„Vielleicht ist das ganze Leben ja auch dazu da, die Sprachlosigkeit zwischen denen, die man liebt, und einem selbst zu überbrücken“ – Andreas Neeser im Interview

In seinem neuen Roman „Wie wir gehen“ erzählt Andreas Neeser davon, was Söhne und Töchter mit ihren Vätern verbindet – und was sie voneinander trennt. Dabei spürt er dem widersprüchlichen Streben nach echter Zugehörigkeit nach. Wie kann man sich näherkommen, ohne einander zu erdrücken, wie unabhängig sein, ohne sich völlig zu distanzieren?

Über familiäre Mechanismen, Generationenkonflikte und die Vielgestalt der Sprachlosigkeit haben wir ihn in unserem Interview befragt.

Es beginnt mit einem Diktiergerät: Mona möchte die Leere überwinden, die zwischen ihr und ihrem 83-jährigen, kranken Vater Johannes zeit ihres Lebens bestand. Kann Sprache die Leere zwischen zwei Menschen überwinden?

Andreas Neeser, geboren 1964, lebt in Suhr bei Aarau. Studium der Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 freier Schriftsteller. Zahlreiche Buchveröffentlichungen im Bereich Lyrik und Prosa. Für seine vielfältigen literarischen Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2012 mit Atelierstipendien im Künstlerhaus Edenkoben und im Schriftstellerhaus Stuttgart sowie 2014 mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia. www.andreasneeser.ch Foto: Ayse Yavas

Ich glaube, dass die Sprache dazu beitragen kann, doch zuerst braucht es den Impetus des Menschen. Der Mensch muss auf den anderen zugehen. Also muss sich zuerst einmal das Herz öffnen, dann kann Sprache solche Distanzen überwinden, durchaus. Aber Sprache allein schafft das im richtigen Leben nicht. In der Literatur schon.

Mit den heutigen technischen Hilfsmitteln ist Kommunikation oberflächlich gesehen allgegenwärtig und schneller denn je. Ist die Sprachlosigkeit dadurch geringer geworden?

Die modernen Medien haben die Sprachlosigkeit verändert. Es ist eine andere Sprachlosigkeit als früher, weil es heute viel mehr Möglichkeiten gibt zu reden. Wenn man es dann nicht tut, ist die Sprachlosigkeit eine andere.

In „Wie wir gehen“ hat die Sprachlosigkeit ja sehr viele Gesichter…

Ja, ich glaube, es gibt eine Form der Sprachlosigkeit, die in gewissem Sinne überdeckt ist von Sprache. Man kann natürlich ganz viel reden – wenn man dann nicht über das Eigentliche spricht, entsteht ja in einem gewissen Sinn Sprachlosigkeit, weil thematisch ausgespart wird, was eigentlich gesagt sein sollte. Und auch das ist eine Form von Sprachlosigkeit, die man allerdings nicht hört.

Man kann sich ja um Kopf und Kragen reden, ohne wirklich etwas zu sagen. Und das passiert auch gewissen Figuren, die in diesem Buch vorkommen. Da wird zwar auch ganz viel geredet, ein Leben lang. Aber da ist dann doch diese Aussparung, diese Lücke, und eben dann letzten Endes die Sprachlosigkeit. Und vielleicht ist das ganze Leben ja auch dazu da, die Sprachlosigkeit zwischen denen, die man liebt und einem selbst zu überbrücken.

Ist die Suche nach Sprache – nach Benennung und Beziehung – eine Allegorie für unser Leben?

Ja! Ich glaube, im Leben geht es immer auch ums Benennen. Und wenn man so weit kommt, dass man etwas benennen kann, dann hat das eine gewisse Relevanz im eigenen Leben, dann gewinnt es an Bedeutung für das eigene Leben – und das seines Gegenübers.

Die Sprachlosigkeit (im wörtlichen Sinn) zwischen Söhnen und Töchtern und ihren Vätern zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Johannes wird in einem beklemmenden Haushalt des Schweigens groß. Seine Tochter Mona und er umarmen sich an seinem 83. Geburtstag zum ersten Mal und finden keinen Draht zueinander. Noelle, Monas Tochter und Johannes Enkelin‘, bricht die Beziehung zu ihrem Vater ab. Ist die Suche nach einer gemeinsamen Sprache, das Überwinden des Schweigens eine Aufgabe, der sich jede Generation neu stellen muss?

Ich glaube, es ist eine Art zur Sprache kommen – das Erwachsenwerden zum Beispiel, überhaupt auch das Zurechtfinden im eigenen Leben ist ein Prozess, den man so bezeichnen könnte: „zur Sprache kommen, zur Sprache finden“. Das alles hat auch ganz viel mit Emanzipation zu tun. Die Erlebnisse bei der Arbeit an meinem Buch haben mir nahegelegt, dass es früher sehr viel schwieriger war. Und auch nicht.

