Kategorie: Krimi

Der Raab, der Metzger und ein Roman, der uns in einen skurrilen Mikrokosmos entführt – ein Interview mit Thomas Raab.

Nachdem des Metzgers Existenz in „Die Djurkovic und ihr Metzger“ (HAYMONtb 2023) in Schutt und Asche gelegt wurde, war es für ihn und die frisch angetraute Danjela Djurkovic an der Zeit, neu aufzublühen. Und wo könnte man den zweiten Frühling besser erleben als in einer Kleingartensiedlung? In etwa diese Gedanken muss Thomas Raab wohl gehabt haben, als er beschloss, seinen gleichermaßen schrulligen wie liebenswerten Willibald Adrian Metzger in „Der Metzger gräbt um“ (Haymon 2024) in ein Biotop voller Gartenzwerge, kleinlicher Gesetze und neugieriger Nachbarn zu verpflanzen. Im Gespräch erzählt uns Thomas Raab von seinen eigenen Erfahrungen im Schrebergarten, was all die ereignisreichen Jahre mit dem Metzger (und dem Raab) gemacht haben und mit wem sich der Metzger wohl ausgezeichnet verstehen würde.

Lieber Thomas, dieses Mal findet sich der Metzger unerwartet im Mikrokosmos Kleingarten wieder. Dass Ordnungsliebe und Vereinsmeierei hier mitunter eigenartige Blüten treiben, wissen wir seit Elisabeth T. Spiras Alltagsgschichte (Das kleine Glück im Schrebergarten, 1992). Du bist ja selbst kleingartenerprobt. Wie kann man sich den Alltag dort vorstellen? Was ist das Schrulligste, das dir zwischen Gartenzwergen und Hochbeeten untergekommen ist?

Thomas Raab: Das Leben im Kleingarten ist ein wenig so wie in einem kleinen Bergdorf. Abgeschieden, obwohl wir mitten in Wien sind. Unter der Woche und vor allem in den Herbst- und Wintermonaten sind wir mit unseren – zum Glück lieben – Nachbarn so gut wie allein. Wenn dann der Wochenendtourismus kommt und die Gärten wieder voller werden, dann kann man nicht nur den Pflanzen beim Wachsen zusehen, sondern auch den Menschen bei ihren Faxen. Ich versteh jetzt Leute, die auf ihren Fensterbrettern hängen und stundenlang in die Gasse schauen: bestes Kino! Das Schrulligste, was ich erlebe, ist eigentlich, wie ich mir selbst beim schrullig werden zusehen kann. Wie ich mich dabei erwische, völlig ungeniert schlampert in Haus- und Gartenklamotten zum Spar zu gehen und mir nichts mehr dabei denk. Wie ich aber davor zwei- oder dreimal überlege, ob ich jetzt wirklich aus dem Gartentürl rausgehen, oder nicht doch besser zu Hause bleiben soll, um im Garten herumzuschnippeln, zum x-ten Mal die Gartenhütte aufzuräumen oder einfach nur zu sitzen, zu schauen und zu schreiben. In die Stadt zu fahren, kostet mich oft riesige Überwindung. Irgendwie kommt es mir vor, der Schrebergarten hat einen Gulli und saugt mich auf, der Waschbeckenrand ist immer weiter entfernt, der Radius immer kleiner. Ich empfinde das irgendwie als angenehm.

Der Metzger begleitet dich ja schon seit 2007. Wie hat er sich während all dieser Zeit weiterentwickelt? Und wie hängt deine persönliche Weiterentwicklung, als sein Schöpfer, damit zusammen?

Thomas Raab: Das erfreuliche daran für mich ist: Er hat halbwegs gut all das verkraftet, was ich ihm angetan habe. Und ich glaube, er mag mich immer noch. Als Entschädigung habe ich ihn an der Seite einer wunderbaren Frau erleben lassen, wie sein Dasein plötzlich schöner wird. Ich habe ihn kurzfristig so eine Art Ersatzpapa sein lassen, ihm eine Halbschwester vor die Tür geknallt, ihn vom Hochgebirge bis zur italienischen Adria ermitteln lassen. Mir ist es beim Schreiben des neuen Metzgers schon aufgefallen, und gerade jetzt wieder, wo ich die Vorschau fürs nächste Frühjahr bekommen habe. Darin findet man „Der Metzger kommt ins Paradies“, den 6. Metzger-Band, der erstmals 2013 erschienen ist. Mir ist wie Schuppen von den Augen gefallen: In diesem Band wurde der Metzger 50, mittlerweile ist er 61. Ich sehe jeden Tag anhand meiner Kinder, wie die Zeit vergeht, an mir sehe ich es auch, an meiner Frau sehe ich es natürlich nicht, 😊, aber das hat mich kurz schon ein wenig aus der Fassung gebracht: Der Metzger wird älter. Und das macht etwas mit mir, durchaus im positiven Sinn.

 

Mit Thomas Raab und seinem Metzger im Schrebergarten

Welche Gartenzwerge wohl in den Beeten von Thomas Raab stehen?

Thomas Raab, geboren 1970 in Wien. Schulzeit eher mühsam, wäre da nicht das Klavier gewesen, sozusagen Gratis-Psychotherapie. 1988 dann doch Matura. Danach erste Versuche als Liedermacher, Studienabschluss Mathematik & Sport. Es folgten 10 Jahre einerseits als Lehrer (weil es so schön war in der Schule), andererseits im Musical- und Musiktheaterbereich und als Singer-Songwriter. Seit 2007 Schriftsteller, zahlreiche Romane um den Restaurator Willibald Adrian Metzger (u.a. Haymon), vielfach ausgezeichnet, sowie „Still – Chronik eines Mörders“ (Droemer). Neben dem Metzger lässt Raab auch die betagte Hannelore Huber ermitteln, wie zuletzt in „Peter kommt später“ (KiWi).

Du schickst ja nicht nur den Metzger auf Verbrecherjagd, sondern auch deine Hannelore Huber, zuletzt in „Peter kommt später“ (KIWI, 2024). Inwieweit sind denn der Metzger und die Frau Huber Geschwister im Geiste? Wären die beiden im realen Leben befreundet?

Thomas Raab: Ich glaub die beiden wären sehr gut befreundet, wahrscheinlich würde die Huberin dem Metzger sogar das Du anbieten – was sie bei mir nie gemacht hat. Und wahrscheinlich würde sich der Metzger sogar trauen, sie zu duzen, was wiederum ich nie gemacht hätte. Zu groß war immer mein Respekt. Und ja, sie sind tatsächlich Geschwister im Geiste. Für Hannelore Huber war mit ihrem dritten Fall meine zu erzählende Geschichte abgeschlossen. Die Huberin lebt jetzt weiter gemütlich in Glaubenthal und wird von mir in Ruhe gelassen (vielleicht lass ich sie irgendwann mal auf dem Metzger treffen, keine Ahnung) … ABER weil ich ihr Gartendasein und ihre Liebe zur Natur beim Schreiben so schätzen gelernt habe, bekommt das jetzt der Metzger ab und lebt eben in einer Schrebergartensiedlung.

Gab es bei deiner Arbeit an „Der Metzger gräbt um“ Momente, in denen dich der Metzger oder seine angebetete Danjela überrascht haben, indem sie etwas taten oder sagten, das du ursprünglich nicht geplant hattest? Wie hast du darauf reagiert?

Thomas Raab: Das ist leider die Crux bei meinem Schreiben, ein bisschen das Problem, aber für mich auch das Wunderbare. Meine Figuren überraschen mich immer. Ich schreibe planlos, und sobald ich mir einmal Pläne mache, wischen mir meine Figuren eins aus und mir kommen während dem Schreiben völlig absurde Ideen oder rührende Gedanken und dann kann ich nicht anders und muss mich dem stellen. Ich bin jetzt nicht gerade der Mensch, der vor Selbstvertrauen strotzt, aber ich glaube, wenn ich verlernen würde, meinen Figuren zu trauen und sie loszulassen, wie so wilde, ungezügelte Pferde irgendwo in der Prärie, dann würde mir die Freude am Schreiben ziemlich rasch vergehen.

Der Metzger wurde ja bereits mehrfach verfilmt, als Fernsehserie mit Robert Palfrader und als Fernsehfilm mit Simon Schwarz. Und man hört, dass wir uns bald über einen neuen Film freuen dürfen. Hattest du vor den Verfilmungen beim Schreiben ein bestimmtes Bild vom Metzger und seinen Konsort*innen im Kopf? Wie ist es für dich, wenn der Metzger von anderen zum Leben erweckt wird?

Thomas Raab: Zum Ersten ist es eine unglaubliche Ehre, überhaupt zu Lebzeiten von einem Verlag, in diesem Fall Haymon, mit einer bereits vorhandenen Reihe neu verlegt zu werden. Die Bücher bekommen ein wunderschönes Aussehen und dürfen so noch ein wenig länger leben. Ein klein wenig ähnlich ist es in punkto Film. Es ist schon ein Jackpot, wenn du eine Romanverfilmung erleben darfst, aber eine Neuauflage deiner Reihe mit neuer Produktionsfirma, neuem Sender, neuer Besetzung, das ist schon ein Wunder. Robert Palfrader war ein fantastischer Metzger, so voll Feingefühl und Hingabe. Er hat sich sehr in meinem Kopf verankert. Ja und Simon Schwarz ist auf eine andere Weise grandios, ein fantastischer Schauspieler, er gibt dem Metzger eine kottaneske Seite, schaut dabei fast aus wie der junge Mundl, das Herz in den Augen. Eine Freude. Für mich als Autor aber nehmen die Filme und die Personen keinen Einfluss auf mein Schreiben, da ist mir meine Freiheit im Kopf viel zu wichtig. Es gibt keine größere Freiheit für mich als eben das Schreiben.

 

Du hast jetzt nicht nur Lust aufs Garteln, sondern auch aufs Lesen bekommen und würdest schon gern wissen, was da hinter den Ligusterhecken getuschelt wird (natürlich nur zum Zwecke der Mileustudie)? Dann hol dir schnell den neuen Metzger-Krimi von Thomas Raab: “Der Metzger gräbt um“, erhältlich im Buchhandlung oder auf der Haymon-Website.

Die Wiederholung der Urszene: eine Psychoanalyse des Krimis

Gastbeitrag von Edith Kneifl

Ist „Ödipus Rex“ von Sophokles eine Detektivgeschichte? Nein, und doch haben beide viel gemein. Die Krimi­nalliteratur beschäftigt sich mit ähnli­chen Themen wie die klassische Psycho­analyse: mit dem ödipalen Verbrechen, seiner Aufdeckung und der damit ver­bundenen Entdeckung der Schuld und der Angst. „Kriminalschriftsteller sind die Psychoanalytiker der menschlichen Schattenseiten“ formulierte Janwillem van de Wetering.
Auch Sigmund Freud machte in einer Vorlesung für Jura-Stu­denten auf die Analogie zwischen dem Verbrecher und dem Analysierten auf­merksam: „Bei beiden handelt es sich um ein Geheimnis, um etwas Verborgenes. Aber beim Verbrecher handelt es sich um ein Geheimnis, das er weiß und verbirgt, beim Analysierten um ein Geheimnis, das auch er selbst nicht weiß. Die Aufgabe des Therapeuten ist aber die nämliche wie die des Untersuchungsrichters. Wir sollen das verborgene Psychische aufdecken und haben zu diesem Zwecke eine Reihe von Detektivkünsten erfunden, von denen uns also jetzt die Herren Juristen einige nach­ahmen werden.“
Aber nicht nur die Arbeit des Detektivs erinnert an die Arbeit des Psychoanalyti­kers. Jede Detektivgeschichte läuft ähn­lich einer Psychoanalyse ab. Krimis bau­en Ängste auf, die dann am Höhepunkt der Spannung aufgelöst werden, was dem Leser Entspannung und Erleichterung verschafft. Durch die Identifikation mit dem Täter, Opfer oder Detektiv kann der Leser seinen eigenen Impulsen nachge­ben, seinem Voyeurismus freien Lauf las­sen und seine infantile Neugier befriedi­gen.
Sollte sich der Leser mit dem Detektiv identifizieren, winkt ihm als Belohnung ein mächtiges und untadeliges Über-Ich. Durch die Identifikation mit dem Opfer lebt er seine masochistischen Tendenzen zumindest in der Phantasie aus. Manchmal wird ihm dabei sogar das seltene Vergnügen gewährt, seinem eigenen Be­gräbnis beizuwohnen. In der Rolle des Opfers wird er, je nach Plot, die alten Ängste wieder durchmachen. Als verfolg­ter Täter hingegen ist es ihm erlaubt, seine aggressiven und sadistischen Gelü­ste wenigstens in der Phantasie auszule­ben.
Aber alles dies erklärt nicht hinrei­chend die Leidenschaft für Krimis. Der wesentliche Aspekt der Kriminalge­schichte ist ein anderer: Es wird eine intensive Neugier erweckt. Die menschli­che Fähigkeit zur Neugierde erreicht laut Sigmund Freud ihren ersten und inten­sivsten Ausdruck anläßlich der „Urszene“, der Beobachtung sexueller Szenen zwi­schen Erwachsenen durch das Kind. Hier also findet sich das wichtigste Element der Detektivgeschichte wieder: das gehei­me Verbrechen!

Edith Kneifl ist die Grande Dame der österreichischen Krimiszene und prägt diese seit Jahrzehnten entscheidend mit.

Durch die aktive Wiederholung der realen oder phantasierten gefährlichen Situation, die das Kind einst passiv und sehr schmerzhaft erduldet hat, versucht es, diese zu bewältigen, das ursprünglich traumatische Erlebnis unter seine Kontrolle zu bringen, seine Neugier und die in der Wiederholung erneut ausgelöste Erre­gung dieses Mal zu befriedigen. Die unbe­wußt arrangierte Wiederholung der Ur­szene kann auch in sublimierter Form erfolgen, zum Beispiel im leidenschaftlichen Lesen von Kriminalliteratur. Auch der Liebhaber von Kriminalgeschichten versucht aktiv, erlit­tene Erfahrungen wiederzubeleben und sie dadurch zu meistern.
Bei kreati­ven Menschen findet dieser Wunsch oft Ausdruck in subli­mierter Form, also in Form von künstleri­scher Produktion. Marie Bonaparte wies in ihrer dreibän­digen psychoanalyti­schen Studie über Edgar Allan Poe und seine Arbeit den enormen Einfluß des Urszenen-Traumas bei der Entstehung seiner Geschichten nach.

