Ein Buch über das Ankommen: mit einer neuen Sprache in ein neues Leben finden (Leseprobe)

Vor Jahren wagte eine junge Frau den großen Schritt und verließ ihre Heimat Russland, um in Österreich zu leben. Heute arbeitet sie als Deutschtrainerin für MigrantInnen, die sich in einer völlig neuen Umgebung mit zahlreichen ungeschriebenen Regeln zurechtfinden müssen: Mit Herz und Humor hilft sie ihnen durch den Sprachdschungel, durchlebt mit ihnen Wechselbäder aus Motivation und Ernüchterung, Selbstzweifel und Erfolgsgefühlen.
Mitreißend und erhellend erzählt Ksenia Konrad in diesem Buch Geschichten vom Ankommen: ihre inspirierende eigene, die berührenden der anderen, die erheiternden gemeinsamen. Und nicht zuletzt die Geschichte der Sprache, die ein Schlüssel nicht nur zur neuen Heimat, sondern auch zu einem ganz neuen Leben sein kann.

Leseprobe zu: Alles außer fern.
Wie ich mich (fast unfallfrei) integriert habe – und die anderen auch

Willkommen im Trainingslager
Ermüdet lächelnd und angespannt locker sitzen diese mir noch komplett fremden Menschen im Kurs, die es innerhalb von ein paar Monaten schaffen werden, mir ans Herz zu wachsen. Sie versuchen meine Frage, wie es ihnen geht, mit einem neutralen „Es geht uns gut, danke“ zu beantworten. Manche schauen mich skeptisch an, andere ganz fröhlich. Skeptisch, weil sie vielleicht eine strenge, zugeknöpfte Klassendame mit einer altmodischen Steckfrisur und einer Professorenbrille erwartet haben. Fröhlich, weil sie jemanden als „Lehrerin“ bekommen haben, der in ihrem Alter ist, vielleicht ein bisschen jünger oder ein bisschen älter, aber auf jeden Fall nicht aus der Epoche der Minnesänger. Ja, und die ersten Flirtversuche lassen nicht lange auf sich warten: „Komme ich mit meinem Charme durch oder muss ich mein Gehirn doch anstrengen?“

Es dauert noch, bis aus einem Klassenzimmer in ihrer Vorstellung ein Diskussionsraum nach meiner Vorstellung entsteht und aus mir, der „Lehrerin“, eine Trainerin wird und – was mir viel wichtiger wäre – eine Begleiterin, die jeden auf sein Podest führt, an die Stelle, die er sich wünscht – oder sich unter meiner Kontrolle bald wünschen wird.

Ein Marathon ist für die meisten Läufer die größte Herausforderung. Der Deutschmarathon ist eine Challenge für die meisten Lernenden und Lehrenden. Wie beim Marathonlauf braucht man einen guten Trainingsplan. Lassen wir den Deutschmarathon beginnen!

Ksenia Konrad hat etwas zu sagen. Foto: www.fotowerk-aichner.at

Lehrerin oder Trainerin?
Oder: Was mache ich hier überhaupt?

„Frau Lehrerin! Frau Lehrerin, darf ich was fragen?“, hebt die jüngste Kursteilnehmerin aus Syrien eifrig die Hand, wie sie es brav in der Schule gelernt hat.

„Wenn du dich melden möchtest, musst du aufzeigen“, hat mich meine achtjährige Tochter zu Hause aufgeklärt. Diese Fertigkeit ist bei ihr schon so gut antrainiert, dass sie auch beim Mittagessen aufzeigt, wenn sie etwas sagen möchte, und sie gibt mir Bescheid, ob sie schon satt ist oder nur kurz aufs Klo geht. Manchmal erklärt sie es mir ausführlich mit der genauen Angabe der Zielrichtung, des Zeitraums und des vorhersehbaren Ergebnisses.

Dieses „Frau Lehrerin“ bringt mittlerweile die ganze Gruppe zum Lachen und es wird immer wieder zum Spaß gesagt oder um zu prüfen, wie ich diesmal darauf reagiere. Auf die Kleine, die mit ihrer fast gleichaltrigen Schwester ausnahmsweise in einer erwachsenen Gruppe Deutsch lernt, bin ich nicht sauer. Im Gegenteil, ich bin stolz darauf, wie sie sich durchsetzt und wie zielstrebig sie ist. Nur ist sie jetzt nicht in der Schule, sondern im Kurs – und zwar im Training.

