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Warum Femizide als Femizide benannt werden müssen – Interview mit Sina Niemeyer zu ihrem Fotoprojekt „An jedem dritten Tag“

Mit Stand 19. November 2021 zählte Österreich den 27. Femizid des Jahres. Frauen in Österreich und der ganzen Welt leben in Strukturen, die gefährlich für sie sind und sie im schlimmsten Fall mit dem Tod bedrohen. Die Autonomen Österreichischen Frauenhäuser fassen in Zahlen, was für Frauen ab 15. Jahren in Österreich „Normalität“ bedeutet: Jede 5. Frau ist körperlicher und/oder sexueller Gewalt ausgesetzt, jede 3. erfährt eine Form von sexueller Belästigung und jede 7. erlebt Stalking. Die negativen Folgen begleiten die Betroffenen oft ein Leben lang. Dazu kommen die vielen Taten, die nicht zur Anzeige gebracht wurden, und die Zahl trans* und nicht binärer Personen, die jährlich Opfer patriarchaler Gewalt werden.

Die Fotografin Sina Niemeyer setzt sich in ihrem Projekt „An jedem dritten Tag“ mit Femiziden auseinander. Die Bilder entstanden im Rahmen von #womenincovid, einem Projekt von 24 Berliner Fotografinnen, die sich künstlerisch mit den Auswirkungen der Pandemie beschäftigen.

Nina Gruber hat sich mit Sina Niemeyer unterhalten – über ihr Fotoprojekt, über die mediale Berichterstattung zu Fällen von geschlechterspezifischer Gewalt und über ihre Herangehensweise, mit der sie den Betroffenen und ihren Angehörigen eine Stimme zurückgeben möchte.

In deinem Fotoprojekt „An jedem dritten Tag“ setzt du dich – ganz grob gesagt – mit Femiziden auseinander. Worum geht es genau in deinem Projekt?

Das Projekt besteht aus mehreren Teilen und ich habe dieses Jahr einen ersten Teil fotografiert, für den ich mit Angehörigen eines Mordopfers zusammengearbeitet habe: Noelle aus Berlin, die im August 2020 in Berlin von einem wahrscheinlich ihr unbekannten Mann erst vergewaltigt und dann ermordet wurde. Ich habe nicht versucht, die Tat zu rekonstruieren, aber diese Geschichte sozusagen in meinen Bildern nachzuerzählen. Vor allem aber auch, was das eigentlich mit der Mutter und der Schwester gemacht hat: viele atmosphärische, mehrdeutige Bilder, die den Tatort oder Details vom Tatabend zeigen, oder auch, wo Noelle noch im Leben der Angehörigen präsent ist. Es geht auch um die emotionale Welt, um dieses krasse Loch, in das die Mutter nach dem Bekanntwerden dieser Tat gefallen ist.

Ganz allgemein: „Femizid“ ist immer noch ein Wort, das in den deutschen Medien nicht oft genutzt wird, und wenn, dann im Moment vorrangig für Morde durch (ehemalige) Partner. Noelles Fall kann auf jeden Fall als Femizid definiert werden, wenn man von genderbasierter Gewalt ausgeht. Der umgekehrte Fall – dass männliche Personen in Deutschland, wenn sie allein auf der Straße unterwegs sind, vergewaltigt und ermordet werden – passiert kaum. Der Projektname „An jedem dritten Tag“ bezieht sich auf die polizeiliche Kriminalstatistik aus Deutschland, die besagt, dass an jedem dritten Tag eine Frau von ihrem (ehemaligen) Partner ermordet wird. Eigentlich ist die Anzahl an Opfern genderbasierter Gewalt aber viel höher, wenn man diese anderen Femizide – also nicht von (ehemaligen) Partnern ermordet, so wie in Noelles Fall – oder versuchte Morde an Frauen dazuzählt. Versuchte Morde werden natürlich erfasst, aber nicht als genderbasierte Gewalt. Bei versuchten Morden/Totschlag liegt es nahe, dass es ein großes Dunkelfeld gibt, so wie für alle genderbasierte Gewalt, da Anzeigen relativ selten sind oder es zu keiner Verurteilung/keinem Verfahren kommt.

In meinem Projekt wird es noch einen zweiten und dritten Teil geben, die ich nächstes Jahr fotografiere. Ein Teil davon wird sein, dass ich Tatorte von Femiziden fotografiere, mich also sozusagen durch die Statistik zur Parnterschaftsgewalt eines Jahres in Deutschland arbeite. Im anderen Teil werde ich mit einer Überlebenden zusammenarbeiten. Die fotografierte Person kann dabei sich selbst und ihre Perspektive miteinbringen.

© Sina Niemeyer, aus dem Projekt „An jedem dritten Tag“. Sina Niemeyer ist Fotografin. Für ihr Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. In ihrer Arbeit setzt sie sich u. a. mit Intimität, menschlichen Beziehungen und Weiblichkeit auseinander. Die Fotos ihres Projekts „An jedem dritten Tag“ wurden in der Ausstellung IN WAVES gezeigt.

Du hast erwähnt, dass bei der medialen Verwendung des Begriffs „Femizid“ meist konkret Partnerschaftsgewalt gemeint ist. Wie ist dein genereller Eindruck von der medialen Darstellung von Femiziden? Wie unterscheidet sich dein Konzept der Auseinandersetzung?

Ganz oft wird es ja sowieso schon mal gar nicht als Femizid oder als Gewalt gegen Frauen benannt, sondern als „Familiendrama“ oder „Ehestreit“ bezeichnet. Was da letztendlich fehlt, ist die strukturelle Ebene, nämlich dass Gewalt gegen Frauen, trans* und nicht binäre Personen in der Regel von cis Männern ausgeht und man nach wie vor von einer patriarchalen Struktur der Gesellschaft sprechen kann. Mir ist in dieser Hinsicht eine intersektionale Perspektive wichtig, da sich die Gewalt auch gegen trans* und nicht binäre Personen wendet.

Der strukturelle Aspekt wird ganz oft außer Acht gelassen. Also sowohl die Tatsache, dass das eben keine „Einzeltaten“ oder „Dramen“ sind, sondern dass dahinter Gewaltstrukturen stehen, die immer wieder reproduziert werden und um die sich nicht gekümmert wird.

Es gibt kaum Studien dazu, es gibt sehr wenige Programme für potenzielle Täter. Es gibt in der Schule kaum Ansätze, sich mit Gewalt – und gerade auch männlicher Gewalt – zu beschäftigen oder überhaupt Ansätze, Männern und Jungen anzubieten, sich mit Emotionen auseinanderzusetzten. Gleichzeitig wird auch das Täterbild oft außer Acht gelassen. Was aber häufig passiert: Trägt der Täter einen Namen, der auch nur ansatzweise „ausländisch“ klingt, dann wird es darauf geschoben. Aber das eigentliche Problem – der Mann, der diese Gewalt ausübt – bleibt sehr oft im Hintergrund. Sowohl die Täterbenennung als auch das, was thematisch oder strukturell dahintersteht, wird nicht erwähnt.

Dafür gibt es oft kurze, schockierte Meldungen – das war auch bei Noelle der Fall –, die extrem reißerisch sind. Und ganz oft gibt’s da auch immer noch dieses Narrativ, in dem danach gefragt wird, ob nicht die Frau oder das Mädchen selbst schuld waren, weil sie etwas „zu kurzes“ trugen oder betrunken waren. Wobei nichts davon keinerlei Form von Gewalt rechtfertigt. Aber genau das passiert in den Medien immer noch, dass darin herumgestochert und geschachert wird, aber die Tat dafür nicht in den größeren Kontext gesetzt wird.

Das ist etwas, dem ich mit meinem Projekt entgegenwirken möchte. Und wo ich vor allem den Betroffenen Raum gebe, alles in ganz enger Absprache mit den Angehörigen mache. So kamen im Projekt auch einige Bildideen direkt von Noelles Mutter. Für mich ist es das Allerwichtigste, dass die Betroffenen, mit denen ich arbeite, sich in meiner Arbeit wiedererkennen und dass sie dadurch eine Stimme bekommen. Genau um die geht es letztendlich. Es ist schön und gleichzeitig unabdingbar, als positive Rückmeldung zu bekommen, dass die Angehörigen, die gerade keine Kraft dafür haben, sich selbst für das Thema einzusetzen, es schätzen, dass ich dieses Sprachrohr für sie sein kann.

Welche Rolle nimmt die Kamera für dich – als Fotografin, als Mensch, als Frau – bei diesem besonderen Projekt ein? Was hat das Projekt mit dir gemacht?

© Sina Niemeyer, aus dem Projekt „An jedem dritten Tag“

Die Kamera ist für mich immer auch ein Mittel, um für mich eine Grenze zu schaffen. In dem Moment, in dem ich die Kamera erhebe, schaffe ich sozusagen eine Barriere zwischen mir und dem, was vorliegt. Das kann hilfreich sein. Gleichzeitig ist die Kamera ein Verarbeitungstool, das mir hilft, das, was vor mir liegt oder erzählt wird, sofort in etwas Konstruktives zu verwandeln. Ich bleibe nicht hilflos zurück, sondern ich kann es umwandeln und etwas daraus produzieren bzw. in seiner Form abwandeln. Das ist ermächtigend und wichtig beim Fotografieren solcher Themen. Gleichzeitig kann ich dadurch etwas schaffen, das länger steht – also die Erzählung. Die Bilder des Projekts sind ja relativ still und nicht unbedingt eindeutig, und das macht, glaube ich, für die Betrachtenden einen Raum für eigene Deutung auf.

Susan Sontag hat gesagt, dass jedes Bild eine Aufforderung zum Hinsehen ist. Spannend finde ich dabei, dass in meinen Bildern eigentlich nichts Eindeutiges zu sehen ist, das heißt, das Bild wird wieder auf einen selbst zurückgeworfen und man wird intensiv dazu angeregt, hinzuschauen, zu überlegen und nachzudenken.

Und was das Projekt mit mir selbst macht? Es ist natürlich sehr anstrengend, sich solchen Themen zu widmen, und ich merke auch immer wieder, dass ich mir die Arbeit gut einteilen muss. Mit Noelles Mutter habe ich von Anfang an besprochen, dass wir beide gut formulieren müssen, wenn eine Grenze erreicht ist oder wir mal eine Pause brauchen. Das hat auch gut funktioniert.

Als ich jünger war, wollte ich Anwältin werden, dachte mir aber irgendwann: Okay, vielleicht kann ich damit gar nicht erreichen, was mir wichtig ist. Meine Fotografie hingegen ist auch meine Form von Aktivismus. Sie ist meine Sprache, die ich habe, um Menschen auf das aufmerksam zu machen, was ich für wichtig halte oder was mehr Aufmerksamkeit bekommen sollte.

Mit „An jedem dritten Tag“ bist du Teil von #womenincovid. Wie ist dieses Projekt zustande gekommen? Was sind – wenn man das so nennen kann – eure Schlüsse, die ihr aus eurer künstlerischen Arbeit und eurer Auseinandersetzung gezogen habt?

© Sina Niemeyer, aus dem Projekt „An jedem dritten Tag“

Als Corona angefangen hat, hatte ich das Gefühl, dass zwei Diskussionen auf der Strecke geblieben sind: die Klimakrise und das Thema Gleichberechtigung bzw. Gewalt gegen Frauen auf allen Ebenen. Also ein Thema, bei dem ich das Gefühl hatte, dass die #MeToo-Bewegung da eigentlich ordentlich was angestoßen hat und das Thema stetig in Diskussion geblieben ist. Dann kam Corona – und alles war nur noch Corona, andere Themen wurden vergessen.

Irgendwann haben ein paar Kolleginnen und ich gesagt: Hey, es wird die ganze Zeit alles abgesagt, lasst uns mal selbst etwas organisieren. Etwas, das auf jeden Fall stattfinden können wird, indem wir es draußen machen. Das Thema dieser Gruppenausstellung war für uns als Fotografinnenkollektiv relativ schnell klar: Machen wir was zu Frauen in der Pandemie. Zum Beispiel zur Mehrfachbelastung von Müttern, besonders alleinerziehender Mütter, die unter der Pandemie noch mehr leiden und noch stärker belastet sind als davor schon.

Bei 24 Fotografinnen gibt es natürlich auch 24 unterschiedliche Meinungen. Aber was man dennoch als Fazit ziehen kann, ist, dass die Pandemie vorher schon bestehende Problematiken verstärkt hat. Diese Problematiken wurden (medial) teilweise sichtbarer, teilweise aber eben auch nicht. Manche wurden angesprochen, aber es wurde dann nicht gehandelt – zum Beispiel beim Thema häusliche Gewalt. Genau auf diese Themen wollen wir mehr Aufmerksamkeit lenken, ihnen mehr Raum geben und sie auch länger stehen lassen.

Die Ausstellung IN WAVES #womenincoved war 2021 in Berlin zu sehen. Wer es nicht dorthin geschafft hat, kann die Arbeiten der 24 Fotografinnen in diesem Magazin bewundern.

Jede*r von uns hat individuelle Einflusssphären, Talente, Fähigkeiten, Möglichkeiten. Jede*r von uns hat eine Stimme. Und jede einzelne Stimme – unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität – ist entscheidend, um der Gewalt und Diskriminierung ein Ende zu bereiten. Es gibt zahlreiche Initiativen und Plattformen, die über die weltweite Lebenssituation von Frauen informieren und sich engagieren. Lass sie uns unterstützen!

Ist Inklusion in der Leistungsgesellschaft überhaupt möglich? – Über die psychischen Auswirkungen von Ableismus und verinnerlichter Abwertung. Ein Beitrag von Charlotte Zach

Wir leben in einer Gesellschaft, die Menschen mit Behinderung über Jahrhunderte und Jahrtausende ausgegrenzt, versteckt und tabuisiert hat, weil sie als System auf der einheitlichen Funktionsfähigkeit der Menschen, die sie ausmachen, basiert. Historisch war lange Zeit wenig Raum für eingeschränkte (physische) Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen. Doch unsere Gesellschaft hat sich verändert. Aufgabenbereiche von Menschen haben sich immer weiter spezialisiert und wir haben ein umfassendes Sozialsystem aufgestellt. Die Modernität einer Gesellschaft lässt sich sehr gut an ihrer Inklusion messen. Doch lassen sich moderne Leistungsgesellschaft und Inklusion als Paradigmen miteinander vereinen? Und was macht es mit dem Individuum, als nicht leistungsfähig zu gelten und in einer Leistungsgesellschaft zu leben – unabhängig davon, ob diese Annahme stimmt?