Der Detektiv befin­det sich in der glei­chen Lage wie das ödipale Kind. Er fie­bert vor Neugier und projiziert seine eige­ne Erregung und sei­ne Schuldgefühle auf das Objekt seiner Nachforschungen. Es ist kein Zufall, daß die großen Detektive dieses Genres, Sher­lock Holmes, C. Au­guste Dupin, Hercule Poirot und Lord Pe­ter Wimsey unverhei­ratet sind. Selbst Miss Marple war eine alte Jungfer. Sie alle sind nichts anderes als fiktive Repräsentan­ten des ödipalen Kin­des. Deshalb kann der Detektiv auch nicht als Familienoberhaupt dargestellt werden oder gar die herrschende Moral verkörpern. Das ödi­pale Kind ist nicht wirklich moralisch. Es ist nur clever. So clever wie eben ein Kind ist, bevor die Latenzzeit seine Neu­gier und seinen Wis­sensdrang dämpft.
In der inzwischen klassisch gewordenen Kriminallitera­tur gibt es zwei ver­schiedene Arten von Detektiven. Die amerikanischen Kollegen S. F. Bauer, L. Balter und W. Hunt unterscheiden in „die Eu­ropäer“ und „die Amerikaner“. In den zwanziger und drei­ßiger Jahren ent­stand in den Verei­nigten Staaten eine Version der Detektivgeschichte, die der europäischen, was Plot und Atmosphäre betrifft, durchaus ähnlich ist, auch wenn sie sozial enga­gierter und politisch korrekt sein mag. Daß sie einen wirkli­chen Neubeginn dar­stellte, liegt eher an der Figur des private-eye, der in die­sen sogenannten „hard-boiled“ Krimis nicht nur zum zen­tralen Charakter wird, sondern auch für den Leser von enormer emotionaler Bedeutung ist. Mit Hammetts Sam Spa­de und Chandlers Philipp Marlowe be­trat die USA das Par­kett der Kriminalliteratur, auch wenn Poe in Boston geboren wurde.
Die europäischen Detektive sind eher asexuell. Sie verhal­ten sich schwer neu­rotisch. Holmes und Poirot sind nicht nur narzißtisch gestört, sondern sicherlich auch Zwangsneuroti­ker. Die amerikani­schen Detektive, zum Beispiel die beiden, die Humphrey Bo­gart darstellte, sind dagegen sexuell aktiv oder zumindest sehr phallisch und vor al­lem für Frauen at­traktiv. Außerdem neigen sie zu Brutali­tät und Gewalt, wis­sen, ihre Fäuste und – wenn nötig – auch ihre Schußwaffen zu gebrauchen. Tatsäch­lich besitzen sie eine gewisse Ähnlichkeit mit den Kriminellen, denen ihre eher intel­lektuellen europäi­schen Kollegen auf der Spur sind. Der amerikani­sche Detektiv bewegt sich selbst am Rande der Kriminalität und ist vielleicht gerade auch deswegen so faszinierend.
Die Krimi-Sucht der Europäer hat ihren Ursprung wohl eher in der Sucht nach Aufklärung. Im klassischen euro­päischen Kriminalroman steht immer das Rätsel und seine Lösung im Mittelpunkt – also das geheime Verbrechen.
Ebenso wie der europäische repräsen­tiert aber auch der amerikanische Detek­tiv das ödipale Kind. Da er seine Sexuali­tät jedoch nicht sublimiert wie sein euro­päischer Kollege, befindet er sich in viel größerer Gefahr als dieser, zum Kompli­zen des Täters zu werden. Doch gerade diese Triebhaftigkeit macht die amerikanische Detektivgeschichte emotional erre­gender als die europäische. Auch der amerikanische Detektiv wird nicht wirk­lich zum Verbrecher. Würde er tatsächlich am ödipalen Verbrechen teilhaben, dann wäre die Geschichte nicht länger eine Detektivgeschichte, sondern eine Art „Ödipus Rex“.
Die Urszene ist die dramatische Quint­essenz aller Ängste. Wie traumatisch sie erlebt wird, hängt davon ab, wie sie erfah­ren wurde: von der psychischen Entwick­lung des Kindes zu dieser Zeit, von der Beziehung zwischen den Eltern und von der Beziehung zwischen Eltern und Kind.
Aber egal, wie die Reaktion des Kindes aussieht: Sie hat immer Angst zur Folge. Ob es die Urszene verleugnet, akzeptiert oder teilnahmslos reagiert – die verdräng­te Erinnerung wird auf jeden Fall bis zu einem gewissen Grad mit einem schmerzvollen Effekt behaftet sein.
In der Kriminalliteratur wird dem Le­ser durch die graduelle Enthüllung der Indizien ein wesentliches Detail nach dem anderen dargeboten. Und schließlich wird das Verbrechen rekonstruiert, das Ge­heimnis gelüftet, das heißt: Die Urszene wird entlarvt. In einer Orgie von Nachfor­schungen kann das Kind im Leser, perso­nifiziert durch den großen Detektiv, schauen, erinnern und zusammenfügen – ohne Furcht und ohne Schande, im Ge­gensatz zu dem erschrockenen Kind, das Zeuge der Urszene war.
Die Kriminalgeschichte versucht also vom Standpunkt des Unbewußten aus, weniger schmerzvolle Urszenen zu inszenieren. Diese fiktive Urszene befriedigt vor allem die „Voyeure“. Aber der Voyeur wird durch sein Zuschauen nie vollkom­men zufriedengestellt. Er muß immer wieder hinsehen, so wie der Leser von Kriminalgeschichten unermüdlich diesel­be grundlegende mythische Erzählung von Mord, Schuld und Rache ohne Lange­weile liest, um Befriedigung zu erfahren. Wirkliche Befriedigung erlangen dabei weder Schriftsteller noch Leser oder Voyeur. Der Schriftsteller besitzt zwar we­nigstens die Kontrolle über das Gesche­hen, aber ebenso wie der Leser bleibt auch er immer nur Zuseher und nicht Teilneh­mer an diesem spannenden Ereignis.

Dieser Beitrag ist erschienen in Die Furche Nr. 26, Rubrik: Dossier, 26.6.2003.


Als ausgebildete Psychoanalytikerin begleitet uns Edith Kneifl in ihrem neuesten Werk in die Wiener Seele und bringt Licht in deren dunkle, verborgene und auch beunruhigende Ecken. Wir versumpfen in gemütlichen Absteigen, lachen laut auf, wo es in der guten Gesellschaft verpönt ist, und halten die Luft an, wenn sich die Ereignisse überschlagen. Was auch nicht zu kurz kommt: Liebesgeschichten, Intrigen, Skandale, kurzum: alles, was man an dunklen Herbstabenden braucht. „Der Wolf auf meiner Couch“ ist ab dem 19. September 2024 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich.

 


Wenn nicht nur Kunstblut fließt – Theresa Prammer und Ursula Poznanski im Gespräch über Krimi und Theater, Realitäten und Fiktion

Krimi und Theater – diese Mischung verspricht abendfüllende Unterhaltung. Nicht nur im Burgtheater, sondern auch Zuhause. Denn: Manche Kriminalromane nehmen uns direkt mit hinter den Vorhang und auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Theresa Prammer lässt die Schauspielschülerin Toni Lorenz zusammen mit Privatdetektiv Edgar Brehm in „Falsche Masken“ bereits zum dritten Mal ermitteln: im Umfeld von Filmsets und Theaterbühnen genau so wie auf den Straßen Wiens. Intrigen, Probleme mit dem allgegenwärtigen Machtgefälle und große Gefühle stehen an der Tagesordnung. Bei Ursula Poznanski mischt sich in „Böses Licht“ Theaterblut mit Mord: Eine Leiche auf der Bühne verwischt die Grenze zwischen Schauspiel und Realität.

Haymon Krimi Verlagsleiterin Linda Müller, Autorin Ursula Poznanski, Autorin Theresa Prammer und Literaturwissenschaftlerin und Podcasterin Irene Zanol präsentieren die Krimi und Theater Bücher, über die sie gesprochen haben

Von links: Linda Müller, Ursula Poznanski, Theresa Prammer und Irene Zanol präsentieren das Thema ihres Gesprächs: Krimis, in denen Film und Theater im Zentrum stehen. In „Schattenriss“ und „Lockvogel“ von Theresa Prammer ermittelt Schauspielschülerin Toni Lorenz, in „Böses Licht“ und „Stille blutet“ von Ursula Poznanski treffen Medienwelt und Theater auf Thriller und (Kunst-)Blut.

 

Haymon Krimi Verlagsleiterin Linda Müller und Literaturwissenschaftlerin und Podcasterin Irene Zanol haben mit den Autorinnen und Schauspielerinnen Theresa Prammer und Ursula Poznanski über „Tod und Theater“ gesprochen. Dafür getroffen haben sie sich im Rahmen des Kultursommers Wien. Krimi und Theater – diese Mischung verspricht nicht nur durchlesene Nächte, sondern auch Einblicke in die Welt hinter Scheinwerferlicht und Kamera. Welche Stücke Theresa Prammer und Ursula Poznanski inspirieren und wie sich die Debatte um MeToo auch in ihren Krimis spiegelt, kannst du hier nachlesen.

Irene Zanol und Linda Müller: Es macht uns allen viel Spaß, mithilfe von Kriminalromanen durch die Orte zu schreiten, die man kennt oder sogar bewohnt; oder auch Sehnsuchtsorte zu bereisen. Ursula, du wählst gerne ausgefallene Schauplätze für deine Krimis. Dein Buch „Böses Licht“ führt die Leser*innen zum einen ins Burgtheater und zum anderen zu den Salzburger Festspielen. Nach welchen Kriterien wählst du Schauplätze aus? Warum fiel die Wahl bei „Böses Licht“ aufs Theater?

 

Ursula Poznanski: Ich hatte schon ganz lange den Wunsch, einmal einen Krimi zu schreiben, der im Theater spielt. Ich habe lange in der Wiener Staatsoper statiert und habe mir gedacht, vielleicht mach ich was, das in der Oper spielt – die kenn ich ja noch ein bisschen besser … aber dann habe ich mir überlegt, das, was mir vorschwebt, funktioniert im Sprechtheater einfach besser; es haben sicher mehr Leute eine Vorstellung davon. Die Oper hat ja doch ein sehr spezifisches Publikum und Shakespeare, damit ist fast jeder schon einmal in Berührung gekommen. Man muss nie im Burgtheater gewesen sein, um sich vorstellen zu können, wie ein Theater aussieht. Das gesprochene Wort lässt sich auch viel besser in den Plot hineinarbeiten, weil ein Buch, das hat mehr mit Sprache zu tun und weniger mit Musik.

 

Linda Müller: Eine, die die Szenerie hinter den Kulissen und im Theater sehr genau kennt, die Ursula Poznanski beschreibt, ist Theresa Prammer. Im Buch „Böses Licht“ werden die Gefühle von Jasper geschildert, der auf Knien rutschen möchte aus Dankbarkeit für seinen Beruf als Schauspieler. Theresa, inwiefern kommt dir das bekannt vor?

Theresa Prammer: Wahnsinnig bekannt! Nein, ich war ja fast bis 2015 hauptberuflich Schauspielerin und als dann die „Wiener Totenlieder“ draußen waren und es absehbar war, dass sich beides nicht mehr hundertprozentig ausgeht … da muss ich sagen, ich hab mich sofort fürs Schreiben entschieden. Und ich bin sehr glücklich damit. Schauspielerin ist ein wahnsinnig toller Beruf und es ist ein schöner Beruf, aber es ist hart. Du hast so viele Vorsprechen und Castings, in der Woche circa drei bis vier. Und wenn du einmal im Monat irgendwas kriegst, dann bist du gut unterwegs. Dann sind’s aber manchmal Sachen, die du überhaupt nicht machen willst. Also was ich da schon für G‘schichtln mit Regisseuren und Regisseurinnen kenne, die Bierdosen wirklich knapp an dir vorbei geschmissen haben, weil sie das Gefühl hatten, du bist nicht wach genug bei der Probe … Es ist ein Traumberuf, es ist ein schöner Beruf, aber am Boden der Realität liebe ich das Schreiben ein bisschen mehr.

 

Linda Müller: Theresa, gibt es eine Rolle, die du gespielt hast und die dir besonders positiv in Erinnerung geblieben ist?

Theresa Prammer: Ja, tatsächlich schon. Das war mein Debüt am Burgtheater, das war von Turrini „Die Liebe in Madagaskar“. Ich habe die Tochter von Otto Schenk gespielt. Der nicht so schmeichelhafte Rollenname war „der fette Engel“, ich hab einen Fatsuit angehabt, aber es war super.

 

Linda Müller: Gibt’s für euch beide, abgesehen von Shakespeare, Theatertexte oder -stücke, die euch sehr geprägt haben im Schreiben?

Ursula Poznanski: In „Böses Licht“ probt das Ensemble relativ flott „Dantons Tod“ von Büchner, das mag ich sehr gern, von dem gibt’s ja nicht so viel, weil er nicht sehr alt geworden ist. Aber nicht jeder meiner Romane spiegelt jetzt zwingend was Theatralisches – aber doch immer wieder. Ich hab auch in einem Jugendroman einen Protagonisten, der sich gerade auf eine Aufnahmeprüfung in einer Schauspielschule vorbereitet und ich genieße es dann schon sehr, die Texte durchzuarbeiten und mich zu fragen: „Hehe, was lasse ich ihn jetzt vorsprechen?“ Ich hab schon eine große Affinität zum Theater und zu Theatertexten … vielleicht schreib ich einmal ein Stück, weiß ich nicht. Also konkrete Pläne gibt’s keine.

Theresa Prammer: Ja, also, in „Falsche Masken“ hat es mir gut gefallen, dass ich im Burgtheater eine Inszenierung von „Cyrano de Bergerac“ spielen lassen kann, bei der ich die Geschlechterrollen vertauscht habe. Der Cyrano ist bei mir die Cyrano und ich hab da alles umgedreht. Das Stück find ich wahnsinnig toll und ich hab’s irrsinnig gern. Ich glaub, dass die Geschlechterrollen umgedreht sind, das gibt’s tatsächlich noch nicht.
Und sonst, ich schreib ja auch Theaterstücke und ich hab ein großes Vorbild, neben Shakespeare: Neil Simon. Ich weiß nicht, ob der jetzt so bekannt ist. Der hat in den 60er Jahren „Ein ungleiches Paar“ – besonders den Film kennt man – und „Barfuß im Park“ geschrieben. Er hat so einen wahnsinnigen Wortwitz, aber so einen unaufdringlichen und so einen ganz intelligenten … und seine Figuren haben so viel Tiefe, obwohl es unglaublich lustig ist und manchmal auch Klamauk, aber es funktioniert auf so vielen Ebenen.


