»Wenn die Welt gefährlich ist, dann darf die Literatur nicht harmlos sein!« – Interview mit der Literaturkritikerin Sieglinde Geisel
Brennende Wälder, schmelzende Polkappen, Extremwetterereignisse, Kriege und soziale Verteilungskämpfe: Die multiplen Bedrohungen unserer Lebensweisen, Gesellschaften und der uns umgebenden Umwelt spielen selbstverständlich auch in den Büchern, Filmen und Computerspielen unserer Gegenwart eine wichtige Rolle. Gerade die weitreichenden Folgen des Klimawandels werfen die Frage auf, ob die Kunst unserer Zeit auch wirklich im Bewusstsein einer planetaren Katastrophe entsteht und dieses (naturwissenschaftlich breit artikulierte) Bewusstsein zum Teil unseres Lebensgefühls, unseres Zeitgeists, unserer Alltagsgespräche macht. Kann sie das? Soll sie das überhaupt? Wir haben uns mit der Autorin, Literaturkritikerin und Kuratorin Sieglinde Geisel über diese Frage unterhalten. Über die ästhetischen Herausforderungen, gute Erzählungen zwischen Dystopie und Utopie zu schreiben. Und über Climate Fiction. Unter dieser Bezeichnung werden erzählerische Werke unterschiedlicher Genres, Ausdrucksformen und Gattungen versammelt, die sich genau dieser Herausforderung widmen: künstlerische Antworten auf die globalen ökologischen Krisen finden. Sieglinde Geisel war Mitkuratorin des Climate Fiction Festivals 2020 – dem weltweit ersten Literaturfestival mit dem Schwerpunkt Klimakrise und Literatur. Was sich seitdem aus ihrer Sicht in der öffentlichen Wahrnehmung, in unserer Popkultur und in den Köpfen verändert hat, kannst du in diesem Interview nachlesen:
Sie waren im Jahr 2020 Mitinitiatorin des ersten Climate Fiction Festivals in Berlin. Wie kam es, dass Sie sich zu dieser Initiative entschlossen haben?
Das war ein Zufall. Ich trug mich schon länger mit dem Gedanken, etwas über die fehlenden Narrative des Klimawandels zu schreiben. Da lernte ich bei einer Weiterbildungsveranstaltung des Deutschlandfunk Kultur für freie Mitarbeiter Martin Zähringer und Jane Tversted kennen. Sie hatten schon einige Features zum Thema Climate Fiction gemacht, und beim Mittagessen erzählten sie mir, dass sie ein Festival mit Climate Fiction planten und noch jemanden zur Verstärkung suchen. Spontan entschloss ich mich, mitzumachen, obwohl wir uns noch gar nicht kannten.
Es ist interessant, dass ein Thema, das die mediale Berichterstattung der vergangenen Jahre mitprägt, in den Kulturressorts im deutschsprachigen Raum wenig präsent war (wie etwa Mitinitiator Martin Zähringer in diesem Interview befindet). Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Das ist mir ein absolutes Rätsel. Wenn ich etwa beim Deutschlandfunk Kultur einen Kommentar zur Klimakrise anbiete, heißt es manchmal: „Ach gut, dass Sie wieder einmal etwas dazu machen!“ Als würde sich sonst niemand darum kümmern. Letztlich sind die Kulturressorts dann eben doch kein Korrektiv, sondern ein Teil der Gesellschaft, man hat Anteil an der Verdrängung. Womit die Medien ihre Verantwortung nicht wahrnehmen: Die Klimakrise ist nicht nur ein Politik-, sondern auch ein Medienversagen.
Climate Fiction:
Climate Fiction oder Cli Fi ist eine neue Strömung in der internationalen Literatur, die die Klimakrise ernst nimmt. Krimi, Thriller, Science Fiction, Lyrik, Gesellschaftsroman und erzählendes Sachbuch – Cli Fi ist Literatur mit Haltung und ein offener Zugang zur wichtigsten Herausforderung unserer Zeit.
Auf der Seite des Cli Fi Festivals findest du eine ausführliche Zusammenfassung.