Charlotte Zach studierte Psychologie, arbeitet in der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung, hat ihre Peer-Counseling-Ausbildung abgeschlossen und organisiert als Rollstuhlfahrerin ihren Alltag selbstständig mit Assistenz. Gerade sucht sie noch oder mal wieder ihren Weg in der Balance zwischen Aktivismus für die eigene Betroffenheit und dem Anspruch, sich dabei nicht selbst auf die Behinderung zu reduzieren. Sie liebt das geschriebene Wort in allen Varianten, ob Essay, Gedicht, Liedtext oder Geschichte, und außerdem, die ganz großen Fragen in den kleinen Dingen des Alltags zu finden. In ihrem Newsletter Berührungspunkte schreibt sie über Körper, Sexualität und Behinderung. – Foto: Privat

Als junge Frau mit Behinderung fallen mir zahlreiche Situationen und Konflikte ein, die ich im Nachhinein als Infragestellung der Wertigkeit von mir als Person deute. So hatte ich zum Beispiel schon als kleines Kind häufig Angst, alleine zu bleiben, aus Sorge, meine Mutter könnte beschließen, sie wolle nicht zurückkommen, weil es ihr zu anstrengend und aufwendig sei, ein Kind mit Behinderung zu haben. Auch in der Schule hatte ich stets das Bedürfnis, mich besonders hervorzutun und unter Beweis zu stellen, dass ich umfassende Fähigkeiten habe, um auszugleichen, dass mir an anderer Stelle Fähigkeiten fehlen. Ich musste mich aktiv schützen gegen Annahmen, ich sei faul, dumm oder würde meine Behinderung zu meinem Vorteil ausnutzen. Und dieser Schutz wurde mir von meinen Mitschüler*innen als Arroganz ausgelegt. Jungen Menschen mit Behinderung ist sehr bewusst, dass sie in einer Leistungsgesellschaft leben und dass diese Leistungsgesellschaft immer davon ausgeht, dass du, als Mensch mit Behinderung, weniger leisten kannst.

Der Wert eines Menschen in unserer Gesellschaft wird durch seine Produktivität gemessen. Durch seine finanzielle und sexuelle Produktivität. Menschen mit Behinderung werden beide Bereiche gerne verwehrt und oft wird dieser Nicht-Zugang als gegeben dargestellt und nicht als soziales Konstrukt, das durch institutionelle und strukturelle Barrieren zusätzlich zu einer interpersonellen Diskriminierung aufrechterhalten wird. Ständig ist man etwas schuldig und Bittsteller*in. Und Systeme, die Menschen in die Armut drängen, indem sie für weit unter dem Mindestlohn arbeiten, um ihnen dann Grundsicherung zu zahlen – wie es in Werkstätten für Menschen mit Behinderung der Fall ist – oder Einkommensgrenzen für Assistenznehmer*innen manifestieren diese Problematik auf institutioneller Ebene.

Ich habe mich als junger Mensch mit Behinderung lange Zeit nicht getraut, arbeiten zu gehen. Einen Nebenjob neben Schule oder Studium zu beginnen. Mein Vater hat mir immer wieder vorgeschlagen, mich als Nachhilfelehrerin zu bewerben – aber ich konnte nicht!

Dabei wäre dies organisatorisch kein Problem gewesen. Doch ich hatte große Angst, als Arbeitskraft nicht für voll genommen zu werden. Ich hatte Angst vor den ableistischen Annahmen der Kund*innen und davor, dass diese Annahmen bei mir auf fruchtbaren Boden fielen. Ich wollte nicht wissen, wie ich reagieren würde, wenn mich jemand fragt, ob ich auch kognitiv behindert wäre. Oder wenn einfach niemand zu meiner Nachhilfe käme wegen solcher Fragen im Hinterkopf. Im Laufe meines Studiums musste ich mich dann für ein Praktikum bewerben und stand somit vor der Frage: Erwähne ich meine Behinderung in der Bewerbung? Wenn ja, wie? Als kleine Randnotiz über den Bedarf von Barrierefreiheit? Ich habe mich am Ende dazu entschieden, sie als prägenden Teil meiner Biografie zu benennen und sie als Ressource und Stärke in der Beratung zu verkaufen. In einer Welt, in der Behinderung fast ausschließlich als defizitär und defekt angesehen wird, war das schon ein sehr emanzipatorischer Schritt von klein-Lotte, aber letztendlich ist hinter dem Schritt nach wie vor der Gedanke verborgen, etwas ausgleichen, etwas wettmachen zu müssen. „Es ist mit mir kompliziert und ich versuche jetzt, dich davon zu überzeugen, dass ich es wert bin.“

Dieser Kosten-Nutzen-Blickwinkel lässt sich beim Thema Arbeitsmarkt noch gut nachvollziehen, doch diese Perspektive zieht sich in alle Lebensbereiche von Menschen mit Behinderung. Ich wollte als junger Mensch keine Kontakte zu anderen Menschen mit Behinderungen haben und habe mich zum Beispiel strikt geweigert, auf eine Ferienfreizeit mit Pflegebetreuung zu fahren oder Ähnliches. Der Grund hierfür war, dass ich gemerkt habe, wie sehr die Gesellschaft Menschen mit Behinderung als homogene Masse wahrnimmt, wie wenig sie differenziert zwischen verschiedenen Behinderungsformen. Und so wollte ich mit allen Mitteln verhindern, dass ich als Teil dieser Masse gesehen werde – und insbesondere, dass Menschen mir eine kognitive Behinderung unterstellen würden. Heute weiß ich, dass solche Gedanken internalisierter Ableismus sind und darauf zurückzuführen sind, dass ich die diskriminierenden Annahmen über die Wertigkeit von Menschen für mich übernommen habe. Ich wollte so viel Distanz wie möglich zwischen mir und anderen Menschen mit Behinderung schaffen und nahm mir damit lange Zeit die Möglichkeit, mich mit dem Bild von Behinderung auseinanderzusetzen, das die Mehrheitsgesellschaft hat, weil es auch in mir verankert ist. Ich unterschied zwischen guter und schlechter Behinderung.

Je mehr ich mich mit meiner eigenen Perspektive auf Behinderung auseinandersetze, desto deutlicher wird mir der Zusammenhang zu gesamtgesellschaftlichen Fragen: Wie wollen wir als Gemeinschaft zusammenleben? Mit welcher Grundhaltung begegnen wir unseren Mitmenschen im Kollektiv? Was macht den Wert eines Individuums in der Gemeinschaft aus? Wir können das Problem auf zwei Ebenen adressieren: Wir müssen uns einmal auf der konkreten Ebene fragen, welche Barrieren wir abschaffen und welche Reize wir setzen müssen, um die selbsterfüllende Prophezeiung der „unproduktiven“ Menschen mit Behinderung, die sich stets in Abhängigkeit befinden, aufzubrechen? Und im zweiten Schritt müssen wir uns aber auch die Frage stellen, woran wir den Wert eines Menschen in unserer Gesellschaft messen, und ob wir die Möglichkeit sehen, in einem der reichsten Länder der Welt Humanität vor Produktivität zu stellen? Je mehr ich lerne, meine Versuche des Wertausgleiches als solche zu demaskieren, desto deutlicher wird mir, dass sich Leistungsgesellschaft und Inklusion als Ideen vollkommen widersprechen. Und mir wird bewusst, wie viele der Missstände im zwischenmenschlichen Umgang und in der psychischen Gesundheit der Menschen darauf beruhen, dass sie versuchen, ihre internalisierte Minderwertigkeit für die Gesellschaft wieder wettzumachen. Ich kenne eine ganze Reihe von jungen Menschen mit Behinderung, die sich in einer schweren Phase ihres Lebens nicht getraut haben, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil sie nicht dem Stereotyp des depressiven behinderten Menschen, dem die Lebenslust verloren ging, entsprechen wollten.

Es geht nicht nur darum, zu verstehen, dass Chancengleichheit eine Illusion ist und dass Menschen mit sehr unterschiedlichen Startbedingungen in den gesellschaftlichen Prozess eintauchen und wir versuchen müssen, diese Chancen etwas anzugleichen. Sondern es geht darum zu verstehen, dass solange wir in einem System leben, das die Wertigkeit von Menschen anhand von Produktivität und Fertigkeiten bemisst, bestimmte Menschen den Gedanken dieser Minderwertigkeit so tief verinnerlicht haben, dass sie in allen Lebenslagen mit all ihren Ressourcen damit beschäftigt sein werden, diese Minderwertigkeit auszugleichen. Sie alle nutzen viel ihrer Energie, um mögliche scheinbare Überlappungen mit Stereotypen so weit wie möglich zu kaschieren. Dieser psychologische Effekt von Minderheitsmerkmalen allgemein und dem Merkmal Behinderung als Paradebeispiel der Minderwertigkeit insbesondere, wird von der Mehrheitsgesellschaft sehr unterschätzt, wenn er überhaupt gesehen wird.

„Die Beziehungsebene annehmen und leben ist das Wirkungsvollste, was wir gegen die Konkurrenz Suchtmittel tun können.“ – Ein Interview mit Thomas Klein vom Fachverband Sucht e.V.

Jedes sechste Kind leidet unter der Alkoholabhängigkeit eines oder beider Elternteile. Das ist eine schockierend hohe Zahl. Doch wo beginnt eigentlich Abhängigkeit? Wie reagierst du richtig, wenn jemand in deinem Umfeld gefährdet ist? Und wo fängt Prävention eigentlich an? Linda Müller hat mit Dr. Thomas Klein, Geschäftsführer des Fachverbandes Sucht e.V., gesprochen. Er ist seit fast vierzig Jahren im Bereich Sucht tätig und kennt das Leid der Betroffenen – und ihrer Angehörigen.

Gerade, wenn es um Alkohol geht, sind die Grenzen oft fließend – wo beginnt die Abhängigkeit? Auf Ihrer Website findet man einen Selbsttest, mit dem man einschätzen kann, ob man gefährdet ist. Gibt es Anzeichen, die Sie in Ihrer Arbeit besonders oft sehen?

Es ist, gerade was den Alkohol angeht, wichtig, drei Formen des Konsums zu unterscheiden: Genuss, schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit. So wie jede Erkrankung hat die Diagnose klare Kriterien. Da wäre zum Beispiel der Kontrollverlust, also dass man sich vornimmt, nur eine kleine Menge zu konsumieren, aber dann dennoch sehr viel trinkt. Da ist ein unbedingter Zwang, konsumieren zu müssen. Aus vielen Gesprächen mit Patient*innen weiß ich: Die Intensität, mit der der Körper nach dem Suchtmittel verlangt, ist für einen gesunden Menschen nur schwer nachvollziehbar. Und da ist natürlich auch eine Toleranzsteigerung, dass man also auch bei starkem Konsum kaum Auswirkungen bemerkt. Ich habe beispielsweise Patient*innen erlebt, die bei einem Blutalkohol von drei Promille kaum betrunken wirkten.
Eine wichtige Frage ist: Wo wird es kritisch? Wo geht es weg vom Genuss? Ein wichtiges Stichwort ist hier: Funktionalisierung. Ich suche also nach einer bestimmten, positiven Wirkung, die der Alkohol auf mich hat: Ich bin entspannter, besser gelaunt, kann besser schlafen, empfinde weniger Schmerz. Wenn ich diese Wirkung wiederholt suche, befinde ich mich in einem Bereich, wo mein Konsum gefährlich werden kann – es geht mir nicht um den Genuss, ich möchte eine Wirkung wiederholen. Das gilt grundsätzlich für alle Suchtmittel.
Bei Alkohol kommt im Laufe der Zeit auch eine physische Ebene dazu, neurologische Abläufe verändern sich, der Zwang, zu konsumieren, hat physiologische Gründe. Das ist im Umgang mit Erkrankten wichtig zu wissen: Der Erkrankte kann ab einem bestimmten Punkt nicht mehr frei entscheiden, aufzuhören, weil ein Entzug somatische, körperbezogene Auswirkungen hat.

Einige Fragen im Selbsttest betreffen heimlichen Konsum und Schuldgefühle nach dem Trinken. Wissen viele Betroffen insgeheim, dass ihr Konsum eine Grenze überschritten hat?

Das beschreiben sehr viele Betroffene, dass ein Gespür dafür da ist, dass ihr Umgang mit Alkohol nicht normal und problematisch ist. Wir Menschen haben (zum Glück) die Fähigkeit zur Verdrängung, sonst könnten wir zum Beispiel in Trauersituationen nicht funktionieren, sondern wären langfristig blockiert. Diese Fähigkeit greift auch hier: Die Betroffenen registrieren zwar, dass ihr Umgang mit Alkohol nicht okay ist, haben aber die Illusion, dass sie das Trinken eigentlich doch abstellen können. Sie orientieren sich an anderen, die noch mehr konsumieren, die ihrer Meinung nach „echte“ Alkoholiker*innen sind.
Auch das Kaschieren des Konsums nach außen hin ist Teil der Verdrängung: Viele Suchtkrankheiten fallen im Umfeld über Jahre nicht auf. Ein Patient von mir beispielsweise war Hausarzt, und über Jahre hinweg hat niemand seine Abhängigkeit bemerkt, er konnte mehr oder weniger normal seiner Arbeit nachgehen. Betroffene entwickeln teils immense schauspielerische Fähigkeiten, um sich selbst und anderen etwas vorzumachen.

Würden Sie sagen, dass Alkohol gefährlicher ist als andere Substanzen, weil er ständig verfügbar und in einem gewissen Ausmaß gesellschaftlich akzeptiert ist, oder ist das ein Trugschluss?