Foto: © Janine Guldener

Es war mir ein großes Anliegen, über die MeToo-Thematik zu schreiben, weil es wirklich Teil einer Realität ist.

– Theresa Prammer

Linda Müller: Nicht nur auf der Bühne passieren tragische und schlimme Dinge, auch in der Realität von Schauspielerinnen und Schauspielern, Theater- und Filmmachenden gibt es oft sehr dunkle und düstere Seiten. Und es kommt nicht von ungefähr, dass beide Bücher von dir, Theresa, auch „MeToo“ thematisieren. Eure Bücher zeigen sehr eindringlich die Mechanismen von Machtmissbrauch in der Theater- und Filmszene. Inwiefern war es euch ein Anliegen, dieses Thema in eure Kriminalromane einzubringen und inwiefern gehört es zum Themenkomplex Theater und Film dazu?

Ursula Poznanski: Die Idee dazu ist in mir gewachsen, weil zu dem Zeitpunkt, als ich begonnen habe, mir die Handlung zu überlegen, gerade eine Reihe von Schauspielerinnen und Regisseuren gesagt haben: „Ja super, dass es jetzt in Amerika alle möglichen Maßnahmen gibt, bei uns gibt’s die nicht und wir haben aber genau die gleichen Probleme. Und sie sind schlimm.“ Es gibt eine Reihe von sehr etablierten Regisseuren und Schauspielern, die es beinhart ausnutzen, dass sie so einen großen Namen haben und es jungen Schauspielerinnen super schwer machen, auf ‚normale‘ Art und Weise Karriere zu machen. Grad auch auf der Bühne ist das ein Thema. Ich hab das in meiner Zeit an der Staatsoper am Rande mitbekommen, wobei einen das als Statistin nicht in dem Maß betrifft, weil man dort nicht seine Karriere machen will. Und wenn einen jemand begrapschen möchte, kann man ganz gut die Kurve machen, weil niemand weiß, wie man heißt und niemand weiß, wer man ist. Man verschwindet einfach um die nächste Ecke und alles ist gut. Für jemanden, der seinen Beruf dort haben möchte und sein Geld dort verdienen möchte, ist das eine viel schwierigere Situation. Die sich auch einfach wahnsinnig gut in einem Krimi verarbeiten lässt.

MeToo-Debatte 

Die Diskussion um Machtmissbrauch, vor allem sexuelle Belästigung gegenüber Frauen, in der Film- und Theaterszene geht auf den Hashtag „MeToo“ zurück. Dieser greift eine ältere feministische Online-Kampagne auf, die Empathie und Zusammenhalt für afroamerikanische Frauen fördern sollte, die Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch machen mussten. 2017 wurde daran angeknüpft, um öffentlich über Machtmissbrauch zu sprechen und diesen publik zu machen.

Theresa Prammer: Es war mir ein großes Anliegen, weil es wirklich Teil einer Realität ist. Was sehr interessant war bei diesem ganzen „MeToo“: Wie das auf einmal aufgekommen ist, da war ich noch hauptberuflich Schauspielerin und erst da sind wir wirklich drauf gekommen, aha, diese Sachen haben System. Das ist gar nicht etwas, das zum Alltag gehört.
Rückblickend wirken viele Situationen absurd. Ganz am Anfang meiner Schauspielkarriere hatte ich ein Vorsprechen bei einem sehr renommierten Regisseur. Nachher hat der mir gesagt: „Ja, das war sehr gut, das hat mir sehr gut gefallen und wenn wir jetzt miteinander ins Hotel gehen und du gefügig bist, dann werde ich was für deine Karriere tun.“ Ich war so überrascht! Ich war damals wahnsinnig naiv, ich hab gelacht, weil es mir so unangenehm war. Ich hab gesagt: „Vielen Dank“, bin gegangen und hab nie wieder was von dem gehört. Aber wenn man das jetzt rückblickend betrachtet, was der da gemacht hat – das ist eigentlich irre und für mich noch immer unverständlich. Aber es war damals nicht ungewöhnlich. Hut ab vor allen, die in die Öffentlichkeit gehen und das sagen. Ich kenne noch sehr viele weitere Fälle, wo das öffentliche Aufzeigen von Problemen nicht so glimpflich ausgegangen ist: Bei denen wird gleich dagegen geklagt und die werden mundtot gemacht. Weil: Weg ist das Problem noch immer nicht. Daher find ich es gut, wenn man das immer wieder hervorholt; realistisch und ruhig beschreibt, wie es ist.
Manchmal ist es auch so zwiespältig. Weil bei den Proben besteht ein ganz nahes Verhältnis mit dem Regisseur, man ist dann sehr körperlich – der kommt zu dir und zeigt dir, wie er was gespielt haben will und wie du dein ganzes Talent einbringst und deine Leidenschaft. Da werden schon Grenzen überschritten. Und wenn er sehr freundlich zu dir ist, dann weißt du nicht, ist er jetzt so nett zu mir, weil wir ein gutes Arbeitsverhältnis haben, oder ist das jetzt mehr? Das ist, überhaupt als junge Schauspielerin, verwirrend. Es ist ja jetzt nicht so, dass ich sage, das ist ein grauslicher Grabscher, den will ich nicht mehr. Es sind diese Zwischenebenen, in denen die Position, in der du als Schauspielerin bist, eine sehr verletzliche ist. Und die wird manchmal beinhart ausgenutzt.

 

 

Hörempfehlung: 

Wer nicht nur mehr zu den Themen Krimi, Theater und MeToo wissen will, sondern auch Theresa Prammer aus „Falsche Masken“ und Ursula Poznanski aus „Böses Licht“ lesen hören möchte, kann das ganze Gespräch als Podcast bei „Auf Buchfühlung“ nachhören!

 

 

Live-Fernsehen mal anders! Die berühmte Schauspielerin Julia Didier gesteht einen Mord: live auf Sendung. Aber warum? Trotz dieses öffentlichen Schuldbekenntnisses bleibt die Kriminalpolizei am Anfang ihrer Ermittlungen stecken, denn das Motiv ist völlig unklar und weitere Aussagen von Julia Didier sind vorerst nicht zu erwarten: Sie befindet sich mittlerweile im Koma! Währenddessen sind Privatdetektiv Edgar Brehm und Schauspielschülerin Toni Lorenz mit einem Fall von Einbruchsdiebstahl beschäftigt. Ihr Auftraggeber ist der Psychologe der österreichischen High-Society, der auch das Ehepaar Didier behandelt hat. Dass die Akten seiner Patient*innen verschwunden sind, macht ihn nervös. Was verbergen Fernsehwelt und Theaterbühne und was kommt zum Vorschein, wenn die Masken fallen?

das Cover zu Böses Licht von Ursula Poznanski

„Böses Licht“ von Ursula Poznanski

erschienen bei Droemer Knaur 2023

 

 

Ein Mord im Burgtheater: alltägliche Inszenierung oder reales Entsetzen? Shakespeares Richard III wird am Wiener Burgtheater gespielt – dabei darf eine Menge Kunstblut nicht fehlen. Daher fällt es zunächst niemanden auf: Die Leiche, die von der Bühnentechnik ins Rampenlicht befördert wird, ist echt. Dass es der altgediente Garderobier ist, löst Unbehagen und Ratlosigkeit aus – der Mann hatte keine Feinde und war bei allen beliebt. Trotz dieser Umstände muss das Ensemble nach Salzburg reisen: Die Festspiele rufen! Mit ihnen kommt die junge Wiener Kommissarin Fina Plank, die zwischen hysterischen Künstler*innen, verstörenden Drohungen und einem unliebsamen Kollegen ermitteln muss.

„Ich wünsche mir mehr Diversität, also: mehr Autor*innen aus allen möglichen Welten, mit allen möglichen Hintergründen, mit verschiedensten Geschichten und Figuren. Sonst hat der Krimi keine Zukunft.“ – Till Raether im Interview

Wie alle Literatur verändert sich der Kriminalroman konstant, und immer wieder ist es notwendig, sich die Frage zu stellen: Welche Komponenten braucht ein Krimi, um zeitgemäß zu sein? Der Koblenzer Autor Till Raether spricht mit uns im Interview darüber, was einen „guten Krimi“ ausmacht und was gesellschaftspolitische Entwicklungen damit zu tun haben. 

Lieber Till, vor Kurzem wurde dein Roman „Die Architektin“ von der Hamburger Kulturbehörde zum „Buch des Jahres“ ausgezeichnet. Außerdem hast du u.a. ein großartiges Buch über Zuversicht geschrieben: „Hab ich noch Hoffnung, oder muss ich mir welche machen?“ Und natürlich kennt man deine beliebten Danowski-Krimis. Du bist also in verschiedenen Genres unterwegs. Seit wann schreibst du als Krimi-Autor und wie ist deine Faszination dafür entstanden?
Mein erster Kriminalroman ist 2014 erschienen, ich hab aber schon als Kind angefangen, Krimis zu schreiben. Ich erinnere mich an einen, der „Der Mörder kam im Leichenwagen“ hieß. Meine Mutter war treue Leserin und Sammlerin der rororo-Thriller, deren dunkle Einbände und die geheimnisvollen Titel haben mich von Anfang an fasziniert.

Der Krimi, wie wir ihn heute kennen, hat sich über Jahrhunderte entwickelt. Friedrich Schiller war im deutschsprachigen Raum beispielsweise einer der ersten, der über Kriminalfälle schrieb. Wie nimmst du das Genre wahr? Hat es sich in deiner Wahrnehmung stark verändert in den letzten Jahren?
Ich finde es erstaunlich, wie groß der Unterschied zwischen Kriminalromanen und Krimis im deutschsprachigen Fernsehen ist. Während die Krimiliteratur eine große Bandbreite von Geschichten und Personen erzählt, wird im Fernsehen in den allermeisten Fällen die klassische Polizeierzählung mit Verbrechen, Ermittlung und Lösung erzählt, zwischendurch ein bisschen Privatleben und Sprüche. Ich glaube, durch die Fernseh-Krimis könnte der Eindruck entstehen, dass der deutschsprachige Krimi erstarrt ist, aber ich finde ihn recht lebendig und vielfältig.

In einem Vortrag bei der Tagung „Kriminalerzählungen der Gegenwart“ der Universität Bonn im April 2021, der auf 54Books nachzulesen ist, sagst du: „Noch viel realistischer über die Polizei zu schreiben, wäre eine Flucht in die Recherche. Aber noch viel literarischer über die Polizei zu schreiben, wäre eine Flucht in die Kunst. Was also soll ich tun, als Genre-Autor?“ Wie schaust du inzwischen auf deine bisherigen Bücher, deine Herangehensweise(n) und auf die deiner Kolleg*innen?
Ich persönlich habe meine Reihe über den Hamburger Kommissar Adam Danowski gerade mit dem siebten Band beendet, und am Ende verlässt Danowski die Polizei. Ehrlich gesagt auch deshalb, weil ich immer noch ratlos bin, wie man heute Polizei erzählen kann, ohne die ganze Zeit die gleichen Strukturen abzubilden und die gleichen Geschichten und Figurenkonstellationen zu wiederholen. Ich bewundere Kolleg*innen, die da länger durchhalten, aber ich finde andererseits, dass Ratlosigkeit auch keine Schande ist. Im Moment arbeite ich jedenfalls an einem psychologischen Thriller, bei dem die Polizei keine Rolle spielt.

 

Till Raether, geboren 1969 in Koblenz, arbeitet als freier Autor in Hamburg, u.a. für das SZ-Magazin. Er wuchs in Berlin auf, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München, studierte Amerikanistik und Geschichte in Berlin und New Orleans und war stellvertretender Chefredakteur von Brigitte. Sein Sachbuch „Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?“ stand 2021 wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Seine Romane „Treibland“ und „Unter Wasser“ wurden 2015 und 2019 für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert, alle Bände um den hypersensiblen Hauptkommissar Danowski begeisterten Presse und Leser*innen. Band 2 „Blutapfel“ wurde vom ZDF mit Milan Peschel in der Hauptrolle verfilmt, weitere Danowski-Fernsehkrimis sind in Vorbereitung. Till Raether ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Von der klassischen Detektivgeschichte bis hin zum Thriller, von Cozy-Crime bis Noir gibt es viele Facetten der Spannungsliteratur. Was braucht es, damit ein Krimi zeitgemäß ist?
Eine gewisse Bereitschaft, die Regeln des Genres oder des Sub-Genres hier und da zu durchbrechen. Und ich finde schon auch, dass ein gewisses Verantwortungsbewusstsein dazugehört, also, sich die Frage zu stellen, ob wir beim Krimischreiben zum Beispiel bestimmte Formen von Gewalt als Unterhaltung ausbeuten.

Nicht selten wird der Krimi als Trivialliteratur bezeichnet, ja, geradezu abgewertet. Wie lautet deine Antwort darauf?
Ich finde die Bezeichnung Trivialliteratur irgendwie völlig veraltet. Genreliteratur wie der Krimi folgt nun mal bestimmten Regeln, das heißt, es gibt Vereinbarungen zwischen Autor*innen und Leser*innen, dass bestimmte Erwartungen im Genre erfüllt werden. Trivial finde ich persönlich vielmehr Literatur, bei der Altbekanntes auf handwerklich lieblose Weise zum x-ten Mal wiederholt wird. Das gibt es außerhalb des Genres genauso häufig oder häufiger als innerhalb des Genres, nach meiner Leseerfahrung.

Uns, unsere Gesellschaft beschäftigen viele brisante Fragen. Sollen im Krimi-Genre aktuelle gesellschaftspolitische Themen ihren Raum finden, oder macht es für dich einen „guten Krimi“ aus, dass er zeitlos ist?
Ich denke, dass aktuelle gesellschaftspolitische Themen eigentlich immer die gleichen sind, weil es dabei immer um Machtstrukturen in der Gesellschaft geht. Darum kann ich heute noch die Sjöwall-Wahlöö-Krimis aus den Sechzigern und Siebzigern lesen, obwohl ich weit entfernt von der schwedischen Gesellschaft der damaligen Zeit bin. Ich finde eher Krimis altbacken und schnell veraltet, die die Gesellschaftspolitik ihrer Zeit ignorieren und nur Psychologie erzählen.

Wie würdest du die Zukunft des Genres einschätzen und was würdest du dir für den Krimi wünschen?
Ich wünsche mir mehr Diversität, also: mehr Autor*innen aus allen möglichen Welten, mit allen möglichen Hintergründen, mit verschiedensten Geschichten und Figuren. Sonst hat der Krimi keine Zukunft.

