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„Rede mit Menschen und bekomme die Dinge, die zwischen euch stehen, geregelt, bevor es zu spät ist.“ – Interview mit Fabian Neidhardt

„Wenn einer, der so viel Lebensfreude hat wie Fabian Neidhardt, ein Buch über das Sterben schreibt, dann wird daraus große Kunst“, sagt Mareike Fallwickl über „Immer noch wach“. Und da hat sie recht: In seinem Debüt erzählt Fabian Neidhardt die Geschichte von Alex, in dessen Leben es eigentlich gerade so richtig gut läuft. Gemeinsam mit seinem besten Freund Bene hat er sich den Traum vom eigenen Café erfüllt, er plant die Zukunft mit seiner Freundin Lisa. Bis er eine niederschmetternde Diagnose bekommt: Alex wird sterben.
Im Interview mit Nina Gruber erzählt der Autor von Männerfreundschaften und Familie, von seinen Erfahrungen im Hospiz und vom Leben als Straßenpoet und Botschafter des Lächelns.

Alex wird in seinem Leben mit vielen Schicksalsschlägen konfrontiert. Immer an seiner Seite: sein bester Freund Bene. Sie kennen sich seit ihrer Schulzeit, meistern gemeinsam die Höhen und Tiefen des Lebens, basteln am gemeinsamen Traum. Die beiden sind füreinander da. Sie halten sich die ganze Nacht im Arm, wenn es dem anderen schlecht geht. So wie sie gemeinsam lachen, Pläne schmieden und Witze machen, so weinen und leiden sie auch gemeinsam. Sie verstecken ihre Verletzlichkeit nicht voreinander und haben keine Angst, dabei körperliche Nähe zuzulassen. Das ist etwas, was man landläufig nicht von stereotypen „Männerfreundschaften“ gewohnt ist. War es dir wichtig, diese Art von Freundschaft zwischen zwei Männern zu zeigen?

Irgendwann, ja. (lacht) Aber ehrlich gesagt habe ich das am Anfang gar nicht beabsichtigt. Ich habe mit meinem besten Freund eine sehr ähnliche Freundschaft, inklusive der Verletzlichkeit und der Intimität. Alex und Bene haben davon ganz viel abbekommen. Dass das gar nicht so normal ist, ist mir erst im Lektorat klar geworden. Aber ich bin total froh, dass mein Unterbewusstsein das so eingearbeitet hat und dass auch einige der intimsten Szenen im Roman nicht zwischen Alex und seiner Freundin Lisa erzählt werden, sondern zwischen ihm und Bene, aber auch zwischen ihm und Kasper, dem Mann, den er im Hospiz als neuen besten Freund findet.
Ich glaube, wir Geschichtenerzähler:innen haben mit jedem Buch, jedem Film, jedem Computerspiel die Chance, durch die Beschreibung unserer Welten Utopien ein wenig realistischer zu machen. In der Welt dieses Buches muss ich nicht kommentieren, dass es Menschen verschiedener Hautfarben gibt, dass es homosexuelle Beziehungen gibt, dass Menschen Teil der Realität sind, deren Familie wahrscheinlich nicht aus Deutschland kommt. Und dass Männerfreundschaften so intim und körperlich sein können in dieser Welt, darüber habe ich nicht nachgedacht. Aber ich bin sehr, sehr dankbar, dass sie so sind.

Bene ist für Alex nicht nur ein Freund. Er wird ihm immer mehr zur Familie. Nicht zuletzt, seit seine „Kernfamilie“ immer weiter schrumpft. Was ist das eigentlich – „Familie“? Wer findet darin Platz?

Ui. Da könntest du mich auch fragen, was ist Liebe. (lacht) Ich bin mit drei Geschwistern und Eltern großgeworden, von denen ich weiß, dass ich sie liebe, wie sie mich lieben. Natürlich streiten wir uns auch und es ist nicht immer alles Liebe und Frieden und so. Aber ich denke, dass Familie auch bedeutet, mehr Energie für den Zusammenhalt aufzuwenden. Und vielleicht ist das der Punkt, in dem Bene und Alex füreinander eher Familie sind: Da kann noch die größte Scheiße passieren, aber sie werden sich immer wieder anstrengen, zusammenzufinden. Das ist verbindlicher, aber eben auch anstrengender.

Eine weitere wichtige Person in Alex’ Leben ist Kasper. Die beiden treffen sich im Hospiz und zwischen den beiden entwickelt sich eine ganz besondere Beziehung. Aber trotz des guten Verhältnisses zwischen den beiden gibt es viel Ungesagtes, viele ungeweinte Tränen. Kasper ist schon länger im Hospiz, er ist ein liebenswürdiger, aber eben doch sturer Mann, der es nicht so gern hat, wenn er sich helfen lassen muss. Im Roman taucht auch Benes Onkel Gregor auf, ein richtig lieber Kerl, der als Kind seinen Vater verlor und der danach den Platz des „Mannes im Haus“ einnehmen musste. Darüber beschwert er sich nicht, dennoch wird bei Kasper und bei Gregor klar: stark sein, keine Schwäche zeigen, durchhalten, sich nicht beschweren, nicht nach Hilfe fragen, alleine „klarkommen“. Was machen diese traditionell patriarchalen Erwartungen mit Männern in emotionalen Ausnahmesituationen?

Im besten Fall hebeln diese Ausnahmesituationen diese patriarchalen Erwartungen aus. Zumindest passiert das in diesem Buch: Gregor und Kasper weinen genauso und haben Alex genauso im Arm.
Ich finde deine Beobachtung total spannend, weil ich auch diese beiden Männer so nicht bewusst beschrieben habe. Die Scham, die Kasper empfindet und wegen der er sich nicht helfen lassen will, ist das wirklich etwas „Männliches“? Ich weiß es nicht. Aber wenn, dann merkt er ja, dass er damit – wortwörtlich – nicht weit kommt. Und bei Gregor denke ich, dass er eben Schicksale in seinem Leben hatte, die es ihm schwer machen, sich anders zu entscheiden. Ist ja auch bei Alex so. Ich glaube einerseits, dass mir Alex sehr nah ist. Andererseits würde ich mich nie so entscheiden, einfach, weil ich nicht das Leben mit diesen Schicksalsschlägen hatte.

Fabian Neidhardt schreibt mit links, seit er einen Stift halten kann, und erzählt Geschichten, seit er 12 ist. Nach dem Volontariat beim Radio studierte er Sprechkunst und Kommunikationspädagogik und Literarisches Schreiben. Bis Mai 2019 absolvierte er die Ausbildung zum Storyliner bei der UFA Serienschule in Potsdam. Seit 2010 sitzt er als Straßenpoet mit seiner Schreibmaschine in Fußgängerzonen und schreibt Texte auf Zuruf. 2019 entwickelte er den Prosaroboter, der auf Knopfdruck Geschichten ausdruckt. – Foto: Julian Betz

Auch wenn ich jetzt viele verschiedene Männerfiguren aus dem Roman herangezogen habe: Natürlich zeichnest du keine stereotypen Charaktere in deinem Buch. Die Menschen in „Immer noch wach“ gehen ganz unterschiedlich mit Trauer um. So auch Alex’ Mutter: Sie ist überwältigt vom Verlust und leidet still. Sie verstummt. – Worüber und mit wem Menschen sprechen wollen, sollte natürlich der einzelnen Person freigestellt sein. Aber ich hab dein Buch schon auch als Positivbeispiel dafür gesehen, dass reden und sich öffnen hilft. War dir das tatsächlich ein Anliegen? Oder projiziere ich das auf deinen Roman?

Erstmal war es mir ein Anliegen, Menschen zu unterhalten und zu berühren. Wenn dann noch etwas hängenbleibt, umso besser. (grinst) Aber ja, wenn wir von „Moral“ oder so reden wollen, dann am ehesten: Rede mit Menschen und bekomme die Dinge, die zwischen euch stehen, geregelt, bevor es zu spät ist. Ich bin bei Weitem nicht der oder die Erste mit dieser Botschaft. Aber selbst ich, der auch all die Filme und Serien und Bücher konsumiert hat, musste erst im Hospiz diesem Mann – der die Vorlage für Kasper ist – beim Sterben zusehen, um mich aufzuraffen und auch in meinem Leben die Dinge geregelt zu kriegen. Das war sehr schwer und hat mich einiges an Energie und Mut gekostet. Es ging auch nicht immer positiv aus, aber ich bin froh, das gemacht zu haben.
Und na ja, ich komme aus der Kommunikation, ich habe Sprechen studiert. Ich glaube, grundsätzlich ist Kommunikation besser als stures Schweigen. Aber: Ich habe auch schon Situationen miterlebt, die von einer Seite so dickköpfig ausgeschwiegen werden, dass die andere Seite noch so viel Energie aufwenden kann, sie wird da nicht weiterkommen. Vielleicht ist das der Bogen zur Familie: Es müssen beide Parteien dieses Gefühl von Familie haben und damit die Motivation, Dinge zu klären.

Du hast selbst schon Zeit im Hospiz verbracht. Wie war es dort für dich? Was hast du darauf für dich mitgenommen?

Ich habe für die Recherche zu diesem Roman eine Woche im Hospiz gearbeitet. Das war ganz schön krass. Emotional in jeder Hinsicht. Tagsüber habe ich Dinge getan, die ich nur tun konnte, weil ich so was wie journalistische Distanz zu mir selbst wahren konnte. Abends kam ich heim, habe meiner Freundin erzählt, was ich an dem Tag erlebt habe, habe mich in den Schlaf geheult und bin am nächsten Tag wieder hin. Andererseits habe ich selten so aus vollem Herzen gelacht wie dort.
Ganz viel im Roman ist durch diese Woche beeinflusst. Besonders Kasper. Und die Zeit hat mir klar gemacht, was ich versucht habe, im Roman auch zu vermitteln: Ich sollte ein paar Dinge geregelt kriegen und machen, solange ich gut dafür Zeit habe. Und nicht erst, wenn es fast schon zu spät ist.

Neben deiner Arbeit als Schriftsteller bist du auch noch Botschafter des Lächelns. Was hat es damit auf sich?

Das wüsste ich manchmal selbst gern. (lacht) Vor 18 Jahren haben mein bester Freund und ich „Gutscheine für einmal Lächeln“ entworfen. Weil Lächeln eine der leichtesten Formen ist, das Leben ein ganz kleines bisschen besser zu machen. Das hat so gut funktioniert, dass ich mir damals diesen Titel ausgedacht habe. Ist irgendwie hängengeblieben und ist immer wieder ein ganz guter Gesprächseinstieg. Aber selbst ich kann dieses ganze Lächeln-Ding immer wieder nicht ganz ernst nehmen und ich weiß, dass es anderen auch so geht. (lacht)

Du bist auch als Straßenpoet mit deiner Schreibmaschine unterwegs. Wo trifft man dich denn da (unter normalen Umständen)? Und wie läuft das genau ab?

Wenn das Leben es zulässt (und ich mich traue), sitze ich in Kunstveranstaltungen und Fußgängerzonen und schreibe Menschen kurze Geschichten auf Postkarten. Dazu lasse ich mir zwei, drei Worte oder ein Thema geben und nehme mir insgesamt etwa 20 Minuten. Danach haben sie eine ganz eigene, frisch geschriebene Geschichte auf einer Postkarte und ich hatte eine gute Fingerübung mit Themen, auf die ich selbst oft nicht gekommen wäre. Das macht meistens ziemlich viel Spaß. (lächelt)

 

 

Fabian Neidhardts „Immer noch wach“ stellt dich vor große Fragen und große Trauer. Und es tröstet dich damit, dass es die kleinen Dinge sind, die am Ende wirklich bedeutsam sind: Wie dich deine Freundin weckt, wenn du schlecht träumst. Wie sie mit dir tanzt, auch wenn du bei der Verteilung des Rhythmusgefühls leer ausgegangen bist. Und wie dich dein bester Freund im Arm hält, wenn die Tränen kommen.
Du wirst sie von der ersten Seite an ins Herz schließen, Alex und seine Lieblingsmenschen. Und du wirst mit ihnen fühlen bis ins Innerste: die Verzweiflung, die Liebe, die Wut und die Hoffnung. In leiser, eindringlicher Sprache erzählt Fabian Neidhardt eine Geschichte von Liebe, Freundschaft und der Kraft des Zusammenhalts – tieftraurig, herzerwärmend schön und vor allem immer: Mut machend.

„substanzloses Gerede einer unzufriedenen Frau, die sich durch die Betten vögelt“ – über zweigleisige Sexualmoral und fragwürdige Bewertungskriterien

Kennst du #dichterdran? Unter diesem Hashtag wurden im Sommer 2019 auf Social-Media Postings veröffentlicht, in denen auf eine Art über männliche Autoren geschrieben wurde, wie sonst nur über weibliche und weiblich gelesene Autorinnen* geschrieben wird. Beiträge wie dieser spießten den Sexismus auf, mit dem Frauen* in der Literaturkritik nur allzu oft begegnet wird:

Mit den dunklen Augen wirkt der zierliche Franz Kafka nicht selten anämisch. Wir haben uns mit ihm über Ernährung unterhalten. Unsere Bildstrecke zeigt, wie er mit geschicktem Make-up frischer wirkt. #dichterdran

Was wie ein überdrehter Hype wirken könnte, sollte vor allem die bittere Realität aufzeigen. Nämlich, dass schreibenden Frauen* auch heute noch eine Sonderstellung in der Literaturkritik zukommt. Und diese Sonderstellung hat eine lange Geschichte.

Aufkommende Frauenliteratur – oder: Gibt es weibliche Ästhetik?

