Ein Alltag im Ausnahmezustand: Leseprobe aus „Im täglichen Krieg“ von Andrej Kurkow
Februar 2022: Der russländische Angriffskrieg auf die Ukraine beginnt. Beinahe zwei Jahre später stehen die Menschen in ihrem Land weiterhin unter Beschuss, haben unsägliche Verbrechen und Verluste erlebt. Wie macht man weiter, kämpft weiter, wenn sich alles verändert hat? Und ein Ende des Krieges nicht in Sicht ist?
Andrej Kurkows journalistische Texte, Notizen und Tagebucheinträge zeigen, was der Krieg, der sich immer mehr in den Alltag der Menschen integriert, mit ihnen macht. Die Diskrepanz einer jeden aufeinanderfolgenden Sekunde wird spürbar: Opernaufführungen bei Tageslicht – eine Bombe schlägt ein; Menschen schwimmen im Meer – eine Mine explodiert; eine Nacht durchschlafen – aber das feindliche Militär kennt die GPS-Daten eines jeden Schlafzimmers …
Wie formt sich ein Leben, ein Jahr, ein Tag, wenn die Sirenen niemals aufhören zu erklingen? Wenn Bienen fliehen, um dem Lärm des Krieges zu entkommen, weil der Blütenstaub nach Schießpulver riecht? Wie, wenn man nicht weiß, ob man Freunde und Familie wieder sieht?
22.08.2022
Luftalarm und Crowdfunding
Dieser Tage, wenn es Nacht wird in den Wäldern der Oblast Schytomyr, kann man oft Beilhiebe oder das schrille Surren einer Kettensäge hören. Nach Einbruch der Dunkelheit, spät am Abend und manchmal sogar mitten in der Nacht, vernimmt man vielleicht sogar das Rattern alter Autos, die Anhänger voller Holzscheite hinter sich herziehen, oder das Knattern riesiger Holzlaster, die frisch gefällte Kiefernstämme abtransportieren. Alle sind sie auf dem Weg aus dem Wald heraus.
Die alten Autos mit den Anhängern sind zumeist unterwegs in die umliegenden Dörfer. Das gleiche Bild wiederholt sich derzeit in der gesamten Ukraine: Die Landbevölkerung legt sich ihren Wintervorrat an Brennstoff zu. Natürlich ist diese Art der Brennholzgewinnung illegal, aber die Polizei schert sich nur selten um holzfällende Gelegenheitsdiebe. Früher wurden bisweilen Maßnahmen gegen rechtsbrecherische Waldarbeiter ergriffen, die nachts zugange waren, das Holz im großen Stil weiterverarbeiteten und an Bauunternehmer und Möbelhersteller verkauften. Diese rechtswidrige Holzernte bestückt zwar mittlerweile auch den Wintermarkt für Brennholz, doch die Polizei wird ihr nicht mehr Herr. Seit 2014, als der Krieg mit Russland ausbrach, haben viele Einwohner ukrainischer Dörfer und Städte den Glauben an gasbetriebene Heizkessel verloren. Sie haben ihre Heizsysteme umgesattelt, um sie mit anderen Brennstoffen befeuern zu können, insbesondere Holz.
Seither häufen sich die mit Wachstuch vor Regen geschützten Feuerholzstapel auf sämtlichen Dorfvorplätzen und sogar in den Höfen der Wohnhäuser in den Kleinstädten. Es würde mich nicht wundern, wenn man mir sagte, dasselbe ereigne sich derzeit in Polen, Tschechien oder sogar Österreich. In Europa wäre dieses Phänomen auf die in die Höhe geschnellten Gaspreise zurückzuführen. In der Ukraine sind die Preise für Gas und Gasheizungen weiterhin auf dem Vorkriegsniveau.
Erst vor Kurzem unterzeichnete Präsident Selenskyj ein Dekret, wodurch die Brennstoffpreise auf dem derzeitigen Stand festgelegt werden, um die Ukrainer angesichts des bevorstehenden Winters nicht zu beunruhigen. Dennoch ist die Gasrechnung für die Menschen, die noch im Land leben, jene, die am meisten schmerzt.
Selenskyj kann zwar die Preise für Gas, Wasser und Strom einfrieren, aber er kann nicht garantieren, dass die Versorgungsbetriebe ukrainische Haushalte diesen Winter tatsächlich beliefern können. Dies hängt nämlich von der russischen Artillerie ab. Es steht jetzt schon fest, dass mehrere ukrainische Städte, sowohl besetzte als auch freie, diesen Winter ohne Heizung auskommen werden müssen.
Während sich die Ukraine konsequent auf den Winter vorbereitet, ertönen die Luftalarmsirenen mehrere Male pro Tag und warnen vor russischen Raketen, die auf militärische und zivile Ziele zusteuern. Durch die Explosionen kommen unsere Mitbürger ums Leben und Gebäude sowie die umliegende Infrastruktur werden zerstört, darunter Gas- und Wasserleitungen, die Kanalisation, Stromnetze und Wärmekraftwerke. Die Monteure machen sich, soweit möglich, umgehend auf den Weg und fangen mit den Reparaturarbeiten an – das heißt, soweit die betroffene Stadt nicht vollständig in Trümmern liegt.