Welche(r) Krimi(s) hat/haben dich in letzter Zeit total begeistert?
Die Aosawa-Morde“ von Riku Onda, „Milchmann“ von Anna Burns und, völlig unbegreiflicherweise bisher nicht auf Deutsch übersetzt, „Lady Joker“ von Kaoru Takamura.

Wir haben deine Neugierde geweckt und du hast Lust auf noch mehr gemischte Krimis bekommen? Wirf einen Blick in unsere aktuelle Vorschau, hier kannst du weitere facettenreiche Bücher entdecken.

„In den Köpfen der Protagonist*innen ist es dämmrig. Gerade das ist erhellend.“ Eine Laudatio auf Manfred Rebhandl

Das Krimifest-Aufenthaltsstipendium der Tiroler Tageszeitung wurde 2021 im Rahmen des vierten Krimifest Tirol an Manfred Rebhandl verliehen. Linda Müller streute dem Autor in ihrer Laudatio rote Nelken. Auch in seinem neuen Buch „Hundert Kilo Einsamkeit“, das im April 2024 erscheint, leuchtet Manfred Rebhandl wieder in die schattigen Ecken Wiens.

Es ist nicht leicht, Manfred Rebhandl gerecht zu werden, umso schwerer in wenigen Zeilen. Denn Manfred Rebhandl ist ein Mann mit vielen Facetten, und jede ist der Rede wert. Einige davon möchte ich hier nun besonders hervorstreichen.

Manfred Rebhandl ist ein Kenner der österreichischen Seele. Und damit meine ich nicht die Wiener-Blut-summende, ballkleidtragende Opernballseele. Ich meine die dunkelsten Ecken unseres Landes und die dunkelsten Stellen in den menschlichen Köpfen, den Abschaum, das Grindige, den Schmutz, all das, was uns mindestens ebenso sehr auszeichnet wie all der Prunk. Nicht umsonst wird Rebhandl von seinen Kritiker*innen zuweilen auch „Drecksau“ genannt. Seine Bücher haben außergewöhnliche Titel, die uns schon ahnen lassen, dass hier Dinge anders laufen. Das Schwert des Ostens beispielsweise, bezugnehmend auf das Arbeitsgerät eines anatolischen Pornostars. Sie bringen die Leser*innen ins Pornokino und ins Dealer-Hinterzimmer, sie konfrontieren mit Sexismus, Rassismus und so einigen anderen unschönen -ismen. Der Fall, die Ermittlung sind da manches Mal fast zweitrangig, es geht um ein hochgradig ehrliches, um ein schonungsloses Sittenbild. Ein Sittenbild ohne Filter, ohne mahnende, einordnende Erzählstimme, direkt durch die Augen seiner Protagonist*innen. Es gibt keine Tabus. Das ist manchmal hochunterhaltsam, an anderen Stellen verstörend. Es tut weh. Und das soll es auch.

Manfred Rebhandl hat Landflucht betrieben, und zwar im doppelten Sinne. Er selbst stammt eigentlich aus Windischgarsten, lebt aber schon lange in Wien. Und nach seinem Protagonisten Biermösel, der in der Ausseer Provinz ermittelt oder es vielmehr versucht, wenn er gerade hinreichend nüchtern ist, liegt Rebhandls Fokus zur Zeit wieder beim Wiener Rock Rockenschaub. Der löst in der Hauptstadt auf alle Fälle alle Fälle, seien sie noch so grausig. Sogar dann, wenn er eigentlich viel lieber im Ottakringer Freibad chillen und die Ladies mit Sonnencreme einölen würde.

Manfred Rebhandl hat es nicht mit braven Held*innenfiguren. Seine Ermittler*innen sind keine glattgebügelten Superman-Charaktere, sie sind nicht hochintelligent und auch nicht selbstlos. Sie sind Menschen, die man vielleicht nicht unbedingt zum Freund oder zur Freundin haben wollen würde, wenn man ihnen denn begegnet. Und sich schon gar nicht einölen lassen von ihnen. Schonungslos nimmt Rebhandl uns mit in den Kopf von all den Biermösels und Rockenschaubs dieser Welt. Dort ist es dämmrig. Und trotzdem ist die Lektüre erhellend.

Manfred Rebhandl fragt nach. Für Zeitungen und Zeitschriften. In Texten und Reportagen. Bei ziemlich spannenden Menschen. So spricht er zB mit Reinhold Mitterlehner über den heiligen Sebastian, mit Stefanie Sargnagel über Penisse, mit Peter Filzmaier über Socken und mit Richard Lugner übers Duschen.

Manfred Rebhandl will in seiner Kolumne für den Standard aber auch wissen, wie es geht. Zum Beispiel von Marc, 28, der gerade sein E-Auto auflädt, und von Edith, 57, die ihr Saxophon liebt. Und von Giovanni, 65, der eigentlich gar nicht Giovanni heißt, aus Ägypten stammt und früher Pferdepfleger war. Giovanni geht es nicht gut, sein Geschäft läuft pandemiebedingt schlecht – und er vermisst das Meer.

Manfred Rebhandl grüßt mit Freundschaft! Und am Ersten Mai zieht er mit gehisster Fahne durch die Stadt. Er ist ein politischer Mensch und ebenso hellsichtiger wie urkomischer Kommentator des Tagesgeschehens.

Manfred Rebhandl hat Alter Egos. Die Lyrikerin Mariandl zum Beispiel. Textprobe:
D’Erna hot den Werna vü gerna.
Ois er sie.
Oisa waunn soi des endlich wos wern mit eahrna?
I glaub sche laungsam: Nie.

Manfred Rebhandl ist das perfekte Krawatten-Model. Das kann man nicht erklären. Man muss es sehen. Auf seiner Facebook-Seite zum Beispiel.

Manfred Rebhandl ist Vater einer Tochter. Die ist noch jugendlich. Schreibt aber auch schon. Der Papa allerdings darf ihre Texte nicht lesen. Was eventuell dafür sprechen könnte, dass sie das Skandal-Talent ihres Vaters geerbt hat. Aber das ist Spekulation.

Ich gratuliere allen Facetten von Manfred Rebhandl zum Krimifest-Aufenthaltsstipendium der Tiroler Tageszeitung!

 

Superschnüffler Rock Rockenschaub ermittelt in tattrigem Umfeld. Wie jedes Jahr versammelt er seine (Wahl-)Familie am Wiener Zentralfriedhof. Doch diesmal ist alles anders! Nicht genug, dass ein altes Filmchen Pornokinobesitzer Dirty Willi gehörig die Laune verdirbt. Nein, ein alter Freund von Herschel muss auch noch den Löffel abgeben. Da bleibt Rock nichts übrig, als mit Ziegenbock Viktor loszubrettern, um wieder mal den Tag zu retten. Bewaffnet mit Bier und Schokoriegeln löst er in Manfred Rebhandls neuem Buch „Hundert Kilo Einsamkeit“ auf alle Fälle alle Fälle.

 

 

Eine Krimireise um die Welt: Leseprobe aus „Sonnige Grüße aus dem Jenseits“ von Edith Kneifl

Edith Kneifl entführt mit „Sonnige Grüße aus dem Jenseits“ ihre Leser*innen aus dem Alltag und nimmt sie mit auf 18 literarische Reisen zu verschiedensten Traum-Urlaubsorten zwischen Wüstenglut, Meeresbrise und Großstadtdschungel. Die Grande Dame des österreichischen Krimis weiß, was das Sommerlektüreherz begehrt: Liebe und Hass, Sehnsucht und Vergeltung, fatale Beziehungen und einen ordentlichen Schuss Humor. So genießt man Krimis aus aller Welt bequem von Balkonien aus und bekommt vielleicht sogar die eine oder andere Idee für den nächsten Urlaub. Tauch ein in eine Welt voller Spannung und hol dir einen ersten Eindruck mit dieser Leseprobe.

 

Das Haus am Fluss

Das einstöckige Haus an der Themse stand seit langem leer. Hin und wieder sah man Harry im Garten die Hecken stutzen. Er war nicht mehr der Jüngste. Sein Haar war ergraut und spärlich geworden, aber er hatte sich sein kindliches Lächeln bewahrt. Harry kam jeden Tag hierher, so wie früher, als Miss Guinney noch hier wohnte. Er war ihr Mädchen für alles gewesen.
Eines Nachts war sie von einem Ausflug nach London nicht mehr zurückgekehrt.
Nach ihrem Verschwinden tauchten zwei Polizisten auf und stellten Harry Fragen, die er nicht beantworten konnte. Er beteuerte nur immer wieder, nicht zu wissen, wo sich seine Herrin aufhielt.
Nach dem Besuch der Polizei machten viele böse Geschichten die Runde. Harry hörte den Männern im Pub aufmerksam zu, äußerte sich aber nicht dazu, obwohl er Miss Guinney als Einziger näher gekannt hatte. Selbst wenn es stimmte, was die Leute erzählten, seine Miss würde schon ihre Gründe gehabt haben.
Miss Guinney war eine attraktive Frau, groß und schlank und mit breiten Schultern wie ein Mann. Das Schönste an ihr waren ihre langen blonden Haare. Sie trug sie nie offen, sondern immer straff nach hinten gekämmt und hochgesteckt, was sie sehr streng aussehen ließ. Man konnte sich jedoch vorstellen, wie prachtvoll es sein musste, wenn sie über ihren muskulösen Rücken flossen. Harry hätte zu gerne ihr Haar einmal offen gesehen, aber er wagte es nicht, sie heimlich beim Kämmen zu beobachten.
All ihre Zimmer lagen im Obergeschoss, ein Schlafzimmer, ein Kabinett, das ihr als Ankleideraum diente, ein Bad und noch ein Raum, der immer versperrt war. Im Erdgeschoss befanden sich die Küche, ein Esszimmer und ein geräumiger Salon, der einer überdimensionalen Rumpelkammer glich. Sosehr Harry sich auch bemühte, Ordnung zu schaffen, Miss Guinney gelang es immer wieder in kürzester Zeit, ein Chaos zu hinterlassen. Jeden Vormittag fand er schmutzige Gläser, leere Tonic- und Gin-Flaschen und überquellende Aschenbecher im Salon. Auf dem Orientteppich lagen die Kleider, die sie am Vortag getragen hatte. Er ließ sie jede Woche reinigen, obwohl er wusste, dass Miss Guinney sie ohnehin kein zweites Mal mehr anziehen würde.
Die Fenster des Salons gingen zum Fluss hinaus. Der Blick auf das liebliche Themse-Tal war fantastisch. Der Fluss schlängelte sich durch zwei steinerne Brücken, die von Trauerweiden umrahmt wurden. Die prächtigen Herrenhäuser am anderen Ufer ließen sich allerdings nur erahnen. Sie versteckten sich in verwunschenen Parkanlagen. Aus der Ferne grüßte ein Kirchturm. Dahinter erhoben sich sanfte grüne Hügel. Ins nächste Dorf brauchte man zu Fuß eine Viertelstunde. Doch Miss Guinney pflegte nicht oft zu Fuß zu gehen. Sie stand nie vor Mittag auf. Nachmittags saß sie dann meist draußen auf der überdachten Veranda und gab sich dem Müßiggang hin. Den prächtigen Garten, der bis zur Themse hinunterreichte, betrat sie nur selten, er war Harrys Reich.
Liebevoll kümmerte er sich um die Rosen, Hortensien und Rhododendronsträucher. Er hatte nur Blumen in Miss Guinneys Lieblingsfarben Pink und Violett gepflanzt. Verirrte sich hin und wieder ein andersfarbiges Gewächs hierher, wurde es sofort von ihm entfernt.
Während ihrer Mußestunden durfte er sich im Garten nicht blicken lassen. Als er es einmal wagte, nachmittags den Rasen zu mähen, erhob sie ihre Stimme. Es war das einzige Mal in all den Jahren, dass er ein scharfes Wort zu hören bekam. Daraufhin ließ er sich zwei Tage nicht bei ihr blicken.
Sonst sprach sie immer mit leiser Stimme, in der ein gewisses Gähnen lag. Es schien, als würde sie das Sprechen langweilen. Harry sprach auch nicht gern, nicht nur weil die meisten Leute lachten, wenn er den Mund aufmachte, sondern weil er nichts zu sagen hatte. Anfangs dachten die Dorfbewohner, Miss Guinney müsse immens reich sein oder irgendwo einen reichen Ehemann versteckt halten, denn sie besaß Unmengen von Schmuck und teuren Kleidern. Sie zog sich nicht nur täglich zweimal um, sondern trug auch jeden Tag etwas anderes. Man sah sie nie zweimal im selben Kleid. Sie hatte das Haus vor nunmehr sieben Jahren relativ günstig erstanden, weil es sehr nahe am Fluss lag, feucht war und schon halb verfallen, als sie einzog. Früher hatten Überschwemmungen Haus und Garten übel mitgespielt, doch seit flussaufwärts ein Staudamm errichtet worden war, gab es keine Probleme mehr mit dem Hochwasser. Die Grundstückspreise waren mittlerweile stark gestiegen.
Das romantische Thames Valley war eine begehrte Wohngegend, nicht nur wegen der Nähe zu Schloss Windsor und der Universitätsstadt Oxford, sondern auch, weil die Hauptstadt des Britischen Empires mit dem Auto in einer guten Stunde erreichbar war.

 

 

Das entzückende Cottage stammte aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Es war umgeben von üppiger Vegetation und sah sehr hübsch aus, nachdem Harry es renoviert hatte. Doch in letzter Zeit ließ Miss Guinney es wieder verkommen. Sie wollte ihre Ruhe haben und erlaubte Harry weder das undichte Dach zu reparieren noch die verrostete Gartenpforte zu erneuern. Die Gerüchte über ihr sagenhaftes Vermögen verstummten. Eine Frau mit Geld würde doch so ein schmuckes Häuschen nicht verwahrlosen lassen, sagten sich die Nachbarn, und die Neider wurden weniger. Miss Guinneys Alter ließ sich schwer schätzen. Sie hatte sich in den sieben Jahren, die sie hier lebte, kaum verändert. Die Meinungen über ihre Schönheit waren jedoch geteilt. Manche fanden sie früher hübscher, andere wieder behaupteten, sie würde von Jahr zu Jahr schöner. Auffällig war, dass sie keinen Mann hatte. Sie ließ sich nicht nur Miss nennen, sondern man sah sie auch nie mit einem männlichen Wesen. Außer mit Harry natürlich, aber der war ein armer Narr. Böse Zungen unterstellten ihr, dass sie nur so viel Sorgfalt auf ihr Aussehen verwendete, um sich einen Mann zu angeln. Im Dorf lebte ein Mann, der es besser wusste. Er hatte sich ein Jahr lang vergeblich um ihre Gunst bemüht. Obwohl er nicht übel aussah und sogar über das nötige Kleingeld verfügte, um einer anspruchsvollen Frau fast jeden Wunsch erfüllen zu können, hatte sie ihn ebenso abgewiesen wie alle anderen, die es bei ihr versucht hatten.