Hier ist einiges erklärungsbedürftig: „Unterricht“ wird im Allgemeinen ja als Vorgang zur Aneignung von Wissen und zum Erlernen von Fertigkeiten verstanden. Meist findet dieser Vorgang unter Beteiligung von Lehrenden und Lernenden und in einer bestimmten Institution, zum Beispiel einer Schule, statt.

Lehren und belehren wollte ich nie, weil ich selbst immer noch belehrt werde. Der Lernprozess ist und war für mich wie Integration, das heißt: Auch ich muss etwas Neues lernen und nicht bloß mein Wissen vermitteln. Ich will mich entwickeln, mich verändern, nur so kann ich mir auch von den anderen positive Veränderungen erhoffen.

Wie setze ich das in meinem Sprachunterricht um? Ich mache ihn zum Sprachtraining!

Der Begriff „Training“ steht für Prozesse, die eine verändernde Entwicklung hervorrufen. „Trainingseffekte“ werden durch die Verarbeitung von Reizen hervorgerufen. Mein Kurs besteht also aus einer Folge von Unterrichts- bzw. Trainingseinheiten. Jedes Training ist auch ein Workshop. Nicht nur das Lernen, sondern auch das persönliche und das berufliche Vorwärtskommen stehen im Vordergrund. In der Praxis schaut das ganz grob so aus: Es werden Fragen gestellt, gemeinsam Antworten gesucht und Lösungen erarbeitet. Beim Training steht das eigene Tun im Zentrum, und genau das möchte ich fördern.

Deshalb bin ich eine „Trainerin“ und gestalte ein „Training“ im Kurs. Sollte man mich schon mit „Frau XXX“ ansprechen, dann bitte mit „Frau Trainerin“.

Wobei mir mein Vorname viel lieber ist.

Anna und Martha baden

„Anna und Martha baden.“ – Das war der erste deutsche Satz in meinem Leben. Ich habe ihn von meiner Oma gehört. Zwar kann ich mich nicht mehr erinnern, in welchem Zusammenhang, aber ich weiß noch ganz genau, dass Anna und Martha gebadet haben.

Meine Oma studierte Deutsch und Russisch an der Universität in Pensa und war im vierten Semester, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Ich kann mir bildhaft vorstellen, wie sie in einem kalten Hörsaal im Seminar sitzt und den vorgetragenen Lernstoff mit gefrierender Tinte auf ein Stück Zeitungspapier kritzelt. Sie hat es mir nie in Einzelheiten erzählt, aber komischerweise stellte ich mir genau dieses Bild immer dann vor, wenn ich keinen Bock hatte, irgendwas zu lernen, oder mit mir selbst Mitleid hatte, wenn mir etwas zu schwierig und anstrengend vorkam. Später erweiterten Falco mein Vokabular und Rammstein meine Kenntnisse über Zeitformen, und die bezaubernde Deutschlehrerin im Gymnasium bewegte mich zum Germanistikstudium. Die Bekanntschaft mit der deutschen Sprache begann aber im Nominativ.

Schon von Geburt an, wenn ein Mädchen, ein Junge oder eine Deutschtrainerin zum ersten Mal die Welt erblickt, begrüßt die Welt sie im Nominativ. Die Blume ist schön. Die Sonne scheint. Das Auto fährt. Das Baby ist da. Ein neues Leben ist da, und da sind auch die Schmerzen, die Tränen, die Verwandten, die Sorgen, aber am wichtigsten die Eltern, die Freude, das Glück, die Hoffnung, die Entwicklung und nicht zuletzt der Deutsch- und Integrationskurs.

Jedes neue Leben auf der Welt beginnt mit dem Nominativ. In der „deutschen“ Welt noch dazu mit dem bestimmten Artikel, sonst wäre das Leben zu einfach. Also für männliche Substantive mit der (der Mann, der Junge), für weibliche mit die (die Frau, die Oma) und im Neutrum mit das (das Baby, das Mädchen). Womit das Wort „Mädchen“ den bestimmten Artikel „das“ verdient hat, ist das Erste, was manche Lernenden total verunsichert.

