenschaften war Milsch in der Programmleitung des Literarischen Salons Hannover tätig. Neben zahlreichen Übersetzungen, zuletzt „Happy End“ (S. Fischer Verlag) von Andrew Sean Greer, Publikationen in Anthologien, Literaturzeitschriften und Magazinen, schrieb Milsch an dem Romandebüt „Sieben Sekunden Luft“. Für einen Auszug davon war Milsch Stipendiat*in der Prosawerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin. Ein vielstimmiger, eindringlicher Text, der nach Klängen in einem scheinbar unabänderlichen Raum der Stille sucht.

Der Roman erzählt auch von einer Mutter-Kind-Beziehung. Du zeigst, wie unausgesprochene Selbstverständlichkeiten und Erwartungen schon früh zu wirken beginnen. Warum hast du darüber geschrieben?

Mich hat der Gedanke beschäftigt, inwieweit Erzählungen die Entwicklung von Kindern begleiten. Wie Persönlichkeitsaspekte auch auf dem basieren, was Familien über Kinder erzählen, und wie sie in eine patriarchale und kapitalistische Gesellschaftsordnung einkategorisiert werden. Was der Mutter auffällt, was sie lobt oder rügt, hängt ja von ihrem Wertesystem und internalisierten Ordnungsmustern ab. Aber auch von Unsicherheiten, Ängsten, Sorgen und Wünschen, die erst einmal nichts mit Selahs Persönlichkeit zu tun haben müssen. Das Kind soll es leicht haben, also entspricht es in dieser Gesellschaft am besten der Norm. Jedes Abweichen muss sanktioniert werden, sei es durch Kommentare oder – und ich denke, das ist für die Beziehung der beiden zentral – durch Schweigen.

Du lässt Selah im Roman aus verschiedenen Perspektiven erzählen (ich, du, sie). Gewinnt Selah im Laufe der Handlung zusehends Distanz zu sich selbst? Sind die Perspektiven auch Ausdruck eines Abstreifens dieser gewaltvollen Zwänge?

Selah entfernt sich immer weiter von sich selbst, im Sinne einer Entfremdung, die sich auch im jeweiligen Ton widerspiegelt. „Ich“ zu sagen ist im Kontext dieses Romans die ehrlichste Erzählform. Und später verfällt Selah in eine Art schweigenden Dialog mit der sterbenden Mutter. Die beiden haben keine gemeinsame Sprache für ihre Verletzungen. Aber Selah kämpft dafür, sich irgendwann als wirkmächtiges Subjekt in dieser Gesellschaft zu begreifen. Das ist immer auch mit Loslassen verknüpft. Im Roman heißt es an einer Stelle, es sei wie einen Rucksack abzusetzen und ein anderer setzt sich auf. Ich mag dieses Bild, weil in dieser Gesellschaft freier von Zwängen und Normen zu leben immer auch mit Restriktionen verbunden ist.

In „Sieben Sekunden Luft“ schreibt Luca Mael Milsch von Fragilität, die zur Stärke wird, von einer Welt voller Ambivalenzen, von der Sehnsucht nach einer selbstbestimmten Verortung in einer starren Struktur. Und darüber, was von uns übrigbleibt, wenn alles andere verschwindet. Der Roman ist seit 14.03.2024 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich.

 

Muss man sich deiner Meinung nach ein Stück weit von sich entfernen, um sich kennenzulernen, oder herauszufinden, wer man überhaupt sein möchte?

Ich glaube, dass ein Heraustreten aus den bestehenden Strukturen hilfreich sein kann, allerdings ist das auch ein Aufbruch in Unbekanntes, was oft mit Ängsten verbunden ist. Was erwartet mich, wenn ich mich aus Bestehendem löse? Vielleicht komme ich in die Situation, kreativ werden zu müssen, um nach den eigenen Regeln zu leben. Das kostet Kraft, und dafür braucht es auch Handwerkszeug.

Selah reagiert auf die wachsende Unvereinbarkeit zwischen dem Innen und Außen schlussendlich mit einem Untertauchen und Ausreißen aus der Umgebung: „Jetzt sitzt Selah, wie jeden Morgen, auf der Veranda, schaut auf das Meer und trinkt in die Stille hinein. Fertig.“ Ist Einsamkeit ein Ausweg, um aus gesellschaftlichen Zwängen auszubrechen?