Miss Guinney war nicht unfreundlich zu ihren Verehrern, sie behandelte alle gleich oder, besser gesagt, gleichgültig. Sie war nicht arrogant, sondern einfach nur desinteressiert an anderen.
Kein Mensch, außer Harry, überschritt je die Schwelle ihrer Haustür. Sie empfing keine Gäste, hatte keine Freunde, nicht einmal Bekannte. Den Nachbarn schenkte sie ein kurzes Nicken, wenn sie ihnen zufällig auf der Straße begegnete. Da sie selten ausging, brauchte sie auch nicht oft zu nicken. Direkte Nachbarn hatte sie sowieso keine. Das nächste Haus lag mindestens hundert Meter entfernt. Ohne komplizierte Ausreden zu erfinden, lehnte sie jede Einladung ab. Während der letzten Jahre belästigte man sie nur mehr selten mit Einladungen. Das Interesse an ihr flaute ab.
Miss Guinney besaß selbst ein altes Boot mit einem Außenbordmotor. An besonders heißen Tagen fuhr sie hinaus und ließ sich von der Strömung flussabwärts treiben. Sie war dann oft stundenlang unterwegs, da die Rückfahrt mit dem schwachen Motor mühselig war. Auch während dieser Bootsfahrten war sie immer elegant gekleidet. Harry hatte sie noch nie in Shorts oder gar in einem Badeanzug gesehen.
Er genoss vor allem die Ruhe in ihrem Haus. Es gab nicht viel zu tun. Nur selten trug sie ihm Besorgungen auf. Sie war auch nicht anspruchsvoll, was das Essen betraf, sondern begnügte sich meistens mit Salat, Sandwiches oder Fish & Chips.
Wenn es draußen kühl wurde, begab sie sich in ihre Zimmer im ersten Stock und erschien erst zum Abendessen wieder, entsprechend gekleidet und noch schöner als am Tag. Harry servierte ihr das Dinner im Esszimmer. Er aß in der Küche, bekam aber das Gleiche wie sie. Nach dem Essen ging er nach Hause. Er wohnte unten am Fluss in einem vermoderten Bootshaus, das ebenfalls zum Cottage gehörte. In den Wintermonaten ließ ihn der Wirt in einem Abstellraum des Pubs schlafen. Harry war in all den Jahren nie auf die Idee gekommen, Miss Guinney zu fragen, ob er nicht in der Küche auf der Bank des riesigen Kachelofens schlafen dürfe. Was sie an den langen Abenden allein zu Hause machte, wusste er nicht. Vielleicht sah sie fern? Es brannte immer sehr lange Licht im ersten Stock, aber die dunklen Vorhänge waren zugezogen, in dem einen verschlossenen Raum auch tagsüber.
An den Wochenenden hatte Harry frei. Anfangs war er auch samstags erschienen. Sie hatte ihm jedoch freundlich, aber bestimmt zu verstehen gegeben, dass sie ihn bis Montagmittag nicht zu sehen wünschte. Harry hasste die Wochenenden. Er vertrieb sich die Tage mit Fischen und hing abends meistens im Pub herum.
Die Leute waren bald dahintergekommen, dass Miss Guinney jeden Samstag das Dorf verließ. Nachmittags, immer um die gleiche Zeit, stieg sie in ihren alten pinkfarbenen Bentley und raste die Landstraße hinunter. Einer ihrer Verehrer hatte einmal versucht, ihr nachzufahren. Bis nach London war er ihr gefolgt. Am Stadtrand hatte sie ihn abgeschüttelt. Auch bei seinem zweiten Versuch war sie ihm entwischt.
Anfangs munkelte man allerlei über diese regelmäßigen Ausflüge von Miss Guinney. Dann einigte man sich darauf, dass sie schließlich irgendwann ihre Einkäufe erledigen musste. Ab diesem Zeitpunkt galt der Samstag als Miss Guinneys Einkaufstag. Allerdings kehrte sie oft erst in den frühen Morgenstunden aus London zurück. Manchmal war es bereits hell, wenn Harry den Motor ihres Wagens hörte. Den Bentley parkte sie immer neben dem Cottage unter einer alten Esche.
Der Garten war umgeben von hohen Hecken und nur von der Themse aus einsehbar. Ein besonders hartnäckiger Bewunderer hatte eine Zeitlang versucht, sich ihr vom Fluss her zu nähern. Doch sie hatte sich sofort in ihr Haus zurückgezogen, wenn sein Boot aufgetaucht war. Schließlich gab er auf. Ebenso wie die gefürchteten anglikanischen Frauenvereine bald aufgaben, Miss Guinney als Mitglied gewinnen zu wollen. Sie wurde für verrückt erklärt, nicht so verrückt wie Harry, aber auch sie schien eben nicht ganz richtig im Kopf zu sein. Die Damen verloren das Interesse an ihr und ihren Ausflügen nach London.
Bis sie eines Tages nicht mehr zurückkam. Man wartete einen Tag, zwei Tage, nahm an, sie wäre verreist. Aber Harry schien nichts von einer Reise zu wissen. Als sie nach zwei Wochen noch immer nicht aufgetaucht war, begann die Polizei erneut Nachforschungen anzustellen. Sie brachen die Haustür auf, da Harry behauptete, keinen Schlüssel mehr zu haben. Miss Guinney hatte ihm alle Schlüssel abgenommen, als sie ihn hinausgeworfen hatte. Nach ihrer letzten London-Tour hatte sie Harry in ihrem Bett vorgefunden und kurzerhand vor die Tür gesetzt.
Die Polizisten machten selbst vor dem ersten Stock nicht halt. Harry versuchte, die Police officers daran zu hindern, Miss Guinneys Schlafzimmer zu betreten, denn sie hätte niemals geduldet, dass diese wildgewordene Horde in ihr kleines privates Reich eindrang. Nicht einmal er hatte den ersten Stock betreten dürfen. Aber gegen diese Meute von Scotland Yard hatte er keine Chance. Verzweifelt klammerte er sich an die Beine eines Inspektors. Dieser versetzte ihm einen heftigen Stoß und Harry stürzte die Treppe hinunter. In dem mysteriösen Zimmer im ersten Stock entdeckten die Männer von Scotland Yard dann Anzüge in allen Größen, Maßhemden, Lederschuhe, goldene Uhren und leere Brieftaschen.
Miss Guinney hatte sich ein sonderbares Museum eingerichtet. Zuerst dachte die Polizei, sie hätte diese Sachen nur gestohlen. Später stellte sich heraus, dass die Besitzer dieser hübschen Sachen als vermisst gemeldet waren, verschollen in der fernen Großstadt, manche schon vor Jahren.
Die Gerüchte überstürzten sich. Die schöne Miss Guinney musste sehr wählerisch gewesen sein.
Anscheinend hatte sie sich nur mit wohlhabenden Männern eingelassen.
Der Londoner Nobelstrich wirkte verwaist ohne sie, „die Lady im Bentley“, wie sie von ihren Kolleginnen respektvoll genannt worden war, da sie ihren Kunden immer in ihrem schönen Wagen zu einem letzten Genuss verholfen hatte.
Als Harry abends aus dem Pub in das Bootshaus zurückkehrte, erzählte er Miss Guinney, dass die Polizei heute nicht nur die Leichen von drei ihrer ehemaligen Kunden, sondern auch ihren alten pinkfarbenen Bentley im Stausee gefunden hatte.
Miss Guinney antwortete ihm nicht. Sie konnte nicht, lag sie doch unter den morschen Brettern des Bootshauses, friedlich schlummernd im Schlammbett des Flusses. In ihrem weißen langen Hals steckte eine Heckenschere. Der Knoten in ihrem Haar hatte sich gelöst. Die langen blonden Strähnen breiteten sich auf den sanften Wellen der Themse aus. Harry entfernte zwei Bretter. Er konnte sich nicht sattsehen an ihrem wundervollen Haar, das sie endlich offen trug.

„Hier in Venedig bin ich eine Göttin.“ – Ein geheimer Tagebucheintrag von Astrid Vollrath

Astrid Vollrath, die neue Romanheldin von Krimödien-Queen Tatjana Kruse, reist nach Venedig, um sich dort von ihrem Liebeskummer abzulenken. Wie gut es Astrid gelingt, ihren betrügerischen Ex-Partner zu vergessen und welche kuriosen Abenteuer sie in Venedig erlebt, erfährst du in diesem exklusiven Tagebucheintrag.

 

Aus dem Tagebuch der Astrid V.

Tag 1 in Venedig

Ich fühle mich großartig!
Habe heute den ganzen Tag kein einziges Mal an Hagen gedacht, diesen Arsch auf zwei Beinen.
Na gut, ein-, zweimal schon. Nach dem Aufwachen. Und ganz kurz unter der Dusche. Eingeseift, geschluchzt, geheult, weitergeseift. Aber Tränen, die augenblicklich weggespült werden, gelten nicht.

Was gilt, ist die Tatsache, dass ich jetzt in Venedig bin.

Venedig!

Schon seit immer ein Sehnsuchtsort von mir. Jetzt im Sommer einen Ticken zu schwülheiß und touristenvoll, aber trotzdem … Venedig!

Zugegeben, das mit der Männerleiche, die auf meinem Weg zum Markusplatz im Kanal dümpelte, war jetzt nicht so prickelnd. Es hieß, er soll in eine Schiffsschraube geraten sein. Aber es war ja kaum etwas von dem Toten zu sehen. Nur die Hosenbeine. Da muss ich jetzt nicht so tun, als hätte mich das auch nur annähernd so traumatisiert wie der haarige Wipphintern von Hagen zwischen den Beinen unserer Nachbarin. Trotzdem, das soll mir eine Mahnung sein, dass das Leben kurz ist und man es genießen muss!

Und ja, dass in die Ferienwohnung eingebrochen wurde, während ich unterwegs war und man mir mein Handy gestohlen hat, hinterlässt schon einen kleinen Kratzer im Lack meiner Glückseligkeit.

Aber ich habe auf einen Schlag fünfundneunzig untreue Kilo verloren – ich fühle mich leicht und frei. Und ich wurde von einem eleganten Fremden zu einer Gondelfahrt eingeladen! Er hat im Gegenzug nichts weiter von mir erwartet, als mir den Handrücken küssen zu dürfen. Voll die Hollywoodszene.

Und das mir. Einer unspektakulären Steuerfachfrau aus Süddeutschland. Die ungewohnt spontan in den Zug nach Venedig stieg, nachdem sie ihren Lebens-Schrägstrich-Kanzleipartner bei der Matratzengymnastik mit Frisöse Gabi erwischt hat.

Und jetzt liege ich hier auf dem Bett der schnuckeligen Dachkemenate, die ich last minute ergattern konnte – in einem Palazzo voller Dogenköpfe aus Gips. Mein Vermieter heißt Cesare Foscarelli – was einem quasi auf der Zunge zergeht –, und er sieht selbst aus wie ein Doge. Der Palazzo ist ein wenig in die Jahre gekommen und verratzt, und Cesares Familie erinnert an eine Freakshow. Schon deswegen, weil sie in der Küche Piranhas in einem Aquarium halten. Piranhas!

Egal. Ich wollte einfach nur möglichst weit weg und mein Unglück vergessen. Das ist mir gelungen.

Hier ist alles ganz anders als daheim. Aufregend neu und ungewohnt. Ich wage mich auf völlig neues Terrain vor, und das ganz ohne meine üblichen To-Do-Listen. Sonst habe ich immer großen Wert darauf gelegt, penibelst auf sämtliche Eventualitäten vorbereitet zu sein. Nicht hier! Venedig macht aus mir eine ganz neue Frau.

Und habe ich schon geschrieben, dass mich ein Fremder zu einer Gondelfahrt eingeladen hat? Wie geil ist das denn bitteschön?!
Ich fühle mich sexy und schön und begehrenswert. Ich werde ohne Hagen nicht verdorren und einschrumpeln und altjüngferlich in ein frühes Grab sinken. Im Gegenteil! Männer werfen sich mir bereits jetzt, am Tag eins nach Hagen, zu Füßen – vielleicht keine hochgewachsenen, blonden Wikingertypen, dafür aber kleine, perfekt gebaute, dunkelhaarige, samtäugige Lockenträger aus der Lagunenstadt.

Gut möglich, dass ich im Laufe des Tages hin und wieder leise vor mich hingeschnurrt habe.
Hier in Venedig bin ich eine Göttin.

Das ist mein neues Ich.

Eine unwiderstehliche Femme fatale.

Kicher, ich hatte offenbar zu viel von dem Rotwein, den Cesare spendiert hat.

Okay, might delete later.

Nee, besser noch, ich reiße die Seite gleich aus dem Tagebuch. Wenn das jemals wer lesen sollte, wäre mir das doch voll peinlich. Sogar posthum noch.

Ich habe mich ein einziges Mal in meinem Leben für das Ungewohnte entschieden, für das Spontane, für das Abenteuer. Das macht aus mir noch keine „Bond, Jane Bond“.

Ich bin eine Astrid. Mit einem Astridleben. Und das ist voll okay so!

Obwohl …

 

Absolut suchtgefährlich: „Tagebuch einer Wasserleiche aus dem Canale Grande“ von Tatjana Kruse.

 

Astrid muss weg von daheim! Sie findet heraus, dass ihr Partner sie betrügt, und will ihren Herzschmerz in Venedig kurieren, einem Sehnsuchtsort ihrer Bucketlist. Nichts lenkt besser von einer traumatischen Trennung ab als die wunderschöne Serenissima. Denkt Astrid.
Aber: Statt romantischem Dolce Vita und köstlichem Vino findet sie in der Stadt der Gondeln und Kanäle vor allem Hitze. Und Leichen. Jede Menge Leichen. Denn die „Familie“ ihres Gastgebers Cesare handelt mit weit mehr als nur mit Dogenköpfen aus Gips. Astrid gerät unversehens in mafiöse Verstrickungen. Entführungsversuche, Verfolgungsjagden in Motorbooten, Schläger und Schmuggler – immerhin wird Astrid dadurch von ihren privaten Kümmernissen abgelenkt. Aber wird sie diese ungeplanten Abenteuer auch überleben?. 