In den 1950er und 60er-Jahren erkannte man in Deutschland das Defizit an schreibenden Frauen* in den Verlagsprogrammen. Während es im angelsächsischen Kulturraum bereits eine Vielzahl erfolgreicher schreibender Frauen* gab und die feministische Literaturwissenschaft Einzug in die Universitäten hielt, kreierten allmählich die ersten deutschen Verlage „neue Talente“, schufen ganze Frauenliteraturreihen und feierten längst verstorbene Autorinnen*. Die wichtigsten und nachhaltigsten Veränderungen im Literaturbetrieb in Hinblick auf Autorinnenschaft kamen mit der zweiten Frauenrechtsbewegung und dem politischen Feminismus in den 1970er Jahren. Es kam eine neue Generation von Schriftstellerinnen*, die betont als Frauen auftraten und überwiegend „weibliche“ Themen behandelten. Schnell wurde der Begriff „Frauenliteratur“ dafür gefunden. Doch war auch dies keinesfalls eine Vorreiterbewegung des deutschsprachigen Literaturbetriebs: Die aus England und Amerika importierte „Frauenliteratur“ war äußerst erfolgreich und so war es nur logisch, dass man dasselbe auch im deutschsprachigen Raum versuchte. Die Folgen dieser Bewegung waren durchaus beachtlich: Es wurde erreicht, dass mehr von Frauen* geschriebene Werke erschienen, wodurch die Kluft zwischen männlicher und weiblicher Autor*innenschaft vorübergehend geschmälert wurde. Zudem bekamen Autorinnen* nun auch Verträge mit größeren, namhaften und internationalen Verlagen, wodurch auch der Bekanntheitsgrad allmählich erweitert und die Präsenz im Literaturbetrieb gestärkt wurde. Und auch inhaltlich gab es Auswirkungen: Die Themen und Darstellungsweisen wurden durch die neue literarische Vielfalt abwechslungsreicher. Die Literaturkritik reagierte, so die Literaturwissenschaftlerin Barbara Becker-Cantarino, „von enthusiastisch bis herablassend wohlwollend bis ironisch vernichtend“. Ab Mitte der 70er-Jahre entstanden neben zahlreichen Frauenzeitschriften auch Frauenverlage, Frauenbuchläden, Sommeruniversitäten für Frauen* und vieles mehr. Im Zuge der Frauenforschung bildete sich nun auch eine feministische Literaturwissenschaft heraus. Aber: Zwar wurde Autorinnen* allmählich Raum eingestanden, jedoch war dieser nicht mehr als eine abseitige Kammer im Literaturbetrieb.

Unmögliche Autor*innenposition

Die Literaturwissenschaftlerin Barbara Becker-Cantarino zeigt in ihrem Beitrag „Ästhetik, Geschlecht und literarische Wertung, oder: warum hat Elfriede Jelinek den Nobelpreis erhalten?“ auf, dass das Konzept des Geschlechts in Hinblick auf die Autor*innenpersönlichkeit seit dem beginnenden 19. Jahrhundert bis heute Einfluss auf die literaturwissenschaftliche Diskussion hat, und dass dieser Umstand erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kritisch reflektiert wird. Nachdem um 1800 der Begriff „Geschlecht“ als „natürlicher Geschlechtsunterschied“ zementiert worden ist, wurde die Vorstellung von gutem Geschmack, Schönheit und Kunst dahingehend geprägt. Lange Zeit war man der Überzeugung, eine Frau* könne trotz „schönem Verstand“ kein richtiges Geschmacksurteil fällen – ihr fehle schlichtweg das „Genie“, welches neben dem „tiefen Verstand“ einzig dem Mann obliege. Gattungen und Themen, wie etwas Politisches, das eine distanzierte Analyse erfordert, oblag den Männern und das sei bis heute nicht ganz abgelegt worden, gibt die Literaturwissenschaftlerin Veronika Schuchter zu Bedenken. Die Überwindung der Diskriminierung von Autorinnen* war ein langer Prozess, der noch immer nicht vollständig abgeschlossen ist. So zeigt eine statistische Erhebung der Universität Innsbruck den Umstand auf, dass lediglich ein Drittel der im Jahr 2018 meistbesprochenen Bücher von Autorinnen* stammen. „Um sich gegen marginalisierende Kanonisierung, z.B. als ,Frauenliteratur‘, zu wehren, argumentierten und argumentieren Künstlerinnen und Autorinnen selbst, das Geschlecht spiele für die Kunstproduktion keine Rolle, ja Kunst und Künstler seien androgyn“, so die Literaturwissenschaftlerin Birgit Dahlke. Doch der realen Machtlosigkeit von Frauen* stand und steht die Macht der „imaginierten Weiblichkeit“ gegenüber. Autorinnen* befinden sich, so ist man sich in der feministischen Literaturwissenschaft einig, in einer unmöglichen Autor*innenposition, irgendwo zwischen der „Übermacht an künstlerischen Weiblichkeitsbildern einerseits und dem Ausschluss realer Frauen aus dem Kanon der Literatur- und Kunstgeschichte andererseits.“

Nadine Rendl hat Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaften studiert und 2019 ihre Bachelorarbeit zum Thema „Frauen in der Literaturkritik“ verfasst. Im Haymon Verlag ist sie für Pressearbeit und Social-Media-Marketing zuständig.

Typisch weiblich?

Die Literaturwissenschaftlerin Veronika Schuchter beschäftigt sich an der Universität Innsbruck seit 2007 mit der Untersuchung der „Literaturkritik als Gender-Diskurs“. Dafür werden im Rahmen einer Langzeitstudie Literaturberichterstattungen im deutschsprachigen Feuilleton in Hinblick auf Geschlechter-Codierung und geschlechtliche Inszenierung von Wertung und Autor*innenschaft untersucht. Die Auswertungen zeigen, dass es deutliche inhaltliche Unterschiede in den Kritiken gibt: So werden Autorinnen* vielfach „weiblich konnotierte Adjektive und Werturteile zugewiesen (…)“, während für das männliche Schreiben eine „naturwissenschaftliche Sprache“ verwendet werde, so Schuchter. Als „typisch weiblich“ gilt etwa emphatisches Schreiben, aus dem Leben gegriffenes Schreiben, große Authentizität und autobiografische Einflüsse. Darüber hinaus werden Alter und Aussehen von Autorinnen* in der Berichterstattung unverhältnismäßig viel Wert beigelegt, wie etwa eine aktuelle Rezension zu Ronya Othmanns Roman „Die Sommer“ zeigt.

Da schreibt die Rezensentin im Spiegel: „Othmanns Texte argumentieren vernünftig, aber auch mit einer Schärfe, die der jungen Frau im weißen Kleid nicht anzumerken ist.“

Das Kommentieren von Äußerlichkeiten gepaart mit einem Urteil zum schriftstellerischen Können der Autorin* ist eine Praxis, die sich vielfach beobachten lässt und die Frage aufwirft: Welche relevante Verbindung besteht zwischen dem Aussehen und dem Schreiben einer Person? Überhaupt: Welche Notwendigkeit besteht, das äußere Erscheinen zu thematisieren, wenn ohnehin in allen Medien – mit Ausnahme des Radios natürlich – mit Bildern gearbeitet wird? Weiters heißt es in dem Artikel: „Die Schriftstellerin Ronya Othmann erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die innerlich zerrissen ist zwischen Deutschland und Nordirak. Es könnte ihre eigene sein.“

Da ist sie, die Frage nach dem autobiografischen Bezug. Wie viel der Autorin* steckt in ihrer Protagonistin*? Gemeinhin wird „weibliches“ Schreiben immer als emotionaler, mitten aus dem Leben (der Autorin*?) gegriffen assoziiert, das wird aber häufig gleichzeitig auch abgewertet gegenüber dem allgemein als analytisch betrachteten „männlichen“ Schreiben. Eine Erklärung könnte sein, dass „privat“ gelesene Textsorten wie etwa Romane in Form von Tagebüchern in der Vergangenheit häufiger von Autorinnen* kamen. Alles, was die häusliche Sphäre betraf, war mit dem „Weiblichen“ verbunden. Vielleicht liegt auch deshalb die Gefahr nahe, Texte von Frauen* mit deren Privatleben zu verknüpfen. Obwohl das natürlich genauso sinnvoll ist, wie anzunehmen, Kafka habe einige Zeit als riesenhafter Käfer verbracht. Natürlich ist Schreiben nie ganz von der schreibenden Person zu trennen – aber der Schluss, das Leben einer Figur habe zwangsläufig sehr viel mit dem Leben der Autorin* zu tun, ist schlichtweg falsch. Ein weiteres interessantes Beispiel für genderorientierte Literaturkritik lieferte vor einiger Zeit der Tages-Anzeiger in dem Beitrag über Sally Rooneys „Gespräche mit Freunden“: Darin wird die Autorin* als „aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen“ beschrieben. Und in seiner Auseinandersetzung mit dem Text attestiert der zuständige Literaturkritiker: „Bei Sally Rooney gibt es Szenen, die von Marivaux abgeschrieben sein könnten.“ Würde man Ähnliches jemals über Samuel Beckett schreiben? Die Betrachtung solcher Aussagen, das Absprechen eigener Ideen und eigenem Könnens sollte uns immer auch zur Frage führen: Würden die Reaktionen anders ausfallen, wenn die Autorin* keine weiblich, sondern eine männlich gelesene Person wäre?

Ist weibliche Lust unerwünscht?

Ganz besonders auffallend sei der Bewertungshabitus, so die Literaturwissenschaftlerin Veronika Schuchter, wenn der zu besprechende Text einer Autorin* Sexualität behandle. In diesen Fällen sei es schwierig, die eigene Person außenvorzulassen, weil Erotik jeden betreffe. „(…) da wird immer auch das Geschlecht des Kritikers, der Kritikerin und die eigene Position in der Gesellschaft virulent“. Und diese Tatsache lässt sich nicht nur im Bereich der professionellen Literaturkritik beobachten: Auf Vorablesen wurde in diesem Frühjahr viel über den Roman „Unterwasserflimmern“ von Katharina Schaller diskutiert. Unter viele begeisterte Stimmen mischten sich auch solche, die den Roman emotional kritisierten. „(…) das Gerede einer unzufriedenen Frau, die sich durch die Betten vögelt und ihren Partner betrügt“, „(…) nur ist mir die Situation bzw. die Hauptdarstellerin durch ihr Handeln so unsympathisch, dass es mir auch egal wäre, würde sie sich einen Tripper einfangen“ – so und ähnlich klingen einige dieser Stimmen. Und in einer kürzlich erschienenen Besprechung einer Bibliothekszeitschrift liest sich: „Das Debüt der Autorin ist an Substanzlosigkeit unübertroffen. Nicht einmal personifiziert, plattitürt sie sich in pseudo-intellektuellen Sätzen mit flätigen Ausdrücken. Die Empathielosigkeit der Hauptprotagonistin zieht sich über die gesamten 194 Seiten, bis hin zum letzten Satz ,Ich kann nichts erkennen‘, der einen die Frage stellen lässt: Ist das Kunst, oder kann das weg?“ Geht es hier um die explizite Darstellung von Sex oder geht es darum, dass er aus weiblicher Perspektive so ungeschönt und nüchtern erzählt wird. Wie wird ein Schwanz bei Michel Houellebecq gelesen – und wie bei Leïla Slimani? Dass der Sex im Roman aber auch Symbol ist für all das, was die Protagonistin* mit Worten nicht sagen kann, dass er eine Form der Selbstbestimmtheit ist, die für sie nicht vorgesehen ist, geht dabei völlig unter. Männliche Untreue hingegen wird völlig anders bewertet: Männlich gelesene Figuren in Romanen, die fremdgehen, tun dies aus Gründen oder weil sie dem Reiz der weiblichen „femme fatale“ einfach nicht widerstehen können – unsympathisch werden sie dadurch nicht. Viel spricht dafür, dass sich die zweigleisige Sexualmoral der Gesellschaft hier auf die Bewertung einer fiktiven Figur überträgt.

Allgemein gesprochen ist es ein Grundprinzip von Literatur, von Kunst überhaupt, dass jede*r etwas anderes darin liest und sich seine höchst eigene Meinung bildet. Gerade das macht sie so schön, so speziell, und zum Inhalt von so vielen guten Gesprächen. Und gerade das öffnet uns Türen und Tore zu neuen Horizonten, neuen Erfahrungen, neuen Denkräumen. Gerade auch beim Lesen üben wir, uns zwischendurch selbst zu hinterfragen, unsere Standpunkte abzuklopfen daraufhin, ob sie noch gültig sind, so, wie sie waren. Und eben deshalb sollten wir uns auch immer wieder die Frage stellen, was wir wann warum bewerten.

Du willst mehr Feminismus, Selbstbestimmung und Empowerment? Dann darfst du Lisa-Viktoria Niederbergers Beitrag und ihre Forderung nach mehr Diversität im Bücherregal sowie Beatrice Frasls Beitrag über Frauen in Machtpositionen und die Interviews mit Dr.in Bettina Zehetner und Mag.a Petra Schweiger zum Thema Schwangerschaftsabbruch nicht verpassen! Darf’s was Literarisches sein? Katharina Schallers „Unterwasserflimmern“ verwandelt Lesen in Spüren und erzählt von dem, was zwischen uns liegt: Vom Salz auf unserer Haut, wenn wir uns ganz nahe sind. Der Kälte im Blick einer Person, die uns fremd geworden ist. Von Freundschaft und Familie, unverhofften Beziehungen und Liebe, Vertrauen und Begehren. Und von einer Ebene der Kommunikation, die mehr sagt, als Worte es können.

„Wenn ein*e Richter*in dir keinen Glauben schenken will, kannst du nichts richtig machen.“ – Gespräch mit „Asyl in Not“

Eine Verhandlung, eine Entscheidung, eine Wegkreuzung im Leben, an der man nicht selbst bestimmen kann, welche Richtung man einschlägt: Asylverfahren. Die unabhängige Menschenrechts-NGO „Asyl in Not“ bietet geflüchteten Menschen unvoreingenommen rechtliche Beratung und Vertretung und kämpft Tag für Tag für die Wahrung der Menschenrechte. Linda Müller hat mit Büroleiterin Naomi Steiner über die Arbeit des Teams gesprochen; über Herausforderungen, Recht und Unrecht und über österreichische Klassenjustiz.

In der Praxis hat ein Urteil in einem Asylverfahren immer auch eine subjektive Komponente. Wie erlebt ihr das in eurer Funktion als Rechtsberatung, spielt Glück eine Rolle, also beispielsweise im Hinblick darauf, welche*r Richter*in zuständig ist?