Das bedeutet dann, man ist ziemlich sicher, dass aus einem Baby (das Baby) ein Junge (der Junge) und irgendwann ein Mann (der Mann) wird. Bei einem Baby weiblichen Geschlechts ist es aber noch ziemlich fragwürdig, ob aus einem Mädchen (das Mädchen) tatsächlich eine Frau (die Frau) wird. Das ist die erste schockierende Nachricht für männliche und weibliche Teilnehmende in einem gendergerechten Kurs, in einem Anfängerkurs der Lernstufe A1.1.[1]*

Selbst der romantische Titel unseres Lern- und Arbeitsbuches steht im Nominativ: Lagune. Der Name vermittelt Ruhe und Entspannung. Das passende Titelbild bezaubert mit einer schimmernden, türkisblauen Meeresoberfläche, friedlich und erfrischend. Es erinnert mich an die vielversprechenden Bilder von Hotelzimmern und die traumhaften Aufnahmen in Urlaubskatalogen – sie wirken hypnotisch und locken uns an, bis man – nach Stunden in überfüllten Shuttlebussen – tatsächlich das Paradies erreicht hat.

Der schöne Schein trügt auch im Lehrbuch, schon auf Seite 3 zwingt gleich die erste Aufgabe jeden zur Ordnung: Ordnen Sie das Gespräch, Kreuzen Sie an, Ergänzen Sie. Und so taucht man ins Meer der deutschen Sprache ein, in stiller Hoffnung, irgendwann wieder lebendig aufzutauchen.

Ziel der Lernstufe A1.1 ist es unter anderem, sich im Wirrwarr der deutschen Artikel zurechtzufinden. In der Übung im Lehrbuch stehen alle Nomina im Nominativ: das Telefon, der Geldautomat, der Bus, das Taxi, die Bank. Auch die Fragen: Wie heißen Sie? Woher kommen Sie? Wie alt sind Sie? Wir lernen Buchstaben und Zahlen und wie man Menschen und Dinge kurz beschreibt und Menschen begrüßt.

In dieser paradiesischen Umgebung lebt und lehrt Ksenia Konrad: das Außerfern.

Den Herren im Kurs scheint es wirklich Spaß zu machen, Buchstaben und Zahlen zu nennen, wenn es um Autonummern geht, da kann man gleich einen VW mit einem Audi vergleichen. Bei den Damen sind Telefonnummern ein Renner, und je näher sie neben einem netten Nachbarn sitzen, desto lauter, deutlicher und inspirierender klingen sie. Alles, was mit positiven Anreizen gelernt wird, wird nachhaltig gelernt. Hören funktioniert normalerweise besser als Schreiben. Man hört die Welt um sich herum, auch wenn man manchmal nicht genau hinhört, hört man es trotzdem, die Geräusche werden vom Gehirn wie mit einem Spinnennetz aufgefangen. Es ist aber eine andere Sache, wenn man diese Töne und Klänge den Buchstaben zuordnen und sie in Form eines Wortes und einer Reihe von Wörtern aufs Papier übertragen muss, also sie zu schreiben. Ob Ansichtskarten, kurze Briefe oder E-Mails – es wird wöchentlich geschrieben.

Die E-Mails stürmen meine Mailbox wie die Nachbarn aus dem Ostallgäu unsere Supermärkte am Tag der Deutschen Einheit und wie wir die ihren an unserem Nationalfeiertag. Die günstige geografische Lage unserer Ortschaft verhindert das Verhungern und Verdursten der benachbarten Orte an den traditionell unerwarteten Feiertagen.

Meine Gewohnheit, das Handy am Wochenende mehrmals zu checken, erschwert den Teilnehmenden ihre kurzen Erholungspausen: Kaum haben sie ein bisschen Luft geschnappt und die Einkäufe erledigt, schon kriegen sie meine Rückmeldung und liebe Grüße. Alles wird aufmerksam gelesen, bearbeitet, Fehler werden unterstrichen und mit Farbe markiert, damit sie ihre Schwachstellen schneller erkennen und die Fehler ausbessern können. In einem persönlich adressierten Absatz findet jeder meine Empfehlungen und Anmerkungen.