Klick hier, um mehr über Astrids Abenteuer in Venedig zu erfahren.

„Das muss man als Ösi erstmal schaffen, deutscher Beamter zu werden!“ – Wolfgang Ainetter im Interview

Wolfgang Ainetter – ehemaliger Ministersprecher, Kommunikationschef, Journalist und jetzt Krimi-Autor! Im Gespräch offenbart Wolfgang Ainetter, was ihn zu seinem satirischen Debütkrimi „Geheimnisse, Lügen und andere Währungen“ inspiriert hat, welche Parallelen es zwischen ihm und seiner Figur André Heidergott gibt und wie der berühmt-berüchtigte Wiener Schmäh in Berlin ankommt.

Ist die Idee zu deinem ersten Krimi während der Arbeit im Ministerium entstanden oder vielleicht doch eher beim Sushi-Essen?

Als ich nach gut 25 Jahren im Journalismus Kommunikationschef in einem deutschen Ministerium wurde, tauchte ich in eine für mich fremde Welt: Unterschriften- und Umlaufmappen, Aktenvermerke, Gesetzesentwürfe, exotische Marathon-Begriffe wie Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetz oder Kurzfristenergieversorgungssicherungsmaßnahmenverordnung und nicht zuletzt opernhafte Titel wie Ministerialdirigent – genau dieser Titel stand übrigens auf meiner Visitenkarte. Schon nach wenigen Wochen kam mir die Idee, meine Eindrücke irgendwann literarisch zu verarbeiten und einen satirischen Ministeriumskrimi zu schreiben. Auf die in meinem Buch erwähnte Sushi-Foltermethode hat mich mein Lieblingskollege im Ministerium gebracht. Beim Mittagessen meinte er eines Tages: „Zum Glück gibt es bei uns in der Ministeriumskantine nie Sushi, das wäre die reinste Folter für mich.“

 

Foto: © Niels Starnick.

Was war die größte Herausforderung beim Schreiben? 

Die Zeit! Ich habe mir fast jede freie Minute und alle Urlaubstage abgezweigt, um neben meinem Hauptjob als Kommunikator an meinem Buch arbeiten zu können. Und es war eine echte Challenge, den Witz, der sich durch meinen Ministeriumskrimi zieht, auf einem gewissen Niveau halten zu können. Gute Satire ist weder laut noch derb.

 

Beim Lesen musste ich immer wieder laut auflachen, der Humor kommt im Buch wirklich nicht zu kurz. Was würdest du sagen: Ist es eher Schmäh oder Witz, den Heidergott in seine Perspektive bringt?

Kommissar André Heidergott ist gebürtiger Wiener und damit von Haus aus mit Wiener Schmäh gesegnet. Wie meine Hauptfigur Heidergott muss ich als Exil-Ösi sagen: Wien ist die Hauptstadt des schwarzen Humors, in dieser Disziplin kann Berlin leider nicht mithalten. Ich höre mindestens einmal pro Woche Qualtinger.

 

André Heidergott und dich verbindet zumindest der Umzug von Wien nach Berlin. Habt ihr weitere Gemeinsamkeiten?

Wir sind beide deutsche Beamte, er Polizeioberkommissar, ich Ministerialdirigent. Das muss man als Ösi erstmal schaffen, deutscher Beamter zu werden! Und sowohl Heidergott als auch ich haben gelegentlich Heimweh nach Wien. Wenn Heidergott und ich Heimweh haben, gehen wir zum vielleicht besten österreichischen Restaurant in Berlin, der „Nußbaumerin“, und trinken ein, zwei, drei Achterln Grünen Veltliner.

 

Lörr ist die Verkörperung des deutschen Spießbürgertums. Sind Eigenschaften von realen Personen in ihn eingeflossen?

In meinem Buch steht gleich zu Beginn:

„Diese Geschichte ist ebenso wahr wie die Lebensläufe von Abgeordneten. Die handelnden Personen existieren tatsächlich – in der Halluzination des Autors. Sollte sich eine Leserin oder ein Leser in einer der erfundenen Figuren wiedererkennen: Medienanwalt Christian Schertz wird sich um Sie kümmern, leider nur gegen Honorar.“

 

Du hast Psychologie studiert. Hat dir das bei der Entwicklung deiner Figuren geholfen?

Ja, sehr sogar. Aber noch mehr hat mir meine langjährige Reporterzeit geholfen, in der ich in den unterschiedlichsten Ländern die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Berufen getroffen habe. Ich bin eigentlich vor allem deshalb Journalist und jetzt Autor geworden, weil mich Menschen interessieren.

 

Wird im politischen Berlin wirklich so viel intrigiert, wie du es im Buch darstellst?

Der politische Betrieb ist mitunter „House of Cards“ in echt. Aber nicht nur in Berlin wird intrigiert, sondern auch in Wien und in so gut wie jeder anderen Metropole oder Kleinstadt. Das liegt in der Natur des Systems. Ich habe in der Politik zum Glück auch viele ehrliche, engagierte, wunderbare Menschen kennengelernt – die aber alle keine Spitzenpositionen bekleiden. Nach ganz oben schaffen es sehr oft nur Machtmenschen, die jeden Parteirivalen ausdribbeln, ihre Überzeugung Woche für Woche wechseln und ihre Politik nach den Umfragen der Meinungsforscher ausrichten. Vielleicht sind deshalb immer weniger Menschen bereit, sich politisch zu engagieren. Das halte ich gefährlich für unsere Demokratie – vor allem jetzt, wo es in ganz Europa einen Rechtsruck gibt und Rechtsextreme in Deutschland sogar offen von Umsturzplänen träumen.

 

Wie ist es dir als Österreicher in Berlin ergangen, auch im Vergleich zu André Heidergott?

1991, also zwei Jahre nach der Wende, war ich für eine Reportage erstmals in Berlin. Ich war damals 20 und hatte das Glück, mit Daniel Biskup, einem der bekanntesten deutschen Fotografen, arbeiten zu können. Damals sagte ich zu Daniel: „Eines Tages will ich hier in Berlin wohnen.“ Mein Wunsch sollte 17 Jahre später in Erfüllung gehen. Als Österreicher geht es einem in Berlin sehr gut, offensichtlich mögen uns Ösis die Leute hier, auch André Heidergott ist ja auf seiner Polizeidirektion sehr beliebt, bis auf seinen Chef können ihn alle gut leiden. Die Berliner brauchen zwar eine Weile, bis sie den Wiener Schmäh verstanden haben, aber wenn es dann soweit ist, freuen sie sich über jeden guten Spruch.

 

In „Geheimnisse, Lügen und andere Währungen“ nimmt uns Polit-Insider Wolfgang Ainetter mit in die Hochburg der deutschen Bürokratie.

 

Tatort Regierungsviertel: staubige Schreibtische und giftige Aktenschränke

Was zieht einen österreichischen Charmeur und Polizeioberkommissar nach Berlin? Natürlich die Liebe! André Heidergott, seines Zeichens leiwander Wiener, wohnt wegen seiner jetzigen Ex-Frau in Moabit. Mit den großen Gefühlen hat sich aber leider auch die gute Laune verflüchtigt. Was auch nicht hilft: Ein hoher Beamter wird entführt – und Heidergott muss ins Ermittlerteam „BAO Finsterweg“. Entführungsopfer Hans-Joachim Lörr war ein Meister der Machtspiele. Er steht kurz vor der Pensionierung und hat sich im Laufe seiner Beamtenkarriere viele Feinde gemacht, denn in Wahrheit hielt er als „Schattenminister“ stets die Fäden in der Hand – eine Tatsache, auf die er mit Stolz zurückblickt. Zusammen mit seiner Vorgesetzten Emily Schippmann ermittelt Heidergott im Berliner Regierungsviertel, wo gute Beziehungen alles sind. 

Klick hier, um mit André Heidergott die dunkelsten Geheimnisse der Beamt*innen zu ergründen.

„Trotz allen Fortschritts ist es nicht die KI, die Verantwortung trägt.“ Universitätsprofessorin Anne Siegetsleitner zu Fragen der Ethik in der Forschung

Georg Haderer wirft in seinem Kriminalroman „Seht ihr es nicht?“ die Frage auf: Was darf Wissenschaft und wo stößt sie an ihre moralischen Grenzen? Wir haben mit Univ.-Prof.in  Mag.a Dr.in Anne Siegetsleitner darüber gesprochen, was überhaupt unter den Begriffen „Moral“ und „Ethik“ zu verstehen ist,  welche Herausforderungen im Bereich der Technik am drängendsten sind und ob eine „Angst vor den Maschinen“ gerechtfertigt ist.

Oft spricht man sehr allgemein über die Begriffe „Moral“ und „Ethik“. Religiöse Menschen beziehen sich dabei gern auf religiöse Schriften wie die Bibel oder den Koran, andere wiederum richten sich nach Gesetzen. Wonach richten sich Ethiker*innen, wenn sie über „moralisch richtiges Verhalten“ sprechen?

Das hängt ganz davon ab, wen Sie meinen, wenn Sie von „Ethiker*innen“ sprechen. Vielfach wird heute das Wort „Ethik“ einfach anstatt „Moral“ verwendet, weil es besser klingt, weniger streng und moralinsauer. Menschen richten sich dann nach ihren persönlichen Maßstäben oder jenen ihrer Moralgruppe, sehr häufig einer religiösen Gruppe, treten aber als „Ethiker*innen“ auf. Wer sich vormals als Moraltheologe auswies, nennt sich heute eben oft „Ethiker“. Wer als Soziologin bestehende moralische Haltungen z.B. in der Medizin im Rahmen der empirischen Methoden des Faches erforscht, gibt persönliche moralische Urteile ab und bezeichnet sich als „Ethikerin“. KI-Expert*innen haben eine persönliche moralische Einstellung, und schwupps haben wir angeblich neue „KI-Ethiker*innen“. Eine Juristin leitet eine Ethikkommission und sieht sich deshalb als „Ethikerin“. Dadurch, dass sich diese Menschen als „Ethiker*innen“ bezeichnen, wird ihr spezifischer moralischer Standpunkt jedoch gut verdeckt. Das kann unüberlegt passieren oder als bewusste Immunisierungsstrategie eingesetzt werden.

Dass meist weniger hinterfragt wird, wenn jemand von „Ethik“ anstatt von „Moral“ spricht, liegt daran, dass in einem anderen Verständnis von „Ethik“ mit dem Gemeinten ein höherer Anspruch an Objektivität oder zumindest Intersubjektivität verbunden ist. Dann ist „Ethik“ nicht gleichbedeutend mit „Moral“. Die wichtigste Bedeutung von „Ethik“ in einer solchen Unterscheidung ist, dass mit „Ethik“ eine Teildisziplin der Philosophie bezeichnet wird, die Moral bzw. verschiedene Moralen philosophisch reflektiert. Das kann sehr unterschiedlich aussehen. Vieles, was Ethiker*innen in diesem Sinne tun und worin ihre Kompetenz liegt, besteht nicht darin, moralische Urteile abzugeben. Ethik nimmt keine Moral einfach hin, sie fragt nach Begründungen, nach der Möglichkeit und Reichweite von Begründungen, danach, was vorausgesetzt wird, ohne offengelegt zu werden. Ethiker*innen sind deshalb in machen Umgebungen gar nicht gerne gesehen. Sie stören das Nichthinterfragte. Das gilt meiner Erfahrung nach nicht zuletzt im stark traditionell geprägten Tirol.

Wenn Ethiker*innen im philosophischen Sinne moralische Urteile abgeben, geschieht dies auf der Grundlage von offengelegten Voraussetzungen, die sich immer einer Kritik stellen. Es sind Vorschläge im gemeinsamen Ringen um eine bessere Moral, d.h. einem Normen- und Wertesystem, das dem Zweck eines guten und gerechten Lebens sowie eines gedeihlichen Miteinanders besser dient als andere Vorschläge. Ethiker*innen sind keine säkularen Priester*innen, sie können auch religiös sein, solange dieser Zweck mit einer Religion vereinbar ist. Auch der Vorschlag, sich zu diesem Zweck nach Gesetzen zu richten, würde in der Ausgestaltung von Gesetzen seine Grenze finden.

In meiner eigenen Verwendung des Wortes „Ethik“ außerhalb des fachinternen Dialogs bin ich übrigens nicht immer konsequent. Ich will mich mit den Menschen über die Inhalte austauschen, und wenn ich das durch das Wort „Moral“ erschwere, sage ich eben auch „Ethik“, zumal ich tatsächlich Ethikerin im philosophischen Sinne bin. Wichtig ist mir dazuzusagen, worin ich meine Aufgabe und Zuständigkeit sehe und worin nicht.

 

Blickt man auf die Menschheitsgeschichte, wird klar: Was als „moralisch richtig“ angesehen wird, verändert sich. Ist eine universell gültige Moral überhaupt möglich? Gibt es einen Kern der Moral?

Nehmen wir den vorhin genannten Zweck als Formulierungsvorschlag für das Gemeinsame von Moralen, nämlich einem guten und gerechten Leben sowie einem gedeihlichen Miteinander zu dienen. Dass es auch in moralischer Hinsicht geschichtliche Veränderungen gibt, muss nicht heißen, dass es kein verbindendes Verständnis vom Zweck moralischer Beurteilung gibt. Es können sich ja die Umstände ändern oder eben in unterschiedlichen Regionen, Ländern, Gesellschaften unterschiedliche Rahmenbedingungen vorliegen. Es können aber auch im Laufe der Geschichte Vorurteile widerlegt werden, etwa jenes, dass Frauen weniger gut denken können als Männer. Dann ändern sich die spezifischen moralischen Urteile, obwohl sich an der grundsätzlichen Ausrichtung dessen, was mit „Moral“ gemeint ist, nichts geändert hat. Und es kann die geschichtliche Erfahrung geben, dass in einer Gesellschaft nicht immer alle dieselbe Vorstellung vom guten Leben haben müssen, sondern es ausreicht, einander auf individueller Ebene genügend Toleranzräume zu gewähren und gerade dadurch gut miteinander leben zu können. Eine solche Moral der Freiheitsräume, die einander gewährt werden, könnte universell gültig sein. Aber selbstverständlich ist sie nicht mit allem vereinbar, nämlich nicht mit fundamentalistischen Ansprüchen. Ob diese religiös oder nicht religiös sind, ist gar nicht der entscheidende Punkt.

Außerdem steht nicht fest, dass alle, die von „Moral“ sprechen, den oben genannten Zweck verfolgen. Und wenn wir darauf kommen, dass wir im Grundsätzlichen von Unterschiedlichem sprechen, dann ist es ratsam, das ausdrücklich kenntlich zu machen. Auch hierbei können Ethiker*innen im philosophischen Sinne äußerst hilfreich sein.