In Mariupol und Melitopol, Slowjansk und Soledar bleibt die Heizung in diesem Jahr aus. In Charkiw und Mykolajiw ist diese Frage noch offen. Vitali Klitschko, der Bürgermeister Kyjiws, hat die Bewohner der Stadt davor gewarnt, dass die Temperaturen in den Wohnungen in diesem Winter nicht über 18 Grad Celsius steigen werden. Dazu muss ich sagen, dass die Temperaturen in unserer Wohnung in der Innenstadt von Kyjiw im Winter noch nie 18 Grad überschritten haben. Ziemlich oft hingegen sanken sie auf 13 Grad ab. Wir sind die Kälte also gewöhnt.
Klitschko rät den Menschen, sich Trockenbrennstoff (für Campingkocher) zuzulegen, warme Kleidung auszumotten und zusätzliche Elektroheizgeräte aufzutreiben. Neulich erklärte der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, Folgendes: „Der Feind zerstört zwar unsere Heizanlagen, aber wir werden durch den Winter kommen.“ Rund um die Uhr werden Wartungsarbeiten am zentralisierten Heizsystem der Stadt unternommen, oftmals unter Bombenbeschuss. Damit das System in diesem Winter störungsfrei betrieben werden kann, muss das gesamte 200 Kilometer lange Netzwerk an unter- und oberirdischen Leitungen im Oktober erneuert werden, doch das lässt sich nur bewerkstelligen, wenn Russland die bereits reparierten Leitungen und Wärmekraftwerke nicht wieder demoliert.
Oleksandr Sjenkewytsch ist der Bürgermeister einer weiteren Stadt, die regelmäßig Bombenhagel erleiden muss: Mykolajiw. Er hat die Einwohner davor gewarnt, dass ihrer Stadt, was die Wärmeversorgung angeht, das Schlimmste noch bevorsteht. „Es kann zu Bombenangriffen kommen. Heute haben wir es noch warm, aber wenn die Heizinfrastruktur morgen bombardiert wird, müssen das Wasser aus dem Kreislauf abgelassen und kaputte Leitungen repariert werden, ehe das System wieder in Betrieb genommen werden kann. In diesem Zeitraum kann es bitterkalt für Sie werden.“
Sjenkewytsch sprach noch etwas Weiteres an, das sämtlichen Großstadtbewohnern Sorge bereitet: die Tatsache, dass die Evakuierung der Bewohner im Falle eines Heizsystemausfalls mit keiner Silbe erwähnt wird. Es wäre aber seltsam, wenn diese Frage nicht doch früher oder später angesprochen würde, zumal die absichtliche Zerstörung der Wärmekraftwerke durch russische Raketen, während Minusgrade herrschen, eine jedwede Stadt unbewohnbar machen würde. Das Wasser in den Leitungen der Gebäude würde gefrieren und die Rohre zum Bersten bringen. Elektroheizgeräte reichen da nicht aus, um eine Wohnung während eines ukrainischen Winters zu beheizen.
Doch wie kann man die Einwohner einer ganzen Stadt evakuieren und wohin bringt man sie? Die Rede ist hier von hunderttausenden Menschen, die alle gleichzeitig in Sicherheit gebracht werden müssen. Keine einfache Aufgabe also.
Die Sirenen, die die Ukrainer vor drohenden Luftangriffen warnen, haben seit Kurzem eine weitere Funktion bekommen: Sie sind zum Signal für spontane Spendenaufrufe für die ukrainische Armee geworden. Auf die Idee für das Crowdfunding kam Natalia Andrikanitsch, eine junge Frau, die in Uschhorod als freiwillige Helferin tätig ist. Ihr wurde bewusst, dass jeder Luftalarm über der Stadt sie wütend machte, also beschloss sie, ihre Einstellung zu ändern und die Sirenen zu einem Mahnruf an sich selbst zu machen, dass die ukrainische Armee Unterstützung braucht, damit mit dem Lärm ein für alle Mal Schluss ist. Seitdem begibt sie sich nun jedes Mal, wenn die Sirene ertönt, nach wie vor in den Luftschutzkeller, überweist aber auch eine kleine Spende – 10 bis 20 Hrywnja (15 bis 30 Eurocent) – auf das Bankkonto der Armee.
Die Idee hat sich in der Ukraine herumgesprochen und viele tun es ihr mittlerweile gleich. Seither lässt jeder Luftalarm in der Ukraine die Kassen der ukrainischen Streitkräfte klingeln. Der Großteil des so gespendeten Geldes kommt aus den Oblasten, die weiter von der Front entfernt sind. „In Charkiw verdient niemand genug, als dass er so oft spenden könnte!“ – so erklärte es mir der bekannte Charkiwer Fotograf Dmitri Owsjankin.
Tatsächlich gibt es Regionen und Städte, in denen die Sirenen ununterbrochen ertönen. So zum Beispiel in Nikopol und Derhatschi sowie in den Rajonen Donezk, Saporischschja, Odesa und Mykolajiw. Dort bleibt den Menschen schlichtweg keine Zeit, eine Internetseite aufzurufen, um zu spenden.