Leider spielt Glück im Asylverfahren eine große Rolle, in der zweiten Instanz primär, welche*r Richter*in zugeteilt wird. Aber auch schon in der ersten Instanz ist der Zeitpunkt der Bearbeitung des Antrags unserer Beobachtung nach ausschlaggebend: Es scheint Jahreskontingente für positive Entscheidungen zu geben, d.h. Fälle, die im Jänner und Feber bearbeitet werden, sind – mit dem gleichen Sachverhalt – öfter bereits erstinstanzlich positiv als später im Jahr. Vor dem Bundesverwaltungsgericht ist es vor allem ausschlaggebend, welche*r Richter*in zuständig ist, und was deren Grundeinstellung ist, aber auch die jeweilige Tagesverfassung der einzelnen Richter*innen beeinflusst die Erkenntnisse. Im Asylverfahren muss der/die Geflüchtete seine/ihre Geschichte glaubwürdig und schlüssig, wie es so schön heißt, darlegen können, die Verfolgung muss glaubhaft gemacht, aber nicht zwangsläufig bewiesen werden.
Wenn die Richter*innen grundsätzlich negativ eingestellt sind, wird das aber in vielen Fällen den Antragstellenden zur Last gelegt. Soll heißen: Wenn keine Beweise produziert werden können, wird die Erzählung als unglaubwürdig abgelehnt (obwohl keine Beweispflicht herrscht).
Auf der Kehrseite werden aber auch oft vorhandene Beweismittel von den Richter*innen nicht anerkannt, prinzipiell als Fälschungen abgetan oder sogar der Fakt, dass überhaupt ein Beweismittel existiert, als Grundlage dafür genommen, dass der gesamte Fluchtgrund konstruiert und „gut inszeniert“ ist.
Kurz: Wenn ein*e Richter*in dir keinen Glauben schenken will, kannst du nichts richtig machen.

Wenn die Richter*innen grundsätzlich positiv eingestellt sind, ist oft zu merken, dass diese trotz angeblicher Weisungsfreiheit auch unter Druck von außen (oben?) leiden. Häufig werden positive Urteile mündlich verkündet. Dies ist zwar ein Weg, um Einsprüche der Gegenseite (lies: von der erstinstanzlichen Behörde, dem BFA) zu verhindern, jedoch fehlt die Argumentation der schriftlichen Ausfertigung für die Judikatur. Positive Erkenntnisse sind also oft positiv für die/den einzelne*n Beschwerdeführer*in, wirken sich jedoch nicht so nachhaltig auf die Judikatur (und somit auf die Verfahren aller zukünftigen Beschwerdeführer*innen mit ähnlichen Fluchtgründen) aus wie negative Erkenntnisse.

Zusammenfassend hat in der Praxis der Rechtsberatung unsere Einschätzung der Fluchtgründe, und ob diese objektiv einen Grund für Asyl nach der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen einen wesentlich geringeren Stellenwert bzgl. unserer Einschätzung des Verfahrensganges als die Frage, welche*r Richter*in zugeteilt ist. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass wir uns in der Verfahrensführung davon nicht beeinflussen lassen und unermüdlich politische und juristische Argumente einbringen, gerade um die Verfahren objektiver zu machen und unsere Argumentation im besten Fall zur Judikatur werden zu lassen.

Naomi Steiner ist studierte Linguistin. Über ihre Arbeit sagt sie: „Asyl in Not verbindet für mich Aktivismus und Aktionismus mit solidarischen Beratungsangeboten, ohne dabei den politischen Aspekt sowie die Geschichte aus den Augen zu verlieren.“ Foto: F. Akbari, Asyl in Not

Welche Maßnahmen würden eine größere Objektivität gewährleisten oder zumindest unterstützen?

Wir versuchen das auf zwei Wegen: Öffentlichkeit und das Ansuchen nach Gutachter*innen (Versachlichung).

1) Öffentlichkeit: Einerseits sind wir der Meinung, dass eine breitere Öffentlichkeit immer hilft, um die Geschehnisse im Gerichtssaal nicht unter dem Tisch verschwinden zu lassen. Was sich manche Richter*innen, die sich unbeobachtet fühlen, bei Verhandlungen erlauben, ist – mit Verlaub – einfach unterirdisch. Von minderjährigen Menschenhandelsopfern, die angebrüllt werden, von bewusst unvollständigen Protokollen bis zu offenem Mokieren über die Traumata der Geflüchteten mussten wir schon alles miterleben.
Um diese Öffentlichkeit zu gewinnen, veröffentlichen wir seit jeher Verhandlungs- und Fallberichte, auch mit namentlicher Nennung der Richter*innen und Beamt*innen. Zusätzlich haben wir im letzten Jahr die Kampagne „Prozessbeobachtung“ gestartet, wo sich alle Menschen bei uns anmelden können, um am Bundesverwaltungsgericht in ihrer Stadt Asylprozesse zu beobachten. Von Schüler*innen bis zu pensionierten Rechtsanwält*innen haben wir einen großen Pool an Personen, die Verhandlungen beobachten und protokollieren können. Einerseits um allein durch ihre Anwesenheit die Richter*innen daran zu erinnern, dass sie nicht unbeobachtet sind, andererseits auch um, wenn notwendig, durch ihr Protokoll in höheren Instanzen ein Beweismittel zu haben.

2) Versachlichung: Bei jeder anderen Verhandlung ist es selbstverständlich, dass Gutachter*innen herangezogen werden. Bei Asylverfahren leider nicht. Kein*e Richter*in würde sich zutrauen, etwa über ein bestimmtes Kraftfahrzeug oder eine medizinische Sachlage, wie sie bei Versicherungsfällen häufig vorkommen, zu urteilen. Im Asylverfahren sind die Richter*innen aber plötzlich die Expert*innen: über die Lage im Herkunftsstaat, den Familienstamm der Beschwerdeführenden, die ansässigen politischen Parteien, psychische Traumata in Folge von Folter oder Frauenhandel und vieles mehr. Das halten wir für unmöglich und auch für grob fahrlässig. Richter*innen sind – idealerweise – Expert*innen im österreichischen Recht. Sämtliche andere Expertise von ihnen zu verlangen, ist nicht realistisch und für unsere Klient*innen sehr gefährlich.
Neben intensiver Recherche und unseren eigenen Stellungnahmen fragen wir daher in den Verfahren Gutachter*innen zu bestimmten Themen an und fordern, dass das zur gängigen Praxis wird.

Jede Asylentscheidung hat zwei Seiten: eine Person, die möglicherweise schon sehr lange auf diese Entscheidung wartet und für die das ganze weitere Leben daran hängt. Und ein*e Richter*in, die/der ebenjene Entscheidung treffen muss. Kann man, wenn man nie in der Position des/der Asylsuchenden gewesen ist, auch nur ansatzweise erahnen, was das bedeutet? Wie wichtig ist die Mitarbeit von Betroffenen in eurem Team?

Es braucht nicht in erster Linie persönliche Betroffenheit, sondern ein geändertes System. In einem korrupten Gerichtssystem mit bestenfalls überlasteten, schlimmstenfalls bösartigen Richter*innen werden auch „betroffene Minderheiten“ nichts ausrichten können. Wenn negative Entscheidungen, in welcher Form auch immer, befürwortet oder gefördert werden, ist jede Identitätspolitik sinnlos.
Überspitzt gesagt: Man muss nicht Menschenhandelsopfer sein, um Menschenhandelsopfer nicht anzubrüllen, ob sie dumm seien. Man muss nicht vergewaltigt worden sein, um sich über Opfer von Massenvergewaltigungen nicht offen zu mokieren.
Jeder Mensch ist zu Empathie fähig. Und auch wenn es unsere politische Forderung ist, auf lange Sicht Grenzen abzuschaffen und alle ihren Lebensmittelpunkt frei wählen zu lassen, so sind unsere Verbesserungsvorschläge für das Asylverfahren von heute erschreckend simpel: Richter*innen sollten ihre Jobbeschreibung noch einmal kurz durchlesen und überlegt und neutral auf Basis der Gesetze urteilen.

Kannst du kurz skizzieren, welche psychischen Folgen das oft jahrelange Warten hat?

Für Asylwerber*innen ist die Ankunft in Österreich erst der Beginn von oft jahrelangem Warten. Währenddessen ist alles in der Schwebe. Es ist unsicher, ob hier eine Zukunft möglich ist. Häufig gibt es Familie im Herkunftsland oder an den europäischen Außengrenzen, die darauf wartet, nachkommen zu können.
Der Zugang zu verlässlichen und – im Sinne der Asylwerbenden – parteiischen Informationen ist schwierig. Staatliche Institutionen klären nicht vollständig auf. Auch Sprachkurse werden nicht standardmäßig angeboten.
Wenn während der jahrelangen Wartedauer Freundschaften, Beziehungen, Familien mit Österreicher*innen entstehen, so werden diese vor Gericht häufig abgetan, und den Asylwerbenden wird vorgeworfen: Sie sind diese Beziehung(en) eingegangen, obwohl Sie wussten, dass Ihr Aufenthalt in Österreich nicht sicher ist. (Wenn es keine oder nur wenige Kontakte zu Österreicher*innen gibt, so wird das andererseits als fehlende Integrationsbemühung gewertet.)
Zusätzlich dazu kommt es immer wieder zu Einvernahmen vor den Behörden, bei denen die Asylwerbenden meist alleine sind und die häufig retraumatisieren, da das Erlebte immer wieder durchlebt, aber auch gegen Misstrauen der Beamt*innen verteidigt werden muss.
Das Warten, die Handlungsunfähigkeit und fehlende Strukturen führen häufig zu gebrochenen Menschen. Die häufigste Anfrage, die wir in unserer offenen Beratung beantworten müssen, ist: „Wie lange dauert es noch?“ – verständlicherweise. Das Warten in Unsicherheit ist für viele oft schlimmer als ein negativer Bescheid. Das Schlimmste am ewigen Warten jedoch ist für die meisten Asylwerbenden das restriktive Arbeitsverbot, mit dem sie zur Untätigkeit gezwungen werden. Oder: in die Illegalität.

Was sind die größten Hürden, die ihr bei eurer Arbeit überwinden müsst – und in welche Richtung bewegt sich die Situation derzeit?

Die Hürden, die uns möglicherweise belasten könnten, sind nichts im Vergleich zu dem, was unsere Klient*innen durchmachen müssen. Wir beschäftigen lediglich drei Angestellte, der Großteil unserer Rechtsarbeit wird von Ehrenamtlichen geleistet. Dabei muss man bedenken, dass unsere Arbeit vor allem dadurch entsteht, dass das Recht auf ein faires Verfahren in Österreich de facto nicht umgesetzt wird. Würden gewisse Verfahrensgarantien eingehalten werden, wäre die erste Instanz nicht de facto für Geflüchtete verloren, könnten wir uns auf andere Bereiche des politischen Kampfes konzentrieren. So leisten wir eigentlich juristische Selbstverteidigungsarbeit.

Ich lese auf eurer Homepage, dass ihr euch als Teil des politischen Kampfes versteht. Was bedeutet das genau?

Die Schikanen, mit denen Geflüchtete in Österreich umgehen müssen, der Kampf um simple Grundrechte, der entmenschlichende und entwürdigende Umgang der Behörden und vor Gericht sind in Österreich ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Es ist derselbe Umgang, den Vergewaltigungsüberlebende und Opfer von Gewalt bei der Polizei, von der Staatsanwaltschaft und vor Gericht erwarten müssen. Die nicht ihre Verletzungen oder die Gefahr, der sie ausgesetzt sind, vorlegen können, sondern zu allererst ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen müssen. Menschen, die von Stromabschaltungen und Delogierungen betroffen sind, die von 55%-Nettoersatzrate leben müssen und dann wöchentlich mit Computerkursen vom AMS schikaniert werden, erleben jeden Tag ein- und dasselbe. Ebenso wie Migrant*innen in Österreich, die monatelang auf die Ausstellung ihrer Visa warten müssen, nur um sie kurz vor Ablauf zugestellt zu bekommen; sie alle sind Opfer der rassistischen Klassenjustiz in Österreich.

Asyl in Not besteht nicht nur aus den angestellten Mitarbeiter*innen, sondern aus einem weiten Umfeld an mitwirkenden Aktivist*innen und Unterstützenden. Die NGO finanziert sich primär über Spendengelder. Mehr Information findest du hier.

„Das Märchen davon, dass jede*r alles erreichen kann, ist schön. Eines, mit dem wir alle besser leben können. Wir sind beruhigt, denn wir, die es „geschafft“ haben, haben selbst dafür gesorgt. Wer es nicht schafft, muss die Verantwortung dafür tragen. Aber es ist eben ein Märchen. Und es ist längst überfällig, dass wir uns dessen bewusstwerden.“ Ein Interview mit Katharina Schaller

In ihrem ersten Roman „Unterwasserflimmern“ schreibt Katharina Schaller über das, was zwischen uns liegt. Über das Salz auf unserer Haut, wenn wir uns ganz nahe sind. Die Kälte im Blick einer Person, die uns fremd geworden ist. Über Freundschaft und Familie, unverhoffte Beziehungen und Liebe, Vertrauen und Begehren. Und sie folgt einer Protagonistin, die jene Pfade verlässt, die die Gesellschaft für sie vorgesehen hat.

Mit Linda Müller hat sie über das Märchen davon, dass jede*r alles erreichen kann, falsche Glücksversprechen und jene gesellschaftliche Strukturen gesprochen, die uns auch dann beeinflussen, wenn wir glauben, von ihnen losgelöst zu sein.

Liebe Katharina, provokant ausgedrückt könnte man sagen, dass für die Protagonistin in deinem Buch alles ziemlich gut läuft. Sie ist um die 30, hat einen Beruf, den sie offenbar gern ausübt, ihr Freund Emil scheint ein recht beständiger Kerl zu sein, der sich für ein Leben mit ihr entschieden hat und beginnt, eine gemeinsame Zukunft mit Haus und Familiengründung zu planen. Aber in deiner Protagonistin löst das keine Freude aus. Warum ist das so?

