Dichte Poesie und feiner Humor: Angelika Rainer erhält den Preis für künstlerisches Schaffen der Stadt Innsbruck

Vor 30 Jahren stellte die große Friederike Mayröcker – in wenigen Tagen werden ja Mayröcker-Festspiele einsetzen, anlässlich der einhundertsten Wiederkehr des Geburtstages dieser Poetin, die übrigens ihren mutmaßlich letzten langen Lese-Auftritt, wenn auch digital, bei einem Tiroler Literaturfestival hatte – vor 30 Jahren also stellte Friederike Mayröcker in einem Gedicht, das den Titel „was brauchst du“ trägt, die Frage: „was brauchst du?

Die Antwort folgte stante pede:

„was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch“.

Und einige Zeilen später hieß es da:
„du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus“.

Und vom Baume abbrechend, natürlich unter gesittet försterlicher Aufsicht, braucht man den „Kunst – Zweig Literatur“. Und dazu, wie Frau Mayröcker meinte, ein Haus. Denn, wie es in Frau Rainers „See’len“ an einer Stelle heißt:

„In den pelagischen Regionen des Auges tritt die Welt auf –
ein Baum, ein Haus, ein Vogel, ein Mensch.“

Statt eines Hauses kann es aber auch ein Zweckbau sein.

Portrait: © A. Darmann

Angelika Rainer, die Trägerin des Preises für künstlerisches Schaffen 2024 in der Sparte Literatur, mit (v.l.) Vizebürgermeister Georg Willi, Kulturamtsleiterin Isabelle Brandauer und Alexander Kluy (Jury).
 

Angelika Rainer gebührt der heute verliehene Preis aber nicht nur für ihren Band „Zweckbau für Ziegen“. Sondern mit gleichermaßen egalitärer Berechtigung und ob schriftstellerischer Verve und für poetischen Furor gebührt er ihr für ihr Gesamt-Werk. Davon ist „Zweckbau für Ziegen“ der letzte, der neueste Band.

Der Titel schon irritiert. Und er irisiert.

Zweckbau, wird da gleich im Auftakt erläutert, geht zurück auf Gion Caminada, einen Schweizer Architekten – oder wäre nicht: Baumeister treffender? –, der aus dem Dorfe Vrin stammt, das zur Gemeinde Lumnezia gehört und das im Kanton Graubünden liegt.

„Vrin“„Lumnezia“ – Worte und Namen, die die Poesie kaum besser und kaum schöner erfinden kann.

Das Werk Caminadas, des inzwischen Mittend-Sechzigers, weist neben Erwartbarem, einem Hotelumbau, einer Gemeindehalle und einigen Wohnhäusern, auch einen Käserei-Neubau auf, eine Telefonkabine und mit der Stiva da morts tatsächlich eine: Totenstube – sowie in Puzzatsch, einem Weiler nahe Vrin, das zur namenstraum-verlorenen Gemeinde Lumnezia gehört, – einen Geissenstall. Der in zwei Baukörper aufgeteilte Entwurf schmiegt sich riegelig an den Hang. Aus Holz und Stein errichtet, mutet er einerseits traditionell an. Und ist es andererseits auf der Stelle, auf seiner Stelle nicht. Ein Weg führt daran vorbei. Auf jüngeren Fotografien mutet das Ganze an, als stünde das ställerne Gebäude schon seit Generationen dort, wo es steht und vor dem knollig jäh ansteigenden Berghang schützt.

Gleich-Ähnliches gilt für „Zweckbau für Ziegen“.

Der Band, von dem man inzwischen meint, es habe ihn schon immer gegeben, schmiegt sich riegelig in die knollig ansteigende Handinnenseite einer und eines jeden, der das schön gestaltete Buch in die Hand nimmt und aufschlägt. Und sich festliest.

Über den so fein wie feinsinnig alliterierend tänzerischen Titel „Zweckbau für Ziegen“ meditierten nicht wenige Kritikerinnen und Kritiker.

Ist dieser Zweckbau nun – eine Heimstatt?