Es ist nicht ganz durchschaubar, was genau mit dem Geld, das auf das Spendenkonto der ukrainischen Armee fließt, geschieht. Diese Information fällt sicherlich unter die Rubrik „Militärgeheimnisse“. Die Ukrainer können hingegen mitverfolgen, wie und wofür die bekanntesten und tatkräftigsten freiwilligen Helfer gesammelte Spenden ausgeben. Der bis heute erfolgreichste freiwillige Spendensammler ist der berühmte Entertainer, Stand-up-Comedian und beliebte Fernsehmoderator Serhij Pritula.
Bis 2019 duellierten sich Serhij Pritula und der damals noch Komiker Wolodymyr Selenskyj in TV ComedyShows. Als Selenskyj dann zum Präsidenten gewählt wurde, entwickelte auch Pritula ein reges Interesse an der Politik. Er ließ sich als Kandidat der Partei „Stimme“ aufstellen, die vom ukrainischen Rocksänger Swjatoslaw Wakartschuk ins Leben gerufen wurde, schaffte den Einzug ins Parlament jedoch nicht. Außerdem nutzte Pritula das Podium, das ihm die „Stimme“-Partei bot, um für das Bürgermeisteramt von Kyjiw zu kandidieren.
Mittlerweile sehen ihn viele Ukrainer als möglichen Rivalen, der Selenskyj die nächste Wahl streitig machen könnte. Seinen Beliebtheitsgrad konnte Pritula bereits bei der Spendenaktion „Bayraktar des Volkes“ unter Beweis stellen. Er hatte sich vorgenommen, 500 Millionen Hrywnja (etwa 13 Millionen Euro) für drei Kampfdrohnen aufzutreiben. In nur wenigen Tagen hatte er dann bereits 600 Millionen Hrywnja beisammen und konnte seine Spendenaktion erfolgreich zum Abschluss bringen.
Als der türkische Hersteller der Bayraktar-Kampfdrohnen dann von Pritulas Spendenaktion erfuhr, gab er kurzerhand bekannt, der ukrainischen Armee die drei Drohnen kostenlos zu überlassen. Folglich entschloss sich Pritula, mit den Spendengeldern stattdessen einen finnischen ICEYE-Mikrosatelliten zu kaufen. Dieser ist in der Lage, selbst bei schlechter Witterung hochwertige Satellitenbilder der Erdoberfläche zu machen. Zusätzlich zu diesem Satelliten schloss er ein Jahresabonnement für eine weitere Satellitengruppe ab, die die Ukraine mit detaillierten Aufnahmen der Positionen des russischen Militärs in der Ukraine und auf der Krim versorgt.
Kurzum: Pritulas Freiwilligenarbeit und seine Beliebtheit haben ungeahnte Höhen erreicht. Nicht jeder freiwillige Helfer ist jedoch gleichzeitig eine TV-Persönlichkeit mit politischen Ambitionen, und das macht es für Normalsterbliche der ukrainischen Gesellschaft schwieriger, Spendengelder aufzutreiben. Der Charkiwer Kultlyriker Serhij Zhadan unterstützt bereits seit Beginn des totalen Krieges sowohl die Spendenkampagnen des Militärs als auch das kulturelle Leben seiner von Bombenanschlägen gerüttelten Stadt aktiv. Vor Kurzem gab er bekannt, Geld für einhundert gebrauchte Jeeps und Kleintransporter fürs Militär sammeln zu wollen. Zhadan hat bereits fünfzehn Fahrzeuge für die Armee beschaffen können.
Der Ushhoroder Kultautor Andrij Ljubka, den ich vor ein paar Monaten schon einmal erwähnt habe, hat bereits Geld für achtunddreißig Fahrzeuge aufgetrieben und diese selbst an die Front gebracht. In der Ukraine witzelt man bereits, dass in ganz Europa keine gebrauchten Jeeps und Kleintransporter mehr erhältlich seien. Bald, so sagt man, müsse man Fahrzeuge per Schiff aus dem fernen Australien kommen lassen. In jedem Witz steckt auch ein Fünkchen Wahrheit: Die Zahl der bis heute an die ukrainische Armee übergebenen Jeeps und Kleintransporter geht in die Tausende. Das Militär hat teilweise bereits Mini Artilleriesysteme auf den Fahrzeugen montiert und sie in den Kampf geschickt.
In den sozialen Netzwerken postet die Armee regelmäßig Fotos kürzlich erhaltener Wagen sowie von Fahrzeugen, die von der russischen Artillerie oder Panzern zerstört worden sind. Diese Bilder bezeugen den Bedarf an weiteren Gebraucht-Jeeps und -Kleintransportern und lassen darauf schließen, dass so lange Nachschub nötig ist, wie der Krieg andauert. Demnach werden ukrainische freiwillige Spendensammler mitunter noch lange die Hauptabnehmer dieser vielseitig einsetzbaren Nutzfahrzeuge aus ganz Europa bleiben.
28.08.2022
Bienen und Verräter
Letzte Woche brachten freiwillige Helfer obdachlose und verwaiste Katzen aus den zerstörten Städten an der Front im Donbass, Bachmut und Soledar nach Kyjiw. Diese Katzen und Kätzchen brauchen ein Zuhause. Obwohl Nachrichten geretteter Haustiere aus den Kriegsgebieten schon lange nichts Ungewöhnliches mehr sind, hat mich die jüngste Meldung eines binnenvertriebenen Bienenvolks aus dem Rajon Bachmut doch aufhorchen lassen.