Ja, warum ist das so? Eine gute Frage. Ich glaube, das hat mehrere Gründe. Die einfachste Erklärung: Nicht jede*r weiß, was sie*er will. Eine solche Situation, ein Nichtwissen, kommt wahrscheinlich bei sehr vielen Menschen immer wieder vor. Die einen sind entscheidungsfreudiger, die anderen tun sich schwerer damit und befinden sich dadurch viel öfter in Schwebezuständen, müssen mit Ambivalenzen leben. Es hängt darüber hinaus mit den Erwartungen und Ansprüchen der Gesellschaft und des Systems zusammen. Kann man diese nicht erfüllen – gehört man also auf eine bestimmte Art nicht der „Norm“ an – zweifeln nicht nur andere, man zweifelt auch selbst. Der Druck, den weiblich gelesene Personen spüren, spielt eine Rolle. Kinder bekommen zu wollen, das wird von der Mehrheitsgesellschaft vorausgesetzt. Und würde man diese Mehrheitsgesellschaft befragen, käme ziemlich sicher ziemlich oft die Antwort, dass Frauen und Männer gleichgestellt sind. Dass wir davon weit entfernt sind, dass der Gender-Pay-Gap sich nicht in Luft aufgelöst hat, dass noch immer Mütter sich zu einem großen Teil um die Kinder kümmern, den Mental Load tragen, in Elternzeit gehen, beruflich zurückstecken, dass Sexismus und Misogynie alltäglich sind, dass Gewalt an Frauen und Personen, die nicht in den gesellschaftlich vorgegeben Rahmen „passen“, systematisch ist – das ist die Realität. Ich möchte damit nicht sagen, dass Menschen deshalb die Entscheidung treffen, keine Kinder zu bekommen – das ist eine Entscheidung, die wir allen zugestehen sollten, egal aus welchen Gründen. Aber dieses Kontinuum zwischen „Wir haben die Gleichstellung längst erreicht“ und „Die Wirklichkeit ist eine andere“ ist vorhanden. Auch das ist etwas, was die Protagonistin umtreibt. Und ganz generell die Fragen: Welche Art von Beziehungen will ich führen? Was kann ich mir vorstellen? Ist das alles richtig – für mich, für die anderen? Kann man nur eine Person lieben oder mehrere? Was geben mir Menschen, was gebe ich anderen? Wie vereinbare ich das mit mir, mit den Personen, die mir nahestehen?

Es ist bezeichnend, mit welcher Selbstverständlichkeit Emil davon ausgeht, dass seine Partnerin sich über seine Pläne, seinen Grundstückskauf freut, einfach, weil das die gesellschaftliche Erwartungshaltung an Frauen in diesem Alter ist. Was folgt, ist auf ihrer Seite auch eine Unmöglichkeit, Entscheidungen zu treffen. Speist sich diese Unmöglichkeit auch aus gesellschaftlichem Druck, von dem sie ja selbst verhältnismäßig losgelöst zu sein scheint?

Ja, auf jeden Fall. Ich sehe es so: Niemand von uns ist losgelöst von dem System, in dem wir sozialisiert wurden. Die einen sind es ein Stück mehr, die anderen weniger. Aber bestimmte Werte, Ansprüche, Sichtweisen sind internalisiert. Je mehr wir uns reflektieren und auf Abstand gehen können, je besser wir uns selbst kritisieren und Kritik von anderen annehmen können, desto mehr wird uns das klar. Aber das bedeutet nicht, dass wir dadurch automatisch anders handeln können. Ich empfinde es auch als sehr schwierig, Menschen „einzuteilen“. Nicht jede Frau ist feministisch, nur weil sie eine Frau ist. Und gleichzeitig bedeutet Feminismus auch nicht, keine monogame Beziehung führen zu dürfen und Kinder bekommen zu wollen. Ich wundere mich auch darüber, dass weiblich gelesene Personen, als zu „abhängig“ von männlich gelesenen Personen klassifiziert werden und deshalb als nicht emanzipiert genug gelten. In einem Beitrag zu meinem Buch habe ich darüber gelesen. Und ich frage mich dabei ernsthaft: Wirklich? So schnell, so einfach? Wenn ich eine Beziehung eingehe, egal mit wem, dann begebe ich mich immer in eine Abhängigkeit. Gefühle bedeuten Abhängigkeit. Und Menschen sind zwiespältig. Selbst wenn die Protagonistin verhältnismäßig losgelöst scheint, sich diesen Strukturen bis zu einem gewissen Teil bewusst ist, bedeutet das nicht, dass diese Ansprüche, der Druck, sie nicht beeinflussen.

Katharina Schaller

Katharina Schaller ist eine Unruhestifterin im besten Sinne: Was sie zu sagen hat, bewegt. Ihre Sprache öffnet Poren, verwandelt Lesen in Spüren. Sie wurde 1989 in Innsbruck geboren und studierte Sprachwissenschaften. Heute arbeitet sie als Literaturscout und Text- und Konzeptentwicklerin für die Verlagsgeschwister Löwenzahn und Haymon. Als unsere Kollegin uns mit ihrem Manuskript überraschte, war auf der Stelle klar: Dieser Roman, diese Intensität ist genau, wonach wir suchen. „Unterwasserflimmern“ (2021) ist Katharina Schallers Romandebüt. Literaturpreis der Universität Innsbruck 2020. Foto: Emanuel Aeneas Photography

Was deine Protagonistin unter anderem abhebt, ist, dass sie, so lese zumindest ich sie, ihr Glück nicht von anderen abhängig macht, sondern selbst und oft aus dem Moment heraus entscheidet, welchen Weg sie jetzt gerade mit wem gehen möchte. Sollten wir das alle viel öfter tun, anstatt uns in Pfade drängen zu lassen, die die Gesellschaft für uns so angenehm flachgetrampelt hat?

Das kann ich schwer beantworten. Die Pfade sind wahrscheinlich nicht „angenehm“ ausgetrampelt. Und ich bin sehr privilegiert. Ich bin eine weiße Cis-Frau. Wenn ich mich in andere Menschen hineinversetze, solche die marginalisiert und mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind, dann kann ich nur sagen: dieser gesellschaftliche Rahmen, der Menschen einzwängt, der nicht übertreten oder gar gesprengt werden soll, ist katastrophal. Aber natürlich greift das sehr weit. Wenn wir bei den Themenfeldern Monogamie, Mutterschaft etc. bleiben: Dann wäre es am Schönsten, jede*r könnte für sich entscheiden. Aber das System lässt das nicht zu. Selbst, wenn wir uns einreden, dass es so ist.
Und auch hier glaube ich: Meine Protagonistin ist sehr ambivalent. Einerseits ist es vielleicht so, dass sie ihr Glück nicht von anderen abhängig macht und aus dem Moment heraus entscheidet, andererseits sind Beziehungen und andere Menschen das, von dem sie zehrt, etwas, das sie dringend braucht. Sie führt intensive Beziehungen, fühlt intensiv, hat intensiven Körperkontakt, Sex. Und auch das ist eine Abhängigkeit. Sich durch andere spüren zu können.

Jungen Menschen in Mitteleuropa steht scheinbar die Welt offen. Inwiefern bringen die vielen Möglichkeiten, die man hat, auch Belastung mit sich? Fühlen wir uns verpflichtet, glücklich zu sein? Und bringt das in deinen Augen weiblich gelesene Menschen besonders unter Zugzwang?

Ja, auch das bringt Belastungen mit sich. Aber der Ausdruck „junge Menschen in Mitteleuropa“ ist sicher zu verallgemeinernd.

Dafür sind die Unterschiede der Möglichkeiten und der Privilegien zu groß. Das wird in der nächsten Frage gut dargestellt. Wenn ich von der Lebenswelt der Protagonistin ausgehe, dann ja, sind da sehr viele Möglichkeiten – und damit ist da auch ein „Auftrag“ zum Glücklichsein. Irgendwie ist das logisch, die Nachkriegsgeneration, die Baby-Boomer: Viele dieser Menschen konnten ihren Beruf, ihre Lebensform nicht auswählen. Jedenfalls nicht so, wie es heute für viele machbar ist. Und dadurch entsteht auch die Anforderung, dass man ausschließlich und allein für das eigene Glück verantwortlich sei. Denn wer selbst aussuchen kann, hat auch selbst Schuld, wenn sie*er mit der Wahl nicht zufrieden ist. Wenn man nicht schafft, was man sich vorgenommen hat. Wer in diesem System nicht mithalten kann? Fällt durch. Das ist das eine Problem. Das andere: Ich habe das Gefühl, viele Menschen, die diese Möglichkeiten haben, reflektieren sich dadurch ständig. Das ist nicht falsch zu verstehen: Reflexion ist etwas Wichtiges und Gutes. Nur: Ständige Reflexion bringt auch ständige Unsicherheit. Ist es das, was ich will? Gibt es noch etwas anderes? Verwirkliche ich mich selbst? Muss ich mich verwirklichen? Muss ich mich für meinen Beruf aufgeben? … Und ja, für weiblich gelesene Personen entsteht dadurch noch mehr Druck. Wir leben im Patriarchat. Die Anforderungen, die z.B. an Mütter gestellt werden, sind unmöglich zu erfüllen: auf sich selbst achten, rundum für die Kinder da sein, die eigene Karriere vorantreiben – am besten alles gleichzeitig, schließlich hat man ja die Möglichkeit. Und die Mutterschaft ist nur ein Teil des Ganzen. Aber man sieht daran: So vieles läuft falsch.

Jede*r kann alles erreichen, wenn nur genügend Wille zur Selbstoptimierung vorhanden ist, so wird es oft vermittelt. Dass das so nicht stimmt, wissen wir, denn nach wie vor bestehen statistisch gesehen große Unterschiede bzgl. Geschlecht(sidentität), Herkunft, sexueller Orientierung, familiären Hintergrunds etc., wenn es um Möglichkeiten der Selbstverwirklichung geht. Sara Ahmed zeigt in The Promise of Happiness sogar auf, dass die Notwendigkeit zum Glücklichsein teilweise genutzt wird, um soziale Unterdrückung zu legitimieren. Hat Literatur in deinen Augen auch die Aufgabe, Realitäten und Ungleichheiten dieser Art abzubilden, uns mitten hineinzustoßen?

Ja. Für mich hat Literatur u.a. folgende große Aufgabe: nämlich die, uns andere Perspektiven zu eröffnen. Und diese Perspektiven sind manchmal schmerzhaft. Aber nur wenn wir hinsehen, wenn wir merken, wo unsere eigenen Privilegien liegen, wo es Probleme gibt, in welchen Lebensrealitäten sich andere befinden, kann diese Gesellschaft sich entwickeln. Empathie aufzubringen, sich in andere hineinversetzen zu können – das ist unheimlich wichtig. Viele wollen das nicht. Menschen bestätigen sich gerne selbst, auch wenn das bedeutet, andere Realitäten zu verweigern. Aber genau dort, wo es wehtut – das sind die Stellen, auf die wir unseren Blick richten müssen. Auf Menschen, die Diskriminierung in verschiedenen Formen ausgesetzt sind, auf Menschen, die Rassismus, Ableismus, Sexismus usw. erfahren. Das Märchen davon, dass jede*r alles erreichen kann, ist schön. Eines, mit dem wir alle besser leben können. Wir sind beruhigt, denn wir, die es „geschafft“ haben, haben selbst dafür gesorgt. Wer es nicht schafft, muss die Verantwortung dafür tragen. Aber es ist eben ein Märchen. Und es ist längst überfällig, dass wir uns dessen bewusstwerden.

Und zum Schluss: Ist es in Wahrheit erstrebenswert, auch einmal richtig unglücklich zu sein?

Nein. Ich mag Sprüche wie „Nur wer unglücklich ist, weiß zu schätzen, wenn es ihr*ihm wieder gut geht“ oder „Was dich nicht umbringt, macht dich härter“ nicht. Wer bin ich, für andere Menschen solche Aussagen zu treffen? So etwas kann und will ich mir nicht herausnehmen. Denn es ist doch so: Viele Menschen, die schreckliche Dinge erlebt haben, müssen sich ihr Leben lang damit auseinandersetzen – auch wenn es sie nicht „umgebracht“ hat. Und trotzdem will ich diese Empfindung niemandem absprechen. Wenn jemand, die*den es betrifft, so über sich selbst spricht bzw. das so sieht, weil das eben eine Art des Umgangs mit gewissen Situationen ist, dann ist das in Ordnung. Aber wir sollten nicht uns selbst als Maßstab für andere verwenden, wir sollten akzeptieren, dass es andere Gefühle, verschiedene Sichtweisen gibt. Was wir dafür, wie bereits erwähnt, umso mehr brauchen: Die Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen. Andere Perspektiven einzunehmen. Denn so erweitern sich die Ebenen des Verständnisses, auch für Glück oder Unglück, ohne bestimmte Dinge vielleicht selbst erlebt zu haben.

 

 


An jeder Kreuzung ein Ja, ein Nein oder ein Vielleicht später. Jede Entscheidung ein Wegzoll, um weitermachen zu können oder Zeit zu gewinnen. Um der Mensch zu werden, der man selbst sein möchte. Die eigene, für sich richtige Lebensform zu entdecken. In ihrem Roman „Unterwasserflimmern” nimmt Katharina Schaller dich mit zu den Kreuzungen im Leben einer jungen Frau, die plötzlich wissen soll: Will sie Haus, Kind – und einen einzigen Menschen lieben? Was, wenn sie das nicht will? Nicht heute, möglicherweise auch nicht morgen? Weil ein Mensch allein für den anderen vielleicht gar nicht genug sein kann?

#MeToo und dann lang nix. Ein Gastbeitrag von Julia Pühringer

Stell dir vor, es ist Revolution und niemand geht hin: Haben internationale Bewegungen wie #MeToo und #TimesUp in der Filmbranche in Österreich umfassende Konsequenzen gehabt? Hat sich die Branche in den letzten vier Jahren verändert? Noch steht trotz einzelner bekannter Fälle der große Befreiungsschlag aus. Immerhin: Der Diskurs hat sich verändert. Und die Forderungen auch.

Große Umbrüche. Auch hierzulande?