Sieglinde Geisel arbeitet als freie Literaturkritikerin, Moderatorin und Schreibcoach in Berlin. Sie war Kulturkorrespondentin der NZZ in New York (1994–1998) und Berlin (1999–2016) und ist Gründerin von tell, einem Onlinemagazin für Literaturkritik und Zeitgenossenschaft. Als Literaturkritikerin war Sieglinde Geisel regelmäßig Studiogast bei SRF Kultur in der Sendung „Literatur im Gespräch“ sowie im Deutschlandfunk Kultur. Dort äußert sie sich in Kommentaren zu Klimadebatten, und sie rezensiert Bücher, die sich mit der Klimakrise beschäftigen. Für das Climate Fiction Festival arbeitet sie als Kuratorin und Moderatorin.
Foto: © Niklaus Bächli
Man bekommt immer häufiger den Eindruck, dass die diffuse Krisenhaftigkeit der Gegenwart insgesamt zu einer Art Hintergrundgeräusch unserer Zeit geworden ist. Bemerken Sie – als Literaturkritikerin – seit 2020 eine Änderung innerhalb der Literatur in dieser Hinsicht?
Seltsamerweise eben gerade nicht. Ich wundere mich vielmehr darüber, dass sich die Themen nicht geändert haben: Man schreibt immer noch über seine Kindheit, die zerrüttete Ehe oder den Nazi-Opa, als wäre alles ganz normal.
Eine Reaktion auf die Zustände der Gegenwart fällt mir bei einem ganz anderen Thema auf, und das ist kein bisschen diffus: Es geht um die Katastrophe namens Russland. Diese ist allerdings nur in Büchern osteuropäischer Autor*innen präsent, dort aber umso erschütternder: Autoren wie Sergej Lebedew, Alhierd Bacharevič, Szczepan Twardoch läuten hier die Alarmglocken, und zwar auf höchstem literarischem Niveau.
Glauben Sie, dass Kunst an den sozialen, politischen Bedingungen, aus denen sie entsteht, etwas ändern kann?
„Poetry makes nothing happen“, sagt W. H. Auden. Das stimmt allerdings nur für die Politik im großen Maßstab, auf der Ebene der individuellen Leser*innen setzt Poesie durchaus Dinge in Gang. Mein Denken und Fühlen ändert sich ständig durch die Kunst, die ich in mein Leben hineinlasse. Durch Kunst „lernt“ man nichts, sondern man macht Erfahrungen, daher lassen sich die Änderungen nicht leicht dingfest machen.
Hans Magnus Enzensberger sagt: „Schriftsteller erfinden Gefühle.“ Das ist vielleicht der Hebel, an dem Kunst ansetzt. Sie bringt Dinge in unser Bewusstsein. Dass die Kunst kaum etwas dazu beiträgt, uns die Klimakatastrophe zu vergegenwärtigen, ist fatal.
Engagierte Literatur vs. literarischer Aktivismus: Wo liegen für Sie als Kritikerin die ästhetischen Herausforderungen, gute Texte über drängende Probleme zu schreiben?
Wenn Literatur politisch eingreifen will, ist sie oft ästhetisch unbefriedigend (Stichwort Thesenroman). Literatur jedoch, die ästhetisch keine Wirkung entfaltet – bei der wir eben keine unmittelbare Erfahrung machen –, wird auch politisch nichts erreichen. Ein frühes Beispiel engagierter Climate Fiction ist Ilija Trojanows „Eistau“ (2011). Der Roman wurde durchgehend verrissen, er wirkt konstruiert. Man spürt die Absicht und ist verstimmt …
Was ich in der gegenwärtigen Literatur vermisse, sind nicht diese typischen Cli-fi-Romane (Zukunftsszenario, Klimawissenschaftler als Protagonist, der den Leuten die Klimakrise erklärt etc.), sondern Literatur, die im Bewusstsein geschrieben ist, dass mit uns möglicherweise die Geschichte der Menschheit oder zumindest der Zivilisation endet. Das müsste uns erschüttern, und wenn Autor*innen in diesem Bewusstsein schreiben würden, kämen dabei andere Bücher heraus. Es ginge etwa um solche Fragen: Wie verändert das mein Lebensgefühl bzw. das Lebensgefühl einer Figur? Hat sie Angst vor dem Sommer, vor der unentrinnbaren Hitze? Wovon träumt diese Figur dann? Was hat noch Sinn, was nicht mehr?
Aber man kann Autor*innen nicht vorschreiben, was und wie sie schreiben. Auch sie sind Teil der Gesellschaft, in der sie leben. In diesem Sinn hat eine Gesellschaft auch immer die Literatur, die sie verdient.