Vor dem Krieg lebten Tausende Bienenzüchter im Donbass, denn neben Kohle ist die Region seit jeher für ihren Honig bekannt. Noch vor zwei Jahren wurden trotz des Wegfalls der Krim und von Teilen des Donezbeckens immer noch über 80.000 Tonnen Honig pro Jahr aus der Ukraine ausgeführt. Leider kann man das mit dem lukrativen Honighandel die nächsten ein, zwei Jahre, vielleicht sogar noch länger, völlig vergessen.
Wir haben uns bereits an den Umstand gewöhnt, dass Haustiere infolge des Krieges heimatlos werden können. Jetzt müssen wir uns aber zusätzlich mit dem Gedanken abfinden, dass Zehntausende Bienenvölker ihre Heimat im Donbass und in der Südukraine verloren haben.
Wenn ein Bienenstock durch Geschützfeuer beschädigt wird, verwildern die Bienen in der Regel und kehren in die Natur zurück. Sie schwärmen dann von einem Ort zum anderen, lassen sich an Wänden zerfallener Gebäude oder in Baumkronen nieder, bis sie eine dauerhaftere Bleibe gefunden haben, in einer Baumhöhle oder auf dem Dachboden eines verlassenen Hauses. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause versuchen die Bienen auch, dem Lärm und der Zerstörung des Krieges zu entkommen. Sie fliehen nicht nur, weil Pollen, der nach Schießpulver riecht, nicht besonders gut schmeckt, sondern vor allem auch deswegen, weil Bienen Stille brauchen. Stille, um einander summen hören zu können.
An der Front bei Bachmut ließ sich zu Beginn des Sommers ein Bienenvolk in der Nähe der ukrainischen Militärstützpunkte nieder, weil es seinen vom Krieg beschädigten Bienenstock aufgeben musste. Unter den Soldaten gab es auch einen Imker, Oleksandr Afanassjew, der seine eigenen Bienenstöcke zu Hause in der Oblast Tscherkassy in die Obhut einiger freiwilliger Bienenzüchter gegeben hatte.
Als er den Schwarm fand, nahm Oleksandr eine leere Munitionskiste aus Holz, bohrte ein paar Löcher hinein und ließ das Bienenvolk darin unterkommen. Die Bienen gaben sich mit den beengten Bedingungen ihres neuen Heims zufrieden und, nachdem sie sich eingerichtet hatten, machten sie sich in ihrer neuen Umgebung auf zu einem Erkundungsflug auf der Suche nach Blüten.
Als der Sommer vorüber war, wurde Oleksandr einer neuen Einsatztruppe in einem anderen Frontsektor zugeteilt. Seine Waffenbrüder baten Oleksandr, den Bienenschwarm doch bitte mitzunehmen: Sie verstanden nichts von der Bienenzucht und hatten Angst davor, die Verantwortung für das Volk zu übernehmen. Zudem dürfen Soldaten keine Haustiere halten, schon gar keine Bienenschwärme. Wie es der Zufall aber so wollte, kam Ihor Ryaposchenko, ein freiwilliger Helfer aus der Oblast Tscherkassy, der alte Kleintransporter und Jeeps an die Front bringt, gerade zur rechten Zeit bei Oleksandrs Einheit vorbei und bot an, die Bienen mit zu sich nach Hause zu nehmen, obwohl auch er keinerlei Erfahrung mit der Bienenzucht hatte.
So reisten die Bienen über 700 Kilometer in der Munitionskiste, die zu ihrem neuen Bienenstock geworden war. Sie haben die Reise überlebt und machen es sich nun in Ihors Garten bequem. Um sie nicht weiter zu stören, beschloss Ihor, sie nicht in einen richtigen Bienenstock umzusiedeln, sondern sie in ihrem provisorischen Heim zu lassen.
Glücklicherweise gibt es in seinem Dorf mehrere Imker, die Ihor bei der Pflege der Bienen mit Rat und Tat zur Seite stehen können. Bald wird er sich eine Honigschleuder von seinen Nachbarn leihen müssen, um den Honig zu gewinnen und einen Teil davon an die Front zu schicken, wo die Bienen ihr erstes Zuhause beim Militär gefunden hatten.
Die Stellung der ukrainischen Militärposten hat sich in letzter Zeit nicht geändert, obwohl sich russische Truppen von Osten her Bachmut nähern und die Stadt jede Nacht mit Artilleriefeuer und mehreren Raketenwerfern beschießen. Vor dem Krieg hatte Bachmut mehr als 70.000 Einwohner; jetzt sind es noch etwa 15.000. Das ukrainische Militär hat wenig Vertrauen in die Bewohner, die trotz des Angebots der Evakuierung in der Stadt oder in den umliegenden Dörfern bleiben wollten.