 

An der Universität Innsbruck lehren Sie u.a. zu Fragen der Wissenschafts- und Technikphilosophie. Welche ethischen Herausforderungen sind gegenwärtig am aktuellsten?

Die moralischen Herausforderungen, mit denen sich auch die Ethik im philosophischen Sinne beschäftigt, sind mannigfach. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen seit gut einem Jahr sicherlich jene in Verbindung mit (generativer) KI. Abgesehen von den positiven Entwicklungen, die hiermit z.B. in der Medizin verbunden sein können, sehe ich als zentralen Punkt die Frage nach der Verantwortung bzw. in der irrtümlichen Annahme, Verantwortung an KI-Systeme abtreten zu können.

 

Wenn von Menschen programmierte Maschinen Handlungen ausführen, stellt sich oft diese Frage nach der Verantwortung, wenn etwas schief geht. Wo sehen Sie die Verantwortung: bei den Forschenden, den Entwickler*innen oder doch der Maschine selbst?

Sicherlich nicht bei der Maschine. Maschinen – zumindest das, was wir gegenwärtig „Maschine“ nennen – können nichts verantworten. Sie können in dem Sinne, den Verantwortung voraussetzt, nicht einmal handeln. Trotz allen Fortschritts ist es nicht die KI, die Verantwortung trägt. Vielmehr braucht es vertrauenswürdige und verantwortungsvolle Menschen, die nur zuverlässige Technik entwickeln und einsetzen.

Abgesehen von der Versuchung, Verantwortung abschieben zu wollen, spielt hier nicht zuletzt das im Grunde verblüffende und beeindruckende menschliche Vermögen eine Rolle, mit Gegenständen oder Programmen so umzugehen, als ob sie Menschen wären oder über dieselben Fähigkeiten wie diese verfügen würden. Diese Fähigkeit kann uns leider auch in die Irre führen. Es fällt uns schwer, diesem Sog der Illusion nicht zu erliegen. Menschen glauben dann, ein Chat-Programm wäre eine Person, sie sagen „bitte“ und „danke“ zu ihm oder sie verlieben sich in Sexroboter, deren Entwicklung übrigens noch immer enttäuscht. Das ist wie ein Sprechen mit dem angeblichen Männchen im Radio nichts, was zu verbieten wäre, aber wir sind im Sinne des Zwecks der Moral, so meine Einschätzung, nicht gut beraten, unseren Umgang mit Technik und den Einsatz von Technik im Umgang miteinander auf solche verfehlten Annahmen zu stützen. Eine philosophische Ethik, die wissenschaftlich informiert und fundiert argumentiert und selbst die (latente) Technikfeindlichkeit manch geltender Moralsysteme hinterfragt, kann bei der Suche nach guten Lösungen durchaus einen bedeutenden Beitrag leisten, und zwar jenseits von solch pauschalen Ansichten, Systeme Künstlicher Intelligenz würden die Menschheit insgesamt bedrohen oder retten.

 

Sie teilen also nicht die Ansicht jener, die fürchten, die Menschheit schaffe sich durch Technologie selbst ab. Und was wäre die Alternative? Gibt eine „Rückkehr zur Natur“?

Eine „Rückkehr zur Natur“ gibt es nicht, weil es „die“ Natur nicht gibt. Viele nennen das, was sie sich als Ideal vorstellen, das Natürliche. Sie stellen dann beispielsweise eine „natürliche Empfängnis“ einer „künstlichen“ gegenüber und verbinden damit bereits eine Wertung.

Dass sich die Menschheit gleich abschaffen würde, sehe ich nicht. Was in einem bestimmten Rahmen abgeschafft wird oder werden könnte, sind bestimmte Tätigkeiten oder ganze Berufsfelder. Es drohen eine weitere Erosion privater Sphären, erhöhte Abhängigkeiten von global mächtigen Konzernen und einiges mehr, das es unter der Perspektive eines guten und gerechten Lebens zu beurteilen gilt. Wir sollten hier jedoch weniger auf die Technologie selbst blicken als auf die Menschen und Unternehmen dahinter. Technologie weder zu verherrlichen noch zu verteufeln, sondern mit Bedacht einzusetzen, das wäre intelligent. Je mehr wir das schaffen, umso weniger bedroht müssen wir uns sehen.

Unsichtbare Bedrohung in „Seht ihr es nicht?“ von Georg Haderer.

 

Als Helena Sartori, deren Eltern und ihr Sohn tot aufgefunden werden, wird Philomena Schimmer hinzugezogen: Die jugendliche Tochter Sartoris, Karina, ist spurlos verschwunden – und Schimmer soll sie suchen.
Helena Sartori war leidenschaftliche Wissenschaftlerin, wollte die Welt mit ihrer Forschung an Nanobots verändern . Und dann plötzlich hat sie sich – einige Zeit vor ihrer Ermordung – völlig zurückgezogen, in die wlanfreie Einöde. Was ist passiert? Ist ihr die Arbeit an den mikroskopisch kleinen, mit freiem Auge nicht sichtbaren Robotern entglitten – und hat das Sartori und ihre Familie in den Abgrund gestürzt? Ist Karina am Leben? Hat man sie entführt oder ist sie selbst geflohen? Quälende Fragen für Philomena Schimmer, der es immer schwerer fällt, die professionelle Distanz zu wahren, je länger von Karina jede Spur fehlt.

Und dann klopft plötzlich ein alter Fall an Schimmers Tür, eine junge Frau aus Philomenas Vergangenheit, die sie damals nicht retten konnte …

Wurden aus nützlichen Nanobots unkontrollierbare Mini-Monster? Finde es hier heraus.

„Schon die ersten Sätze faszinierten mich.“ – Michael Forcher über Alfred Komarek

Ob in Krimis, Kinderbüchern, Sachbüchern oder Bildbänden: Alfred Komarek verstand es wie kein Zweiter, Lesende mit seinen Worten zu begeistern.  Im Nachwort zu Alfred Komareks Werk „Spätlese“ erinnert sich Michael Forcher, der Gründer des Haymon Verlags, an die erste Begegnung mit Alfred Komarek und seinen Werken …

 

Ich habe ihn mir anders vorgestellt. Nein. Eigentlich habe ich ihn mir überhaupt nicht vorgestellt. Alfred Komarek war für mich schlicht und einfach ein Name, eher abstrakt. Er stand für Geschichten, Gedanken, Worte, Musik. Ja, auch Musik, was natürlich nicht nur mit Wortklang und Sprachmelodie zu tun hat, sondern auch damit, dass es Gedanken, Worte zum Weiterspinnen waren, zum Hineinträumen bei romantischer Musik, zum Sich-hinein-Verkriechen …

Viele, viele Menschen meiner Generation „50 plus“, aber auch Jüngere wissen, wovon die Rede ist: von Alfred Komareks Kultsendung „Melodie exklusiv“, die in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren regelmäßig hunderttausende Menschen zu später Abendstunde vor den Radioapparaten versammelte.

Später las ich wohl das eine oder andere von Alfred Komarek, in einem Merian-Heft, im Geo vielleicht, im Gedächtnis blieb es nicht. Und „Melodie exklusiv“ gab es nicht mehr. Dann gründete ich den Haymon Verlag, hatte Kontakt mit jungen, engagierten Autorinnen und Autoren, aber auch ordentliche Schwergewichte der Branche stießen zum Haymon Verlag. Wir hatten Erfolge zusammen, erlebten Enttäuschungen, und wie jeder Verleger hoffte ich inständig darauf, einmal den großen Coup zu landen.

Eines Tages entdeckte ich unter den gerade eingelangten Manuskripten ein Kuvert mit einem mir wohlvertrauten Namen: Alfred Komarek. Habe ich es falsch in Erinnerung oder schlug mir wirklich plötzlich das Herz bis zum Hals … Dieser Alfred Komarek? Kann das sein?
Tatsächlich, es war dieser Alfred Komarek, und er bot mir das Manuskript seines ersten Kriminalromans zur Veröffentlichung an: „Polt muß weinen“. Nie vorher und auch nachher nicht mehr habe ich mich so schnell ans Lesen gemacht, da galt keine Reihenfolge der eingelangten Manuskripte mehr. Und schon die ersten Sätze faszinierten mich, ein geradezu perfekter Anfang. Ein großer Erzähler war da am Werk. Aber auch ein Sprachkünstler, der mit wenigen Worten dichte Stimmung aufbauen kann.

Nach wenigen Seiten war Komareks Absicht klar: Die vordergründig gar nicht so spannende, aber letztlich packende und berührende Kriminalgeschichte mit – wie es sich erweisen sollte – überraschender Lösung war mit dem Hintergedanken geschrieben worden, den Leser*innen die dörfliche Welt der Weinbäuer*innen in der nordöstlichen Ecke Österreichs vorzustellen. Der Mord und seine Aufklärung waren sozusagen die Folie, auf der Komarek das Charakterbild einer Region und ihrer Menschen entwarf. Als Alfred Komarek mit dem ersten Simon-Polt-Roman „Polt muß weinen“ den renommierten Glauser-Preis gewann, stand denn auch die „Einfühlsamkeit, mit der der Autor die Menschen und die Landschaft des kleinen Ortes im Weinviertel nördlich von Wien beschreibt“ neben „der atmosphärischen Dichte und Bildhaftigkeit von Komareks Sprache“ im Mittelpunkt der Urteilsbegründung.

 

Aber ich eile voraus. Zunächst einmal war ich sofort entschlossen, den Roman ins Programm zu nehmen. Ein paar Jahre vorher hatten wir mit Kurt Lanthalers Tschonnie-Tschenett-Romanen erste Schritte auf dem Sektor der Kriminalliteratur gewagt, wobei für mich neben der literarischen Qualität der sozialkritische Akzent im Schreiben des Südtiroler Autors entscheidend war, der nicht nur unterhalten, sondern aufklären will und seine Geschichten so nahe wie möglich an der Wirklichkeit entlang erzählt. Der Erfolg blieb nicht aus. Auch die bald darauf gestarteten Kurt-Ostbahn-Krimis von Günter Brödl erreichten große Popularität und dementsprechend hohe Auflagen.
Und jetzt Alfred Komarek! Wie er mir später sagte, hatte er als verlagstreuer Autor den Roman zuerst mehreren größeren Verlagen angeboten, mit denen er schon in Kontakt stand. Die waren aber skeptisch und trauten sich nicht drüber. Wozu jetzt ein Krimi? Soll bei seinem Leisten bleiben, haben die wohl gedacht. Freund*innen und Kolleg*innen rieten Komarek dann, sich an den Innsbrucker Haymon Verlag zu wenden, der inzwischen zu einer der ersten Adressen in Österreich für dieses Genre geworden war.

 

Meine umgehend abgesandte Zusage, den Roman zu verlegen, war mit der Bitte verbunden, uns bald einmal in Wien treffen und persönlich kennenlernen zu können. Und da stand er vor mir. Erstmals leibhaftig. Er, der vorher nur Wort, nur Sprache war. Im Café Schwarzenberg war es, nach dem Eingang gleich links, ein Tisch im Eck am Fenster. Er hatte beschrieben, wo er sitzen würde. Stand auf, als er meinen suchenden Blick bemerkte. Herr Komarek? Herr Forcher? Grüß’ Sie Gott, freut mich … Ein großer, schlanker Mann mittleren Alters, im dezenten Straßenanzug mit eher altmodischer Krawatte. Freundlich, gewinnend. Ohne jede Starallüre.

Wir fanden uns im Reden, wurden schnell einig über Detailfragen des zu schließenden Vertrags, besprachen Termine, PR-Maßnahmen und was sonst alles dazugehört zum Geschäftlichen. Ich ließ mir vom Weinviertel erzählen, was ihn so fasziniert an der Landschaft dort, an den Menschen, warum er nach Rundfunk- und Magazinfeatures, Reisereportagen, kleinen Erzählungen, Essays, Texten zu Bildern, zu Kunst und Kultur und vielen anderen Facetten des Schreibens jetzt zum Krimiautor geworden war, der schon weitere Romane rund um den sympathischen Weinviertler Gendarmerie-Inspektor im Kopf hatte. „Ich wollte einen Lebensraum und seine Menschen, die Vorteile und Probleme des heutigen Lebens auf dem Land einmal nicht in Reportage- oder Sachbuchform darstellen, sondern es auf andere Weise probieren, und der Kriminalroman eignet sich dazu besonders gut, weil ein Mord den Alltag auseinanderklaffen lässt und verdrängtes, verleugnetes Unbewusstes herzeigt.“

Seit dem Tag sind mehr als zehn Jahre vergangen. Komarek hat mich damals gebeten, ihm ein strenger Lektor zu sein, allzu häufig verwendete Formulierungen und auffallende Lieblingswörter gnadenlos herauszustreichen, ja nichts durchgehen zu lassen. Ich bin dem Wunsch nachgekommen, doch habe ich nicht viel gefunden, was man hätte herausstreichen müssen. Selbst das angelernte Bemühen, unnötige Adjektiva auszumerzen und die Eigenschaften der Dinge eher der Fantasie der Leser*innen zu überlassen, ging größtenteils ins Leere.

Denn Komarek ist zwar ein Autor der vielen Adjektiva und Adverbien, doch sind es nie simple Ergänzungen aus dem Alltagswortschatz, sie schränken nie die Fantasie des Lesers ein, im Gegenteil, sie sind wohlüberlegt, überraschend kreativ, kaum eines ist verzichtbar, will man nicht den Sinn des ganzen Satzes, die Bedeutung der Aussage entstellen, ein Fenster zumachen, das der Autor durch gerade dieses Wort geöffnet hat.

Sehr oft verändern, relativieren die gewählten Eigenschaftswörter die Bedeutung des Hauptwortes, mildern, verschärfen, ja verkehren sie raffiniert ins Gegenteil, gibt ein Adverb dem folgenden Zeitwort einen neuen Sinn. Bei welchem Autor liest man sonst von „grausamer Zärtlichkeit“, wer beschreibt ein „Fest von sanfter Zügellosigkeit“, wer lässt einen Menschen „aufdringlich entspannt“ sein? Beispiele über Beispiele könnte man da anführen. Komareks Wörter treffen den Kern, durchdringen wie Röntgenstrahlen die äußere Wahrnehmungsschicht, legen tiefere Ebenen frei.