Es gibt große Umbrüche, die sich erst in der Rückschau festmachen lassen und nicht, während sie passieren. Man erkennt sie daran, was nachher nicht mehr denkbar ist und was direkt davor noch als unumstößlich galt. #MeToo war so ein radikaler Umbruch. Doch während nach Alyssa Milanos Twitter-Aufruf, über erlebte sexuelle Belästigung und sexuelle Übergriffe zu reden, im Oktober 2017 die Hölle losbrach (der Hashtag stammte von Aktivistin Tarana Burke), während Produzent Harvey Weinstein, Schauspieler Kevin Spacey, Comedian Louis C.K. und Pixar-Gründer John Lasseter ihre Jobs – und den jahrzehntelangen Schutz eines stillschweigenden Umfelds – verloren, herrschte in Österreich betretenes Schweigen. Berühmte Männer, die ihren Job verloren? Nein. Weder im Filmbusiness, noch in der Politik, der Industrie. Schirennläuferin Nicola Werdenigg machte mutig Übergriffe im Sport in ihrer Jugend öffentlich, „alle haben von solchen Vorgängen gewusst. Man dachte, das sei normal“. Sie gründete 2018 den Verein #WeTogether zur Prävention von Machtmissbrauch im Sport und machte sich damit natürlich nicht nur Freunde.

Seltsame Interviews erschienen, in denen eine Schauspielerin bekannt gab, sie sei zwar zweimal vergewaltigt worden, aber trotzdem nicht dafür, jemanden „wie im Mittelalter“ öffentlich an den Pranger zu stellen. Die 2009 gegründete österreichische Filmakademie richtete eine „Vertrauensstelle für Betroffene“ ein, die sich an eine Schauspielerin, einen Schauspieler und Regisseur sowie ein Vorstandsmitglied wenden konnten. „Bei uns gibt es berufsbedingt Nacktheit und körperliche Nähe – und das ist ein guter Nährboden für Missverständnisse respektive Missbrauch“, erklärte der damalige Akademie-Präsident sein völliges Missverständnis der Ursachen von Missbrauch – nämlich Machtmissbrauch und nicht Nacktheit.

Julia Pühringer, Journalistin, schreibt für diverse Medien (nicht nur) über Bewegtbild, interviewt und moderiert. Beschäftigt sich mit Kino, Kanonbildung und dem Schreiben darüber als Abbild der Welt, wie wir sie sehen (wollen). Foto: privat

#MeToo vs. „Hexenjagd“: Täter-Opfer-Umkehr 

„Verzerrt die MeToo-Debatte den Blick auf die Qualität?“ wurde in Interviews gefragt, ein berühmter Regisseur verwendete den Begriff „Hexenjagd“, unterdessen sorgte eine weitere Schauspielerin für Furore, die auf Facebook betonte, sie fände sexuelle Annäherungsversuche grundsätzlich erfreulich, und wie weit Schauspielerinnen gingen, um Karriere zu machen, sei jeder Frau selbst überlassen. Dass Frauen, die in dieser Branche tätig sind, erst gar nie in die Situation kommen, überlegen zu müssen, „wie weit sie gehen müssen“, war offenbar nicht vorstellbar, viel deutlicher ließ sich das System denn auch im Widerspruch nicht bestätigen.

Die grüne Politikerin Sigi Maurer musste sich unterdessen jahrelang mit einem Wirt vor Gericht auseinandersetzen, sie hatte obszöne Nachrichten unter Namensnennung öffentlich gemacht, er bestritt, die Nachrichten verfasst zu haben.

Immerhin: Gustav Kuhn, der künstlerische Leiter der Festspiele Erl, musste, nachdem eine Gruppe von Künstlerinnen sich mutig darauf einigte, Übergriffe öffentlich zu machen, die Leitung der Festspiele Erl zurücklegen.

Dieses mediale Sittenbild der Verhöhnung von Übergriffsopfern, absurder Täter-Opfer-Umkehr und „ich kann dazu nichts sagen, ich war ja nicht dabei!“ macht Betroffenen bis heutig wenig Mut, sich öffentlich über geschehene Übergriffe zu äußern, geschweige denn, auch noch Gerechtigkeit zu erwarten: Während Konzerte von Plácido Domingo wegen der Vorwürfe sexueller Übergriffe weltweit abgesagt wurden: In Salzburg fand es natürlich statt.

Ein Museum der schlechten Argumente

Aus der Rückschau aus dem Jahr 2021 betrachtet wirkt vieles wie ein Museum der schlechten Argumente, blanker Inkompetenz und böser Klischees. Denn ganz so ahnungslos kann man sich nicht mehr geben, wenn es darum geht, wie Machtgefüge funktionieren, die Übergriffe erst ermöglichen.

Noch 2016 schickte ein Professor der Filmakademie ein langes E-Mail aus, in dem er seine Bedenken gegen eine Frauenquote erklärte. „Eine Quote würde, um erfüllt werden zu können […] Frauen besonders stark bevorzugen, Männer […] besonders stark benachteiligen müssen“. Heutzutage kann man sich immerhin darüber lustig machen, wie nahe er der Lösung des Problems gedanklich kam. Und wie schön die Argumentation, Frauen wollen vielleicht einfach nicht so gerne Filme machen und Drehbuch schreiben, auch zeigt, was die permanente gesellschaftliche und kritische Überhöhung von „Genies“ auch beim Anspruch an die eigene Deutungshoheit anrichtet.

Es zählen die Zahlen

Inzwischen hilft in Sachen Gerechtigkeit das simpelste wie effizienteste Werkzeug: Zählen. Der Genderreport des Österreichischen Filminstituts für die Jahre 2012 bis 2016, belegte eine enorme Schieflage. 80 % der Herstellungsförderungen wurden Projekten mit Männern in Regie, Produktion oder Drehbuch zugesprochen, nur 20 % der Fördermittel gingen an Projekte mit Frauen in diesen Funktionen, bei der Stoffentwicklung waren es 72 % an Männer und 28 % an Frauen, bei Fernsehfilmen sank der Frauenanteil der Förderung gar auf 16 %, bei Fernsehserien auf 8 %. Nein, die Frauen der österreichischen Filmbranche hatten sich nicht „eingebildet“, benachteiligt zu werden. Sie bekommen deutlich weniger Geld und Jobs, ihre Honorare sind auch niedriger (Frauen besetzten 34 % aller untersuchten Stabstellen, erhielten aber nur 29 % der Honorare), bei geförderten Fernsehfilmen und Fernsehserien war der Gender-Pay-Gap noch höher.

Hochspannend war auch eine weitere Erkenntnis des Genderreports: Je mehr Frauen an einem Film mitarbeiteten, desto höher war auch der Frauenanteil bei den Hauptdarsteller*innen, dasselbe galt umgekehrt. Und: Filme von Teams mit höherem Frauenanteil stellen – Überraschung! – sowohl weibliche als auch männliche Figuren differenzierter dar als jene mit hohem Männeranteil.

Das System muss nicht „so“ sein

Frauen erzählen Frauen und Männer also durch Sozialisation anders. Was hat das mit #MeToo zu tun? Gerade eine Branche, die Geschichten erzählt, bildet die Systeme ab, in denen wir leben. Und wenn sie das nur einer Gruppe von Menschen überlässt, dann reproduziert sie das System und prägt damit im Kino und im Fernsehen wie wir uns die Welt gemeinhin so vorstellen können und aus wessen Perspektive. Das gilt für’s Arthouse-Kino eben ganz genauso wie für den „Tatort“ am Sonntagabend (Stand 2020: Bei 1150 Folgen zwischen 1970 und 2020 führten nur 138-mal Frauen Regie). Es ist dieser Aspekt – wer kommt zu Wort und wie – den jene ignorieren, die sich von vermeintlichen „Genies“, deren Übergriffe halt der vorgebliche Preis gottbegnadeter Kunst sind, nicht verabschieden wollen. Dass ausgerechnet Dieter Wedel, der Regisseur, der sich im Zuge von #MeToo selbst zum Opfer erklärte, bevor zig Opfer ihm Vergewaltigung vorwarfen, auch noch diverser Plagiate überführt wurde, passt ins Bild. Von wegen, „das System ist so“: Es muss nicht so sein. Und es bringt auch noch lange nicht einmal die beste Kunst hervor – die Behauptung, große Kunst käme nur unter harten Rahmenbedingungen und unter großem persönlichen Leid zustande, ist genau das: eine Behauptung.

Alte Muster aufbrechen

Was also ist passiert, in Österreich, seither? Österreichs Filmschaffende treten lautstark für eine Filmförderung ein, die eine Geschlechterquote hat, die Initiative „No Change Without Change“ findet aktuell in einem Ausmaß Zustimmung, das vor vier Jahren noch undenkbar gewesen wäre – auch wenn hier jeder Meter in Richtung Gleichberechtigung von den Frauen der Branche erstritten wurde, allen voran dem Verband FC Gloria. Es sind Projekte wie „Diverse Geschichten“ zur Entwicklung von Filmstories für Autor*innen mit interkulturellem Hintergrund sowie der Drehbuchwettbewerb „If she can see it, she can be it. Frauen*figuren jenseits der Klischées“, die die alten Muster schrittweise aufbrechen und auch mit dramaturgischer Begleitung dabei helfen, neue Stimmen zu finden. Diversität hilft und sie bricht die alten Muster der Macht auf, auch der erzählerischen. Nicht mehr nur eine Stimme gilt, nicht mehr nur ein Frauenbild, nicht mehr eine Arbeitspraxis.

Denn das war die erste Reaktion auf Quotenforderungen: Aber dann bekommen ja die Frauen nur Geld für’s Frausein! Sie trifft daneben, aber beschreibt aus tiefster Überzeugung die aktuelle Situation, bei der angesichts der tatsächlichen Zahlen, wer Förderung, Sendeplatz und Budgets und Deutungshoheit bekommt, wenig Interpretationsspielraum bleibt: Bei den Förderzusagen 2021 (!) gehen für die Herstellung gesamt 3.592.327 Euro an die Filme von Frauen, 10.093.817 an die von Männern, das sind 74 %, bei der Projektentwicklung ist das Verhältnis 28 % zu 72 %.

„danach“ ist später

#MeToo ist nicht vorbei: In Frankreich und Griechenland ist die Abrechnung mit den Tätern fünf Jahre später in vollem Gange, viele Bücher wurden über Missbrauch veröffentlicht, Fälle gingen auch vor Gericht im Sinne der Opfer aus. Die menschenverachtende Arbeitspraxis von Scott Rudin wurde nach jahrelangem Schweigen in den USA geoutet. Harvey Weinstein sitzt längst schon im Gefängnis. Zahlreiche Dokus erzählen vom medialen Umgang mit Opfern und Tätern.

Österreich ist kein Hort der Gleichberechtigung, ist es nicht bei Geschlechtergerechtigkeit, nicht bei der sexuellen Orientierung, nicht bei Klasse, Herkunft, Vermögen, bei Leben mit Behinderung. Ungern stellt man sich hier die Frage, ob „es war immer so“ tatsächlich gleichbedeutend ist mit „es war immer richtig so“.
Aber nein, die Dinge sind nicht mehr, wie sie waren, jetzt schon nicht mehr. Irgendwann wird man uns fragen: Wirklich, es gab Menschen, die offene Briefe zur Rettung von Tätern unterschrieben? Ihr habt Opfern nicht geglaubt? Das war eure große „Kunst“? Eure Literatur? Euer Kino? Das waren eure Theater? Auf diese Stimmen habt ihr gehört und sonst keine? Acht Prozent eurer TV-Serien waren von Frauen? Spinnt ihr?

Und dann wird wirklich danach sein. Und wir werden es wissen.

Zieh Leine, literarisches Patriarchat: Neue Stimmen und Perspektiven in die Bücherregale!

Ein Beitrag von Lisa-Viktoria Niederberger

In meinem Bücherregal, in meiner Social Media Bubble, herrscht eine Utopie der Vielstimmigkeit. Da ist die Welt bunt. Da habe ich mir ein Umfeld geschaffen aus queeren Buchhändler*innen, Feminist*innen, (Post-) Migrant*innen und trans Frauen und trans Männern. Viele von ihnen schreiben Bücher, noch mehr empfehlen sie. So haben im letzten Jahr neue Ideen und Träume, aber auch ein erweitertes Problembewusstsein für mangelnde Intersektionalität und cis-normative Hegemonien Einzug in meine Weltwahrnehmung gefunden.

Wie Lehrpläne denen die Lust am Lesen versauen, die keine cis Männer sind

Das war nicht immer so. Hätte man mich vor ein paar Jahren gefragt, die Antwort wäre klar gewesen: dass ich mehr Bücher von Männern lese, dass ich lieber Bücher von Männern lese. Was wie Antifeminismus klingt, war Unkenntnis, mangelnde Reflexion, war Gewohnheit. Ich gebe dem literarischen Kanon auf der einen Seite, und dem Literaturbetrieb auf der anderen Seite die Schuld. Meine Lieblingskinderbücher sind von Frauen geschrieben worden und die darin vorkommenden Held*innen waren auch nicht immer Buben. „Ja, die Zeit vergeht, und man fängt an, alt zu werden. Im Herbst werde ich zehn Jahre alt, und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich“, sagt Pippi Langstrumpf in „Pippi geht von Bord“, und zumindest was die schulische Pflichtlektüre betrifft, hat sie Recht. Da sind die besten Tage tatsächlich vorbei, denn: Zehn ist schon fast ein Teenie, und als Teenager in Österreich versucht der Lehrplan besonders denen, die keine cis Männer sind, nicht nur die Lust aufs Lesen, sondern auch aufs Leben zu versauen. Statt Pippi und der feuerroten Friederike werden uns nun „Heldinnen“ wie Goethes Gretchen und Lessings Emilia Galotti als Rollenmodelle angeboten. Am Schluss der reclamgelben Zwangslektüre ist die Frau meist unfreiwillig schwanger, im Irrenhaus, tot oder alles davon. Bürgerliches Trauerspiel indeed, aber leider noch immer das, was von vielen Menschen als Hochkultur bzw. Hochliteratur bezeichnet wird.
Wenn man nicht Germanistik studiert, endet diese Qual mit der Matura. Und selbst da tut sich was. Während ich mich 2006 noch mit einer Interpretation der Bergschluchten-Szene in Faust II abärgern durfte, konnten sich die Schüler*innen bei der Zentralmatura 2020 immerhin schon mit der Kolumne „Dieser Text ist reine Zeitverschwendung“ von Ronja von Rönne auseinandersetzen. Das hat auch zu einem wahnsinnig witzigen Video auf Instagram geführt, in dem die Autorin selbst die Interpretation ihres Textes übernimmt: „Die zentrale Aussage war, dass ich kein Kolumnenthema, aber eine Deadline hatte und mir dachte, es gibt immer Laberthemen, über die man schreiben kann. Zeit ist so eines.“, sagt sie da. Das ist etwas, das ich an Autorinnen, besonders an Autorinnen meiner Generation, unglaublich mag. Viele von ihnen schreiben grandiose Bücher, sind stilistisch, fachlich brillant, gleichzeitig witzig, haben einen trockenen, abgebrühten Humor. Genau den braucht man auch, um in der Literaturwelt zu überleben: Sie ist ein hartes Pflaster, ein sexistisches noch dazu. Und trotzdem gibt es diese grandiosen Frauen und ihre Texte.