Ganz klar: Ja. Einerseits ist Alkohol Teil unserer Kultur, wird nicht nur toleriert, sondern der Konsum wird sogar erwartet, er gehört in vielen Situationen dazu. Sich von Alkoholkonsum zu distanzieren, hat immer einen kleinen Beigeschmack und wirft vielfach Fragen auf: Bist du krank, abhängig, schwanger …?
Die Ausprägung von jeder Form von Abhängigkeit ist immer auch Abhängig von Verfügbarkeit. Wir haben zwar Jugendschutz-Gesetze, aber wir alle wissen, dass die untergraben werden können. Ich hab zwei mittlerweile erwachsene Töchter, und ganz klar haben auch die als Jugendliche Mittel und Wege gefunden, an Alkohol zu gelangen.
Gruppendynamiken spielen, was den Konsum von Alkohol angeht, ebenfalls eine Rolle: Gerade als junger Mensch möchte man dazugehören. Und man muss auch sagen: Natürlich schafft Alkohol in Maßen eine andere, häufig ausgelassene Stimmung und kann in Party-Situationen Spaß machen. All das fördert, dass Menschen mit Alkohol in Berührung kommen.
Hierin unterscheidet sich Alkohol von illegalen Suchtmitteln, denn die sind, Cannabis vielleicht ausgenommen, nicht so einfach verfügbar, damit ist auch die Verführungssituation weniger groß.

Suchtkrankheit betrifft nicht nur die Betroffenen, sondern auch ihr Umfeld. Gerade Kinder von Suchtkranken müssen besonders gut auf sich achten.

Abhängigkeit ist eine systemische Erkrankung, es leidet immer auch das Umfeld der Betroffenen, leider gerade auch die Kinder.
Kinder und Jugendliche befinden sich in einem Prozess des Lernens. Man lernt nicht nur, zu gehen, zu denken und zu sprechen, man lernt auch, wie Menschen miteinander umgehen, wie sie sich in Konflikt- oder Verzweiflungssituationen verhalten und so weiter. Wenn Kinder in einem Kontext aufwachsen, in dem Alkohol zum Beispiel dazugehört, wenn es Probleme gibt, wenn bei einem Streit eine Partei die Wohnung verlässt und betrunken zurückkommt, wenn Traurigkeit kompensiert wird, dann erlernen sie gewissermaßen auch dieses Verhalten. So sind leider viele meiner Patient*innen aufgewachsen.
Es wird viel diskutiert, ob es bezüglich Suchtpotential einen Erbfaktor gibt, ich schätze diesen aber, wenn überhaupt, als sehr klein ein. Der Faktor Lernen und Mitbekommen spielt eine größere Rolle. Sehr oft habe ich gehört: „Ich wollte nie wie mein Vater werden, und ich verstehe überhaupt nicht, warum ich letztlich in dieselben Muster falle.“ In meinen Augen hängt das damit zusammen, dass man als Kind suchtkranker Eltern oft wenig Chancen hat, alternative Strategien zur Problemlösung zu erlernen und anzuwenden, so ist man auf das Verhaltensspektrum zurückgeworfen, das man kennt.

Gibt es Strategien der Abgrenzung, die man Kindern von Suchtkranken mitgeben kann?

In meinen Augen fängt Prävention bereits im Kindergarten an. Aber nicht etwa dahingehend, dass man Kleinkindern erzählt, wie gefährlich Alkohol ist. Es geht darum, Kindern zu einer eigenen Persönlichkeit zu verhelfen, ihnen zu ermöglichen, dass sie selbst möglichst stabil werden. Dass sie lernen, wie wichtig Freundschaften sind, wie schön es ist, sich auszutauschen, dass sie wahrgenommen werden. Dann haben Menschen eine große Chance, dass sie sich, wenn sie keine Möglichkeit haben sich abzugrenzen, Unterstützung suchen – in Beratungsstellen oder eben auch bei Freund*innen. Und für die Freund*innen gilt: einfach zuhören und da sein. Nicht sofort gute Ratschläge geben, sondern zum Beispiel auch anbieten, sich gemeinsam bei einem Ausflug abzulenken, Übernachtungsmöglichkeiten für schwierige Momente anzubieten. Kurzum: Die Beziehungsebene annehmen und leben, das ist das Stabilste und das Wirkungsvollste, was wir gegen die Konkurrenz Suchtmittel überhaupt tun können.

Was sind die größten Herausforderungen im Zusammenleben mit suchtkranken Menschen?

Ich habe im Laufe meiner beruflichen Tätigkeit sehr viel mit Angehörigen gearbeitet und bestimmte Punkte immer wieder gesehen.
Schuld- und Schamgefühle sind dominant, häufig wird auch versucht, das Problem krampfhaft geheim und innerhalb der Familie zu halten. Es wird als eigene Schwäche empfunden, dass man den*die Partner*in nicht stabilisieren kann, Verantwortung wird umdefiniert, Angehörige übernehmen Verantwortung für einen Genesungsprozess, den nur der*die Betroffene leisten kann.
Das Stigma ist hier noch größer, wenn Frauen betroffen sind, bei Männern ist übermäßiger Alkoholkonsum gesellschaftlich eher akzeptiert.
Zudem begeben sich Partner*innen oft unbewusst in eine bestimmte Opferrolle, die schwer zu durchbrechen ist. Hier gab es während meiner Arbeit im Suchtbereich immer wieder extrem aufschlussreiche Momente in Anamnesegesprächen, in der Muster von Wiederholung in der eigenen Rolle deutlich wurden. Die eigenen Strukturen und Anteile daran zu identifizieren, kann extrem hilfreich sein.

Wie geht man am besten vor, wenn man bemerkt, dass jemand in der engeren Umgebung in Richtung Suchtkrankheit schlittert? Kann man helfen?

Ja. Ich kann etwas tun. Hinter dieser klaren Antwort steckt ein Grundprinzip auf der gegenüberliegenden Seite, also der Seite des Betroffenen. Ich kann nicht nicht denken. Wenn ich also jemanden auf ein Problem anspreche, nimmt er es auf, auch, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass er im ersten Moment abwehrt.
Wenn mir aber jemand wichtig ist und ich ihn gernhabe, dann habe ich auch eine Verantwortung, und dazu gehört es auch, Grenzen deutlich zu machen. Wenn mehrere Menschen das tun, wenn mehrere Menschen klar äußern, wie sie eine Situation, einen Umgang mit Alkohol einschätzen, wird die betroffene Person nicht umhinkommen, sich damit auseinanderzusetzen – spiegeln ist also sehr wichtig.
Man muss allerdings auch aushalten können, dass die Reaktion auf eine Konfrontation dieser Art sehr negativ sein kann und die betroffene Person sich vielleicht zunächst abwendet. Dazu muss man sich aber, so hart es klingt, vor Augen halten: Wenn ich nichts tue, übernehme ich Mitverantwortung. Die Selbstmordraten unter Suchtkranken sind hoch. Und auch, wenn es zunächst zu einem Bruch in der Beziehung kommt, habe ich oft gesehen, dass die Beziehung letztlich daran gewachsen ist.

Schätzungsweise jedes sechste Kind in Deutschland leidet unter der Sucht eines oder sogar beider Elternteile, ergibt meine Recherche. Das ist eine schockierend hohe Zahl. Welchen Weg müssen wir einschlagen, um dieses Zahl zu senken? Wie sieht gelungene Prävention aus?

Ich engagiere mich diesbezüglich seit über drei Jahrzehnten auch politisch, manchmal verzweifelt man daran, immer wieder gibt es auch kleine Erfolge.
Besonders wichtig finde ich die Begleitung von Kindern. Die Gesellschaft verändert sich laufend. Es gibt eine hohe Anzahl an Alleinerziehenden und berufstätigen Eltern, die Versorgung der Kinder passiert zu einem Teil außerhalb des Zuhauses. Daher finde ich, dass die Berufe, die diese Versorgung leisten, also etwa Erzieher*in, Lehrer*in etc., unbedingt aufgewertet werden müssen. Hier sind wir wieder beim Stichwort Lernen, aber eben außerhalb des familiären Kontextes. Die Anerkennung und die Rahmenbedingungen dafür sollten ausgebaut werden, ebenso die Ausbildungssituation – denn in die Familie selbst kommt man oft ohnehin nicht hinein, helfen kann man Kindern von Betroffenen vor allem außerhalb. Und kann ihnen so den Weg in ein gesundes Erwachsenenleben ebnen.
Auch Aspekte wie Werbung haben sich zum Positiven verändert, hier darf man allerdings nicht stehenbleiben und muss stets kritisch hinterfragen – beispielsweise auch die mediale Darstellung von Alkoholkonsum. Und selbstverständlich ist es wichtig, Therapiemaßnahmen entsprechend zu ermöglichen und zu finanzieren. Natürlich stehen uns hier noch viele Herausforderungen bevor, die wir angehen müssen. Aber ich sehe es positiv: Ich denke, wir sind weit gekommen und auf einem guten Weg.

„Wir müssen lernen, Meinung von Information zu unterscheiden.“ – Ein Interview mit Mimikama

Mimikama ist ein Verein zur Aufklärung über Internetmissbrauch, der sich seit 2011 dem Schutz von Internetnutzer*innen verschrieben hat. Der Fokus liegt in der Aufklärung rund um Internetmissbrauch, Internetbetrug und Falschmeldungen/Fakes sowie der Prüfung von Gerüchten und dem Richtigstellen von verdrehten Inhalten. Doch wo kommen diese Falschmeldungen und Fakes überhaupt her? Und sehnen wir uns im Grunde nach einfachen Erklärungen für komplexe Probleme? Linda Müller hat bei Andre Wolf von Mimikama nachgefragt.

Eines unserer menschlichen Grundbedürfnisse ist es, uns die Welt, in der wir leben, erklären zu können. Unbekanntes ist bedrohlich. Ist das der Grund, warum wir bereit sind, scheinbar einfache Antworten auf unsere Fragen zu glauben und auf Fake News hereinzufallen – wiegen uns einfache Antworten in Sicherheit?

Gerade in Krisensituationen, wie in der Pandemie, in der wir uns seit 18 Monaten befinden, funktionieren einfache Erklärungen oft besser als komplexe. Das birgt immer Gefahr, weil es häufig nicht möglich ist, Komplexes einfach herunterzubrechen, ohne Inhalte zu verfälschen. Trotzdem wünschen wir uns einfache Erklärungen, weil sie verführerisch sind und es ein Gefühl von Sicherheit schafft, wenn wir die Dinge erklärt bekommen.
Dieser Wunsch nach Einfachheit bedingt, dass die Wissenschaft bzw. die Wissenschaftskommunikation häufig davor zurückschreckt, komplexe Zusammenhänge ausführlich zu erklären. Auch der Populismus neigt dazu, schwierige Dinge extrem zu vereinfachen. In der Desinformation passiert diese Vereinfachung sogar gezielt und zielgerichtet, das ist gerade während der Pandemie wieder sehr gut sichtbar. Feindbilder wurden aufgebaut, um Einfachheit und Einheit zu schaffen, Menschen zu einer Gruppe zusammenzuschweißen – etwa mit dem Gerücht, Bill Gates sei schuld an der Pandemie. Hier wird in Wahrheit nichts erklärt, sondern es werden Ängste aufgebaut, um Menschen in eine Paniksituation zu versetzen – was sie wiederum noch empfänglicher für einfache Erklärmuster macht.

Unsere Welt wird immer komplexer, nicht nur technologisch, und ist für das Individuum immer schwerer nachvollziehbar. Was löst das in uns aus?

Komplexe Zusammenhänge hat es immer schon gegeben, heute haben wir allerdings Zugang zu so viel Information wie noch nie. Das hat sich geändert und macht Dinge schwer zu überschauen, weil man von all dieser Komplexität einfach viel mehr mitbekommt. Ein gutes Beispiel sind mRNA-Impfstoffe – jede*r kann etwas mit diesem Begriff anfangen, hat einen gewissen Bildungshintergrund dazu, kann online alle Arten von Information, aber auch von Desinformation lesen. Ebendies bietet die Möglichkeit, Menschen tendenziös und dramatisch zu informieren, Angstsituationen zu erzeugen – und letztlich Angst vor dem Impfstoff.

Müssen wir damit leben, dass immer mehr Akteur*innen im Internet versuchen, die öffentliche Meinung mit Falschmeldungen zu beeinflussen? Ist das eine unumkehrbare Entwicklung?

Auch Desinformation hat es immer schon gegeben, und zwar auf allen massentauglichen Kommunikationswegen. So gab es etwa auch nach der Erfindung des Buchdruckes Schriften, die dazu geführt haben, dass Menschen sich radikalisieren, und im Dritten Reich wollte man mit dem Volksempfänger so viele Menschen wie möglich radikalisieren. Manipulation wurde auch in der Vergangenheit durch die betrieben, die einen Nutzen daraus ziehen können. Seit einigen Jahren haben wir nun ein massentaugliches Internet. Im Gegensatz etwa zum Radio, wo das Individuum rein Empfänger*in ist und Information linear vermittelt wird, ist Kommunikation heute ein Netz, wir alle sind Prod-User, also Sender*in und Empfänger*in zugleich. Den Umgang damit müssen wir lernen, uns in dieser Rolle zurechtfinden. Das betrifft speziell die Generation 40 aufwärts. Einerseits, weil jüngere Menschen einen nativeren Zugang zu Technik und Internet haben. Andererseits, weil im höheren Alter der Confirmation Bias, also der Wunsch, meinen eigenen Standpunkt zu bestätigen bzw. ihn bestätigt zu bekommen, stärker ausgeprägt ist.

Hat sich die Polarisierung in den letzten Monaten verstärkt – haben Fake News Konjunktur? Gab es bereits ähnliche Höhepunkte?

Höhepunkte wie den aktuellen finden wir stets in Betroffenheitssituationen. Wenn ich von einer Situation betroffen bin, neige ich dazu, Meldungen zu glauben. Je stärker die Betroffenheitssituation ist, desto mehr Desinformation gibt es. So gab es zum Beispiel in den Jahren 2015 und 2016 rund um die Flüchtlingskrise eine sehr große Menge an Falschmeldungen und gezielter Desinformation bzw. Einbettung von Fakten in falsche Zusammenhänge, ähnlich ist es immer wieder bei Terroranschlägen und anderen großen Ereignissen. Nun haben wir mit der Pandemie eine globale Betroffenheitssituation – bewusst falsch interpretierte Ansätze und Darstellungen gibt es in diesem Zusammenhang überall.
Interessant ist auch, wie sich Mythen und Hoaxes in Betroffenheitssituationen miteinander verknüpfen. So vermischten sich beispielsweise während der Hochwasserkatastrophe in Deutschland Falschinformationen um diese schwierige Lage mit Corona-Mythen und Verschwörungstheorien. Es gab Berichte über 600 angespülte Babyleichen – hier sind wir im Adrenochrom-Mythos-Zusammenhang –, und auch Verbindungen zur Querdenker-Szene tauchten auf in den Mythen und Narrativen rund um die Hochwasserkatastrophe.