Viele dieser „Zurückgebliebenen“ beharren darauf: „Wir warten erst einmal ab. Mal sehen, was als Nächstes passiert!“ Ukrainische Soldaten nennen solche Menschen „Abwartende“, weil sie scheinbar darauf warten, dass Russland das Gebiet erobert. Einige dieser „Abwartenden“ scheinen den ukrainischen Soldaten gegenüber positiv eingestellt zu sein und schenken ihnen manchmal Gemüse oder Obst. Dennoch besteht Zweifel an ihrer Vertrauenswürdigkeit. Schließlich kann es sein, dass sie die Soldaten nur deshalb aufsuchen, um ausfindig zu machen, wo ihre militärische Ausrüstung untergebracht ist; Informationen also, die sie an die russische Artillerie weitergeben können. Einige derjenigen, die in den besetzten Städten Melitopol und Mariupol geblieben waren, kollaborierten schlussendlich mit den russischen Besatzungsbehörden, darunter auch ehemalige Polizeibeamte.
Das Thema Verrat ist in der Ukraine kein beliebtes und wird definitiv nur ungern angesprochen. Doch in letzter Zeit hört man zunehmend Meldungen über Ukrainer in den verschiedenen Oblasten des Landes, sogar in Kyjiw, die der russischen Armee und den Geheimdiensten in die Hände spielen. Beamte des Ministerkabinetts und der Nationalen Wirtschaftskammer sowie Parteichefs des pro-russischen Oppositionsblocks, Staatsanwälte und Richter sind bereits verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt worden. Aber diese Kreml-Spitzel sind gegenüber den Kollaborateuren in den besetzten Gebieten deutlich in der Unterzahl.
Die Ukrainer bekamen einen anfänglichen Schock, als bekannt wurde, wie viele Richter, Staatsanwälte, SBU und Polizeibeamte nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 in den Dienst der Russischen Föderation übergelaufen waren. Es handelte sich um einen Massenverrat, aber wie sich herausstellen sollte, war es auch das Ergebnis der langwierigen und akribischen Arbeit der russischen Geheimdienste auf der Krim.
Zudem war dieser Verrat auch dem Scheitern der ukrainischen Geheimdienste geschuldet, denn selbst jetzt ist Verrat im Donbass nicht so landläufig wie auf der Krim. Die meisten der verbliebenen Bewohner wollen zwar nicht mit den Besatzern kooperieren, doch Russland hat viele Waffen in seinem Arsenal, um Ukrainer zu zwingen, die Besatzer zumindest passiv hinzunehmen: Um humanitäre Hilfe zu bekommen, die Wasserversorgung wieder anschließen zu lassen oder jegliche Art von Zugriff auf die eigene Rente zu erhalten, muss man sich bei der Besatzungsverwaltung melden.
Wie eine Narbe prägt das Thema des Verrats die Dörfer und Städte rund um Kyjiw, die zu Kriegsbeginn unter russische Besatzung gefallen waren. In jedem Dorf, in jeder Stadt gab es Moskau-Treue, die für die Invasoren Listen pro-ukrainischer Aktivisten, der Anschriften der Teilnehmer an den Majdan-Protesten und der Veteranen der Anti-Terroroperation im Donbass erstellten.
In Andrijiwka, einem Dorf unweit von Borodjanka, nordwestlich von Kyjiw, stellte sich ein ehemaliger Mönch aus einem Kloster des Moskauer Patriarchats als eben solch ein Verräter heraus. Er bot nicht nur mehreren Invasoren in seinem Haus Unterschlupf, sondern zeigte ihnen auch prompt, in welchen Häusern im Dorf sich ein Einbruch lohnte und welche Bewohner entführt und gegen Lösegeldforderungen festgehalten werden könnten.
Als das Dorf dann befreit wurde, blieb dem Mönch keine Zeit zur Flucht. Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Eine weitere Familie hingegen – Migranten aus Donezk –, die sich nach 2014 in Andrijiwka niedergelassen und auch mit den russischen Besatzern kollaboriert hatte, verließ das Dorf zusammen mit der russischen Armee, als diese nach Belarus abzog. Mehr als dreißig Einwohner Andrijiwkas gelten weiterhin als vermisst. Mindestens siebzehn Menschen wurden von russischen Soldaten erschossen und viele Häuser liegen weiterhin in Trümmern.
Mykola Horobets, ein bekannter Germanist und pensionierter Akademiker, der den Großteil seines Lebens an der Staatlichen Wissenschaftlich-Technischen Bibliothek der Ukraine in Kyjiw angestellt war, kehrte in sein Sommerhaus in Andrijiwka zurück, sobald die russischen Truppen aus dem Dorf vertrieben worden waren. Vor dem Krieg hatte er noch jeden Sommer dort verbracht, aber letzte Woche war er erst das fünfte Mal seit der Befreiung des Dorfes in dem Haus, in dem er aufgewachsen war.
Es ist ihm gelungen, Kartoffeln zu stecken, aber nur in dem Teil des Gartens, der dem Haus am nächsten liegt. Er hat Angst davor, den Boden zu bestellen, der weiter weg liegt: Was, wenn dort Minen vergraben sind? Niemand hat den Garten auf Sprengkörper abgesucht. Trotz der geringeren Fläche seines Kartoffelackers ist Mykola einigermaßen mit der Ernte zufrieden und konnte eine ordentliche Menge Kartoffeln im Vorratskeller einlagern. Jetzt legt er sich Feuerholz für den Winter an. Er denkt oft an den verräterischen Mönch und die Kollaborateure, die aus Donezk umgesiedelt hatten.