Der Begriff „Frauenliteratur“ und was unsere verinnerlichte Misogynie damit zu tun hat

Hätte ich das früher gewusst. Ich hatte lange (da habe ich schon selbst geschrieben und war mit Autorinnen befreundet) eine schlechte Meinung von Büchern aus Frauenhand. Früher, als Thalia noch Landesverlag hieß, gab es dort eine Abteilung für „Frauenliteratur“. Semierotische Liebesromane, fast ausschließlich und bevor ich wusste, was „internalisierte Misogynie“ ist, führte ich gedanklich entweder das als Grund an – oder den Neid, den ich lange auf alle Frauen, die es (vor mir) geschafft hatten, erfolgreich Bücher zu veröffentlichen, warum ich doch immer wieder zu den Autoren griff.
Es ist nie zu spät, um sich zu ändern. Was wie eine Plattitüde oder ein Kalenderspruch klingt: Zumindest in Bezug auf mein Bücherregal stimmt es. Immer mehr Frauen sind da im Laufe der Jahre eingezogen, schnell gefolgt von LGBITQ+-Autor*innen und solchen, die außerhalb eurozentristischer Strukturen leben und schreiben.
Auch meine virtuelle Welt ist ein von mir liebevoll kuratiertes Matriarchat. Zwischen feministischen und gesellschaftskritischen Tweets und Statements auf meiner Timeline erklärt beispielsweise Mai Thi Nguyen-Kim leicht verständlich, was ein Brain Machine Interface ist, und Barbara Blaha, was es denn mit dem Schuldenmachen auf sich hat. Ich sehe massiv engagierte Frauen: für die Aufnahme von Menschen aus den griechischen Flüchtlingslagern, für eine gendergerechte Sprache. Dafür, dass der Bayerische Rundfunk in seinen Beiträgen endlich die Unterscheidung zwischen Vulva und Vagina hinkriegt, gegen die UG-Novelle. Die daran erinnern, dass black lives still matter.

Lisa-Viktoria Niederberger hat Kunstgeschichte und Germanistik studiert. 2014 bis 2020 war sie für editorische und veranstalterische Tätigkeiten bei der Salzburger Literaturzeitschrift erostepost zuständig. 2018 erschien ihr literarisches Debüt „Misteln“ (edition.mosaik). Sie veröffentlicht Kurzprosa, Rezensionen und journalistische Beiträge in diversen Zeitschriften und Anthologien. Foto: privat

Die Bubble dehnt sich aus – aber am Ziel sind wir noch längst nicht

Und obwohl zwar ich weitestgehend bestimme, was da reinkommt in meine schöne Social Media Bubble: Sie bildet ebenso die Außenwelt ab. Vielleicht noch nicht die Mehrheitsgesellschaft, aber ihre Diversifizierungstendenzen. Und wer die noch leugnet, tut das, weil er*sie die Augen verschließen möchte vor dem, was ganz eindeutig kommt: eine Zukunft der Vielfalt, der Vielstimmigkeit. Und je mehr wir bereit sind sie mitzugestalten, desto schneller kommt sie.
Manchmal aber fühlt diese Zukunft sich unerreichbar weit entfernt an: Am Weltfrauentag 2021 hatte ich einen wunderbaren Vormittag. Bei der feministischen Kundgebung am Linzer Hauptplatz tanzten und klatschten Frauen aller Ethnien und Altersgruppen miteinander, schrien, rissen die Fäuste in die Höhe, nickten zustimmend bei Redebeiträgen. Die Sonne schien, und obwohl wir von furchtbaren Dingen hörten, von Gewalt an Frauen und weiblicher Altersarmut, lag neben Frühling auch Liebe und Einigkeit in der Luft. Wir waren in einem Safe Space.

Später am selben Tag: ein Zoom Call, die erste Lehrveranstaltung des Semesters. Die Professorin trägt Referatsthemen vor und ein Kommilitone unterbricht sie mitten im Satz, meldet sich für das noch nicht vollständig vorgestellte Thema. Eine Kollegin äußert ihr Bedauern, denn das Thema hätte sie auch gerne bearbeitet. „Da war ich wohl nicht schnell genug“, fügt sie hinzu. „Nein!“, sage ich. „Deine Schnelligkeit ist nicht das Problem, das Problem ist, dass er sich vordrängt, nicht mal ausreden lässt, was echt nicht die feine englische Art ist meiner Meinung nach, und nicht das, wie ich mir ein akademisches Miteinander vorstelle!“
Und dann geht es los, die anderen Männer im Kurs kommen ihm zu Hilfe: wie „scharf“ meine Kritik gewesen wäre und „vorschnell“, dass das doch keine Absicht war, weil „Zoom oft zeitverzögert“ sei. Mich supportet hingegen keine der anwesenden Frauen, obwohl wir eindeutig in der Überzahl sind. Die Lehrende antwortet auch ausweichend. Die Atmosphäre im Kurs ist seltsam und ich fühle mich, als wäre ich das Problem. Dabei bin doch ich diejenige, die respektloses Verhalten aufgezeigt hat. Da drängelt sich ein Mann vor, da ist einer laut, wenn man eigentlich zuhören sollte, verschafft sich so einen Vorteil, und ich bin die Böse, weil ich das ankreide. Und nein, es geht hier nicht nur um ein Referat. Hier wird im Kleinen reproduziert, worunter Frauen (aber auch queere Menschen und/oder BiPoC) tagtäglich weltweit leiden: ein cis-männlicher Hegemonialanspruch, eine plumpe, rücksichtslose Selbstverständlichkeit Frauen gegenüber. Und die damit verbundene Dekonstruktion eines akademischen Umfelds, in dem alle gleichberechtigt sein sollten. Ich will nicht in einer Gesellschaft leben bzw. an einer Universität studieren, wo Frauen lernen: Wenn du dich gegen die Männer durchsetzen willst, musst du eben schneller schreien als sie, lauter sein.
Es sind genau diese meine „neuen“ Bücher, die mir aufgezeigt haben, dass es in solchen Situationen wichtig ist, den Mund aufzumachen. Auch wenn’s weh tut, auch wenn es sich manchmal anfühlt wie ein Schuss ins eigene Knie. Trotzdem: niemand – zumindest ich nicht – will die cis Männer jetzt vom Bücherschreiben abhalten oder ihnen dauerhaft den Mund verbieten, aber es wäre an der Zeit, dass Menschen lernen, respektvoll zu sprechen. Es ist nichts schlecht daran, ein cis Mann zu sein, einen zu lieben, einen zu erziehen. Aber: cis-Männlichkeit zur Norm zu machen, das ist schlecht, schlecht gewesen über die letzten Jahrhunderte, Jahrtausende, die wir Kulturgeschichte bzw. kulturelle Entwicklung nennen. Wir „verdanken“ ihr das Patriarchat, Misogynie und den Umstand, dass Frauen immer noch zu oft ihre Körper erklären müssen, ihre Gedanken, ihre Wünsche. Ihre Grundrechte auf ein sicheres Leben, ohne Bedrohungen, Belästigungen, die für viele eben noch nicht Lebensrealität sind.
Bis es so weit ist, ist es an uns selbst, den Mund aufzumachen, Unrecht anzuprangern. Und das ist ungewohnt, oft schwer und eine Überwindung. Die richtigen Bücher bzw. richtigen Vorbilder können da Gold wert sein. Das Private ist politisch. Dein Bücherregal auch.

Die Themen Selbstbestimmung, Empowerment und Feminismus treiben dich um? Dann könnte dich vielleicht auch Beatrice Frasls Beitrag über Frauen in Machtpositionen oder die Interviews mit Dr.in Bettina Zehetner und Mag.a Petra Schweiger zum Thema Schwangerschaftsabbruch interessieren.

„Was man im Gericht lernt, ist, WIE seltsam und abstoßend das alles sein kann.“ – Interview mit Gerichtsreporter Michael Möseneder

Michael Möseneder kennt Wiens Gerichtssäle in- und auswendig. Nicht, weil er selbst so ein schlimmer Finger ist. Es liegt einfach ganz in der Natur seines Berufs: Michael Möseneder ist Gerichtsreporter. Seit Jahren wohnt der Journalist den spannendsten, kuriosesten und erschütterndsten Verhandlungen bei. Manche Gerichtsprozesse sind so absurd wie das Leben: Da ist zum Beispiel der Fall von der untalentierten Betrüger-Omi, vom Mann, der eine Straßenbahn stahl, oder die trennungsbedingte Meerschweinchen-Vendetta. Ein Best-of versammelt Michael Möseneder in seinem Buch „Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof“. Wenn man einen guten Einblick in die Wiener Justizwelt bekommen möchte, fragt man also am besten ihn. Nina Gruber hat mit Michael Möseneder über den Alltag im Prozesssaal, Gerichtskibitze und Ermahnungen von der Richterschaft gesprochen.

Einen Gerichtssaal zu betreten, das ist den meisten von uns vermutlich ein wenig unheimlich. Dennoch: Was hinter verschlossenen Türen stattfindet, ist gleichzeitig doppelt interessant. Kann man als „Zuschauer*in“ einfach so an einer Verhandlung teilnehmen?

Ja, fast alle Gerichtsverhandlungen in Österreich sind öffentlich. Das bedeutet, man kann den Saal theoretisch jederzeit betreten und verlassen. Die so genannten Gerichtskibitze – vorwiegend pensionierte Männer – verbringen so ihre Freizeit. Nur manchmal, beispielsweise wenn Opfer von Sexualdelikten aussagen, kann die Öffentlichkeit zeitweise ausgeschlossen werden

Wie findet man spannende oder besonders kuriose Prozesse?

Die jeweiligen Verhandlungen, die an einem bestimmten Tag stattfinden, kann man bei Gericht erfragen, manchmal liegt auch eine Liste auf. Bei besonders spektakulären, so genannten clamorosen Prozessen gibt es bereits im Vorfeld entsprechende Medienberichte. Als Journalist oder Journalistin hat man natürlich Quellen, die Tipps geben. Und manchmal kann es auch Zufall sein, einen besonders aberwitzigen Prozess zu erleben.

Du warst im Rahmen deiner Funktion als „Blutchroniker“ für die Tageszeitung DER STANDARD schon bei zahlreichen Verhandlungen. Erinnerst du dich noch an deine erste?

Nein, leider, in meinem Alter bin ich froh, wenn ich mich noch an die Prozesse der vergangenen Woche erinnern kann. Wenn man täglich ein bis zwei Verfahren miterlebt, verschwimmt die zeitliche Erinnerung etwas. Die inhaltliche Erinnerung ist aber größtenteils glücklicherweise erhalten geblieben. Manche Geschichten bleiben aber einfach mehr im Gedächtnis, die sind mir bei der Auswahl für das Buch sofort wieder eingefallen.

In Gerichtssälen wird man naturgemäß nicht immer mit den positiven Seiten der Menschen konfrontiert. Hat dein Beruf deine Sicht auf die Menschheit mit den Jahren verändert?

Eigentlich nicht. Dass Menschen aus seltsamen Gründen noch seltsamere Dinge machen, ist mir bereits länger bekannt. Was man im Gericht lernt, ist, WIE seltsam und abstoßend das alles sein kann. Allerdings lernt man beispielsweise auch, wie unterschiedlich Menschen reagieren, wenn ihnen etwas Schlimmes passiert.

Nicht alle Fälle sind zum Glück bitterernst, manche sogar besonders kurios und die Verhandlung voller absurder Situationen. Gelingt es dir immer, in deiner möglichst neutralen, beobachtenden Rolle zu bleiben?

Ich bemühe mich in den meisten Fällen wirklich. Aber manchmal entkommt mir ein Lacher oder ich reiße ungläubig die Augen auf, da ich fast nicht glauben kann, was ich eben gehört habe. Von der Richterschaft ermahnt wurde ich bisher aber nur in zwei Fällen – völlig zu Recht, da Beifalls- und Missfallskundgebungen in Verhandlungssälen verboten sind.

 

 

Du siehst: Zum Glück musst du nicht erst ein Verbrechen begehen, um einen Einblick in die Gerichtswelt zu bekommen. Die kann unterhaltsam, tragisch, schauerlich, absurd sein. Ob du zum Verurteilen, Fremdschämen oder Mitfühlen tendierst, bestimmte Geschichten einfach überblättern musst oder alles fassungslos in dich aufnimmst, bei Michael Möseneders „Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof“ wirst du schmunzeln, grübeln, empört den Kopf schütteln und dich verstört fragen: „Ist das wirklich passiert?!“

Bungeejumping kann uns mal! So kannst du dein Leben wirklich bereichern.