Sind es immer wieder ähnliche Narrative, die hier bemüht werden?

Ja. Der Mythos rund um Kindermorde im Zusammenhang mit Adrenochrom ist nichts anderes als eine moderne Adaption der Ritualmordlegenden. Narrative sind sinnstiftende Geschichten, und die klingen dann besonders glaubwürdig, wenn man sie schon irgendwann einmal so oder so ähnlich gehört hat.

Stichwort Bubble: Sind wir alle mehr in unserer eigenen Informationsblase gefangen, als uns bewusst ist – und macht uns das besonders anfällig dafür, Falschmeldungen aufzusitzen?

Bubble und Confirmation Bias sind stark verwandt, es geht um die Suche nach Bestätigung der eigenen Meinung. Bubble-Effekte gibt es auch im realen, analogen Leben. Ich gehe mit Menschen ins Wirtshaus, die ähnliche Interessen und Haltungen haben. Wenn ich mich für Gärtnerei interessiere, werde ich mich mit Menschen vernetzen, die das ebenfalls tun. So ist das auch auf Social Media, nur ist es gerade dort heute sehr politisch. Auch da muss man allerdings differenzieren, die Politisierung ist unterschiedlich stark, aber wenn ich mich zu Inhalten dieser Art begebe, bekomme ich sie zukünftig verstärkt angeschwemmt. Wenn ich über Verschwörungsmythen lese, bekomme ich auch diese häufiger eingeblendet. Das wiederum verstärkt den persönlichen Eindruck, es handle sich bei den Themen in meiner Timeline um sehr relevante und präsente Themen.

Mimikama gibt es nun schon seit zehn Jahren. In diese Zeit fielen viele politische Krisen und Ereignisse, die polarisiert haben, und jetzt auch noch eine Pandemie. Wie kann eine seriöse Informationsbeschaffung unter solchen Umständen aussehen, wie können wir uns selbst dafür sensibilisieren? Haben Sie einige gute Tipps für uns?

Wenn viel passiert, sollte ich darauf achten, meinen Informationskonsum zu entschleunigen. Das heißt: Ich schaue auf mich selbst, ich hinterfrage, warum ich geneigt bin, einer gewissen Quelle zu trauen und einer anderen nicht. Ich schau mir an, wie die Informationen aufgebaut sind, die ich konsumiere. Sind sie beispielsweise sehr dramatisch oder sehr einseitig aufbereitet? Werden die journalistischen W-Fragen bedient? Wer steckt hinter der Information, kann ich das im Impressum finden, ist das greifbar und transparent? Ein wichtiger Aspekt ist auch der Vergleich: Was wurde noch darüber geschrieben – und wie? So kann ich schnell einordnen, ob ich eine dramatische Boulevard-Meldung vor mir habe oder eine sachliche Darstellung.
Wichtig ist immer auch die Bildersuche: Wenn mir beispielsweise ein Bild geschickt und in einen bestimmten Zusammenhang gestellt wird, kann ich über die Bildersuche nachvollziehen, ob das der tatsächliche Zusammenhang ist, in dem es aufgenommen wurde.
Und gut ist es selbstverständlich auch, Personen zu finden, die man direkt befragen kann, Expert*innen in dem Sinne, dass sie mit der Angelegenheit, über die ich mich informieren will, zu tun haben, aus erster Hand berichten können.

Welche Rolle spielen Wissenschaft und Politik im Vorgehen gegen Desinformation und Falschmeldungen? Wie können möglichst viele Menschen zu Fakten und fundierter Berichterstattung kommen bzw. diesen Zugang auch nutzen?

Der Zugang zu Informationen und Studien ist da. Was wir lernen müssen, ist, zwischen meinungs- und faktenbasierten Aussagen zu unterscheiden. Viele tendenziöse Webseiten berichten nicht grundsätzlich falsch, sondern interpretieren über und verwenden Teilinformationen manipulativ. Da sollte stets der Versuch erfolgen, einzuordnen: Wer steckt dahinter? Und was ist die Intention? Wenn wir es schaffen, Meinungen und Fakten zu entkoppeln, können wir schnell erkennen, ob wir manipuliert werden oder nicht bzw. wie wir eine Information einzuordnen haben.
Cherry-Picking, also das Auswählen von bestimmten Aspekten einer Information, je nachdem, ob sie zum Standpunkt passt oder nicht, und dann der Bericht über genau diese Aspekte, kennen wir auch aus der Politik. Das ist so und grundsätzlich auch nicht verwerflich. Aber: Als Konsument*innen müssen wir lernen, eben das entsprechend einzuordnen: Warum hat wer welche Perspektive? Nur so kann ich einen politischen Willensbildungsprozess durchlaufen, nur so kann ich an der Gesellschaft teilhaben. Und nur so kann ich selbst meinen Beitrag zur Gesellschaft leisten.

 

Mit der Grenze zwischen Fakt und Fiktion spielt auch Georg Haderer in seinem neuen Kriminalroman „Seht ihr es nicht?”. Als Helena Sartori, deren Eltern und ihr Sohn tot aufgefunden werden, wird Philomena Schimmer hinzugezogen: Die jugendliche Tochter Sartoris, Karina, ist spurlos verschwunden – und Schimmer soll sie suchen.
Helena Sartori war leidenschaftliche Wissenschaftlerin, wollte die Welt verändern mit ihrer Forschung an Nanobots. Und dann plötzlich hat sie sich – einige Zeit vor ihrer Ermordung – völlig zurückgezogen, in die wlanfreie Einöde. Was ist passiert? Ist ihr die Arbeit an den mikroskopisch kleinen, mit freiem Auge nicht sichtbaren Robotern entglitten – und hat das Sartori und ihre Familie in den Abgrund gestürzt? Ist Karina am Leben? Hat man sie entführt oder ist sie selbst geflohen? Quälende Fragen für Philomena Schimmer, der es immer schwerer fällt, die professionelle Distanz zu wahren, je länger von Karina jede Spur fehlt.

„Ich wollte dem Dreck nicht mehr Platz einräumen als dem Glanz.“ – Autorin Marlen Pelny im Interview zu ihrem Roman „Liebe / Liebe“

In „Liebe / Liebe“ erzählt Marlen Pelny die Geschichte von Sascha. Saschas Kindheit ist stumm. Für ihre Mutter ist sie unsichtbar. Dafür quält ihr Vater sie mit viel zu viel Nähe. Nähe, von der Sascha weiß, dass sie nicht richtig ist, auch wenn sie die Wörter noch nicht kennt, die die Erwachsenen dafür haben. Damit ist es endlich zu Ende, als Sascha sich bei ihrem Großvater wiederfindet. Sie trifft Charlie, das Mädchen, das sie am ersten gemeinsamen Schultag an die Hand nimmt und nie wieder loslässt. Da sind auch Rosa, die Hündin, und das neue Ich, das in Sascha wächst.

Saschas Geschichte ist auch eine Geschichte vom Fehlen der Worte und von schrecklicher Nähe. Vom Mut, das Leben selbst in die Hand zu nehmen. Und von der Frage nach Familie – und was das eigentlich ist. Unter anderem über diese Frage hat sich Nina Gruber mit der Autorin unterhalten.

Das, was konservativ verstanden als „richtige“ Familie definiert wird, besteht aus Vater, Mutter, Kind. In deinem Roman räumst du mit der Illusion auf, dass diese Konstellation zwingend glücksbringend ist und exklusiv für „Familie“ steht. Welche Familien treffen wir in „Liebe / Liebe“?

In meinem Buch gibt es im Grunde drei Familien. Die Herkunftsfamilie, die Wahlfamilie und das Liebespaar, das ja auch eine kleine Familie ist. Ich denke, dass jeder Mensch das Recht für sich in Anspruch nehmen sollte, sich seine Familie selbst zu wählen, sich sein Zuhause sorgsam auszusuchen, aus jeder möglichen Konstellation heraus. Denn das, was meiner Meinung nach, alle Familienformen zusammenhält, ist die Liebe. Aber nicht überall ist sie gesund. Die Liebe braucht einen Sender und einen Empfänger, nicht immer verstehen diese unter Liebe das Gleiche. Darauf, wie verschiedenartig der Begriff Liebe interpretiert und gelebt wird, zielt der Titel meines Buchs.

Marlen Pelny plakatierte deutsche Städte mit Lyrik und veröffentlichte die Gedichtbände „Auftakt“ (2007) und „Wir müssen nur noch die Tiere erschlagen“ (2013). Ihre Worte bringt sie nicht nur auf Wände und Papier, sondern mit ihrer Band Zuckerklub auch zum Klingen. Marlen Pelnys klare Poesie durchströmt auch ihr Romandebüt „Liebe / Liebe“: Für jede Phase, jedes Gefühl Saschas findet sie einen eigenen, eindringlichen Ton. – Foto: Mike Auerbach

Sascha lebt lange Zeit in einer stummen Umgebung: Ihre Mutter spricht kaum mit ihr. Es ist eine Kindheit der fehlenden Worte, auch der fehlenden Begriffe für Dinge, die sich schon früh für Sascha falsch anfühlen. Dennoch kommunizieren die Figuren in deinem Roman sehr intensiv miteinander.

Ja, das stimmt. Wenn Worte fehlen, wird, glaube ich, die Kommunikation automatisch intensiver. Sascha muss auf vieles anderes achten. Nicht nur das Schweigen sagt ihr etwas, sondern auch die Körperhaltungen, die Gerüche, die Blicke, die Berührungen. Sie ist getrieben davon, Dinge zu verstehen. Also analysiert sie alles, was ihr in diesem stummen Umfeld auffällt. Später, als es Menschen gibt, die mit ihr reden, und auch sie selbst endlich sprechen darf und kann, merkt man, dass auch sie eher sparsam mit Sprache umgeht. Das liegt einerseits daran, dass ihre Herkunft natürlich Spuren hinterlassen hat. Andererseits daran, dass sie merkt, dass man auch liebevoll schweigen kann und dass nicht jedes miese Gefühl es verdient hat, ausgesprochen zu werden.

Die Gewichtung im Roman liegt auf der Zeit in Saschas Leben, in der sich Dinge verändern und Hoffnung in der Luft liegt. Gerade vor dem Hintergrund, dass du ein heftiges Thema ansprichst, war ich beim Lesen überrascht, in welche Richtung sich die Geschichte entwickelt und von was für einem positiven und aufbauenden Gefühl ich überwältigt wurde. Ist Saschas Geschichte auch eine Geschichte der Selbstermächtigung?

Ja, das war mir sehr wichtig. Ich wollte eine Heldinnengeschichte erzählen. Auch wenn der Roman harte Themen aufgreift und sie auch recht schonungslos erzählt werden, wollte ich dem Dreck nicht mehr Platz einräumen als dem Glanz. Im Grunde ging es mir darum zu erzählen, was Sascha mit all dem Gewicht in ihrer Seele dennoch in der Lage ist zu erreichen. Die Dinge, die ihr passiert sind, kochen immer wieder hoch, sie stecken in ihr fest, sie zieht sie hinter sich her. Aber sie haben sie nicht zerstört. Sie haben nicht dafür gesorgt, dass sie die guten Dinge, die ihr später widerfahren, nicht mehr wahrnehmen kann. Sie wird nicht nur erwachsen, sie wird selbstbestimmt.

Du warst künstlerisch bisher vor allem als Dichterin sowie als Musikerin unterwegs. „Liebe / Liebe“ ist dein erster Roman. Welche Unterschiede hast du im Schreiben und in der weiteren Arbeit am Text wahrgenommen? Vielleicht auch Möglichkeiten?

Ich denke gar nicht so sehr in Genres. Es gibt einfach Dinge, die ich erzählen muss. Manchmal wird daraus ein Gedicht, manchmal ein Song, manchmal etwas Längeres wie ein Roman. Der Text entscheidet die Richtung. Natürlich dauert ein Roman von diesen drei Beispielen am längsten. Bei mir zumindest. Interessant für mich war aber eher, dass ich gemerkt habe, dass beim Schreiben nicht nur die ganze Zeit eine Kamera mitfährt – ich den Text also permanent wie eine Art Film vor mir sah –, sondern ich hab ihn mir von Siri auch immer wieder vorlesen lassen, um mir den Sprachrhythmus anzuhören. Etwas Musik steckt also wohl auch in diesem Roman.

„Es braucht Mut, diese Geschichte zu erzählen. Marlen Pelny beweist ihn.“ – Isabelle Lehn über Marlen Pelnys Roman „Liebe / Liebe“

„Da ist eine zarte, trotzige Stimme, die der brutalen Umgebung in der sie aufwächst, entgegentritt, die Verbündete findet und lernt, dass es für Liebe Mut braucht. Dieser Roman ist poetisch und zugleich hart, verletzlich und zugleich schön.“

Ronya Othmann

 

„Liebe / Liebe“ schickt dich zuerst dorthin, wo du nicht sein willst. Dann überwältigt es dich mit seinem Vertrauen darauf, dass Empathie und Liebe tatsächlich möglich sind. Sascha ist eine wahre Heldin, die nicht aufhört zu glauben: an das Heilen von Wunden, an das Leben und an all die innigen Beziehungen, die es für sie bereithält. – Hier geht’s zu Marlen Pelnys Roman.

Haymon reloaded – oder: Was ist anders?

Der Haymon Verlag entwickelt sich weiter – und: Es gibt ganz schön viele Änderungen. Wie das aussieht, warum wir machen, was wir machen, und wie sich das alles auswirkt, kannst du hier nachlesen.