Wir sehen, dass für Selah Ruhe eher zu Anspannung anstatt zu Entspannung führt. Da wabert etwas unter der Oberfläche, zu dem Selah keinen Zugang hat, woraus Wut, Frust, Verzweiflung entstehen. Mich interessierte beim Schreiben die Frage: Warum flieht diese Figur eigentlich aus einem von außen betrachtet geordneten und sicheren Leben? Um dem nachzugehen, lasse ich Selah Distanz zum Alltag aufbauen.
In unserer Gesellschaft braucht es dafür auf struktureller Ebene die finanziellen Mittel, eine gewisse Mobilität, Zugang zu medizinischer Versorgung; und auf persönlicher Ebene die Bereitschaft, überhaupt anzuerkennen, dass man ein Problem hat und sich daraufhin Hilfe zu suchen.
Zur Frage, ob Einsamkeit für die Figur ein Weg sein kann: Das müssen die Leser*innen selbst herausfinden. Mir kommt dabei Selahs Name in den Sinn. Das Wort „Sela“ kommt aus dem Hebräischen und kann unterschiedlich gedeutet werden: als Zeichen eines Wechsels, als Pausierung, aber auch als Erhebung der Stimme.

Die Vorstellung davon, wie unsere Gesellschaft funktionieren sollte und wie Menschen in dieser Gesellschaft zu sein haben, basiert auf – mehr oder weniger stabilen – Konstrukten, Rollenbildern, ästhetischen Vorstellungen, Verhaltensnormen … Das alles wird uns in die sprichwörtliche Wiege gelegt, bevor wir überhaupt die Möglichkeit bekommen, uns dagegen zu wehren. Was bräuchte es, um unter weniger einengenden Bedingungen aufwachsen und leben zu können?

Im Roman habe ich mit religiösen Glaubenssätzen gearbeitet, um dies zu unterstreichen: Der Gottesglaube, der sich in Sprache und Denken und auch im Namen Selahs eingeschrieben hat, scheint der Figur gar nicht so bewusst. Ich glaube, vehement verteidigte „das haben wir schon immer so gemacht“ oder „so ist es eben“ sind Entscheidungen, aber als solche unkenntlich gemacht. Um dagegen angehen zu können, muss auf unterschiedlichen Ebenen etwas passieren. Es braucht Identifikationsmöglichkeiten, sicherere Räume, solidarische Kämpfe und eine Bereitschaft, sich von den bestehenden Normen zu lösen.

Selah befindet sich ja in jedem Kapitel auf der Schwelle zu etwas Neuem. Da sind auch Vorbilder und Hilfen notwendig, die eben nicht unbedingt durch das gewohnte Umfeld geleistet werden können. Und gerade für queere Lebensrealitäten braucht es auch Fantasie, sich ein Leben über die bestehenden Normen hinaus vorzustellen. Fantasie, die Selah ja durchaus hat.

Du bist selbst Lektor*in, Kurator*in, Moderator*in und natürlich Autor*in. Wie siehst du in deiner Arbeit die Möglichkeit, vorherrschende zwanghafte Strukturen in unserer Gesellschaft zu sprengen?

Ich halte es für zentral, sich nicht nur als vereinzeltes Individuum mit persönlichen Problemen zu sehen, sondern sich im Kontext zu betrachten, auch die eigene Verantwortung in der Unterdrückung oder Ausgrenzung anderer zu erkennen. Und diese Verantwortung auf die Straßen, in den eigenen Bezugskreis zu tragen, anstatt in altbekannte und vermeintliche Sicherheit zurückzufallen. Denn es gibt etliche Entscheidungen, die wir jeden Tag treffen, die uns vordergründig dafür belohnen, uns anzupassen und still zu sein. Aber um welchen Preis?

Ich denke zum Beispiel viel darüber nach: Wer ist alles anwesend im Kulturbetrieb und wer nicht? Auch darum geht es ja in meinem Roman. Warum sind manche Stimmen sehr laut und präsent, andere werden nicht einmal bedacht? Dorthin zu schauen, unbequeme Gespräche zu führen, und gleichzeitig immer lernbereit zu sein, halte ich für immens wichtig. Ich würde mir auch wünschen, dass in der Kultur mehr Energie in unsichtbare Arbeit fließen würde: Eine solidarische Praxis sollte nichts sein, womit sich profiliert wird und wofür es Applaus oder Profit gibt.