Während der Besatzung bewohnten russische Soldaten Mykolas Sommerhaus. Sie waren sehr überrascht, so viele deutschsprachige Bücher in den Regalen vorzufinden und erkundigten sich bei den Nachbarn über den Hausbesitzer: Lebt hier etwa ein Deutscher? Sie ließen ein kaputtes Sofa, mehrere Ausgaben der Zeitung Krasnaja Swesda („Roter Stern“) des russischen Verteidigungsministeriums und viele persönliche Gegenstände zurück, darunter eine Mütze, Pulver zum Anrühren eines Energy Drinks und einen Campingtopf zum Kochen.
Als Mykola nach der Befreiung des Dorfes zum ersten Mal wieder zurückkehrte, betrat die ukrainische Polizei das Haus noch vor ihm. Die Polizisten schauten sich um und fragten Mykola, was die russischen Soldaten zurückgelassen hatten. Im Schuppen fand Mykola einen großen Behälter mit Maschinenöl, wahrscheinlich für den Motor eines Kettenfahrzeugs. Die Polizei war nicht an dem Öl interessiert, aber einem von ihnen gefiel der Campingtopf des russischen Soldaten und so beschlagnahmte er ihn für sich selbst.
Das Motoröl steht noch immer im Schuppen. Vielleicht hat das örtliche Geschichtsmuseum in Makariw, der nächstgelegenen Stadt, ja daran Interesse. Der Museumsleiter arbeitet an einer Ausstellung über die Besetzung des Rajons Makariw und hat sämtliche Bewohner gebeten, dem Museum „Artefakte“ des Angriffs Russlands zu spenden.
„Ich habe Angst und möchte nicht so oft nach Andrijiwka fahren“, gab Mykola mir gegenüber zu. „Abends betrinken sich viele Leute hier und ballern dann im Dunkeln mit Gewehren herum. Die Russen haben wahrscheinlich auch einige Waffen zurückgelassen!“
Die Polizei hat scheinbar keine Eile, die Waffen zu beschlagnahmen, die die Dorfbewohner als Kriegsbeute eingesackt haben. Und niemand will sich über Alkoholiker mokieren, die die Besatzung durchmachen mussten. Manche sind der Ansicht, dass sie wegen des erlittenen psychologischen Traumas zur Flasche greifen, aber das macht die Situation nicht weniger beängstigend.
Tatsächlich sind alle Bewohner Andrijiwkas mittlerweile zutiefst traumatisiert, auch diejenigen, die die Besatzung anderswo ausgestanden haben, so wie Mykola. Er verbrachte sie in Kyjiw mit seiner erwachsenen Tochter, die eine cerebrale Bewegungsstörung hat. Wegen ihr hatte er gar nicht erst in Erwägung gezogen, aus Kyjiw fortzugehen.
Auch sein Dorfnachbar Andrij, mit dem er schon seit seiner Kindheit befreundet ist, ist Alkoholiker. Manchmal stiehlt Andrij Gemüse aus Mykolas Garten und verkauft es, um sich dafür eine Flasche zu leisten. Seltsamerweise ist Andrij auch Bienenzüchter, oder vielmehr ehemaliger Imker, der eben noch Bienen hat. Eines seiner Völker „entwischte“ ihm kürzlich und ließ sich auf einem Kirschbaum in Mykolas Garten nieder. Andrij lehnte eine Leiter an den Baum und kletterte hinauf, wobei er mehrere Äste abbrach, es aber schaffte, den Schwarm wieder einzufangen.
Ich habe das schleichende Gefühl, dass die Bienen beim nächsten Mal viel weiter weg fliegen werden – an einen Ort, wo ihr betrunkener Besitzer sie nicht finden kann. Vernachlässigung ist auch eine Form des Verrats und genauso wie Menschen, tun sich Bienen schwer damit, Verrätern zu vergeben.
20.10.2022
Zwischen Nationalismus und Patriotismus
Seit Februar dieses Jahres beschäftigt mich die Frage der Identität inständig. Das Thema wird täglich bei meinen Vorträgen und Veranstaltungen in verschiedenen europäischen Städten angestoßen. Ich versuche dann, den Europäern den Unterschied zwischen der russisch-sowjetischen und der ukrainischen Mentalität begreiflich zu machen. Sobald ich diese Differenzierung verdeutlicht habe, fällt es mir viel leichter, über die Ursachen dieses Krieges zu sprechen. So kann ich zudem meine eigene Identität erklären, die meiner Verständigung mit Russland schon lange im Wege steht und mir auch in der Ukraine viele Unannehmlichkeiten bereitet.
Tatsächlich gehörte mein Ich-Bewusstsein bis vor Kurzem zu den akzeptierten Formen der ukrainischen Identität und stand in keinerlei Widerspruch zu den wichtigsten Wertmerkmalen dessen, was einen „echten Ukrainer“ ausmacht. Es gibt jedoch einen Aspekt meiner Identität, der auf einige meiner intellektuellen Mit-Ukrainer ebenso wirkt wie ein rotes Tuch auf einen Stier: Ich bin ethnischer Russe und meine Muttersprache ist Russisch.