– Sieglinde GeiselMein Denken und Fühlen ändert sich ständig durch die Kunst, die ich in mein Leben hineinlasse. Durch Kunst „lernt“ man nichts, sondern man macht Erfahrungen, daher lassen sich die Änderungen nicht leicht dingfest machen.
Ihr Fokus richtet sich ja besonders auch auf die Literatur des afrikanischen Kontinents und zuletzt auf die gegenwärtige Exilliteratur, etwa aus Russland, Belarus, Iran, der Türkei. Hier begegnet man ja etwa am politischen Feld ganz ähnlichen Fragestellungen. Können uns literarische Werke näher an eine empfundene Wirklichkeit heranführen als journalistische Beiträge?
Die osteuropäische Literatur habe ich oben bereits erwähnt. Was ich an den nicht-westlichen Literaturen spannend finde, ist das Verhältnis zur Politik. Bei Autor*innen aus Nigeria, Indien oder dem Iran stößt man mit der Frage, ob sie sich als politische Autor*innen verstehen, oft auf Unverständnis: „Als was denn sonst?“ Ein unpolitisches Schreiben ist für viele undenkbar. Ich scheue mich vor allgemeinen Zuschreibungen, aber mir scheint, diese Literatur entstehe aus einer anderen Dringlichkeit. Der Rückzug ins Private, in die autofiktionale Selbstbespiegelung ist hier ein Luxus, den man sich nicht leisten kann. Im Weiteren jedoch sind die Individuen in nicht-westlichen Gesellschaften viel stärker mit der Gemeinschaft verbunden, in der sie leben (was wiederum Fluch und Segen sein kann). „Der Dichter begleitet sein Volk in dem, was es durchmacht.“ Diesen Satz habe ich vor Jahren auf einer Buchmesse aufgeschnappt, es war ein Autor aus dem arabischen Raum, und er antwortete damit auf die Frage nach der Aufgabe des Schriftstellers. In der westlichen Wohlstandsgesellschaft ergibt dieser Satz kaum einen Sinn. Überall sonst auf der Welt ist er selbstverständlich.
In Diktaturen jedoch wird die Literatur entpolitisiert. Sergej Lebedew beschreibt das sehr genau für Russland: Innerhalb Russlands gibt es keine literarische Auseinandersetzung mit Themen wie Tschernobyl, den Tschetschenienkriegen, geschweige denn mit dem Krieg gegen die Ukraine. Deshalb hat Lebedew mit seinem Werken auch das Anliegen einer Re-Politisierung der russischen Literatur.
– Sieglinde GeiselWas ich in der gegenwärtigen Literatur vermisse, (…) Literatur, die im Bewusstsein geschrieben ist, dass mit uns möglicherweise die Geschichte der Menschheit oder zumindest der Zivilisation endet.
Alle Fakten liegen – so scheint es – auf dem Tisch, trotz einer sehr weitreichenden rationalen Anerkennung der drohenden Klimakatastrophe scheinen unsere Gesellschaften unentschlossen, träge und passiv auf die Herausforderungen zu reagieren. Erleben wir in Wahrheit eine Krise der Kommunikation und ist dies aus Ihrer Sicht ein spezifisches Symptom unserer Zeit?
Einerseits ist es eine Krise der Kommunikation. Der Klimawandel bietet etwa Greenpeace wenig Material für Kampagnen: Es gibt keinen klar identifizierbaren Feind, er bietet keine Gelegenheit für öffentlichkeitswirksame Aktionen wie das Anbringen eines Transparents auf dem Kühlturm eines AKWs. Die fehlenden Bilder (zumindest bis vor kurzem) sind für die Medien ein Problem. Angesichts der fortschreitenden Medienkrise sind Zeitungen und Funkmedien stärker als früher auf hohe Zugriffszahlen angewiesen (auch der ÖRR, der wiederum durch die Rechten in eine künstliche Legitimationskrise getrieben wird). Doch Klimawandel ist nicht sexy, damit holt man sich keine Klicks. Zum Kommunikationsproblem gehört im Weiteren die politische Agitation von rechts, die den Klimadiskurs durch Fake News und Halbwahrheiten verzerrt.
