Die österreichische Demokratie ist nicht demokratisch genug – Beatrice Frasl über Frauen in Machtpositionen
Über 100 Jahre sind vergangen, seit Frauen in Österreich zum ersten Mal wählen durften. Wie schaut es heute aus mit der politischen Repräsentation im Nationalrat und den Gemeindeämtern? Was hat sich wirklich getan? Und welchen Weg haben wir noch vor uns? – Beatrice Frasl setzt sich in ihrem Beitrag mit den Baustellen der österreichischen Demokratie auseinander, stellt inspirierende Frauen vor und zeigt, warum Quoten keine kosmetische Beschönigung, sondern ein wichtiges Instrument zur demokratischen Qualitätssteigerung sind.
Quoten für Qualität
Anna Boschek, Hildegard Burjan, Emmy Freundlich, Adelheid Popp, Gabriele Proft, Therese Schlesinger, Amalie Seidel und Maria Tusch. Das sind die Namen der acht Frauen, die als erste Frauen überhaupt 1919 in den österreichischen Nationalrat einzogen. Mit dem passiven Wahlrecht für Frauen, dessen Jubiläum wir 2019 feierten, kam nämlich auch das aktive – Frauen durften von nun an wählen und gewählt werden. So fanden sich also unter den 170 Abgeordneten zur konstituierenden Nationalversammlung 1919 erstmals auch acht Nationalrätinnen: eine Vertreterin der Christlichsozialen Partei (der Vorgängerpartei der heutigen ÖVP) und sieben der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (der Vorgängerpartei der heutigen SPÖ). Mit den Frauen zogen auch neue Perspektiven und Forderungen ins Parlament.
Es ist keineswegs irrelevant, wer die Interessen der Bevölkerung im Nationalrat vertritt, denn: Frauen und Männer finden auch in Österreich und auch im Jahr 2021 oft weitgehend unterschiedliche Lebensrealitäten vor, das zeigt die Corona-Krise eindrücklich. Frauen arbeiten mehr als Männer und werden dafür im Falle von Haushalts- und Kindererziehungsarbeit nicht bezahlt, im Falle von Erwerbsarbeit signifikant schlechter als Männer. Sie haben aufgrund dieser Mehrfachbelastung weniger Freizeit und Erholungszeit, bekommen 40% weniger Pension, sind öfter von Armut im Allgemeinen und Altersarmut im Besonderen betroffen. Sie werden, anders als Männer, nach einengenden und psychisch belastenden Schönheitsnormen bewertet, werden objektifiziert und sind öfter von Gewalt zuhause oder sexueller und sexualisierter Gewalt betroffen als Männer. Sie haben im Berufsleben schlechtere Aufstiegschancen, arbeiten öfter in prekären Beschäftigungsverhältnissen und erkranken, auch als Folge der Summe all jener Umstände, doppelt so häufig an Depressionen.
Der immer noch geringe Anteil an Frauen im Parlament bedeutet also auch: Diese Lebensrealitäten werden nicht ausreichend abgebildet. Interessen und Bedürfnisse, die Frauen aufgrund ihrer spezifischen Lebenssituation mitbringen, werden nicht annähernd ausreichend vertreten. Von den 183 Abgeordneten des Nationalrats sind derzeit lediglich 73 Frauen – das sind 39,89%. Die schlechteste Geschlechterquote hat die FPÖ mit 16,67%, die beste die Grünen mit 57,69%.
Frauen sind also im österreichischen Parlament nicht annähernd ausreichend repräsentiert; das wären sie mit einem Abgeordnetenanteil von 50,8% – das ist der prozentuelle Anteil von Frauen an der österreichischen Bevölkerung.
Auch andere Gruppen sind denkbar schlecht vertreten: So finden sich unter den Abgeordneten nur 9 mit Migrationshintergrund – das sind 5%, während Menschen mit Migrationshintergrund 23% der österreichischen Bevölkerung darstellen. Klassen und Berufsgruppen sind ebenfalls sehr ungleich repräsentiert: Es gibt verhältnismäßig wenige Abgeordnete aus der Arbeiter_innenklasse, aber weit überdurchschnittlich viele Akademiker_innen und Bäuer_innen. Im österreichischen Nationalrat sitzen aktuell mehr Landwirt_innen (nämlich 14) als Menschen mit Migrationshintergrund (nämlich 9).
Beatrice Frasl ist Kulturwissenschafterin mit Fokus auf Geschlechterforschung, Podcasterin (Große Töchter), Universitätslehrende und Kolumnistin. Sie forscht und schreibt und lehrt zu feministischen und Gleichbehandlungsthemen und lebt und arbeitet in Wien. Foto: Michael Würmer
Repräsentation ist keineswegs eine ausschließlich kosmetische Frage
Wissenschaftliche Studien belegen, dass Frauen eher von im Parlament beschlossenen Gesetzen profitieren, wenn Frauen auch maßgeblich an diesen Gesetzen mitarbeiten und mitentscheiden. Wenn Frauen und Marginalisierte nicht gleichberechtigt an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben, gehen wichtige Perspektiven verloren. Perspektiven, die die beschlossenen Gesetze erst zu guten (weil umsichtigen) machen. Wir lassen uns also viele Ideen und Innovationen entgehen, die sich aus marginalisierten Perspektiven ergeben. Ideen, die gesamtgesellschaftlich von großem Nutzen sein könnten.