In allen anderen Wesensarten bin ich ein typischer Ukrainer. Ich höre nicht auf die mehrheitliche Meinung, sondern vertrete meine eigenen Ansichten. Für mich ist Freiheit – vor allem Redefreiheit und die freie Kreativitätsausübung – mehr wert als Geld und Stabilität. Ich unterstütze nur selten die Politik der machthabenden Regierung und bin stets bereit, sie zu kritisieren.
Kurzum: Ließe sich die Tatsache meiner Muttersprache und russischen Herkunft aus der Liste meiner Eigenschaften streichen, wäre ich der Prototyp eines Ukrainers, der mit Kusshand in den Schoß der „idealen Ukrainer“ aufgenommen würde. Die derzeitigen Mitglieder eben dieser Gruppe verbringen aber viel Zeit damit, auf Facebook öffentlich zu bestimmen, wer ein „waschechter Ukrainer“ ist und wer nicht, und wer partout nicht als Ukrainer gelten kann.
Ich betrachte mich selbst als Ukrainer – als Ukrainer russischen Ursprungs. Und mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich lebe in einem wunderschönen Land mit einer komplexen Wesensart und einer komplizierten Geschichte, in dem jeder Bürger seine ganz eigene Vorstellung davon hat, was den ukrainischen Staat ausmacht, und dabei sein Bild für das richtige hält. Anders ausgedrückt sind wir eine Gesellschaft bestehend aus Individualisten.
Diese Art der Gesellschaft ist durch unsere historisch bedingte Erfahrung der organisierten Anarchie entstanden, welcher die Ukraine über die Jahrhunderte mehrmals verfallen ist. Es verwundert also nicht, dass Europas größtes Anarchistenheer – Nestor Machnos revolutionäre aufständische Armee – in der Ukraine gegründet wurde und dort, und nicht in Russland, kämpfte, einem Land, das traditionell im Kollektiv denkt. Im Bürgerkrieg von 1918 bis 1921 besiegte die Machno-Bewegung sogar sämtliche ihrer Kontrahenten!
Wenn ich mir die Ukraine von heute so ansehe, liefert mir die Tatsache, dass hier über vierhundert Parteien offiziell beim Justizministerium zugelassen sind, den Beweis für den ukrainischen Individualismus. Ich verstehe und respektiere die ukrainische Gesellschaft so, wie sie ist, mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten.
Im Laufe der vergangenen dreißig Jahre haben mich Bekannte und Unbekannte aus den Rängen ukrainischer Nationalisten immer und immer wieder angehalten, ich solle doch auf Ukrainisch schreiben. Manche unter ihnen akzeptieren meine Begründung, dass ich eben in meiner Erstsprache schreibe – auf Russisch – und dass ich ein Anrecht auf meine Muttersprache habe. Manchmal stößt diese Erklärung aber auch auf Unverständnis und sogar Missfallen. Die Gespräche, die ich über dieses Thema geführt habe, sind aber bislang größtenteils freundlich abgelaufen.
Es kam aber auch schon vor, dass Anonyme, die gegenteiliger Meinung sind, in den sozialen Netzwerken posten, ich sei kein ukrainischer, sondern ein russischer Schriftsteller. Ich gehe darauf einfach nicht ein. Jeder Mensch in der Ukraine hat das Recht auf eine eigene Meinung sowie auf die freie Meinungsbildung und ‑äußerung. Und jeder hat zudem das Recht, die Meinung eines anderen nicht zu teilen.
In der Ukraine gibt es übrigens viele russischsprachige ukrainische Nationalisten. Ein Großteil der Mitglieder der bekannten rechtsextremen Organisation Prawyj Sektor („Rechter Sektor“), die 2014 an Bedeutung gewann, sind russischsprachige Ukrainer. Die ukrainische Sprache war also nicht immer eine Grundvoraussetzung für ukrainischen Nationalismus. Hier sollte ich anmerken, dass es in der Ukraine dutzende verschiedener nationalistischer Gruppierungen gibt, und dass diese oftmals aneinandergeraten, wenn es darum geht, die „korrekte“ Form des Nationalismus zu definieren. Selbst Stepan Bandera, eine Berühmtheit der ukrainischen Geschichte, geriet bereits beim Kampf für die Unabhängigkeit der Ukraine in den 1930er- und 1940er-Jahren mit seinen Genossen in Zwist.
Unterdessen sind derzeit keine Nationalisten in der Werchowna Rada vertreten, weil keine einzige der nationalistischen Parteien es geschafft hat, bei den letzten Parlamentswahlen die 5-Prozent-Hürde zu nehmen.
Eine Bewegung, die den Einzug ins Parlament nicht schafft, ist keine reale politische Macht. Im Gegensatz dazu schließt der ukrainische Patriotismus mehr Menschen mit ein. Die Grundbedingung besteht hierbei darin, das Land zu lieben, wobei niemand ein Interesse daran hat, Ausschlusskriterien aufzustellen. Von den krimtatarischen Aktivisten – die von den russischen Geheimdiensten schonungslos angegriffen werden – sprechen die wenigsten Ukrainisch. Die meisten beherrschen Russisch und ihre Muttersprache Krimtatarisch, doch niemand stellt deswegen ihren ukrainischen Patriotismus infrage.