Steht es für – Zuflucht? Signalisiert es – Gemeinschaft? (Und sei es auch nur die mengenmäßig überschaubare Gemeinschaft von Lyrik-Lesenden …)

Oder ist es nicht einfacher – weil man schon auf der ersten Seite nur lesen muss. Da steht es:
ein Nutzbau, ein Gebäude für eine begrenzte Zeit, er schützt wie die Hecke, der Baum, der Schirm“ – jedoch wovor?

Vor, Überraschung: „dem fremden, dem neugierigen, dem beschämenden Blick.“

Zu „Ziegen“ übrigens bietet dieses Haus, die Stadtbibliothek, 54 Medien-Einträge, von der Ziegen-Haltung bis zum – und das ist etwas irritierend – „Schaf-Thriller“, in dem die Ziegen kaum mehr als Nebendarsteller sind. Bei Angelika Rainer sind solcherart Überraschungen wortreich treffend beseelt.

„Wer ist zuständig für die Beseelung der Dinge?“ hieß es in Angelika Rainers Zweitling „Odradek“, der schon im Titel eine Verbeugung Richtung Prag vollzog. Es war ein Verweis auf Anker. Auf Verankerndes und auf ihren Ort, ihren eigenen Ort, findende Bilder und Sprach-Bilder. Und auf stets und stetig Banges.

Es werden Ereignisse in verschiedenen Größen, Farben, Formen gesammelt.
Liest man da. Und: Nichts ist zu gering, alles ist gleich gültig, um ein schützendes Dach über dem Kopf zu schaffen.

Formal ist das außerordentlich ausgepicht. Und mit leichter Hand konstruiert. Wobei der Verlag gerne mitspielt. Entfernen Sie beispielsweise den Schutzumschlag des Bandes, den eine weißlineare Konstruktionszeichnung auf himmelblauem Grunde schmückt, dann entdecken Sie darunter – Sterne auf Nachtdunkelblau.

Daher, daher?, steht geschrieben in Numero 12:

Dass das Weltall wächst
habe ich staunend vernommen
bestand es doch bisher vornehmlich
aus erloschenen, nachglühenden Sternen
wie die Erinnerung.

Tief in die eigene Erinnerung, ins Lesegedächtnis prägen sich die Gedichte Angelika Rainers ein. Sie glühen zwischen Emotionen und der Evidenz von Vergänglichkeit.

Es geht bei ihr um: Sammeln, Ordnen und Aufbewahren – die drei Urformen der Literatur seit Anbeginn – und um stille Existenz, um die Stille der Existenz und um in der Tiefe, auch der eigenen Tiefe, lauernde Ängste und Unsicherheiten.

Portrait: © Julia Stix

Angelika Rainer wurde 1971 in Lienz/Osttirol geboren, heute lebt sie in Wien und ist neben ihrer Tätigkeit als Autorin auch Musikerin bei der Musicbanda Franui (franui.at). Mit „Luciferin“ war sie zum Europäischen Festival des Debütromans in Kiel eingeladen und erhielt die Autorenprämie des BMUKK. Außerdem bekam sie für ihre Arbeit das Große Literaturstipendium des Landes Tirol und das Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck. 2017 war sie Teilnehmerin bei „Poems in the City“ in Warschau. Bei Haymon erschienen „Luciferin“ (2008), „Odradek“ (2012) und „See’len“ (2018). Im August 2023 folgte mit „Zweckbau für Ziegen“ ein neuer Lyrikband der Autorin.

Kunstvoll kommt das daher, manchmal balladesk, dann wieder austariert lakonisch. Hier erscheint es erzählerisch additiv – der Auftakt von „Luciferin“ etwa mit den vielen, vielen Anaphern –:

Sie kommt zur Welt
Sie wirft einen großen Schatten
Sie rächt sich für alles.
Sie hat nichts zu geben.

Dort ist es aphoristisch: Schlafgedanken halten sich nicht im Licht.

Vor allem ist es alles andere als so einfach, wie es klingt und so unverstellt frisch klingen mag – denn, so zwei Zeilen in „Odradek“:
Warum soll nicht auch ich Umgang haben dürfen mit großen Gedanken?
Ich will die Hilfe von Vordenkern annehmen.