Und dann seine pointierte Sprache, sein Witz, seine Bonmots! Eine Formulierung wie „Die Existenz eines freiberuflichen Schriftstellers ist der eines Seiltänzers ohne Netz verdammt ähnlich“ könnte man auch bei anderen lesen. Bei Komarek kommt was nach „… und zuweilen fehlt auch noch das Seil.“ Niemand Geringerer als der verstorbene Altmeister unter Österreichs Sprachkünstlern, Hans Weigel, war von solchen Sätzen begeistert. Auch von dem: „Schön miteinander schweigen ist übrigens auch ein Gespräch.“ Dass diese Begabung Komarek zum Essayisten und Feuilletonisten alter Schule adelt, hat Hans Weigel im Vorwort zu Komareks Buch „Gott hab uns selig“ – aus dem in der vorliegenden Sammlung auch zahlreiche Beispiele abgedruckt sind – mit der Bemerkung hervorgehoben: „Als Alfred Polgar starb, nannte ich ihn in meinem Nekrolog den ‚letzten Ritter des Feuilletons‘. Ich bin glücklich, dass ich mich damals geirrt habe.“

 

Feuilletonistische Schärfe in Wortwahl und Formulierung sind das eine, Komareks Erzählkunst eine andere. Denn wunderbare Sätze, überraschende Metaphern und gescheite Gedanken machen noch keinen Roman aus. Geübt und erfahren in der kleinen Form märchenhafter Erzählungen, ausgestattet mit unbändiger Fantasie einerseits und exzellenter Beobachtungsgabe andererseits, dazu noch mit einem auch analytisch einsetzbaren Verstand, dem einige Semester Jusstudium offenbar nicht geschadet haben, ist er imstande, spannende Plots zu erfinden, Dialoge, Szenen und Bilder zu einer sinnvollen Handlung zusammenzuführen. Ein guter Erzähler eben, es gibt nicht gar so viele, leider!

 

Das Stichwort „Jusstudium“ erinnert mich daran, dass noch die Biografie Alfred Komareks zu erzählen ist. Geboren ist er am 5. Oktober 1945 in Bad Aussee. Sein Vater war Lehrer und Gelegenheitsautor, der dem Drittgeborenen die Lust am Formulieren und Erzählen vererbte, was sich schon früh in einer „übermütigen Hemmungslosigkeit im Umgang mit dem Material Sprache“ (O-Ton Komarek) niederschlug. Nach der Matura am Gymnasium in Stainach-Irdning bremste der Vater den Wunsch des geradezu schreibwütigen Sohnes, gleich als freier Autor tätig zu werden und riet ihm, zur Absicherung ein Jusstudium zu beginnen.

 

Für diese Argumentation hatte Alfred Komarek durchaus Verständnis, inskribierte in Wien und legte nicht nur die ersten beiden Staatsprüfungen ab, sondern bewährte sich auch als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Deutsche Rechtsgeschichte. „Ich bereue das bis heute nicht“, betont der erfolgreiche Autor im Rückblick, „denn wer mit dem kreativen Chaos in seinem Inneren produktiv umgehen will, sollte es auch gelernt haben, folgerichtig zu denken und ein stimmiges Konzept umzusetzen.“ Neben dem Studium machte der angehende Jurist das, was er am liebsten tat, nämlich schreiben, ab 1965 für den ORF, ab 1966 als freier Mitarbeiter der Wochenzeitung „Die Furche“. Aber der Stern des Alfred Komarek ging erst richtig auf, als die Geschichte des Rundfunks in eine neue Phase trat, als er – wie Komarek sagt – erwachsen wurde, sich nicht mehr für Unterhaltung genierte und nach der Rundfunkreform von 1968 mit Ö3 ein „junges“ Programm aus der Traufe hob.

 

Darin wurde dem Wort eine neue Dimension eingeräumt. Zwar waren es nach dem Vorbild der Programme der amerikanischen Besatzungstruppen in Europa meist frei sprechende Moderator*innen, die wortwörtlich das Sagen hatten, doch gelang es Komarek, radiogerechte Texte, Texte zum Hören zu schreiben, die von grandiosen Sprecher*innen wirkungsvoll an die Hörer*innen gebracht wurden, zuerst in „Entre nous“ von Erika Mottl und Wolfgang Hübsch, dann in „Melodie exklusiv“ von Meinrad Nell und Ingrid Gutschi, später in der Reihe „Texte“ von Ernst Grissemann. Gleichzeitig entstanden jede Menge anderer Manuskripte fürs Radio, für österreichische Lokalsender genauso wie für große, deutsche Rundfunkanstalten. Alfred Komarek war etabliert, verdiente ordentlich, war inzwischen glücklicher Ehemann, ging einer schönen Zukunft entgegen. Da passierte es. Seine Frau wurde das Opfer einer schweren psychischen Erkrankung, ihr Tod riss auch ihn in eine existenzielle Krise. „Ich wär auch bald draufgegangen“, sagt er nun. Er ist einer, der nie viel von sich erzählt. Aber wenn er schon nicht anders kann, als diese Katastrophe seines Lebens zu erwähnen, vergisst er nie dazuzusagen, dass es eine wunderbare Ehe war und er deshalb nur mehr allein weiterleben wolle. „So eine Frau finde ich nie mehr, wozu also noch einmal an Heirat denken …“ Wie sehr dieser gewaltige Lebenseinschnitt Komareks Schaffen beeinflusste, ist schwer zu sagen. Man müsste genaue Textvergleiche anstellen, um Spuren zu finden. Und würde sich wohl oftmals täuschen. Der Tod als Teil des Lebens war für ihn schon sehr früh ein gar nicht seltenes Thema, mit dem er – so wie heute auch – leicht und spielerisch umging, in Märchen und Bilder verkleidet. Manchmal verwirrten seine Texte gerade junge Fans. „Also, ich weiß nicht, sind Sie ein junger Alter oder ein alter Junger“, schrieb ihm eine Hörerin in den Siebzigerjahren. Und heute könnte es umgekehrt sein, als „guter Sechziger“ schreibt er so, dass ihn angesichts seiner Unbekümmertheit und seiner Lust am Schabernack vielleicht manch ältere Leser*innen für sehr jung hielten – es soll noch Leute geben, die nichts über Alfred Komarek gehört, gelesen oder ihn im Fernsehen gesehen haben. „Immer mehr fällt mir auf, dass mein Gesicht im Spiegel zwar älter ausschaut, dass meine Interessen, Gedanken und Gefühle aber die gleichen geblieben sind, auch mein berufliches und persönliches Selbstverständnis hat sich in den fünfundvierzig Schriftsteller-Jahren nicht wesentlich geändert.“

 

Mitte der Achtzigerjahre schlitterte Komarek auch noch in eine berufliche Krise. In allen Programmbereichen des Rundfunks wurde der Wortanteil immer kleiner und von immer besseren Moderator*innen bestritten, für das geschriebene Wort war bald kein Platz mehr. „Als ich im Radio nach und nach verzichtbar wurde, stand ich erst einmal verdutzt da und verarmte rapid. Ich war vierzig und lief, nach langen Beisl-Abenden riechend, jedem, aber auch wirklich jedem Auftrag hinterher, verfolgt von Furcht erregenden Steuerschulden aus besseren Tagen und belächelt von den erfolgreich Etablierten.“

 

Dass er wieder zu ihnen aufschließen konnte und so manchen überholen, hat Komarek harter Arbeit zu verdanken, seiner Ausdauer, Selbstdisziplin und Professionalität, seinem Fleiß, seiner vielseitigen Begabung und „… einer guten Portion Glück“, ergänzt er bescheiden und versichert glaubhaft, gerade deshalb nie billigen Triumph empfunden zu haben, er wisse genau, ohne dieses Glück hätte es auch anders ausgehen können. Beides, Schöpferkraft und Glück, meinte wohl Journalisten-Urgestein Herbert Völker, sein alter Weggefährte und Förderer, wenn er in einer Laudation auf Alfred Komarek mit einem Alfred-Polgar-Zitat das seltsamskurrile und gerade deshalb so stimmige Bild fand: „Wo er hintritt, da wächst Gras …“

 

Auf Komareks Lebensweg wuchs jedenfalls bald wieder Gras, dicht und üppig. Zunächst hielt ihn eine „durchaus nicht nutzlose“ Karriere als Werbetexter über Wasser – und mehr als das. Wohl jeder Österreicher kennt einen von Komarek erfundenen Slogan „Raunz nicht, kauf! – Wenn er’s nur aushält, der Zgonc!“

 

Dann entdeckten Büchermacher*innen und Magazinredakteur*innen Komareks Begabung, über verschiedenste Themen sinn- und lustvoll zu schreiben und dabei im Gegensatz zu anderen genialen Schreiber*innen auch noch verlässlich zu sein und pünktlich abzuliefern. Sowas spricht sich herum in der Branche. Er machte sich vor allem als weltweit agierender Mitarbeiter von Reisemagazinen einen Namen und stellte österreichische Landschaften und Lebensräume, kulturelle Schätze und Naturschönheiten in Büchern vor. Dass er darin weit über das Beschreiben hinausging, veranlasste Hans Weigel, ihn einen „Geosophen“ zu nennen, das Ergebnis dieser Art von Landeskunde eine „Melange aus Anschaulichkeit, Wissen und Charme“.  Und: „Ein konstituierendes Element seines Schreibens ist der Humor.“ Fügen wir hier gleich noch das außergewöhnliche Lob eines Berufskollegen und Weggefährten von besonderem publizistischen Gewicht an: Helmut A. Gansterer ließ einmal verlauten: „Komarek hat noch keinen langweiligen Satz geschrieben!“ Ganz schön stark!

 

Es folgten Sachbücher, profunde Begleittexte für Kunstbücher, Drehbücher fürs Fernsehen. Kleine Erzählungen entstanden, später Kinderbücher. Sogar Liedtexte flossen aus seiner Feder, in den Anfängen „zum Teil abscheuliche Machwerke für diverse Schlager“, wie Komarek heute zugibt, „unter dem Pseudonym Alfred Schilling geschrieben, damit jeder wusste, worauf es mir ankam.“ Später wurden die Texte anspruchsvoller, einige waren für damals prominente österreichische Sänger*innen und Gruppen bestimmt wie die Milestones. In Zusammenarbeit mit Toni Stricker entstand sogar eine CD mit Edita Gruberova als Sängerin. Er lässt sich halt schwer einordnen, dieser Komarek!

 

Und dann die Romane. Und ihr sensationeller Erfolg. Irgendwie war das Weinviertel an allem schuld. „Ich bin als Stadtflüchtling ins Weinviertel gekommen. Aussee war für einen schnellen Ausflug zu weit weg von Wien. Fasziniert hat mich an dieser Landschaft der Gegensatz zum Salzkammergut: hier eine bergende, bestimmte, spektakuläre Gegend, dort eine weithin offene, auf den ersten Blick beiläufige, leise Landschaft. Dazu die eigentümlichen Strukturen von Dörfern und Kellergassen, die mir bislang völlig fremde Welt der Presshäuser und Weinkeller, archaisch fest gefügt, aber auch verletzlich. Der Weg dorthin, das Bleiben, das Langsam- und Ruhig-Werden ist ein wichtiger Teil meines Lebens.“ Komarek kauft im Pulkautal einen Weinkeller mit dazugehörigem Presshaus, das er sorgfältig und respektvoll herrichtet. Immer öfter verbringt er hier seine Wochenenden und manche Tage dazwischen. Ein zweites Presshaus rettet er durch seinen Kauf vor dem Verfall und erhält sein skurriles Inventar wie ein Museum. Er wird heimisch, lernt die Leute kennen, gehört bald zum lebenden Inventar der Gegend. Und setzt ihr mit seinem Gendarmerie-Inspektor Simon Polt ein literarisches Denkmal.

 

Das letzte Jahrzehnt habe ich als Komareks glücklicher Verleger selbst miterlebt. Den großen Erfolg mit „Polt muß weinen“ und den Friedrich-Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi; den Lizenzverkauf an den Diogenes Verlag, der mit den Polt-Taschenbüchern neue Leser*innenschichten vor allem in Deutschland erschloss; das Interesse Erwin Steinhauers, den sympathischen Gendarmen zu verkörpern; die von knapp einer Million Österreicher*innen gesehene Ausstrahlung im ORF genau zu dem Zeitpunkt, als der zweite Polt-Roman auf den Markt kam: „Blumen für Polt“. Dann Polt 3 und 4 und die nächsten Filme, Fernseh-Talkshows, Interviews, Lesungen, das allgemein immer größer werdende Echo. Natürlich schrieb Komarek währenddessen auch anderes, darunter ein neues Kinderbuch, Fernsehdrehbücher, ein Theaterstück und für den Haymon Verlag die Texte zu Bildbänden über das Ötztal (Fotos von Guido Mangold), über Venedigs Inselwelten („Laguna“ mit Bildern von Manfred Duda). Einen fünften Polt-Krimi wollte er vorerst nicht mehr schreiben. „Im Pulkautal passieren halt nicht so viele Morde.“ Dem Ansinnen, Polt zur TV- Serienfigur zu machen, widerstand er umso leichteren Herzens. Für Polt sprang Daniel Käfer in die Bresche, ein arbeitslos gewordener Magazinjournalist, den Komarek erfand, um eine andere Landschaft seines Herzens in mehreren Romanen vorzustellen: das Ausseerland. Keine Krimis mehr, aber Romane mit starken Charakteren und einem liebenswerten Völkchen rundherum, mit viel Landschaft, Kultur und Geschichte, witzigen Dialogen und einer spannenden Handlung, eben mit allem, was guten Lesestoff auszeichnet. Der Erfolg der Polt-Romane setzte sich fort, die Filmfirma,  der Regisseur und der ORF stiegen wieder ein. Mit Peter Simonischek erhielt auch Daniel Käfer einen prägnanten, unverwechselbaren Darsteller.

 

Komareks inzwischen riesige Fangemeinde freut sich auf den vierten und letzten Käfer-Roman, erhofft (nicht aussichtslos) danach einen fünften Polt-Krimi und kommt mit dem vorliegenden Buch endlich auch schwer oder gar nicht zugänglich älteren Texten. Denn wer den echten und wahren Komarek kennenlernen will, muss verschiedenen Spuren folgen und braucht unterschiedliches Futter für seinen Lesehunger. Hier ist es, greifen Sie zu! Aber mit Bedacht. Ich empfehle, denn so hat man mehr davon, es sich langsam und genießerisch Happen für Happen einzuverleiben. Auf diese Weise können Sie mit Alfred Komarek auf Reisen gehen, österreichische Besonderheiten nachsichtig belächeln, alte Autos ausprobieren, der Esslust frönen, ernste Probleme weiterdenken – oder in eine Märchenwelt voller Symbole, Anspielungen, in Wachträume versinken.