Auch ich bin ukrainischer Patriot. Ich habe miterlebt, wie die Ukraine, als unabhängiger Staat, erwachsen wurde. Dreißig Jahre lang lebte ich in der Sowjetrepublik Ukraine und seit einunddreißig Jahren ist nun die unabhängige Ukraine mein Zuhause. Seit der Unabhängigkeit sind die ukrainische Literatur und Kultur zu neuem Leben erwacht und eine neue, ganz andere Generation europäischer Ukrainer ist herangewachsen, für die alles Sowjetische durch und durch fremd ist. Diese Generation hat die ukrainische Sprache und ukrainischsprachige Literatur populär gemacht. 2012 wurden die russisch und ukrainischsprachigen Ausgaben meines Romans Jimi Hendrix live in Lemberg gleichzeitig in der Ukraine veröffentlicht. Da ist mir zum ersten Mal klar geworden, dass sich ein Buch auf Ukrainisch in der Ukraine besser verkauft als dasselbe Buch in russischer Sprache. Seither haben die ukrainischen Übersetzungen meiner Bücher stets höhere Verkaufszahlen erzielt als die russischen Fassungen. Ich erlebe mit, wie die russische Sprache langsam ihre Stellung in der Ukraine einbüßt und, um ehrlich zu sein, echauffiert mich das nicht einmal. Junge Ukrainer lesen immer seltener auf Russisch.
Im Februar habe ich mich dazu entschlossen, meine Bücher nicht mehr in ihrer Originalsprache, auf Russisch, herauszugeben. Sollen die Bücher in der Ukraine auf Ukrainisch, in Frankreich auf Französisch, in Großbritannien auf Englisch verlegt werden. Russischsprachige Leser brauchen meine Bücher nicht. Die Publikation meiner Bücher in Russland wurde erstmals 2005 unterbunden, nach der Orangen Revolution, an der ich teilnahm. Nach einer kurzen Zeit des „Tauwetters“, während der meine Romane neu aufgelegt worden waren, wurde 2008 zum zweiten Mal ein Verbot verhängt.
Seit 2014 ist es russischen Buchhandlungen untersagt, meine Bücher aus der Ukraine einzuführen. Ich habe mich an den Gedanken gewöhnt, dass es mich als Schriftsteller in Russland nicht gibt. Ich habe dort keine Leserschaft und es tut mir auch nicht um sie leid. In letzter Zeit wird Russisch von ukrainischen Facebook- Nutzern immer häufiger als „Sprache des Feindes“ bezeichnet. Der Kreml hat Himmel und Hölle – wortwörtlich – in Bewegung gesetzt und russischsprachige Ukrainer letztendlich dazu bewegt, ins Ukrainische zu wechseln. Dennoch hört man auf der Straße, wo sich die Menschen sowohl auf Russisch als auch auf Ukrainisch unterhalten, nur selten Auseinandersetzungen über die Sprache und beide Sprachen bestehen friedlich nebeneinander.
Die Sprachenfrage und Streitereien rund um dieses Thema waren früher einmal auf die politische Arena beschränkt, wo vor dem Ausbruch des Krieges 2014 die Verteidiger der ukrainischen Sprache gegen die Verfechter der russischen antraten – oder vielmehr gegen die Verfechter des russischen Einflusses auf die Ukraine. Der andauernde Militärangriff hat die Verteidiger der russischen Sprache jedoch aus der Politik verdrängt. Viele von ihnen haben sich als Verräter, Kollaborateure oder sogar russische Spitzel mit russischen Pässen herausgestellt.
Unter solchen Umständen geben manche ukrainische Intellektuelle sämtlichen russischsprechenden Ukrainern teilweise die Schuld für den Krieg. Es stimmt schon, dass Putin russischsprachige Ukrainer zum scheinbaren Auslöser für diesen Krieg erklärt hat, indem er darauf beharrt, dass seine „militärische Spezialoperation“ notwendig ist, um sie zu beschützen. Weil er diese Idee ständig wiederholt, wurden manche ukrainische Nationalisten zu der Aussage verleitet, dass es nicht zum Krieg gekommen wäre, gäbe es keine russischsprachigen Ukrainer!
Manche Nationalisten, darunter Iryna Farion, scheinen sich damit schwerzutun, sich ein objektives Bild der ukrainischen Gesellschaft zu verschaffen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die Ukraine ein multikultureller Staat mit über zwei Dutzend nationalen Minderheiten ist. Glücklicherweise gibt es nur wenige Aktivisten, die die Realität in der ukrainischen Gesellschaft derart ausblenden, und jene, die sie vehement verleugnen, wirken keinerlei Einfluss auf die Staatspolitik aus. Trotzdem nutzen sie jede Gelegenheit, ihre polarisierende Meinung kundzutun und eine Spaltung zwischen Idealisten und Realisten unter der ukrainischen Bevölkerung zu bewirken.
Aus dem Englischen von Rebecca DeWald
©Haymon Verlag/Fotowerk Aichner
Andrej Kurkow wurde in St. Petersburg geboren und lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, vom Liebenswürdigen und Rätselhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet. 2022 erschien sein „Tagebuch einer Invasion“ bei Haymon, in dem er sich den ersten Monaten des Angriffskrieges widmete und für das er den Geschwister-Scholl-Preis 2022 erhielt. Kurkow schreibt weiterhin gegen die Zerstörung – und für die Zukunft der Ukraine.