Den Haymon Verlag gibt es seit 1982. Eine lange Zeit, und darauf sind wir ziemlich stolz. Seit seiner Gründung hat sich der Verlag immer wieder verändert. Denn, so glauben wir, das ist eine der Aufgaben eines Literaturverlages: sich zu entwickeln, auf die Gesellschaft zu schauen, zu hinterfragen, neue Wege zu gehen. Nur so kann ein Verlag schaffen, was er sich im Kern vornimmt. Wir wollen unterschiedliche Perspektiven aufzeigen, wir wollen unerhörte Stimmen erzählen lassen, wir wollen unter den Stein und um die Ecke blicken. Um das zu erreichen, haben wir bei uns im Verlag, in unserer Kommunikation und der Art, Bücher zu machen, einiges verändert. Das kann für Außenstehende ungewohnt sein, weil Verlage oft sehr ähnlich agieren. Weil es brancheninterne „Regeln“ gibt. Weil andere Literaturverlage eben anders ausgerichtet sind als der Haymon Verlag. Aber – und das können wir versprechen – wir haben uns jede Änderung, jede Anpassung gut überlegt, lange durchdacht. Trotzdem freuen wir uns über jede Anregung, sachliche Kritik, über jedes Feedback, das uns hilft, uns weiterzuentwickeln. Damit aber für Autor*innen, Leser*innen, Buchhändler*innen, Journalist*innen und allen anderen wunderbaren Menschen, mit denen wir zu tun haben, klarer wird, was hinter den Veränderungen steckt, warum wir Dinge so machen, wie wir es tun, schreiben wir hier unsere Gedanken auf.

Ein Literaturverlag der Zukunft – wie sieht der eigentlich aus?

Man hört sehr oft, dass weniger gelesen wird. Dass weniger Menschen Bücher kaufen. Es gibt Reibungen zwischen Bookstagrammer*innen und Feuilleton-Journalist*innen. Es gibt Buchhandlungen, die schließen müssen, weil die Online-Konkurrenz zu groß wird. Und ja, auch Verlage spüren diese Entwicklungen. Deshalb haben wir uns gefragt: Wie erreichen wir unsere Leser*innen? Und: Wer sind unsere Leser*innen überhaupt, oder besser gesagt: Wen möchten wir mit unseren Büchern packen? Die erste Antwort, die einem einfallen würde, wäre vielleicht: na, alle! Aber um ehrlich zu sein: Wie soll das funktionieren? Menschen sind so unterschiedlich, interessieren sich für verschiedene Themen, identifizieren sich mit unterschiedlichen Perspektiven, haben zig Lesemotive, ihnen gefallen verschiedene Gestaltungsarten, und, und, und … diese Liste könnten wir ewig weiterführen. Und das ist keinesfalls negativ gemeint. Es ist fabelhaft, dass Menschen unterschiedlich sind. Nicht jeder*m werden unsere Bücher gefallen. Nicht jede*r mag unsere Art der Ansprache. Aber das muss auch gar nicht sein. Es gibt so viel gute, ja großartige Literatur – der Haymon Verlag hat nicht den Anspruch, alle Leser*innen zu bedienen (das wäre wahrscheinlich auch ein wenig überhöht). Deshalb konzentrieren wir uns auf eine Leser*innen-Gruppe.

Ein Literaturverlag, eine Leser*innen-Gruppe – wie soll das klappen?

Natürlich wollen wir Eigenschaften und Charakterzüge nicht herunterbrechen. Das würde gar nicht funktionieren. Jede Person ist anders, ist individuell. Gleichzeitig gibt es gewisse Werte, Vorlieben, Informationskanäle usw., die Menschen einen. Nicht jedes einzelne Buch, das wir veröffentlichen, wird jede*r einzelne unserer Leser*innen verschlingen. Und das soll auch gar nicht so sein. Aber wir haben uns ausführlich mit unseren Leser*innen auseinandergesetzt. Wir haben uns angesehen, worauf sie stehen, was sie gut finden, wie sie angesprochen werden möchten. Unsere Leser*innen, das sind Menschen, die rasend neugierig sind, die offen sind, die politisch aktiv sind, die sich für andere interessieren, die es mögen, wenn ihnen auf Augenhöhe begegnet wird. Das sind Menschen, die kein „Von-oben-herab“ wollen, die gefühlvoll sind und auf Emotionen reagieren. Das sind Menschen, die sich für die unterschiedlichsten Themen begeistern können, die sich ihre eigene Meinung bilden wollen, die in verschiedene Perspektiven eintauchen möchten. Das bedeutet für uns: Der immer selbe Blickwinkel ist Geschichte. Die Literaturbranche muss sich endlich öffnen. Noch viel mehr, als sie es bisher tut. Die Gesellschaft, der Zugang zu Informationen, der Raum für Stimmen hat sich geändert, sollte sich noch viel mehr ändern. Das ist es, was wir wollen, was unsere Leser*innen sich erwarten: Pluralität. Auch wenn das manchmal wehtut, auch wenn das Bestehen vieler unterschiedliche Stimmen auf einer Ebene bedeuten kann, dass man sich selbst hinterfragen muss. Dass man die eigenen Strukturen, Gedanken auf die Probe stellen muss.

Und das ist keine Einschränkung für uns, das schafft Platz für Kreativität. Das alles erfinden wir übrigens nicht – wir stehen in ständigem Kontakt zu unseren Leser*innen. Wir fragen sie, welche Themen sie spannend finden. Wir fragen sie, welche Coverentwürfe oder Titelvarianten ihnen gefallen und warum. Wir lernen von ihnen, entwickeln uns mit ihnen (denn, und das ist wichtig: Menschen bleiben niemals gleich, sie verändern sich laufend). Vielleicht ist das eine der größten Änderungen bei uns, überhaupt die größte Veränderung für einen Literaturverlag. Dass wir nicht mehr nur einseitig kommunizieren. Dass wir mit unseren Leser*innen ins Gespräch gehen, Entscheidungsmacht abgeben, nicht immer glauben, alles besser zu wissen. Und: Das ist aus unserer Sicht wichtig, um als Literaturverlag zu bestehen. Die Zeiten ändern sich, die technischen Möglichkeiten ändern sich, die Art, Bücher auszuwählen, ändert sich. Wir sollten uns nicht dagegen wehren, wir wollen daran teilhaben.

Ein Literaturverlag, eine Werteheimat?

Hoffentlich. Sehr oft bekommt man zu hören: Ein Verlag soll „zurücktreten“, soll den Büchern und Autor*innen die Bühne überlassen. Und: Einerseits ist das richtig, auch wir sehen das so. Jedes Buch, jede*r Autor*in steht für sich. Wir als Verlag können Stimmen sichtbar machen. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst, uns immer wieder zu reflektieren. Wir sind dazu verpflichtet. Und wir können Kante zeigen. Wir können ein Verlag sein, dem man ansieht und bei dem man spürt, wofür er steht, welche Werte er vertritt, wie er ausgerichtet ist, mit wem er kommunizieren möchte, mit welchen Partner*innen er zusammenarbeitet. Und wenn wir glauben, dass das möglich ist, dann glauben wir damit auch an eine Werteheimat – oder anders gesagt: an die Marke eines Literaturverlags. Denn nichts anderes ist eine Marke: Sie ist aufgefüllt mit Emotionen, Werten, Kommunikationsformen. Und erst, wenn es so weit kommt, dass Verlag und Leser*innen sich gegenseitig beeinflussen, im Austausch stehen, sich zu Entwicklungen bewegen, beginnt eine Marke – und damit ein Verlag – Wirkung zu zeigen.

Das Du, das Gendersternchen, die Kontextualisierung – die Kommunikation mit Leser*innen, Autor*innen, Buchhändler*innen, Veranstalter*innen, Journalist*innen …

Wir sprechen unsere Leser*innen sowie alle Menschen, mit denen wir über unsere Kanäle kommunizieren, per Du an. Das ist ein Punkt, den viele Personen fantastisch finden, weil sie sich wohl fühlen, und gleichzeitig gibt es viele Menschen, denen ein „du“ aufstößt. Wir verstehen das. Jede*r ist anders, jede*r möchte anders angesprochen werden. Aber: Wir haben uns für diese Form der Ansprache entschieden, weil sie zu unseren Leser*innen passt. Weil diese Leute Lust darauf haben, auf Augenhöhe zu agieren. Weil sie sich damit gut fühlen, weil wir damit keinen künstlichen Abstand schaffen, wo unserer Meinung nach keiner sein sollte. Nochmal: jede*r kann das anders sehen. Und das ist in Ordnung so.

Ja, wir gendern mit Gendersternchen. Für uns und unsere Leser*innen ist das wichtig, weil wir ein Zeichen setzen wollen. Wir möchten alle ansprechen, wir möchten, dass sich alle angesprochen fühlen. Auch das kann sich entwickeln, vielleicht wird das Sternchen irgendwann durch ein anderes Zeichen ersetzt. Aber: Uns ist es ein Anliegen, Menschen, die ihre Stimme erheben, denen wir zuhören sollten, wenn sie uns sagen, dass sie sich durch die weibliche und männliche Form nicht angesprochen fühlen, genau den gleichen Respekt zollen wie allen anderen. Wir wissen, dass die Meinungen hier stark auseinandergehen. Dass Diskussionen geführt werden, deren Kernaussage ist, Gendersternchen würden die deutsche Sprache zerstören. Und diese Diskussionen werden nicht zum ersten Mal geführt, Sprachveränderungen waren immer Thema. Aber: Uns ist wichtiger, alle Menschen respektvoll anzusprechen, als auf die zu hören, die nicht betroffen sind.

Wir setzen unsere Bücher in einen Kontext. Das tun wir, wenn wir Newsletter schreiben – egal ob an Leser*innen oder Buchhändler*innen. Das tun wir, wenn wir Artikel in unserem Onlinemagazin veröffentlichen. Das bedeutet, dass es manchmal persönlich zugeht. Dass das Team des Haymon Verlags erzählt, welche Gefühle ein Buch ausgelöst hat. Welche Entwicklungen es angestoßen hat. Wo es schmerzhaft war, wo gut, wo beängstigend. Wir wollen nicht nur platt den Inhalt unserer Bücher weitergeben, wir wollen den Leser*innen zeigen, was diese Bücher mit uns gemacht haben. Wir geben Einblick in unsere Arbeit, wir lassen Außenstehende daran teilhaben. Wenn wir Magazinbeiträge verfassen, tun wir das nicht nur selbst. Wir führen Interviews mit Menschen, die etwas zu sagen haben. Die sich mit Dingen auseinandersetzen, die wir selbst nie so gut aufbereiten könnten. Und viele dieser Thematiken haben auf irgendeine Weise mit unseren Büchern zu tun. Es geht um politische Geschehnisse, individuelle Erlebnisse, gesellschaftliche Entwicklungen. Und das möchten wir unseren Leser*innen bieten. Lektüre, die weiterführt, die nicht an einem Punkt stehen bleibt, sondern in viele verschiedene Richtungen strahlt. Wir möchten Verbindungen schaffen.

Triggerwarnungen – wie bitte?

Triggerwarnungen für Bücher werden heiß diskutiert. Vielen schmeckt es nicht, dass wir solche Hinweise auf der Rückseite unserer Bücher anbringen. Aber warum eigentlich? Trigger, das sind bestimmte Thematiken, die zu einer Retraumatisierung betroffener Personen führen können. Das bedeutet: Wenn jemand sexualisierte Gewalt erlebt hat, kann diese Person das Lesen darüber traumatisieren (muss es jedoch nicht). Wenn ein Mensch Rassismus erfährt, kann ihn das Lesen darüber traumatisieren (muss es jedoch nicht). Wenn es im persönlichen Umfeld einer*s Lesers*in einen Suizid gegeben hat, kann sie*ihn das Lesen darüber traumatisieren (muss es jedoch nicht). Diese Personen sind betroffene Menschen. Um diese Menschen dabei zu unterstützen, besser entscheiden zu können, ob sie die Inhalte konsumieren wollen, geben wir Hinweise auf triggernde Thematiken. Diese sind sehr dezent. Auf der Rückseite des Buches steht dann: „Triggerwarnung siehe Seite xxx“. Im Impressum des Buches werden die Trigger angeführt. Das sieht zum Beispiel so aus: „Triggerwarnungen nehmen auf Menschen mit traumatischen Erfahrungen Rücksicht. Aus subjektiver Sicht können diese Trigger von Bedeutung sein oder nicht, unabhängig davon, in welchem Kontext oder Medium sie sich finden. Auch fiktive Texte, wie zum Beispiel Romane, können triggern. Wir weisen deshalb an dieser Stelle auf Trigger im vorliegenden Buch hin: xxx Geschichte konfrontiert dich mit Suizid.“

Wir denken so: Menschen, die betroffen und auf der Suche nach einem solchen Hinweis sind, finden ihn. Menschen, die nicht betroffen sind, können den Hinweis problemlos überlesen. Es gibt bereits viel positives Feedback dazu. Menschen haben sich bedankt und sich gefreut, entsprechende Informationen vorab erhalten zu haben. Und ja, es gab auch Aufschreie, die sich gegen die Triggerwarnungen richten. Warum genau, ist für uns nicht nachvollziehbar. Nicht betroffene Menschen werden hier nicht angesprochen. Für uns als Verlag hat das auch etwas mit Empathie zu tun, mit Verantwortung. Und: Wir kennen so viele Buchhändler*innen, die erzählen, dass Käufer*innen Bücher zurückgebracht haben, weil ihnen nicht klar war, dass bestimmte Themen behandelt werden. Triggerwarnungen sind ein Service für die Leser*innen, um eigenverantwortlich entscheiden zu können, ob sie Inhalte konsumieren wollen oder nicht. Bei Filmen gibt es das schon entsprechend lange. Zum Beispiel Altersfreigaben aufgrund von dargestellter Gewalt etc. Bei Literatur gibt es keine Altersfreigaben, aber es gibt Empfehlungen von Buchhändler*innen, es gibt Informationen, die man mitgeben kann. Und wieso sollten wir das nicht tun?