Das zeigen auch die ersten acht Frauen, die in den Nationalrat einzogen. Sie machten tatsächlich andere Politik als die Männer vor ihnen – und schrieben damit Geschichte. Die Christlichsoziale Hildegard Burjan forderte beispielsweise bereits 1917 gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Adelheid Popp wurde 1895 wegen ihrer Kritik an der traditionellen Ehe zu einer Arreststrafe verurteilt. Auch im Parlament war sie mit ihren Forderungen ihrer Zeit (und ihrer Partei) voraus:
Schon 1896 forderte sie eine Quotenregelung, Karenzzeiten für Mütter und Gleichstellung von Frauen sowohl im Beruf als auch in der Ehe – und stieß dabei auf großen Widerstand der männlichen Parteispitze. Therese Schlesinger machte sich innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterpartei ähnlich unbeliebt, denn sie forderte gleichen Lohn für gleiche Arbeit, gleiche politische Rechte für beide Geschlechter, Arbeitszeitverkürzung für Mütter und eine staatliche Mutterschaftsversicherung. Zudem kämpfte sie, gemeinsam mit Maria Tusch, für die Straffreiheit der Abtreibung. Die Sozialdemokratin Anna Boschek setzte sich unter anderem für den Achtstundenarbeitstag und für das Nachtarbeitsverbot für Frauen ein. Auch ihre parlamentarische Mitarbeiterin, Käthe Leichter, war keine Unbekannte. Das Hausgehilfinnengesetz, an dem die beiden federführend beteiligt waren, war das erste von weiblichen Abgeordneten geschriebene und eingebrachte Gesetz und verbesserte die Situation von Hausangestellten maßgeblich. Ohne Frauen im Parlament wäre dieses Gesetz vermutlich nicht geschrieben worden.
Ich würde diese sehr langsame Fortschrittserzählung an der Stelle gerne weiterschreiben. Allerdings: Boschek, Burjan, Freundlich, Popp, Proft, Schlesinger, Seidel und Tusch wären vermutlich enttäuscht und schockiert, wenn sie wüssten, dass Österreich 2021 noch nie eine gewählte Bundeskanzlerin gesehen hat, wenngleich Brigitte Bierlein von Juni 2019 bis zum Januar 2020 vom Bundespräsidenten als Übergangskanzlerin bestellt wurde. Frauen, so scheint es, werden in Österreich lieber für provisorische Ämter einberufen als mit bleibender Macht in bleibenden Ämtern ausgestattet. Auch gab es noch nie eine Bundespräsidentin.
Um dieses Missverhältnis zu illustrieren: 50,8% der Bevölkerung Österreichs war im Jahr 2020 laut Statistik Austria weiblich. 100% aller Bundespräsidenten waren bislang Männer. Ebenso 100% aller gewählten Bundeskanzler. Das generische Maskulinum ist an der Stelle ausnahmsweise eine Tatsachenbeschreibung. Übrigens: Es gab auch noch nie einen Bundeskanzler oder einen Bundespräsidenten mit Migrationshintergrund.
Damit Frauen gleichberechtigt an politischen Entscheidungsfindungsprozessen teilnehmen können, müssen sich die Umstände ändern. Aufgrund der ungleichen Verteilung von Arbeit, vor allem unbezahlter Arbeit, zuungunsten von Frauen und der Tatsache, dass sie immer noch die Mehrheit der Reproduktionsarbeit, Haushaltsarbeit, Kindererziehung und Angehörigenpflege übernehmen, bleibt wenig Zeit für alles andere – auch, um sich politisch zu engagieren. Dies zeigt sich vor allem auf lokalpolitischer Ebene: Nur 9,4% der Bürgermeister_innen in Österreich sind Frauen, oder andersrum gerechnet, 90,6% der Bürgermeister_innen sind Männer. Zudem wird Männern nach wie vor eher Führungsqualität und Expertise zugeschrieben als Frauen (weswegen sie für geeigneter für politische Ämter gehalten werden).
Das ist nicht „nur“ ein frauenpolitisches Problem. Das ist vor allem auch ein demokratiepolitisches Problem. Eine Quotenregelung könnte insofern Abhilfe schaffen, als man so das Versprechen der repräsentativen Demokratie auch wirklich ernst nimmt: jenes Versprechen nämlich, die Wahlbevölkerung auch tatsächlich zu repräsentieren. Die Forderung nach Quoten auf allen politischen Ebenen ist also nicht nur eine frauenpolitische, sondern eine demokratiepolitische.
Auch das Frauenvolksbegehren 2.0 forderte eine Quotenregelung, und damit die Hälfte aller Plätze auf Wahllisten, in Vertretungskörpern, auf Gemeinde-, Landes-, und Bundesebene für Frauen, sowie wirksame Sanktionen bei Nichterfüllung der Quote.
Quoten können nicht nur den Zugang zu Entscheidungsmacht demokratisieren und zu einer gerechteren Repräsentation führen – sie sind auch ein Mittel zur Qualitätssteigerung. Der österreichische Nationalrat und die Regierungsämter haben die besten Köpfe verdient – nicht nur jene, die weiß, autochthon österreichisch, männlich und überdurchschnittlich gut vernetzt sind.
Auch drei Jahre nach dem Frauenvolksbegehren bleiben diese Forderungen unerfüllt. Auch 102 Jahre nach dem Einzug von Boschek, Burjan, Freundlich, Popp, Proft, Schlesinger, Seidel und Tusch in den Österreichischen Nationalrat ist das Thema der Repräsentanz von Frauen und ihrer gerechten Ausstattung mit Entscheidungsmacht also nicht vom Tisch.
Es hat hundert Jahre gedauert bis Österreich seine erste (nicht gewählte) Bundeskanzlerin bekam. Weitere hundert Jahre bis zur ersten gewählten Bundeskanzlerin werden wir nicht vergehen lassen.