„Liebe …, Hier ist M. auf Europa-Reise. Heute bin ich in Wien (München, Rom, Innsbruck usw.)“, so beginnen die Urlaubsgrüße. Urlaub und Freizeit sind ganz tolle Gesprächsthemen, finde ich und hoffe, mit ihrer Hilfe die Atmosphäre aufzulockern, so gut es geht, aber so richtig gut, wie ich mir das vorstelle, geht es dann doch nicht, weil es eben nicht nur um Hobbys und Interessen geht: Die neuen Verben und deren Konjugation bilden einen weiteren Schwerpunkt.

Die weiblichen Kursteilnehmer führen die Gespräche, bei denen es um sie geht, meistens mit Gefühl, darum wird jede zuerst persönlich gefragt, was sie gern in der Freizeit macht. Und es funktioniert: mit den Kindern spielen, shoppen, kochen. Die Männer im Kurs schauen sich gegenseitig kurz an, nicken einander zu, als würde der mentale Meinungsaustausch durch den Blickkontakt auf einer besonderen Ebene stattfinden, und einigen sich gleich nach den ersten zwei Minuten, dass sie alle ohne Ausnahme Fußball mögen. Jeder klingt so überzeugt, dass ich selbst fast bereit wäre, aus innigstem Verständnis und Solidarität einem Fußballklub beizutreten. Weiter versteinern die Männer beim Gespräch, wenn es um Lesen und Museen geht. Fußball und Spazieren sind eindeutig auf Platz 1 in der Hitparade der außergewöhnlichen Hobbys, gefolgt von Kochen. Der Wortschatz im Lehrbuch bietet uns aber viel mehr, zum Beispiel Segeln, Tauchen, Surfen. Ausgesprochen schöne und vor allem zu unserem Wohngebiet, den Tiroler Alpen, passende Freizeitangebote.

Ein sanfter Übergang von diesen Vokabeln zur Realität gelingt mir nicht so ganz, als mir Sido plötzlich zu Hilfe kommt: „Gitarre! Ich spiele nicht Fußball. Ich spiele Gitarre.“
Er löst damit einen Ausruf der Verwunderung und Begeisterung aus: „Stricken. Ich stricke gern am Wochenende!“, schreit Tina.
„Ich male in der Freizeit. Ich kann nicht gut malen, aber ich male gern“, verrät uns Kilu.
„Und du, was machst du gern, Kecheli?“, frage ich.
„Ich spiele Klavier“, flüstert er verlegen. Später werde ich erfahren, dass sein Vater ihm das Klavierspielen beigebracht hat. Kecheli ist nie in die Musikschule gegangen.
„Toll! Schöne, interessante Hobbys. Vielleicht gibt es noch andere Hobbys, ein Hobby, das ihr alle habt?“
„Kochen. Ich koche gern. Nein, Entschuldigung, ich backe zu Hause. Kuchen“, teilt uns Mira fröhlich mit.
„Grammatik lernen! Natürlich!“, rutscht es Sakim raus.

Die Gruppe bricht in schallendes Gelächter aus – und ich auch. Wenn man gemeinsam lachen kann, dann kann man auch zusammenarbeiten.

Im nächsten Unterricht werden kleine, selbstgebackene Muffins in Begleitung der Gitarrentöne verteilt und die großen Kinder stopfen sie sich energisch rein. „Mit vollem Mund lassen sich die Verben einfacher konjugieren“, stelle ich fest.

 

 

Unkonventionell und ermutigend: Ksenia Konrad ist eine tatkräftige Frau, die etwas zu erzählen hat – schließlich kennt sie die Gefühlsskala beim Transfer in eine neue Kultur selbst nur zu gut. Mit viel Herz und Humor entlockt sie selbst aussichtslos scheinenden Situationen eine Portion heitere und motivierende Lebensphilosophie. In ihrem inspirierenden Buch berichtet sie schwungvoll und erhellend von ihrer eigenen Lebensgeschichte und von ihrer Arbeit mit MigrantInnen. Hier geht’s zum Buch!

[1]* Diese Einteilung beruht auf dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen, der bei der Einschätzung des Sprachniveaus helfen soll und grundsätzlich in sechs Stufen gegliedert ist: Unter A1 und A2 fällt die elementare Sprachanwendung, unter B1 und B2 die selbstständige und unter C1 und C2 die kompetente Sprachanwendung. Sprachkurse werden oftmals genauer unterteilt, z. B. in A1.1 und A1.2 usw.