Unser Programm, unsere Bücher, unsere Autor*innen, unsere Partner*innen

Ja, wir sehen es als problematisch an, dass die Literaturbranche einseitig ist. Man könnte damit anfangen, dass noch immer weitaus mehr Autoren verlegt werden als Autorinnen*. Aber hier hört es längst nicht auf. Die Perspektiven sind sich oft ähnlich. Die Geschichten aus ähnlichen Sozialisierungsgruppen erzählt. Wir denken: Es braucht Literatur, die die Gesellschaft abbildet. Es braucht Literatur, die gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen sichtbar macht. Es braucht Pluralität. Nur so ist und bleibt Literatur spannend. Dass das auch bedeutet, Raum an andere abzugeben, die bisher keinen oder nur wenig Platz eingenommen haben – das ist so. Und das ist gut so. Und auch, dass Buchempfehlungen und Rezensionen von den unterschiedlichsten Personen kommen. Wir brauchen Diversität auf allen Ebenen. Das heißt nicht, dass wir etwas verlieren, ganz im Gegenteil. Wir gewinnen. Jede*r gewinnt. Und genau so versuchen wir, unser Programm zu gestalten. Divers. Anders. Neu. Spannend. Aufregend. Auch das mag nicht jede*r. Es gibt Journalist*innen, die Bücher von Autor*innen, die die Diaspora beschreiben, die Findung der eigenen Stimme etc. als „Identitätskitsch“ abtun. Wir glauben, dass das falsch ist. Dass der Kampf dafür, dass alles gleich bleiben soll, falsch ist. Die Gesellschaft verändert sich, die Literatur tut es. Schon immer war das so. Wieso sich dagegen auflehnen?

Das möchten wir aber nicht nur bei unserem Programm erreichen, auch bei den Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten. Wir wollen mit Personen arbeiten, die nicht festgefroren sind. Die sich entwickeln. Unsere Designer*innen sind divers. Wir unterstützen freie Grafiker*innen, die Neues einbringen. Wir wollen Fotograf*innen engagieren, die Neues einbringen. Wir suchen nach Lektor*innen, die Neues einbringen. Die einen zusätzlichen Blickwinkel aufmachen. Die ihre Kunst für unsere Bücher sprechen lassen. Wir arbeiten mit DisCheck, einer Agentur, die unsere Texte mit einem kritischen Blick hinsichtlich Rassismus, Sexismus etc. beurteilt. Wir lernen dazu. Wir tauschen uns mit unseren Autor*innen darüber aus, mit unseren Leser*innen. Ein Buch ist ein Projekt, an dem viele Menschen mitarbeiten – machen wir sie sichtbar!

Wo wir stehen, wo wir hinwollen, wer wir sein werden

Wir wollen etwas verändern. Und das geht nur, wenn wir das auf allen Ebenen versuchen. Natürlich lässt sich alles immer noch besser machen, natürlich sind wir noch nicht dort, wo wir hinwollen. Vielleicht sind wir das nie, weil wir uns neue Ziele stecken, beinahe jeden Tag. Weil wir zurückblicken und Dinge mit heutigem Stand ganz anders machen würden als noch vor ein paar Monaten. Ja, das kann anstrengend sein, ja, das ist Arbeit. Es bedeutet auch, immer wieder stehen zu bleiben und sich, das eigene Tun zu reflektieren. Niemals zu denken, man wisse alles besser. Aber wir haben Prinzipien, und denen wollen wir treu bleiben. Wo wir übermorgen sein werden? Wir haben keine Ahnung – und ganz ehrlich: Ist das nicht herrlich?

Autorin: Katharina Schaller

Dr. Michaela Dudley im Interview: Die Diva in Diversity baut Brücken und durchbricht Mauern.

„Ich kam in dem Jahre auf die Welt, in dem die Berliner Mauer gebaut wurde. Und zeitlebens muss ich mit dem Kopf Mauern durchbrechen.“ – Dr. Michaela Dudley ist Kolumnistin, Kabarettistin und Keynote-Rednerin. Sie setzt sich für die Würdigung der Vielfalt ein: als Referentin, auf journalistischer Ebene, im Rahmen der Kleinkunst. Nina Gruber hat sich mit ihr unterhalten: Über Diversity als Herausforderung und Teil der Lösung auf dem Weg hin zu einem gleichberechtigten und diskriminierungsfreien Leben für alle. Über individuelle und kollektive Verantwortung. Über ihre ganzheitliche Anschauung des Veganismus. Und auch darüber, was sie sich hinsichtlich Diversity von der Buchbranche erwartet.

Liebe Michaela, du bist u. a. Referentin und Impulsgeberin für Unternehmen und Organisationen, teils für richtig große Auftraggebende wie die Deutsche Bahn AG, die Führungsakademie der Bundesagentur für Arbeit oder den Mitteldeutschen Rundfunk. Du bringst u. a. die Themen Diversity-Management und Integration näher, erklärst, was hinter Begriffen wie „FLINTA“, „Pink-Washing“ und „Cis“ steckt. Was würdest du aus deiner Erfahrung sagen: Hat sich in den letzten Jahren tatsächlich – also strukturell – etwas verändert?

In ebenjenen Firmen wird die Thematik Vielfalt meines Erachtens großgeschrieben und auch tatkräftig umgesetzt. Die Bahn zum Beispiel ist diesbezüglich nicht etwa auf einen bereits fahrenden Zug aufgesprungen, sondern hat schon von alleine sehr viel ins Rollen gebracht. Weichenstellungen gemacht. Auch die anderen, die BafA und der MDR haben begriffen, dass Diversity nichts für das Abstellgleis ist. Im Rahmen meiner Zusammenarbeit mit ihnen erkenne ich, dass sie die Bedeutung struktureller Änderungen durchaus verstehen. Was nutzt es, eine Diversity-Managerin einzusetzen, wenn man die bisherigen Kommunikationsebenen nicht entsprechend ergänzt und ausweitet? Natürlich geht nichts von heute auf gestern. Aber gerade deshalb ist es wichtig, zu handeln, anstatt zu hadern. Diversity ist eh kein Selbstläufer. Das Konzept muss ständig implementiert und verfeinert werden. Aber diese Notwendigkeit dürfte nicht als Problem angesehen, sondern als Teil der Lösung betrachtet werden. Die tagtägliche Beschäftigung mit dem Thema kann dazu beitragen, die Sensibilisierung zu erhöhen.

Dr. Michaela Dudley, eine Berliner trans* Frau mit afroamerikanischen Wurzeln, ist Kolumnistin, Kabarettistin und Keynoterin. Sie schreibt für die taz, den Tagesspiegel, für die Siegessäule sowie für Missy und Rosa Mag. Als „Diva in Diversity“ berät sie große Unternehmen und Organisationen in puncto Gleichberechtigung. – Foto: Carolin Windel

Die Chefetagen des öffentlichen Dienstes, von Organisationen und Unternehmen sind das eine. Auf der anderen Seite stehen wir da als Individuen mit unseren täglichen Entscheidungsmöglichkeiten: Wie spreche ich? Wie handle ich? – Aus deiner Perspektive als Diva of Diversity: Was können wir persönlich im Alltag tun, um für alle Menschen ein selbstbestimmtes, diskriminierungsfreies und würdevolles Leben zu erreichen?

Zuerst einmal ist es wohl Chefsache, dafür Sorge zu tragen, dass das, was in der Chefetage beschlossen wird, auch in der Montagehalle praktiziert wird. Die designierte Diversity-Managerin bzw. Gleichstellungsbeauftragte muss mit Befugnissen und Verantwortung betraut werden. Sie muss aber auch zur Verantwortung gezogen werden können.
Was das Personal anbelangt, da ist die Verantwortung auch angesagt. Individuell und kollektiv. Im Alltag ist die Sprache überdies sehr entscheidend. Wer die Kolleginnen und die sogenannten „Untergebenen“ auf eine inklusive Weise anspricht, kann auch mehr von ihnen erwarten. Menschen, die von Diskriminierung direkt betroffen sind, wollen eigentlich keine Sonderrechte, sondern Rechte und Respekt. Keinen Tokenismus, sondern Teilhabe und ja Verantwortung. Wenn man das realisiert, dann kann ein harmonisches, vertrauensvolles Arbeitsklima entstehen.

Du arbeitest zudem als Übersetzerin und Kommunikationsberaterin. Dein Motto ist „Mit Sprachen Brücken bauen und Mauern durchbrechen“. Mich als Verlagsarbeiterin interessiert da besonders: Was erwartest du dir hinsichtlich Diversity von der Buchbranche?

Auch hier ist eine inklusive Denkweise vonnöten. Das bedeutet, dass die Redaktion eher bunt als eintönig sein sollte. Das bedeutet nicht, weiße, heterosexuelle Mitarbeitende auf die Straße zu versetzen, sondern in sich zu gehen, was die Wahrnehmung und die Würdigung der Vielfalt betrifft, um dann eine Art Outreach zu betreiben. Die Outreach-Initiative soll aber ernst gemeint sein.
Vor einiger Zeit wollte die weiße Lektorin eines deutschen Buchverlages mich damit beauftragen, den Essayband einer afroamerikanischen Autorin ins Deutsche zu übersetzen. Die Anfrage kam übrigens gerade während der Debatte und des Debakels um die Übersetzung des Amanda-Gorman-Gedichtes. So war ich schon sehr neugierig. Das zu übersetzende Buch befasste sich mit Unconscious Bias. Leider hat die deutsche Lektorin ihn offenbar selbst nicht gelesen, sondern nur „erfolgreich eingekauft“. Wir kamen miteinander allerdings nicht ins Geschäft. Nein, sie war eher auf einen schnellen als auf einen sensibilisierten Umgang mit dem Originaltext bedacht. Die Hinweise, die ich ihr auf einige zu berücksichtigende kulturelle und linguistische Nuancen bereitwillig gab, ignorierte sie. Denn sie verstünde Black Literature „genauso gut“ wie ich. Absolut überheblich.
Ein weiterer Aspekt ist das Gendern. Ich bin für eine gendergerechte Sprache. Freilich nicht als linguistischen Endzweck, sondern als Mittel, um Gerechtigkeitsansätze gesellschaftlich zu verankern. Zugegebenermaßen muss eine Sprache einerseits organisch wachsen dürfen. Aber andererseits muss sie imstande sein, bereits vonstattengehende Entwicklungen rechtzeitig aufzugreifen, um überhaupt wachsen zu können. Die Sprachästhetik liegt mir am Herzen. Infolgedessen sind mir die Optik und die Orthographie sehr wichtig. Meines Erachtens können wir gegen die Strenge der binären Sprechweise sein, ohne über die Stränge zu hauen. Schau mal, wenn Sternchen, Schrägstriche und Majuskel-Buchstaben den Lesefluss dergestalt stören, dass wir dadurch ein stilistisches Problem haben, dann ist niemandem geholfen.

Ich habe bisher nur von Menschen gesprochen. Lass uns auch die anderen Tiere hinzuziehen: Du bist „eingefleischte Veganerin“, setzt dich für Tierrechte ein und beschäftigst dich aus einer intersektionalen (sprich: Du denkst Wechselbeziehungen unterschiedlicher Unterdrückungsformen mit.) Perspektive mit Lebensmitteln und deren Herstellung auseinander. Was haben Ernährung und Rassismus miteinander zu tun?

Um es klarzustellen: Der Veganismus ist für mich weitaus mehr als eine Angelegenheit der Ernährung. Ich trete auch als Fashionmodel auf, wie neulich in der wunderbaren Pride-Kampagne von GAP und Zalando. Da trage ich ausschließlich Veganes, und meine Wünsche werden bereitwillig respektiert. Mein Kabarettprogramm lautet zudem „Eine eingefleischt vegane Domina zieht vom Leder“. Es handelt sich um eine gleichsam „sado-maßlose“ Satire. Aber darin agiere ich, eine schwarze trans* Frau, als Engelin der Gerechtigkeit. Ich zerfleische das weiße, misogyne, queerfeindliche und ja, xenophobe Patriarchat. Mit der Peitsche, die ich als erhobenen Zeigefinger einsetze, weise ich auf diskriminierende soziale Strukturen hin. Schlussendlich will ich aber nicht indoktrinieren, sondern einprägsam informieren. Dabei möchte ich allerdings keine falschen Äquivalenzen zwischen der Versklavung respektive der Vernichtung menschlicher Lebewesen einerseits und der Tierkörperbewertung bzw. dem Schlachten andererseits ziehen. Solche Gleichstellungen darf man nicht leichtsinnig oder übereifrig machen. Doch ich verweise gerne auf die kolonialistisch geprägten Ansprüche, die es auch heute in der Fleischindustrie gibt, und überhaupt in der Tendenz, afrikanische Länder als Zulieferer für den mitteleuropäischen Tisch zu betrachten.
Ein von mir komponiertes Lied und ein demnächst erscheinendes Literaturstück haben den Titel „Veganismus über den Tellerrand hinaus“. Schon damit verkünde ich einen holistischen Ansatz, eine ganzheitliche Anschauungsweise, was den Veganismus betrifft.

„Die Gestaltung einer geschlechtergerechten Welt ist die Aufgabe aller, nicht nur von Mädchen* und Frauen*.“ – Ein Interview mit Angelika Atzinger vom Verein Amazone

Von Gleichstellung kann keine Rede sein: Noch immer sind Frauen* und weiblich gelesene Personen auf Führungsebenen, in der Wirtschaft und Politik marginal vertreten, tragen die Hauptlast unbezahlter Arbeit, verdienen weniger als Männer* und männlich gelesene Personen und sind nach wie vor häufiger von Armut und Gewalt betroffen. Und all das ist kein Resultat freier Entscheidungen von Frauen*, sondern von struktureller Diskriminierung. Der Verein Amazone ist eine zentrale Einrichtung für Genderarbeit aus Mädchen*- und Frauen*perspektive in Vorarlberg und wirkt lokal und über die Landesgrenzen hinaus. Nadine Rendl hat sich mit der Geschäftsführerin Angelika Atzinger über feministische Bildung unterhalten.

Bildung wird als „Schlüssel zur Gleichstellung“ angesehen. Aber auch Bildungseinrichtungen sind keine diskriminierungsfreien Räume. Worin siehst du den größten Handlungsbedarf in Hinblick auf unser Bildungssystem?

Nein, auch Bildungseinrichtungen sind keine diskriminierungsfreien Räume. Wichtig finde ich, dass sie zu diskriminierungssensiblen Räumen werden. Dafür braucht es – sowohl in formalen als auch in non-formalen Bildungskontexten – Räume der Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeiten und strukturell bedingter Benachteiligung, nicht nur in Hinblick auf Geschlecht und Gender, sondern auch in Hinblick auf andere Kategorien, etwa race und Klasse. Es braucht dahingehend vor allem auch Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten für Lernende sowie Reflexion und Begleitung für Lehrende. Zudem müssen vielfältige Lebens- und Beziehungskonzepte im Lernalltag präsent sein, etwa in der Sprache oder in Schulbüchern. Der Verein Amazone versucht in Projekten und mit Workshopangeboten solche Möglichkeiten zu eröffnen, aber es wäre wichtig, dass diese institutionalisiert und im System verankert werden.