Bucket Lists sind derzeit überall. Das Wort kommt vom englischen „kick the bucket“, also von „den Löffel abgeben“. Es ist eine Liste der Dinge, die man erleben möchte, bevor man diesen sprichwörtlichen Löffel eben irgendwann abgibt. Und von denen man instataugliche Selfies machen kann. Im Internet finden sich viele Vorschläge für Punkte, die man auf einer richtig coolen Löffelliste stehen haben sollte – Bungee Jumping, Selfie mit Känguru in Australien, Sex am Strand, Haus im Grünen, du weißt schon.
Die Paliativpflegerin Bronnie Ware begleitet täglich Sterbende und hat ein Buch darüber geschrieben, was Menschen am Ende ihres Lebens bewegt: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Und siehe da: Es sind vielmehr die scheinbar kleinen, auf den ersten Blick vielleicht wenig spektakulären Dinge, mit denen sie ihr Leben gerne erfüllt hätten: weniger über die Erwartungen der anderen nachdenken und einen eigenen Weg gehen, weniger arbeiten und mehr genießen, ehrlicher über Gefühle sprechen, Freundschaften pflegen und sich selbst Glücklichsein erlauben.

Wir haben einige Punkte gesammelt, die du auf deiner Bucket List abhaken solltest – und die dein Leben garantiert bereichern werden, auch wenn du den großen Löffel noch lange behalten willst.

Setz sie endlich um, diese eine verrückte Idee!

Immer diese Grußkarten, die man eigentlich nie mehr lesen wird, aber trotzdem in der Box unterm Bett aufbewahrt, weil sich der Absender richtig viel Mühe gegeben hat. Wie cool wäre es, wenn man wüsste, was man damit anfangen soll? Ja, das hat sich Michael Stausholm auch gedacht. Und dann Stifte, Gruß- und Businesskarten entwickelt, die man einpflanzen und als Dünger nutzen kann. Und schwups, sind aus den lieben Grüßen grüne Kräuter geworden. Wenn du eine Lieblingsidee seit Jahren mit dir herumträgst, dann lass sie jetzt raus. Kleiderkreisel, Fahrräder, Sandwiches: Alles begann irgendwann mit einem hellen Kopf, der sich getraut hat, es anzugehen.

Engagier dich!

Du kennst das bestimmt: Du scrollst durch deine Timelines, ärgerst dich über diesen und jenen gesellschaftlichen Missstand, über Ungerechtigkeit, über Politik. Du denkst dir, dass man da wirklich dringend was tun sollte, und dann verkriechst du dich im Lesesessel oder schaltest Netflix ein. Aber du hast ganz bestimmt auch schon gespürt, wie befriedigend es ist, sich selbst in den Hintern zu treten und es einfach zu tun: Geh demonstrieren, sag deine Meinung öffentlich und laut, melde dich im Tierheim als Gassigeher*in oder tritt endlich diesem Verein bei. Du wirst Leute kennenlernen, die dich inspirieren, du wirst erleben, dass du zwar nicht die Welt, aber viele kleine Welten ganz schön umkrempeln kannst, und du wirst das befriedigende Gefühl haben, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Mach’s dir selbst!

Du hast den schwarzen Daumen, deine Basilikumpflanze lässt die Blätter schon hängen, wenn du sie nur anschaust, und statt Nägel in Wände haust du mit dem Hammer Löcher? Zugegeben, nicht jede*r ist das ganz große Bastel- oder Gartentalent. Aaaaber es kann trotzdem richtig Spaß machen, etwas selbst zu pflanzen, basteln, bauen, stricken oder häkeln. Und dieses Shirt, das du dir mit selbst ausgesuchtem Stoff nach deinem eigenen Muster genäht hast, wirst du völlig anders tragen als ein gekauftes. Und noch dazu wirst du die Arbeit, die auch im gekauften steckt, viel mehr schätzen können.

Halt, Stopp! Es bleibt alles so, wie es ist?

Nein, bitte nicht. Dazulernen ist schließlich etwas Schönes. Nicht jede Entscheidung, die du vor Jahren für dich getroffen hast, muss heute noch zu dir passen. Und dabei geht es nicht nur um die „großen“ Lebensbereiche wie etwa deinen Arbeitsplatz und ob der dich noch glücklich macht, sondern auch um feine Nuancen in deiner Haltung. Denn: Ist es nicht das Allerschönste, mit einem guten Buch eine neue Lebenswelt kennenzulernen – und damit auch die eigene Meinung zu einem Thema zu verändern? Und wie erfreulich ist es, zurückzublicken und zu erkennen, dass dein früheres Ich einfach noch ein bisschen weniger gewusst hat als dein heutiges, und das Ich von morgen zu highfiven, weil es die Dinge noch ein bisschen differenzierter sehen wird …

Sag’s ihnen!

Dass du sie liebhast, dass sie dich beeindrucken, dass du dankbar bist, sie zu haben, oder auch einfach nur, dass das neue (selbstgenähte?!) T-Shirt so richtig gut aussieht. Den Menschen in deinem Leben nämlich. Nichts versüßt den Tag mehr als ein ehrlich gemeintes Kompliment oder ein Lob, und manchmal sind wir damit einfach zu sparsam. Auf die Gefahr hin, ein bisschen kitschig zu klingen: Wir wissen nie, wie lange wir uns noch haben. Also sag den Menschen, die dir wichtig sind, dass das so ist – und freu dich an ihrem Lächeln.

Hör auf Pippi Langstrumpf!

Ganz klar: Pippi hat eigentlich immer recht, auch beim Thema Zeitmanagement: „Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen“, hat sie gesagt. Und recht hat sie! In der Hängematte liegen und die Wolken beobachten, barfuß durchs nasse Gras spazieren, den Hund kraulen, an der Schulter eines lieben Menschen liegen und gemeinsam schweigen, bis man eindöst: Nimm sie dir, diese Momente. Du hast sie dir verdient …

 

Ein Roman, der dich intensiv spüren lässt, dass es die kleinen, scheinbar alltäglichen Dinge sind, die wirklich zählen, ist „Immer noch wach“ von Fabian Neidhardt. Wie dich dein*e Freund*in weckt, wenn du schlecht träumst. Wie deine Lieblingsmenschen über deine Witze lachen, auch wenn sie sonst niemand versteht. Und wie sie dich im Arm halten, wenn die Tränen kommen.
In leiser, eindringlicher Sprache erzählt Fabian Neidhardt eine Geschichte von Liebe, Freundschaft und der Kraft des Zusammenhalts – tieftraurig, herzerwärmend schön und vor allem immer: Mut machend.

Natalka Sniadanko über unabhängige Frauen und Aristokraten – und die Spuren einer ukrainisch-österreichischen Geschichte.

In ihrem frisch aus dem Ukrainischen übersetzten Roman „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“ schildert Natalka Sniadanko den Kampf, sich im politischen und gesellschaftlichen Rahmen selbst zu verwirklichen und unabhängig zu werden: als Mensch – aber auch als Staat. Im Interview mit Nina Gruber erzählt sie von den Herausforderungen und patriarchalen Schranken, vor denen ukrainische Frauen stehen, die ein selbstbestimmtes Leben führen möchten. Von einer ukrainisch-österreichischen Geschichte, die nach vielen Jahren erst langsam wiederentdeckt wird. Und von der wunderbaren Freiheit in der Literatur, ein Gedankenexperiment zum Roman heranwachsen zu lassen.

Erzherzog Wilhelm von Habsburg-Lothringen – bei diesem Namen klingelt bei den meisten von uns vermutlich noch nichts. Dabei fügt sich der aristokratische Outlaw neben Kaiserin Sisi und Kronprinz Rudolf ausgezeichnet in die Reihe seiner erlesen exzentrischen Verwandtschaft. Welche Rolle spielt er für die ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts?

Es gibt nicht viele Habsburger außer Kaiser Franz Joseph, die in der Ukraine bekannt sind. Es ist eine lang vergessene Geschichte. Nicht mal die schöne Sisi wird man heute in der Ukraine kennen. Erzherzog Wilhelm aber ist eine Ausnahme. Er hat sogar einen ukrainischen Namen: Wasyl Wyschywanyj, was so viel wie „der Bestickte“ heißt und sich auf ein traditionell besticktes ukrainisches Hemd bezieht, einer Art von Tracht, die immer noch sehr populär ist.
Natürlich war Wilhelms Geschichte zur sowjetischen Zeit aus den Geschichtsbüchern völlig ausradiert. Erst in den 1990ern, als die Ukraine nach dem Zerfall der UdSSR unabhängig wurde, erfuhr man vom ihn und von den Plänen ukrainischer Politiker nach dem ersten Weltkrieg, ihn zum König der Ukraine zu machen. Die Ukraine hatte damals gute Chancen, einen unabhängigen Staat zu bilden. Und für eine kurze Zeit kam es sogar dazu. Dann aber wurde das Land – wie schon so oft in den Jahrhunderten davor – zwischen Russland und Polen geteilt. Eine romantische Vision der Westukrainischen Republik unter Führung der Habsburger klang auch in den 1990ern für viele recht attraktiv. Es gab sogar Gerüchte, dass Wasyl Wyschywanyj nicht gestorben war, sondern immer noch lebte. Man wollte ihn in Sibirien gesehen haben, unter anderen sowjetischen Dissidenten, und dann wieder zur Zeit der Unabhängigkeit in Lwiw (Lemberg).
Diese Gerüchte habe ich zum ersten Mal in meiner ersten Zeit als Studentin der ukrainischen Philologie gehört, als ich zu den ersten Student*innen gehörte, die ukrainische Geschichte nicht mehr nach dem sowjetischen Lehrplan gelernt hatten, sondern ganz anders. Danach gab es immer wieder Bücher über Wilhelm. Eines der besten Sachbücher über ihn hat ohne Zweifel Timothy Snyder geschrieben: „The Red Prince“ (dt. Übersetzung: „Der König der Ukraine“). Und so kam ich auf die Idee, Erzherzog Wilhelm tatsächlich im sowjetischen Lwiw weiterleben zu lassen

Wilhelm spielt eine besondere Rolle in der Beziehung der Ukraine mit Österreich. Aber auch über ihn hinaus wird diese Verbindung lebendig und zeigt sich in vielen deiner Figuren und Schauplätze. Was sind deine Lieblingsspuren dieser gemeinsamen, dieser europäischen Geschichte?

Nicht weit von meiner Wohnung in Lwiw gibt es einen Wyschywanyj-Platz. Es ist ein winziges Viereck mit einem Kinderspielplatz und einigen Bänken. Meine Kinder gehen täglich über diesen Platz in die Schule, wo sie einen verstärkten Deutschunterricht haben und samt Abitur auch die Prüfung für das deutsche Sprachdiplom ablegen müssen. Es gibt nur zwei solche Schulen in Lwiw, und bald werden sie keine Sprachdiplomprüfung mehr ablegen können, denn das System wird abgeschafft. Der Platz aber bleibt, hoffe ich, wobei es außer diesem Platz kaum Andenken an Wilhelm in der Ukraine gibt. Es gibt noch eine Wyschywanyj-Straße in Tscherniwzi (Czernowitz), und das war es auch schon.
In Wien wurde ich auch nicht fündig. Ich habe einmal vergebens eine Erinnerungstafel auf dem Haus gesucht, in dem er zuletzt in Wien lebte und das letzte Mal ausgegangen ist, bevor er auf der Straße vom sowjetischen Geheimdienst gekidnappt wurde, um für immer zu verschwinden. So viel zur gemeinsamen ukrainisch-österreichischen Geschichte und zu ihren Spuren in Lwiw, die in der sowjetischen Zeit fast völlig ausradiert wurden. Nur die Architektur hat teilweise überlebt. Sonst nicht viel.
Es blieb nur eine gewisse nostalgische Sehnsucht nach Franz Joseph und der k.u.k-Zeit. Diese Zeit blieb als eine Art goldene Ära in der Erinnerung der Ukrainer*innen. Galizien, die ärmste Provinz der Monarchie, war natürlich kein Vielvölkerparadies, wie es in der nostalgischen Version dargestellt wird. Aber die Zeit steht im Vergleich mit den Jahren des sowjetischen Terrors natürlich viel besser da. Man lernte mehrere Fremdsprachen und durfte überall in Europa studieren, was für junge Ukrainer*innen erst seit Kurzem wieder möglich ist und mit vielen Hindernissen verbunden ist. Man hatte bessere Verbindungen nach Europa als jetzt, Reisefreiheit, schöne Kaffeehäuser, schöne Häuser, man fühlte sich als Teil Europas. Das durfte man später Jahrzehnte lang nicht mehr. Selbst heute fühlt man sich in der Ukraine nicht so.

Den Geschichtsbüchern zufolge geht Erzherzog Wilhelms Leben 1948 zu Ende. Aber du lässt ihn in deinem Roman wiederauferstehen. Mit dem Leben eines reichen Aristokraten hat sein Dasein anschließend aber nichts mehr gemeinsam. Gewinnt Wilhelm damit auch ein Stück Autonomie?

Lwiw:Lemberg im Westen der Ukraine

Lwiw/Lemberg im Westen der Ukraine war knapp 150 Jahre lang bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das multiethnische Zentrum des Habsburger Königreichs Galizien und Lodomerien.

Dieses Buch war für mich ein Versuch mir vorzustellen, wie z. B. das Leben meiner Großeltern aussehen könnte, wenn diese alte Welt immer noch existieren würde, unzerstört vom sowjetischen Totalitarismus. Die Hauptfiguren dieses Buches würden in der sowjetischen Realität zugrunde gehen, selbst wenn sie den Krieg überlebt hätten. Sie würden nicht in dieser Realität überleben können, rein psychisch nicht. Aber dafür ist die Literatur da: Sie erlaubt es, das Unmögliche zu beschreiben und zu genießen. Wilhelms Leben in meinem Roman ist seinem Leben in meiner Fantasie ähnlicher als seinem Leben in der Realität. Ihn in einer sowjetischen Umgebung zu zeigen, würde seine Persönlichkeit um eine Dimension erweitern. Ich habe mir Wilhelm als sehr anpassungsfähig an das neue System vorgestellt. Der Roman ist für mich wie eine virtuelle Realität, eine Erweiterung der Realität.