Angelika Rainer nimmt solche Hilfe an, von Poeten, von Ovid über Trakl zu John Berger und – welch Zufall! Friederike Mayröcker –, sie nimmt aber auch die Hilfe und Klang-Unterstützung von speziellem Wissen an, sei es botanischer Art oder physikalischer Natur.

Es ist das Geflüsterte, in Klammern Gedachte“, was sie an- und umtreibt und wortmalerisch bewegt.

Es sind die verwilderten Hecken und die Apokalypse, der Nasenzwicker und die Aniskekse, es sind Torf und Vierkant-Ruine, es sind Nod, ein Land in der Bibel, und der Jennesey-Strom in Sibirien, es sind Betrachtungen, psychogrammatische Rekonstruktionen und diaphanes Dunkel, durch das hier und da etwas Helles mit zitternd zithernder Stimme aufzirpt, während eine Selbstgedrehte zur „Musik der kleinen Planeten“ aufgeraucht wird.

Harfe, Zither, Stimme. Das ist, was Angelika Rainer musikalisch zu Franui beisteuert. Joseph Roth und Thomas Bernhard, Mahler-Lieder, Schubert-Lieder und Georg Kreisler-Lieder. Schnitzler als Prosa-Puppenspieler und Nikolaus Habjan als echter Puppenspieler, das waren und sind Programme dieser Musicbanda. Auch eines, das – sehr beruhigend in heutigen Zeiten – „Alles wieder gut“ hieß. Und ein anderes war das „Ständchen der Dinge“.

Bei Angelika Rainer ist ein solches Ständchen fragil, erträumt, hochartistisch, all und das All memorierend:

„Die genaue Seele vergisst
[…] Nichts wird verloren gegangen sein
Nur ich mir selber ein wenig im Schlaf“

liest man in „Luciferin“.

Portrait: © Filippo Cirri

Alexander Kluy, geboren 1966, Studium der Germanistik und Amerikanistik. Autor, Journalist und Herausgeber erfolgreicher Anthologien und der Reihe „Wiener Literaturen“. Zahlreiche Veröffentlichungen in deutschen, österreichischen und schweizer Zeitungen und Zeitschriften.

Angelika Rainer macht uns zu Staunenden in Sachen Welt-Wunder. Und zu Staunenden in Sachen Welt-Verwunderung. Auch darüber, was Zeit ist. Und besser als in ihre Bücher lässt sich die eigene Lese-Zeit kaum investieren.
Auch Angelika Rainer lässt sich Zeit. Zwischen dem Debüt „Luciferin“ und dem Zweitling „Odradek“ lagen vier, zwischen „Odradek“ und „See’len“ sechs, zwischen „See’len“ und „Zweckbau für Ziegen“ fünf Jahre. Dies virtuose Warten kommentierte Lucy einst im Erstling schon treffend, mit diesen ihr von Angelika Rainer in den Mund gelegten Worten:

„Meine Geschichte zu erzählen braucht die Zeit, die ich bei den Lebenden war.“

Für ihre große, für ihre bezwingende, für ihre durchsichtige und verspielte Lyrik, für ihre verständlichen und verstehenswerten Gedichte, die sich ganz konkret, dabei gebildet durch Segmente des Sinns hindurch schlängeln und durch alle 26 Buchstaben des Alphabets sich hindurchmusizieren, gebührt Angelika Rainer der Preis.

Ganz am Ende von „Zweckbau für Ziegen“, in der finalen, der Nummer 60 der 60 Nummern heißt es: „Alle Bilder habe ich umsonst gemacht.“

Dies zu Ihrem Glück und für unsere Lese-Fortüne stimmt denn doch nicht am heutigen Abend und für das künstlerische Schaffen von Angelika Rainer.


Weitere Infos zum Preis und die vollständige Begründung der Jury bestehend aus Elisabeth R. Hager (Schriftstellerin und Klangkünstlerin), Roland Sila (Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum) und Alexander Kluy (Schriftsteller, Kritiker) findet ihr hier.