Die Amazone versteht sich als Verein, der sich dafür einsetzt, Mädchen* und Frauen* auch in gemischtgeschlechtlichen Kontexten zu stärken und Mädchenarbeit mit weiteren genderpädagogischen Ansätzen zusammenzuführen. Kannst du etwas genauer erklären, wie diese Arbeit bei euch im Verein ausschaut?

Der Verein Amazone setzt einerseits Aktivitäten ausschließlich für FLINT* (Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans*) Personen von 10 bis 25 Jahren, etwa Freizeit- und Experimentierräume im Mädchenzentrum oder parteiliche Beratungsangebote in der Mädchenberatung. Andererseits werden in der Fachstelle Gender Projekte, Qualifizierungs- und Vernetzungsangebote geschaffen, die Perspektiven und Anliegen von Mädchen* und jungen Frauen* in gemischtgeschlechtliche Kontexte tragen und in Angeboten für alle Geschlechter aller Altersgruppen sichtbar und bearbeitbar machen. Der Verein Amazone bietet hier zum Beispiel Workshops und Seminare für Schulen, Jugendzentren oder für mit Jugendlichen Arbeitenden aus Bildung, Sozialarbeit, Wirtschaft und Gesundheit. Diese Angebote beschäftigen sich mit ganz unterschiedlichen Themen, zum Beispiel Sexualität, Soziale Medien oder Körper- und Schönheitsbilder. Der Verein Amazone erstellt auch Materialien für die Öffentlichkeit – zum Beispiel Broschüren, Videoclips oder interaktive Ausstellungen – zu ganz verschiedenen relevanten Themen, etwa Mädchen* und MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik), geschlechtsspezifische Gewalt oder Partizipation. In verschiedenen Projekten arbeiten wir in ganz unterschiedlichen Kontexten, etwa begleiten wir Betriebe in Vorarlberg dabei, gleichmäßige Zugänge zu technischen Lehrberufen für Mädchen* und Jungen* zu schaffen und einen Kulturwandel im Unternehmen zu gestalten.

Angelika ist seit 2018 für die Geschäftsführung im Verein Amazone zuständig. Sie hat Politikwissenschaften studiert und ist seit Jahren in frauen- und mädchenspezifischen Kontexten tätig. Foto: Verein Amazone

Nach wie vor ist Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in unserer Gesellschaft strukturell verankert. In der Fachstelle Gender des Vereins geht es daher um Maßnahmen zur Dekonstruktion von Geschlechterrollenbildern. Was ist deine Beobachtung: Wie gelingt es Menschen, den Zugang zu (queer-)feministischen Themen zu finden, und wie wichtig ist es für dich, mit den verschiedensten Zielgruppen zum Thema Geschlechtergerechtigkeit zu arbeiten?

Unsere Beobachtung im Verein Amazone ist, dass diese Zugänge sehr einfach zu finden sind: Alle Menschen sind in ihrem Alltag bewusst oder unbewusst mit Geschlechterthemen konfrontiert und machen Erfahrungen, die mit Genderrollen verknüpft sind. Wir versuchen mit Methoden und Aktivitäten, die Spaß machen, diese Erfahrungen aufzugreifen, Unbewusstes bewusst zu machen und gemeinsam zu reflektieren. Wir glauben, dass es ganz wichtig ist, mit allen Menschen aller Altersgruppen zu Geschlechtergerechtigkeit zu arbeiten und dabei Gestaltungsspielräume und Partizipationsmöglichkeiten aufzuzeigen – ich glaube, die Gestaltung einer geschlechtergerechten Welt ist die Aufgabe aller, nicht nur von Mädchen* und Frauen*.

„We Should All Be Feminists“, so lautet der Titel des sehr erfolgreichen Ted-Talks von Chimamanda Ngozi Adichie aus dem Jahr 2012, der heute noch hochaktuell ist. Aber: Wenige Männer* oder männlich gelesene Personen würden sich als „Feministen“ bezeichnen. Vor diesem Hintergrund: Wie könnte eine feministische Bildung insbesondere für (junge) Männer* aussehen?

Tatsächlich setzen sich immer noch wenige Männer* tiefergehend mit Feminismus auseinander – das Bedürfnis danach ist klarerweise ein anderes, wenn man nicht von Diskriminierung in diesem Hinblick betroffen ist. Wir machen in unserer Arbeit aber auch die Erfahrung, dass viele Jungen* und Männer* Probleme damit haben, nicht in Bilder und Entwürfe hegemonialer Männlichkeit zu passen. Für Jungen* und junge Männer* fehlen aber oft noch die Räume, in denen sie Möglichkeiten dazu vorfinden. Gerade cis-männliche Personen müssen Perspektivenwechsel erleben, die strukturelle Verankerung von Geschlechterungerechtigkeiten begreifen und eigene Privilegien reflektieren. Genau da muss queer-feministische Bildung für Männer* meiner Meinung nach ansetzen.

Diskriminierung ist nicht nur ein Problem der „anderen“. Wie kann ich mir als betroffene Person helfen lassen?

Am besten Unterstützung von Vertrauenspersonen suchen, eine Beratungsstelle aufsuchen, zum Beispiel die Mädchenberatung des Vereins Amazone, und Diskriminierungen melden, zum Beispiel bei ZARA Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit oder bei der Gleichbehandlungsanwaltschaft.

Euren Verein gibt es seit 1998 – damals noch unter dem Namen „Kecke Quecke“. Wie hat sich eure Arbeit im Laufe dieser Zeit verändert?

Die „Kecke Quecke“ war 1998 eine ehrenamtliche Initiative von Frauen* und Mädchen*, die einen Raum nur für Mädchen* in Bregenz einforderten. So ist das Mädchenzentrum entstanden und das Anliegen ist heute immer noch aktuell, weil öffentlicher Raum nach wie vor männlich dominiert ist. Das Mädchenzentrum setzt heute verstärkt Angebote im öffentlichen Raum und unterstützt Mädchen* in Raumaneignungsprozessen. Die Mädchenberatung und die Angebote der Fachstelle Gender sind nach und nach dazu gekommen, immer, weil es das Bedürfnis danach gab. Heute arbeiten wir mit vielen Zielgruppen und machen Mädchen*expertisen und -anliegen auch nach außen sichtbar und hörbar.

Wie kann man den Verein Amazone unterstützen? Wie kann man mitmachen und Teil davon werden?

Jede*r kann den Verein Amazone unterstützen und mitgestalten, indem er*sie AmazoneMember wird. Wir sind auch immer auf der Suche nach engagierten Personen: Mitarbeitende, Praktikant*innen, Peers oder Ehrenamtliche – Infos dazu gibt’s auf unserer Website, oder einfach eine Bewerbung an [email protected] schicken. Außerdem freuen wir uns immer über Ideen, Rückmeldungen und Impulse.

Du möchtest dazu beitragen, dass sich endlich etwas verändert? Dann ist ein Ehrenamt vielleicht genau das richtige für dich! Ob in deinem Kiez oder international: Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie du ganz einfach sinnvolle Arbeit mit deinen Interessen und Hobbies verbinden kannst. Hier ein paar Seiten, die dir bei der Orientierung helfen:

Was ist eigentlich eine ehrenamtliche Tätigkeit? – GoVolunteer Blog
Helfende Hände herzlich willkommen (caritas.de)
Freiwilliges soziales Engagement (oesterreich.gv.at)
Das Ehrenamt – Informationen & Tipps | DEUTSCHES EHRENAMT (deutsches-ehrenamt.de)

„Wir alle können eine respektvolle Haltung einnehmen und versuchen, andere Personen in ihrer Menschlichkeit wahrzunehmen.“ Ein Interview mit Sharon Dodua Otoo

„Dürfen Schwarze Blumen Malen?“, fragt Sharon Dodua Otoo 2020 in ihrer Klagenfurter Rede zur Literatur. Die Autorin und politische Aktivistin unterstützt unter anderem die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. und Phoenix e.V. und beschäftigt sich mit der Wirkmacht von Sprache, mit Mechanismen der Ausgrenzung und damit, wie wir einander respektvoll und menschlich begegnen können. Mit Linda Müller hat sie darüber gesprochen.

2020 hielten Sie die Klagenfurter Rede zur Literatur „Dürfen Schwarze Blumen Malen?“. Eindrücklich zeigen Sie darin auf, dass Sprache wirkmächtig ist, dass sie Realitäten verändert. Und dass sie sich wandeln kann, auch und besonders im Sinne eines für alle Sprecher*innen respektvollen Umgangs. Worüber sollte ich als Individuum nachdenken, wenn ich meinen eigenen Umgang mit Sprache reflektiere? Und inwiefern kann mir Sprache ein „Post-it-Note“ sein?

Ich freue mich über die Frage, gleichzeitig hoffe ich, dass in meiner Rede auch klar wurde, dass ich mich als Lernende begreife und dass ich ebenso auf der Suche bin. Ich habe mich vielleicht mehr mit rassismuskritischen Themen auseinandergesetzt, dafür kennen Sie sich vielleicht mehr mit anderen Formen von Diskriminierung aus. Wir können voneinander lernen. Mir hilft es, immer wieder daran zu denken, dass Menschen nicht marginalisiert *sind*, sondern dass sie marginalisiert *werden*. Und dahinter, dass diese Marginalisierung passiert, muss keine Absicht stecken. Wenn ich weiß, dass mein Sprachgebrauch zu weiteren Ausschlüssen beiträgt, dann kann ich die Entscheidung treffen, dies zu ändern. Bei der Buchpräsentation von „Adas Raum“ beispielsweise war es mir wichtig, dass in die deutsche Gebärdensprache gedolmetscht wird. Aber auch in meiner eigenen Wortwahl kann ich diskriminierende Begriffe vermeiden, um ihnen nicht unnötig Raum zu geben. Ich kann auf zum Beispiel Selbstbezeichnungen achten.

Meine Idee mit der Post-It-Note soll deutlich machen, dass es keine einfachen Lösungen geben wird. Manche Menschen möchten als „Mensch mit Behinderung“ bezeichnet werden, manche lehnen das ab und bevorzugen die Selbstbezeichnung „Behinderte“. Unser Anspruch kann nicht sein, es perfekt zu machen. Dann werden wir scheitern. Aber wir alle können eine respektvolle Haltung einnehmen und versuchen, andere Personen in ihrer Menschlichkeit wahrzunehmen.

In einem Interview mit dem Domradio sprechen Sie davon, dass Sie sich in einer fragenden, demütigen Haltung mit Themen beschäftigen möchten. Ist das etwas, das Sie im derzeitigen Diskurs im Literaturbetrieb vermissen: die Wahrnehmung, dass es mehr als nur eine Wahrheit gibt, und dass jeder immer dazulernen kann und muss – aber auch Fehler machen darf?

Ja, ich vermisse das tatsächlich. Ich treffe zum Beispiel immer wieder wundervolle Literaturkritiker*innen, die eine ähnliche Haltung haben. Allerdings sind sie in der Regel nicht diejenigen, die die großen Schlagzeilen schreiben. Ich frage mich, was es brauchen würde, um genau diesen Stimmen mehr Raum zu geben, damit wir mehr von ihnen mitbekommen und sie besser gehört werden.

Der Literatur im deutschsprachigen Raum bzw. auch dem Literaturbetrieb wird häufig vorgeworfen, sich in einem Elfenbeinturm zu befinden. In einem weißen Elfenbeinturm, in dem auch Klassismus und Sexismus ein Problem sind und in dem ebenso wie im alltäglichen Leben Mehrfachdiskriminierung droht. Sehen Sie diesbezüglich eine Entwicklung in die richtige Richtung – und an welchen Stellen gibt es noch besonders viel zu tun?

Das ist eine große Frage. Ich kann selbstverständlich nur über die Bereiche reden, die ich mitbekomme, und selbst da bin keine Expertin. Mein Eindruck ist, dass sich besonders auf Social Media viel tut. Diskussionen auf Twitter in der sogenannten „Buchbubble“ sind für mich anregend und lehrreich. Außerdem sind Formate wie 54books leicht zugänglich und bemüht, eher marginalisierte Themen hervorzuheben.

Aber es ist leider noch immer so, dass ich als deutschsprachige Schwarze Autorin oft die einzige Schwarze Person bei meinen eigenen Veranstaltungen bin. Wie kann der Literaturbetrieb weitere Schwarze Menschen als Publikum ansprechen? Wie bekommen wir mehr Schwarze Bewerber*innen für Stellen in Literaturhäusern? Buchhandlungen? Als Moderator*innen? Was würde es brauchen, damit eine größere Zahl von Schwarzen Schreibenden auch von Agenturen repräsentiert würde? Auch Schreibstipendien bekämen? An Literaturwettbewerben teilnehmen würden? Es wäre wunderbar, wenn diese Fragen viel mehr diskutiert würden.

Sie sind Aktivistin, ein politischer Mensch, auch abseits Ihres Schreibens, und Sie weisen immer wieder darauf hin, dass Ihre Texte erst durch Rezeption zur Literatur werden. Lassen sich Literatur und Politik überhaupt trennen? Oder bedingen sie einander?

Ich sehe Literatur und Politik als sehr eng miteinander verknüpft. Aber ich bin nicht die Erste, die diese Haltung hat – denken wir zum Beispiel an die Arbeiten von Max Frisch, Heinrich Böll und Bertolt Brecht. Ich wundere mich über manche Diskussionen, denn ich halte es für selbstverständlich, dass wir Autor*innen, die Bühnen und Aufmerksamkeit bekommen, auch eine gewisse Verantwortung haben. Wir können mit unserer Imaginationskraft Lesenden zu neuen Gedanken und möglicherweise auch zu Handlungen inspirieren. Das ist eine sehr machtvolle Position. Und in einer Gesellschaft, in der es Machtgefälle gibt, ist es für mich logisch, dass wir Schreibenden uns diesen Machtgefällen gegenüber kaum neutral verhalten können. Damit meine ich nicht, dass unsere Arbeit sich explizit um parteipolitische Themen drehen muss! Ich finde, es wäre schon ein radikaler Schritt, wenn weiße Autor*innen Romane schreiben würden, in denen zum Beispiel Hauptfiguren den eigenen (erfolgreichen oder gescheiterten?) Lernprozess über Rassismus thematisieren würden.