Natalka Sniadanko kennt in Lwiw jede Ecke und hat ein Herz für exzentrische Figuren. Als Autorin spielt sie gerne Zeitmaschine und mixt historische Fakten und literarische Fiktion kräftig durch, um uns Geschichte mal ganz anders erleben zu lassen. Foto: Kateryna Slipchenko

Als junger Mann treibt sich Wilhelm in Hafenkneipen rum, lässt sich tätowieren, in der Zwischenkriegszeit lässt er sich von seiner reichen Verwandtschaft ein ausschweifendes Leben im verruchten Paris finanzieren, er verbringt Jahre als Spion im Untergrund. Seine Enkelin Halyna erlebt eine im Vergleich mit Wilhelm sicherere Jugend- und Erwachsenenzeit. Als ihr Sohn zur Welt kommt, passiert aber etwas: Anders als beim Lebemann Wilhelm ist Halynas Dasein nun geprägt von dieser einen Erwartung an sie – die perfekte Mutter zu sein. Woher kommt diese Ungleichheit in Freiheit und Unabhängigkeit der beiden?

Die Ukraine von heute ist ein tief patriarchaler Staat und Halyna fühlt sich als Frau dementsprechend diskriminiert. Alle ihre Erwartungen und Pläne muss sie zurückstecken, weil die Gesellschaft von ihr nur eine, ihre „Hauptrolle“ erwartet – die Mutterrolle. Und diese Erwartungen hat sie schon als Kind verinnerlicht, sie versucht nicht mal, dagegen zu kämpfen, sie leidet nur darunter.

Die sowjetische Version einer unabhängigen Frau lautete: Die Frauen dürfen berufstätig sein, denn es macht sie unabhängig. Aber sie dürfen ihre Familie nicht „vernachlässigen“, was im Alltag eine doppelte oder sogar dreifache Belastung bedeutet – nach der Arbeit muss die Frau noch die gesamte Hausarbeit leisten und sich um die Kinder und ihren Mann kümmern.

Halyna ist nicht berufstätig, was ihr teilweise den Alltag entlastet, sie ist aber auch nicht frei und nicht glücklich in ihrer Rolle. Man kann sie natürlich schwer mit Wilhelm vergleichen. Trotz Halynas Zeitvorsprung hat Wilhelm als Mann und Aristokrat viel mehr Freiheiten, aber auch nicht alle. Sein Wunsch, sich die ukrainische Identität anzueignen, wurde nicht akzeptiert. Er wurde deshalb aus der Familie ausgeschlossen. Auch seine Lebensweise wurde nicht geduldet. Das zeigt nur, wie langwierig und schwer der Weg zur individuellen Befreiung ist. Aus Sicht der anderen ukrainischen Frauen ist Halyna privilegiert: Als Hausfrau, die zumindest kein Geld verdienen muss, ist sie von einem wesentlichen Teil der ihr auferlegten Pflichten befreit. Genauso ist Wilhelm privilegiert und wird dafür beneidet. Beide aber leiden unter dem Mangel an persönlichen Freiheiten und ihrem Recht auf Selbstverwirklichung.

 

Bist du jetzt neugierig geworden auf diesen Generationenroman über (persönliche) Unabhängigkeit und über eine aus heutiger Sicht überraschend gemeinsame, europäische Geschichte? Hier findest du mehr Informationen zum Roman, in der Persönlichkeiten die Hauptrolle spielen, die aus der Reihe tanzen: in einem Reigen aus Lwiw und Wien, aus Habsburger Monarchie, Sowjetunion und 21. Jahrhundert.

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?

Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Natalka Sniadanko haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Maria Matios, Oleksij Tschupa, Kateryna Babkina, Jurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!

Die österreichische Demokratie ist nicht demokratisch genug – Beatrice Frasl über Frauen in Machtpositionen

Über 100 Jahre sind vergangen, seit Frauen in Österreich zum ersten Mal wählen durften. Wie schaut es heute aus mit der politischen Repräsentation im Nationalrat und den Gemeindeämtern? Was hat sich wirklich getan? Und welchen Weg haben wir noch vor uns? – Beatrice Frasl setzt sich in ihrem Beitrag mit den Baustellen der österreichischen Demokratie auseinander, stellt inspirierende Frauen vor und zeigt, warum Quoten keine kosmetische Beschönigung, sondern ein wichtiges Instrument zur demokratischen Qualitätssteigerung sind.

Quoten für Qualität

Anna Boschek, Hildegard Burjan, Emmy Freundlich, Adelheid Popp, Gabriele Proft, Therese Schlesinger, Amalie Seidel und Maria Tusch. Das sind die Namen der acht Frauen, die als erste Frauen überhaupt 1919 in den österreichischen Nationalrat einzogen. Mit dem passiven Wahlrecht für Frauen, dessen Jubiläum wir 2019 feierten, kam nämlich auch das aktive – Frauen durften von nun an wählen und gewählt werden. So fanden sich also unter den 170 Abgeordneten zur konstituierenden Nationalversammlung 1919 erstmals auch acht Nationalrätinnen: eine Vertreterin der Christlichsozialen Partei (der Vorgängerpartei der heutigen ÖVP) und sieben der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (der Vorgängerpartei der heutigen SPÖ). Mit den Frauen zogen auch neue Perspektiven und Forderungen ins Parlament.

Es ist keineswegs irrelevant, wer die Interessen der Bevölkerung im Nationalrat vertritt, denn: Frauen und Männer finden auch in Österreich und auch im Jahr 2021 oft weitgehend unterschiedliche Lebensrealitäten vor, das zeigt die Corona-Krise eindrücklich. Frauen arbeiten mehr als Männer und werden dafür im Falle von Haushalts- und Kindererziehungsarbeit nicht bezahlt, im Falle von Erwerbsarbeit signifikant schlechter als Männer. Sie haben aufgrund dieser Mehrfachbelastung weniger Freizeit und Erholungszeit, bekommen 40% weniger Pension, sind öfter von Armut im Allgemeinen und Altersarmut im Besonderen betroffen. Sie werden, anders als Männer, nach einengenden und psychisch belastenden Schönheitsnormen bewertet, werden objektifiziert und sind öfter von Gewalt zuhause oder sexueller und sexualisierter Gewalt betroffen als Männer. Sie haben im Berufsleben schlechtere Aufstiegschancen, arbeiten öfter in prekären Beschäftigungsverhältnissen und erkranken, auch als Folge der Summe all jener Umstände, doppelt so häufig an Depressionen.
Der immer noch geringe Anteil an Frauen im Parlament bedeutet also auch: Diese Lebensrealitäten werden nicht ausreichend abgebildet. Interessen und Bedürfnisse, die Frauen aufgrund ihrer spezifischen Lebenssituation mitbringen, werden nicht annähernd ausreichend vertreten. Von den 183 Abgeordneten des Nationalrats sind derzeit lediglich 73 Frauen – das sind 39,89%. Die schlechteste Geschlechterquote hat die FPÖ mit 16,67%, die beste die Grünen mit 57,69%.
Frauen sind also im österreichischen Parlament nicht annähernd ausreichend repräsentiert; das wären sie mit einem Abgeordnetenanteil von 50,8% – das ist der prozentuelle Anteil von Frauen an der österreichischen Bevölkerung.

Auch andere Gruppen sind denkbar schlecht vertreten: So finden sich unter den Abgeordneten nur 9 mit Migrationshintergrund – das sind 5%, während Menschen mit Migrationshintergrund 23% der österreichischen Bevölkerung darstellen. Klassen und Berufsgruppen sind ebenfalls sehr ungleich repräsentiert: Es gibt verhältnismäßig wenige Abgeordnete aus der Arbeiter_innenklasse, aber weit überdurchschnittlich viele Akademiker_innen und Bäuer_innen. Im österreichischen Nationalrat sitzen aktuell mehr Landwirt_innen (nämlich 14) als Menschen mit Migrationshintergrund (nämlich 9).

Beatrice Frasl ist Kulturwissenschafterin mit Fokus auf Geschlechterforschung, Podcasterin (Große Töchter), Universitätslehrende und Kolumnistin. Sie forscht und schreibt und lehrt zu feministischen und Gleichbehandlungsthemen und lebt und arbeitet in Wien. Foto: Michael Würmer

Repräsentation ist keineswegs eine ausschließlich kosmetische Frage

Wissenschaftliche Studien belegen, dass Frauen eher von im Parlament beschlossenen Gesetzen profitieren, wenn Frauen auch maßgeblich an diesen Gesetzen mitarbeiten und mitentscheiden. Wenn Frauen und Marginalisierte nicht gleichberechtigt an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben, gehen wichtige Perspektiven verloren. Perspektiven, die die beschlossenen Gesetze erst zu guten (weil umsichtigen) machen. Wir lassen uns also viele Ideen und Innovationen entgehen, die sich aus marginalisierten Perspektiven ergeben. Ideen, die gesamtgesellschaftlich von großem Nutzen sein könnten.

Das zeigen auch die ersten acht Frauen, die in den Nationalrat einzogen. Sie machten tatsächlich andere Politik als die Männer vor ihnen – und schrieben damit Geschichte. Die Christlichsoziale Hildegard Burjan forderte beispielsweise bereits 1917 gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Adelheid Popp wurde 1895 wegen ihrer Kritik an der traditionellen Ehe zu einer Arreststrafe verurteilt. Auch im Parlament war sie mit ihren Forderungen ihrer Zeit (und ihrer Partei) voraus:

Schon 1896 forderte sie eine Quotenregelung, Karenzzeiten für Mütter und Gleichstellung von Frauen sowohl im Beruf als auch in der Ehe – und stieß dabei auf großen Widerstand der männlichen Parteispitze. Therese Schlesinger machte sich innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterpartei ähnlich unbeliebt, denn sie forderte gleichen Lohn für gleiche Arbeit, gleiche politische Rechte für beide Geschlechter, Arbeitszeitverkürzung für Mütter und eine staatliche Mutterschaftsversicherung. Zudem kämpfte sie, gemeinsam mit Maria Tusch, für die Straffreiheit der Abtreibung. Die Sozialdemokratin Anna Boschek setzte sich unter anderem für den Achtstundenarbeitstag und für das Nachtarbeitsverbot für Frauen ein. Auch ihre parlamentarische Mitarbeiterin, Käthe Leichter, war keine Unbekannte. Das Hausgehilfinnengesetz, an dem die beiden federführend beteiligt waren, war das erste von weiblichen Abgeordneten geschriebene und eingebrachte Gesetz und verbesserte die Situation von Hausangestellten maßgeblich. Ohne Frauen im Parlament wäre dieses Gesetz vermutlich nicht geschrieben worden.

Ich würde diese sehr langsame Fortschrittserzählung an der Stelle gerne weiterschreiben. Allerdings: Boschek, Burjan, Freundlich, Popp, Proft, Schlesinger, Seidel und Tusch wären vermutlich enttäuscht und schockiert, wenn sie wüssten, dass Österreich 2021 noch nie eine gewählte Bundeskanzlerin gesehen hat, wenngleich Brigitte Bierlein von Juni 2019 bis zum Januar 2020 vom Bundespräsidenten als Übergangskanzlerin bestellt wurde. Frauen, so scheint es, werden in Österreich lieber für provisorische Ämter einberufen als mit bleibender Macht in bleibenden Ämtern ausgestattet. Auch gab es noch nie eine Bundespräsidentin.
Um dieses Missverhältnis zu illustrieren: 50,8% der Bevölkerung Österreichs war im Jahr 2020 laut Statistik Austria weiblich. 100% aller Bundespräsidenten waren bislang Männer. Ebenso 100% aller gewählten Bundeskanzler. Das generische Maskulinum ist an der Stelle ausnahmsweise eine Tatsachenbeschreibung. Übrigens: Es gab auch noch nie einen Bundeskanzler oder einen Bundespräsidenten mit Migrationshintergrund.

Damit Frauen gleichberechtigt an politischen Entscheidungsfindungsprozessen teilnehmen können, müssen sich die Umstände ändern. Aufgrund der ungleichen Verteilung von Arbeit, vor allem unbezahlter Arbeit, zuungunsten von Frauen und der Tatsache, dass sie immer noch die Mehrheit der Reproduktionsarbeit, Haushaltsarbeit, Kindererziehung und Angehörigenpflege übernehmen, bleibt wenig Zeit für alles andere – auch, um sich politisch zu engagieren. Dies zeigt sich vor allem auf lokalpolitischer Ebene: Nur 9,4% der Bürgermeister_innen in Österreich sind Frauen, oder andersrum gerechnet, 90,6% der Bürgermeister_innen sind Männer. Zudem wird Männern nach wie vor eher Führungsqualität und Expertise zugeschrieben als Frauen (weswegen sie für geeigneter für politische Ämter gehalten werden).

Das ist nicht „nur“ ein frauenpolitisches Problem. Das ist vor allem auch ein demokratiepolitisches Problem. Eine Quotenregelung könnte insofern Abhilfe schaffen, als man so das Versprechen der repräsentativen Demokratie auch wirklich ernst nimmt: jenes Versprechen nämlich, die Wahlbevölkerung auch tatsächlich zu repräsentieren. Die Forderung nach Quoten auf allen politischen Ebenen ist also nicht nur eine frauenpolitische, sondern eine demokratiepolitische.
Auch das Frauenvolksbegehren 2.0 forderte eine Quotenregelung, und damit die Hälfte aller Plätze auf Wahllisten, in Vertretungskörpern, auf Gemeinde-, Landes-, und Bundesebene für Frauen, sowie wirksame Sanktionen bei Nichterfüllung der Quote.
Quoten können nicht nur den Zugang zu Entscheidungsmacht demokratisieren und zu einer gerechteren Repräsentation führen – sie sind auch ein Mittel zur Qualitätssteigerung. Der österreichische Nationalrat und die Regierungsämter haben die besten Köpfe verdient – nicht nur jene, die weiß, autochthon österreichisch, männlich und überdurchschnittlich gut vernetzt sind.

Auch drei Jahre nach dem Frauenvolksbegehren bleiben diese Forderungen unerfüllt. Auch 102 Jahre nach dem Einzug von Boschek, Burjan, Freundlich, Popp, Proft, Schlesinger, Seidel und Tusch in den Österreichischen Nationalrat ist das Thema der Repräsentanz von Frauen und ihrer gerechten Ausstattung mit Entscheidungsmacht also nicht vom Tisch.
Es hat hundert Jahre gedauert bis Österreich seine erste (nicht gewählte) Bundeskanzlerin bekam. Weitere hundert Jahre bis zur ersten gewählten Bundeskanzlerin werden wir nicht vergehen lassen.