Andererseits hat man es mit einem tieferen Problem zu tun: dem Kassandra-Syndrom. Kassandra wurde mit dem Fluch belegt, dass ihre Prophezeiungen immer eintreffen, doch niemand ihr glaubt. Genau das ist die Situation der Klimawissenschaft. Dieses Nicht-Glauben hat auch eine psychologische Komponente: Probleme, für die wir keine Lösung haben, verdrängen wir. Die Klimakommunikation ist von einem klischeehaften Bemühen gezeichnet, trotz allem eine positive Stimmung zu verbreiten, jedes Interview hört mit der Frage auf: „Gibt es noch Hoffnung?“. Hans Joachim Schellnhuber, der sich als Klimawissenschaftler seit Jahren für die Klima-Kommunikation einsetzt, sagt: „Gute Geschichten sind Geschichten, in denen Menschen vorkommen möchten.“
– Sieglinde GeiselIn unserer Lebenswelt gibt es nichts, das nicht von der Erderwärmung betroffen wird. Literatur, die auf diese Veränderung reagiert, kann sich daher in jede Richtung bewegen.
Nature Writing als einer der großen Trends der letzten Jahre zeugt von einem gesteigerten Interesse der Menschen an ihrer Umwelt. Das Schreiben über die Natur und über die Beziehung des Menschen zu ihr ist so alt wie das Schreiben selbst. Liegt in der Hinwendung zur Zukunft und zum Überleben der Menschheit als Kollektiv die eigentliche Sprengkraft von Climate Fiction?
Ich würde Nature Writing klar von Climate Fiction unterscheiden. Nature Writing feiert die Natur auf eine Weise, die ich zwiespältig finde: Im Moment des Verlusts erkennen wir, wie wunderbar die Natur doch ist. Das hat etwas seltsam Apolitisches, Eskapistisches, ein wenig im Sinn von: „Genießen wir sie, solange wir sie noch haben.“
Was die Hinwendung zur Zukunft angeht, ist sie bei der Climate Fiction meist kein politisches Programm, sondern dem Gegenstand geschuldet: Solange die Erderwärmung noch nicht auf dramatische Weise zu spüren ist, kann ein Roman nur dann davon erzählen, wenn er das Geschehen in die Zukunft verlegt. Je mehr diese Zukunft Gegenwart wird, desto weniger muss die Climate Fiction auf die Zukunft ausweichen.
Bedeutet das Ihrer Meinung nach – jenseits der verhandelten Inhalte – auch formal neue Zugänge, einen anderen Fokus? Einen erzählerischen Paradigmenwechsel gar?
Der indische Schriftsteller Amitav Ghosh kritisierte in „Die Verblendung“ den Roman als bürgerliche Gattung, die sich stark auf das Abenteuer von Individuen bezieht. Oft befinden diese Romanhelden sich im Konflikt mit der Gesellschaft. Bei der Bekämpfung der Klimakrise brauche es aber nicht so sehr imposante Heldenfiguren, sondern Kollektive, die zusammenarbeiten, so Goshs Kritik.
Es ist schwer vorherzusagen, welcher erzählerische Paradigmenwechsel daraus hervorgehen könnte. In unserer Lebenswelt gibt es nichts, das nicht von der Erderwärmung betroffen wird. Literatur, die auf diese Veränderung reagiert, kann sich daher in jede Richtung bewegen.
Lohnt vielleicht auch in Sachen Cli Fi der Blick auf außereuropäische, vielleicht postkoloniale, nicht-hegemoniale Erzähltraditionen?
Es gibt in der Tat neue Denkrichtungen des Posthumanismus, die aus der nicht-westlichen Welt kommen: die Idee des Pluriversums etwa oder der neue Materialismus. Es sind Visionen einer Welt, in der alle Akteure miteinander verbunden sind: menschliche und nicht-menschliche, belebte und nicht-belebte. Der Band „All We Can Save: Truth, Courage, and Solutions for the Climate Crisis“ (2020, herausgegeben von Ayana Elizabeth Johnson und Katharine K. Wilkinson) versammelt Texte ausschließlich von Frauen, mit einem Fokus auf indigene und postkoloniale Stimmen.
Doch das sind Randerscheinungen, der Mainstream nimmt von solchen Bewegungen keine Notiz.
Gibt es Werke, die Sie in letzter Zeit besonders beeindruckt oder überrascht haben?
Es gibt wenig Klima-Literatur, die mich literarisch überzeugt. Der beste Klima-Roman, den ich kenne, ist bereits 1987 erschienen und stammt von dem australischen Autor George Turner: „The Sea and Summer“. Ansonsten haben mich die Romane der drei bereits genannten Exilautoren überrascht: „Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit“ von Sergej Lebedew, „Europas Hunde“ von Alhierd Bacharevič und „Kälte“ von Sczcepan Twardoch.
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