Eine ergreifende Coming-of-Age-Story zwischen Schläfenlocken und Jeans (Leseprobe)
Ezra Kramer besucht eine konservative jüdische High School in Boston, sein Traum aber ist die Freiheit: eine Karriere als Fotograf in New York. Die Sehnsucht, aus der ultraorthodoxen Gemeinde auszubrechen, teilt er mit seinem besten Freund Carmi. Gemeinsam und doch jeder auf sich gestellt, wagen die beiden den entscheidenden Schritt in eine aufregend freie Welt.
„Eindringlich, intensiv und glaubwürdig zeichnet der Autor Ezras Aufbruch in die Freiheit … Ein großartiges Plädoyer für Selbstbestimmung und den Glauben an die eigene, künstlerische Kraft.“
Buchmedia
„von einer wohltuenden Frische“
La Repubblica, Susanna Nirenstein
Ezra Kramer besucht eine konservative jüdische High School in Boston, aber eigentlich träumt er von einer Karriere als Fotograf in New York. Dafür müsste er aus seiner ultraorthodoxen Gemeinde ausbrechen, die einen ganz anderen Weg für ihn vorsieht …
Leseprobe aus „Weitwinkel“
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Es krachte
und ich saß allein im Auto, blieb aber unverletzt, weil es in dieser Welt nicht die Unfälle sind, die Wunden zufügen, sondern die Menschen mit ihren Worten und dummen Ideen. Der Motor war durchgebrannt, aus der Stereoanlage kam weiterhin Musik, und das war ebenso unpassend wie zuvor meine Aktion, Vater das Auto zu stehlen und mich in die Nacht davonzumachen. Ich stieg nicht aus, holte keine Hilfe, klopfte nicht an die Tür des nächsten Hauses, sondern blieb einfach sitzen, was völlig unsinnig war, und hoffte wohl zu ersticken. Eine Frau aus der Nachbarschaft, die vom Geruch nach Verbranntem wach geworden war, rief die Rettung. Die Polizei kam, ein Abschleppwagen brachte das Auto weg.
Nach dem Unfall musste Vater ziemlich viel Geld lockermachen, um den Wagen zu reparieren, und Mutter machte ziemlich viel Tränen locker. Einige Wochen lang schaute sie mich mit gebrochenem Blick an, als ob ich wie der Motor von einem Moment auf den anderen in die Luft gehen könnte.
Ganz Brighton sprach darüber, vom Jungen, der um drei Uhr morgens das Auto des Vaters gestohlen und demoliert hatte. Judy Franzman von der koscheren Bäckerei sprach darüber, Binyomin Fischer mit seiner Frau, Mutter und Vater sprachen mit dem Rabbiner darüber.
Der Einzige, der nicht darüber sprach, war ich.
Der junge Turiner Simone Somekh lebt als Autor und Journalist in New York. Sein Debütroman „Weitwinkel“ wurde 2018 mit dem Premio Viareggio für das erste Werk und mit dem Premio Letterario ADEI-WIZO Adelina della Pergola ausgezeichnet. – Foto: Privat
EINS
Tante Suzie bot mir zu essen an
und ich lehnte ab. „Du rufst mich an und bittest um Hilfe, weigerst dich dann aber, von meinen Tellern zu essen?“, sagte sie sichtlich verärgert. Tante Suzie sah mit ihrer rabenschwarzen Mähne sicher meiner Mutter ähnlich, bevor sich diese den Kopf bedeckte und lange züchtige Kleider trug. Eine Frau, die selten lächelte, aber im Gegensatz zum ersten Eindruck, den man von ihr gewann, voller Lebenslust war.
Von meinen Tellern hatte sie gesagt, nicht von meinen Speisen. Darum ging es nämlich: nicht um die Speisen, die auf den Tellern serviert wurden, sondern um die Teller selbst. Tante Suzie hätte mir nie Hummer angeboten oder Bauchspeck oder andere verbotene Speisen, doch allein die Tatsache, dass auf den Tellern auch nur einmal eine solche gelegen haben mochte, machte diese unrein und unbrauchbar.
„Ich habe keinen Hunger“, log ich.
„Dann schau mir zu, während ich esse, denn ich bin hungrig, und zwar ziemlich.“
Sie begann zu kauen, und ich sah ihr wie verlangt dabei zu. Der Mensch kann wirklich abstoßend sein, wenn er isst, dachte ich.
Also wandte ich meinen Blick von ihrem Mund ab und betrachtete das Esszimmer. Es war klein, ein paar Bilder und Nippes schmückten den schlecht beleuchteten Raum.