Neben den Adas erheben weitere Protagonist*innen eine Stimme, und zwar solche, von denen man es gemeinhin eher nicht erwarten würde. Ein Reisigbesen, ein Türklopfer, ein Ausweis, ein Raum – Adas Zimmer. Oder anders betrachtet: Die Stimme einer wandernden Seele spricht aus Gegenständen zu uns. Warum diese besondere Perspektive?

Weil es in „Adas Raum“ viel um Trauma und Gewalt geht, wäre es naheliegend gewesen, entweder aus einer sogenannten „Opferperspektive“ oder aus einer sogenannten „Täterperspektive“ zu schreiben. Viel interessanter war es für mich allerdings, zu beobachten, was Trauma und Gewalt mit uns machen – mit uns als Individuen ebenso wie mit uns als Gesellschaften. Um mich damit auseinanderzusetzen, um weg von der „Schuldfrage“ zu kommen und hin zu einem Nachdenken über Konzepte von Zeug*innenschaft, habe ich diesen Versuch gestartet. In einer Erzählstimme aus diversen Gegenständen sah ich das Potential, diese Aufgabe zu erfüllen. Zumindest wollte ich das ausprobieren.

Ob das klappt? Das müssen die Lesenden entscheiden!

Sie sind ausgesprochen gefragt und Ihr Terminkalender ist sicherlich zum Bersten gefüllt. Trotzdem: Ein besonderer Traum von mir wäre es, Sie in einer Jury (Bachmann?!) zu sehen. Gibt es Grund zur Hoffnung?

Haha… echt? Warum? Ich bin nämlich keine Literaturkritikerin. Ich befürchte, ich würde in einer Bachmann-Preis-Jury nicht mithalten können …

 

In ihrem Roman „Adas Raum“ verwebt Sharon Dodua Otoo die Lebensgeschichten vieler Frauen zu einer Reise durch die Jahrhunderte und über Kontinente. Ein überraschendes Buch, das davon erzählt, was es bedeutet, Frau zu sein.

Ada erlebt die Ankunft der Portugiesen an der Goldküste des Landes, das einmal Ghana werden wird. Jahrhunderte später wird sie für sich und ihr Baby eine Wohnung in Berlin suchen. In einem Ausstellungskatalog fällt ihr Blick auf ein goldenes Armband, das sie durch die Zeiten und Wandlungen begleitet hat. Ada ist viele Frauen, sie lebt viele Leben. Sie erlebt das Elend, aber auch das Glück, Frau zu sein, sie ist Opfer, leistet Widerstand und kämpft für ihre Unabhängigkeit. Sharon Dodua Otoos Mut und ihre Lust zu erzählen, ihre Neugier, die Vergangenheit und die Gegenwart zu verstehen, machen atemlos.

Das Ende der Affäre. Oder: Polyamorie als alternative Beziehungsform. – Ein Interview mit Inna Barinberg

Wie lieben wir? Und: wie viele? – Unsere Sehnsucht nach Geborgenheit, unser sexuelles Begehren, die vielen Formen der Liebe, die unterschiedlichen Phasen unserer romantischen Beziehungen, die körperliche Nähe in unseren Freund*innenschaften … Wie wir das individuell organisieren, trennen, verbinden, ausleben wollen, dafür gibt es unzählige Möglichkeiten. Auch in Form von Alternativen zur Monogamie. Nina Gruber hat sich mit Inna Barinberg darüber unterhalten. Inna lebt in einer polyamoren Beziehung. Wie sie zu dritt den Alltag in einer offenen Beziehung meistern, welchen Stellenwert dabei die Kommunikation hat und vor welchen strukturellen Hindernissen polyamore Familien stehen, darüber könnt ihr in diesem Interview lesen:

Oft wird in der Diskussion um Monogamie und Polyamorie der Fokus auf das Ausleben der Sexualität mit mehr Personen als denen, die Teil einer romantischen Beziehung zwischen nur zwei Partner*innen sind, gelegt. Aber so individuell wie jeder Mensch ist, so individuell sind auch die Beziehungen. Was bedeutet Polyamorie für dich persönlich?

Polyamorie ist für mich eine konsensuelle Übereinkunft, dass die Möglichkeit besteht, mit anderen Menschen sexuelle und/oder emotionale Beziehungen einzugehen. Ich denke, dass viele Menschen vorerst an den vielen Sex denken, den Poly-Menschen haben, dabei geht es nicht unbedingt um Sex oder viel Sex. ; ) Ich würde eher sagen, dass für mich der wichtigste Aspekt ist, dass die Möglichkeit besteht, wenn ich oder andere Beziehungspersonen das wollen sollten.

Du hast im Rahmen deiner Arbeit als Coach mit vielen Menschen zu tun, hörst von verschiedensten Erfahrungen, Konstellationen und Bedürfnissen. Welche Beweggründe führen deiner Erfahrung nach Menschen weg von monogamen Beziehungen hin zu anderen Formen der Beziehung?

Hm, schwierige Frage, es gibt so viele unterschiedliche Gründe. Ich denke, dass es zum einen wichtig ist zu sagen, dass sich nicht alle Menschen von der Monogamie abwenden, sondern zum Teil realisieren, dass sie schon immer polyamor waren, aber nur noch keinen Begriff dafür hatten. Denn viele von uns haben keine Vorbilder für andere Beziehungsformen als die monogame Beziehung kennenlernen dürfen, und damit einhergehend natürlich auch immer die nicht-konsensuelle Außenbeziehung oder wie so oft „Affäre“ genannt. Und dann gibt es auch Menschen, die im Laufe ihres Lebens unbefriedigende Erfahrungen machen mit der Monogamie, wie etwa sich in jemand Drittes zu verlieben und vor eine Entscheidung gestellt zu werden. Das kann ein Antrieb sein, sich nach anderen Beziehungsformen umzusehen. Es gibt schließlich auch Menschen wie mich, die einfach so da reinstolpern und merken, dass sie sich mit Polyamorie oder offenen Beziehungen viel mehr identifizieren können als mit monogamen Beziehungen. Manchmal gibt es auch Menschen, die in der Polyamorie eine Rettungsgasse für ihre bestehende Beziehung suchen, weil es viel zu schwer sein kann sich zu trennen. Ob das zielführend ist oder nicht, das ist allen selbst überlassen.

Vor welchen besonderen Herausforderungen stehen Menschen, die in polyamoren Beziehungen leben? Sind das überhaupt „besondere“?

Ich denke, dass man an dieser Stelle zwischen inneren und äußeren Herausforderungen unterscheiden muss.
Innere Herausforderungen sind sehr ähnlich zu allen Herausforderungen in anderen Beziehungsformen und Konstellationen. Was meiner Meinung nach verstärkt hinzukommt, sind vor allem Zeit/Vereinbarkeit, viel Kommunikation und potenziell unbequeme Emotionen, wie etwa Eifersucht und Neid. Letzteres kommt natürlich auch in monogamen Beziehungen vor, allerdings ist dort der Unterschied, dass sich häufig explizit oder implizit darauf geeinigt wird, niemanden sonst zu daten. Theoretisch besteht also nicht die Möglichkeit, selbst wenn wir wissen, dass es viele Menschen gibt, die sich nicht daran halten. Kommunikation ist natürlich in allen Beziehungsformen wichtig, bekommt hier aber noch einmal einen besonderen Stellenwert, weil wir in offenen Beziehungen mit Lover*innen und anderen Beziehungsmenschen kommunizieren müssen und es gerade hier wichtig ist, Klarheit und Verlässlichkeit zu schaffen. Das unterscheidet die Kommunikation von monogamen Beziehungen, weil es dort höchstens darum geht zu kommunizieren, dass man nicht verfügbar ist oder bereits in einer Beziehung ist.
Alle drei Aspekte kommen also auch in monogamen Beziehungen mal mehr, mal weniger stark zum Tragen. Wie du siehst, tue ich mir ein wenig schwer damit konkrete, innere poly-bezogene Herausforderungen hervorzuheben.
Äußere Herausforderungen sind einfacher zu skizzieren. Es gibt sehr viele Hindernisse, sowohl struktureller Natur, wie etwa bei Elternschaft, Erbrecht, Krankenhausbesuche etc., als auch auf privater Ebene, wie etwa kritische Nachfragen, verletzende Kommentare, das ständige Sich-rechtfertigen-Müssen und die Angst, dass wenn eine der Beziehungen doch auseinander geht, dass Menschen glauben, dadurch den Beweis dafür zu haben, dass es ja doch nicht funktioniert. Gerade weil es so wenig Vorbilder gibt, dienen die Menschen, die zufrieden poly leben, häufig als Vorzeige-Konstellationen, das kann zum Teil sehr anstrengend sein. Kommunikation nach außen kann auch eine andere Form der Herausforderung sein.

Früher – und auch wenn sich schon viel getan hat: zu einem Großteil auch heute noch – wird eine „Familie“ vor allem so definiert: Eine heterosexuelle monogame Beziehung mit Kind(ern). In einem Blogeintrag schreibst du über das Konzept der Kleinfamilie, denkst du darüber nach, wie ein Leben mit Kind in einem polyamoren Kontext ausschauen könnte. Heute bist du selbst Elternteil. Wie hat sich das für dich in der Praxis bisher entwickelt?

inna barinberg portrait

Inna betreut Workshops, ist Beziehungscoach und schreibt im Blog POLYPLOM zu polyamoren und offenen Liebesformen. Oder wie Inna es selbst am besten auf den Punkt bringt: „von der täglichen Kunst, polyamore Beziehungen zu führen“. 2020 folgte die Veröffentlichung von „MEHR IST MEHR. Meine Erfahrungen mit Polyamorie“. Die Texte darin sollen zum Nach- und Weiterdenken anregen, egal wie man liebt und welche Beziehungsform man für sich findet. Inna ist eines der Gründungsmitglieder des alternativen Sexshop-Kollektivs Other Nature. – Foto: Oliver Magda

Ich war vor allem sehr überrascht, wie anders sich Dinge zum Teil angefühlt haben. Überrascht hat mich zum Beispiel, wie unterstützend unsere Herkunftsfamilien bis jetzt waren. Ich war zum Teil sogar überfordert von der vielen Aufmerksamkeit. Überrascht war oder bin ich auch davon, wie viel Kleinfamilie dann doch in uns steckt bzw. wie schnell der Alltag sich nach einer stereotypen Familie anfühlt, weil ein Kind nun mal sehr viel Struktur und geregelte Tagesabläufe braucht. Das hat mich auch total getroffen, weil ich uns nicht als Kleinfamilie verstehen will. Gleichzeitig war es schön zu merken, dass unsere Beziehungen untereinander und auch nach außen hin immer noch viel Raum einnehmen durften. Das war sehr bestärkend. Es gibt natürlich auch anstrengende Momente in unserer Konstellation, insbesondere, weil Nähe und Vertrautheit eine große Rolle spielen, wenn Menschen Konflikte austragen oder unangenehme Themen ansprechen wollen. Damit meine ich, dass die Vertrautheit zwischen meinen Partnerinnen noch am Wachsen ist und es manchmal einfach leichter ist, Themen mit mir zu besprechen als miteinander. Manchmal ist es schwierig, sowohl Co-Elternschaft und Partner*innenelternschaft in einer Konstellation zu vereinen. Wir lernen jede Woche dazu.

Im besagten Blogeintrag denkst du über den Begriff „Familie“ generell nach, wie man dieses „Netzwerk“ bezeichnen könnte. Bist du schon zu einem Schluss gekommen? Oder denkst du dir: Ich will den Begriff „Familie“ nicht von einem exklusiv heteronormativen Konzept besetzen lassen?

Zu einem Schluss bin ich noch nicht gekommen, nein. Ich denke, dass für mich da auch die Begriffe Familie und Kleinfamilie zu eng beieinander sind, als dass ich zu einem klaren Schluss kommen könnte.
Kleinfamilien verbinde ich mit sehr vielen Zugängen und Privilegien, deswegen wären wir in meinen Augen nie eine Kleinfamilie, weil wir viele dieser Privilegien und Zugänge nicht haben, sondern eher konstant Räume suchen und erkämpfen müssen. Ich denke, dass die heteronormative Kleinfamilie es da schwerer hat und vielleicht das ein oder andere Mal einfach so in Strukturen von anderen Kleinfamilien, Kindergruppen oder ähnlichem reinrutscht. Wir müssen uns immer wieder aktiv dafür entscheiden. Das Positive daran ist, dass wir immer wieder eigenmächtig entscheiden können, wo wir uns aufhalten wollen und mit welchen Rollen wir nach außen hin spielen und verwirren wollen. Uns passiert es zum Beispiel häufig, dass wir zu dritt mit Kind unterwegs sind und genau merken, wie sich die Menschen denken: „Irgendwer ist die Mutter, aber wer?“ Ich mag es, damit zu spielen, gleichzeitig finde ich es auch wahnsinnig anstrengend, wie häufig ich als nicht-binäre Person gegendert werde und mir die Rolle der Mutter zugeschrieben wird.
Den Begriff der Familie hingegen finde ich sehr schön, weil es für mich komplett offenlässt, wen ich als meine Familie bezeichnen möchte. Auch das ist sehr mühselig nach außen hin zu zeigen, weil auch hier klar definiert ist, wer als Familie zählt und wer nicht. Zwei von uns sind zum Beispiel verheiratet, damit unser Kind rechtlich von zwei Menschen vertreten werden kann, das war uns und unserem Spender wichtig. Das entspricht natürlich nicht unserer Traumvorstellung, weil der Kleine ja drei Eltern hat, aber anders ist es im Moment leider nicht möglich in Deutschland.
Immer wieder mit Bildern von normativen Familien zu brechen und das gängige Bild von Familien zu erweitern, ist mir alles in allem sehr wichtig und bleibt es auch. Ich denke, dass die ambivalente Haltung daher kommt, dass es so mühselig ist und ich mir manchmal wünschen würde, dass wir schon viel weiter wären und diese Kämpfe nicht führen müssten.