Schwieriger insofern, als früher ganz vieles einfach sehr klar war. Der eigene Weg für einen jungen Menschen war erstmal nicht vorgesehen, es war vielmehr einer vorgegeben – von den Eltern, von der Familie, und insofern war es eben auch kein eigener. Und über die Generationen hat es dann zusehends auch immer mehr Möglichkeiten gegeben für junge Menschen, sich eben doch irgendwo in einer Nische auf den eigenen Weg zu machen.

Für Johannes ist dies in seiner Zeit undenkbar, er wird im Buch als sogenannter Verdingbub eingesetzt. Was sind Verdingkinder?

Unter Verdingkindern versteht man Kinder, die weggegeben wurden von ihren Eltern, die zum Teil auch weggeholt wurden, und zwar einfach weil ihre Familie nicht genug Geld hatte, diese Kinder zu ernähren. Das war der häufigste Grund. Verdingt wurden sie dann insofern, als sie an einem fremden Ort arbeiten mussten. Das waren ganz billige Arbeitskräfte. Kinder, die man missbraucht hat, oft auch physisch. Dies ist ein ganz, ganz trauriges Kapitel.

Speziell in der Schweiz ist man seit einigen Jahren dabei, das aufzuarbeiten. Da gibt es wirklich Unglaubliches, das lange Zeit verdeckt, von der Gesellschaft auch nicht gehört wurde, denn diese Verdingkinder hatten keine Stimme, auch später als Erwachsene nicht. Sie wurden nicht gehört, und das hat sich glücklicherweise jetzt geändert. Das hilft zwar nicht, irgendetwas wiedergutzumachen, das ihnen widerfahren ist. Aber allein eine Stimme zu haben, ist für diese Menschen, die heute alle sehr betagt sind, sehr wichtig.

Steht der Verdingbub – soziologisch gesprochen – auch für eine bestimmte Haltung, für die Perspektive einer Generation ihren Kindern gegenüber?

Ich habe die ganze Geschichte bewusst nicht geografisch verortet, zeitlich weiß man natürlich, wir reden vom 20. Jahrhundert und die Geschichte erstreckt sich ins 21. Jahrhundert. Aber geografisch ist das nicht so genau lokalisiert, um eben zu zeigen: Es sind Mechanismen, die hier am Werk sind, familiäre Mechanismen, die im Grunde genommen nichts mit Geografie zu tun haben. Dieser Prozess „wie wir gehen“ betrifft jeden. Den Weg ins eigene Leben finden, durch das eigene Leben hindurch und letztlich – das betrifft besonders eine der Figuren – wie man dann auch aus dem Leben wieder hinausgeht.

Es geht um Emanzipation, auch und gerade um Emanzipation von den Vätern. Johannes hatte nie eine Chance. Er wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, zu überlegen, ob er denn nicht eine Chance hätte. Seine Tochter Mona hat dann eben doch ihren Weg gefunden. Das war nicht einfach, das geschah auch um den Preis der Beziehung zu ihrem Vater. Der konnte einfach nicht mithalten mit ihren Ambitionen, ihrem Studium. Er konnte sie da nicht mehr begleiten, also hat sie den Weg alleine in Angriff genommen.

Noelle, die Kleinste, stellt sich dann einfach da hin und sagt „mein Vater ist ein Arschloch, der ist tot für mich“. Ohne mit der Wimper zu zucken. Mit so einer Selbstverständlichkeit.

Und wenn man sich vor Augen führt, dass da ja nicht einmal 100 Jahre dazwischenliegen, hat mich das sehr fasziniert, diese Emanzipationsbewegung der Kinder gegenüber ihren Vätern.

Ist das auch eine Emanzipationsbewegung, die mit dem Finden der richtigen Worte einhergeht?

Ja, und die Figuren, die sich immer auch verhaken ineinander, gerade auch über die Sprache, die sich immer wieder zuschütten mit Mitleid, versinken im Selbstmitleid – das ist ja eine ganz traurige Spirale.

Mir war es aber gleichzeitig ganz wichtig, diesen Johannes trotz allem letztendlich auch als ganz witzigen Typen zu zeichnen. Der entpuppt sich ja am Ende als geradezu humorvolle, originelle Gestalt. Um zu zeigen: Das Leben hat ihn nicht von Anfang an vollständig zerstört, er hat sich da irgendwie auch rausgezogen aus diesem Verdingkindersumpf. Das habe ich ihm so gegönnt!

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Eine Suche nach gemeinsamer Sprache, nach einem Mittel, die Leere und das Missverstandensein zu überwinden, eine feinsinnige und poetische Erzählung von Zugehörigkeit, Unabhängigkeit und echter Verbundenheit  – das erwartet Sie in Andreas Neesers berührendem Familienroman. Lesen Sie jetzt rein!

Hier geht’s zum Buch.