Tante Suzie nahm ihre Befragung wieder auf: „Wann hältst du den Zeitpunkt für gekommen, mich über den Grund deines Anrufs aufzuklären, Ezra?“
„Jetzt“, sagte ich. Ich zog ein weißes Kuvert aus meinem schwarzen Rucksack hervor, in dem ich Kopien der Fotografien aufbewahrte, wegen derer ich von der High School verwiesen worden war. Tante Suzie betrachtete die Fotos, unschlüssig, wie sie darauf reagieren sollte.
Schließlich entschied sie sich für eine eigenartige Mischung aus verlegen, erschüttert und schelmisch, wobei sie in Wirklichkeit sicher nicht allzu überrascht war.
„Wer ist das?“
„Malka Portman“, antwortete ich, „die Schwester eines Schulkollegen, Moshe Portman. Sie ist schön, nicht wahr? Ihr Bruder prahlt immer damit, wie schön sie ist, also kam mir die Idee, sie in die Jungenetage zu schmuggeln, und dort habe ich sie dann in die Toilettenräume gebracht. Das sind meine besten Fotos, bisher.“
Tante Suzie sah ein Foto nach dem anderen an, und eines nach dem anderen drehte sie beim Weglegen so um, als hätte sie in jedem einzelnen die ganze Macht der Gesetzesübertretung wahrgenommen, und zwar nicht nur der Gesetze der Yeshiva High School.
„Mutter und Vater werden begeistert sein“, meinte sie ironisch.
„Nun, sie haben sie nicht gesehen. Aber sowohl Malka als auch ich wurden von der Schule verwiesen, und ich bin sehr glücklich darüber. Denn nun muss ich nicht mehr darum kämpfen, mich in einer anderen High School einschreiben zu dürfen.“
Durch das Objektiv seiner Kamera erlebt Ezra die Welt aus einer ganz neuen Perspektive.
Natürlich hatte ich den Verweis nicht geplant. Niemand durfte die Fotos sehen, auch wenn ich im Innersten davon überzeugt war, dass sie mir eines Tages nützlich sein würden, sollte ich ernsthaft Fotograf werden wollen. Frauen zu fotografieren war in meiner Gemeinschaft ein Tabu. Oft kamen die Schüler bis zum Abschluss der High School, ohne einem Mädchen in die Augen geblickt zu haben. Ich hatte in die Augen von Malka Portman geschaut, und ich hatte sie fotografiert.
Die Fotos waren wunderbar, tausendmal besser als jene, die ich zu den Hochzeiten und den Bar-Mizwas machte, wo die Fotografierten von einer geologischen Schicht Make-up überzogen waren und die Lichter so gedimmt, dass sogar die Falten der ältesten Frauen verschwanden.
Ezra Kramer hatte seit jeher Eltern und Lehrern Sorgen bereitet. Jetzt wird er den Eltern aller Mädchen der Gemeinde Sorgen bereiten; und er wird, so dachte ich, jetzt auch den Rabbinern Sorgen bereiten. Erstmals wurde mir die Tragweite dessen, was ich getan hatte, bewusst. Ich war stolz auf die Fotografien, aber die Folgen dieser Schnappschüsse, die Frau Portman gefunden hatte, als sie das Zimmer ihrer Tochter aufräumte, waren verhängnisvoll.
Judy Franzman würde mir nie wieder einen Keks anbieten, wann immer ich bei ihr auf einen Gruß im Geschäft vorbeischauen würde. Vater und Mutter würden mich vielleicht von zu Hause vertreiben. Vielleicht würde man mich für immer aus der Gemeinde ausschließen. Vielleicht hatte Ezra Kramer in der unbändigen Genialität eines fünfzehnjährigen Künstlers den Fehler seines Lebens begangen. Vielleicht wäre es besser gewesen, in jener Nacht im verqualmten Auto zu sterben.
Eine Geschichte über den Traum von Freiheit und eine außergewöhnliche Freundschaft: Simone Somekhs Roman „Weitwinkel”
Mit dem Premio Viareggio für das erste Werk bekam Simone Somekh 2018 für „Weitwinkel“ einen der prestigeträchtigsten Literaturpreise Italiens zugesprochen und darf in einer Reihe mit namhaften Vorgängern wie u. a. Roberto Saviano („Gomorrha“) genannt werden. Eindringlich zeichnet der junge Turiner Autor Ezras Aufbruch in die Freiheit, der auch bedeutet, familiäre Geborgenheit hinter sich zu lassen. Ein ebenso berührender wie lebensnaher Roman über Selbstermächtigung, Glaube in der modernen Welt und Kunst als Rebellion. – Hier geht’s zum Buch.