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Leseprobe aus „Mutter, schafft“ von Linda Biallas

Linda Biallas ist Feministin, Mitte Zwanzig und steckt im Studium als sie ungeplant schwanger wird. Der Freund trennt sich, noch bevor das Baby geboren ist: nicht bereit, Vater zu sein. Heute arbeitet Linda als Sozialarbeiterin in Berlin. In ihrem Buch „Mutter, schafft“ schreibt sie über Ungleichheit und Erziehungsmodelle, Care- und Beziehungsarbeit und bohrt mit dem Finger in den Wunden unserer Gesellschaft, bis wir den Schmerz so richtig spüren!

Herzlich willkommen in der Mutterrolle, bitte geben Sie Ihre persönlichen Interessen an der Kreißsaaltür ab

Zu der Herausforderung, Mutter zu werden, trug auch bei, dass es in Deutschland nicht üblich ist, gleichzeitig Mutter und finanziell unabhängig und junge Frau mit Freizeitinteressen zu sein. Mutterschaft bedeutet in Deutschland Ehe, klassische Rollenverteilung, beruflich vorher etwas erreicht haben, weil das als Frau mit Kind nicht mehr geht.
Die Idee von Mutterschaft hängt damit zusammen, einiges aufgeben zu müssen: Autonomie, eigene Interessen, Freizeit. Rückblickend denke ich, dass ich mit Mitte 20, als ich zum ersten Mal Mutter wurde, wirklich gedacht habe, dass man dann mit Mitte 30 bereit dafür sein würde, mehr Kompromisse für die Mutterschaft zu machen. Aber ich bin auch jetzt mit Mitte 30 nicht dazu bereit, so viel von meinen persönlichen Interessen zu opfern, weil es so wenig Raum dafür gibt, etwas anderes zu sein als „nur Mutter“.
Mutter zu werden, bedeutet nicht nur, ein Kind zu gebären und danach plötzlich einfach so Mutter zu sein – genauso wenig, wie bei Co-Müttern, also Müttern, die ohne Liebesbeziehung gemeinsame Elternschaft leben, oder Müttern von Pflegekindern, Müttern, die ein Kind adoptiert haben, Patchworkmüttern nur der rechtliche Status, der Verwaltungsakt der Moment ist, in dem die Mutterschaft beginnt oder der die Mutterschaft ausmacht.
Mutter zu werden, kann ein längerer Prozess sein, eine Auseinandersetzung mit sich selbst, den Erfahrungen der eigenen Kindheit, den Erfahrungen mit den eigenen Eltern. Diese Auseinandersetzung mit der Mutterrolle kann in verschiedenen Konstellationen schon vor der Geburt, vor der Adoption, vor dem offiziellen Muttersein beginnen. Ich stelle mir immer wieder vor, dass Frauen, die geplant schwanger werden, bestimmt schon vorher überlegen, wie sie leben wollen, wie sie arbeiten wollen, wie das Kinderzimmer eingerichtet werden soll. Bei mir war das nicht so. Mir war vorher auch gar nicht so richtig klar, was und vor allem wie viel ich erfüllen sollte, um als gute Mutter zu gelten. Ich hatte eine grobe Vorstellung davon, dass gute Mütter nur Wolle-Seide-Bodys kauften, natürlich voll stillten, Brei immer frisch selbst kochten, also viel mehr dünsteten, und zwar Biogemüse, na klar. Außerdem würden sie immer gerne vorlesen und nie den Fernseher anmachen, den ganzen Tag Lust haben, mit dem Kind zu spielen, und vieles mehr.
Mutter zu werden, bedeutet in jedem Fall, dass so einiges erledigt werden muss. Also habe ich Babykleidung und Möbel akquiriert, mich informiert über das Stillen und über Milchnahrung und darüber, welche Themen aus dem Bereich Kinderkriegen der Esoterik zuzuordnen sind und nicht der Wissenschaft (Blähungen durch Ernährung der Mutter, Bernsteinketten gegen Zahnschmerzen, Aromatherapie bei der Geburt). Ich habe aufgehört zu rauchen und zu trinken und versucht, irgendwie den Entwicklungsschritt von der Studentin, die sich für Politik, Partymachen und Ausschlafen interessiert, zur alleinerziehenden Mutter, die plötzlich nicht nur für sich selbst verantwortlich ist, zu bewerkstelligen.
Ich habe mich nicht nur gefragt, ob mein Kind im ersten Lebensjahr Zucker essen darf, ab welchem Zeitpunkt ich wie viel Medienkonsum gut finde, wie sich meine Perspektive auf meine eigene Kindheit durch die Mutterschaft verändern würde, sondern mir auch Fragen gestellt, die nicht nur im Persönlichen beantwortet werden können, sondern die Art und Weise betreffen, wie wir leben und wirtschaften: Warum soll ich in der Familie so viel Care-Arbeit alleine machen? Warum soll ich das gerne machen müssen? Weil ich eine Frau bin? Weil die Trennung von Lohn- und Care-Arbeit und die Festlegung von Care-Arbeit als unbezahlte Ressource, die aus Liebe absolviert wird, ein unveränderbarer Fakt ist? Mir war nicht klar, dass es diese „Vereinbarkeit“, von der immer die Rede ist, eigentlich gar nicht so richtig gibt.
Die klassische Geschlechterrolle für Mütter ist die Mutterrolle, und die funktioniert, sehr vereinfacht gesagt, so: Mutti opfert sich gerne ohne Gegenleistung für die Kinder auf, aus Mutterliebe, weil sie so selbstlos ist, so sind Frauen eben. Die Karrierenachteile (wobei die klassische Mutterrolle eigentlich noch nicht einmal eine Arbeitstätigkeit von Müttern vorsieht), die Belastung durch die Second Shift nach der Lohnarbeit in Form von die Kinder von der Kita abholen und beschäftigen, den Haushalt alleine schmeißen, dann die Altersarmut, all das nimmt sie gerne in Kauf, die Mutter, denn das Lächeln der Kinder macht alles wieder gut. Sie macht das nicht fürs Geld, das wäre kaltherzig und irgendwie materialistisch, so sind Mütter nicht. Ganz so, als würden Mütter im Unrecht sein, wenn sie sich sichere finanzielle Verhältnisse wünschten, obwohl sie natürlich durch Schwangerschaft, Wochenbett, Stillzeit weniger an der Lohnarbeit partizipieren können. Dabei ist es eigentlich andersherum: Das kapitalistische System, in dem wir leben, hat sehr viel mit der Art, wie die Mutterrolle angelegt ist, zu tun und „die Wirtschaft“ profitiert davon, dass Frauen neue Arbeiterinnen und Arbeiter gebären und sie im Prinzip nix dafür zurückgeben muss. Kinder zu bekommen, gilt praktischerweise als private Entscheidung in der Familie, in der dann die idealtypische Aufteilung vorherrschen soll: Vater – Lohnarbeit. Mutter – Care-Arbeit.
Der Zeitpunkt und die Konstellation, in der ich Kinder bekommen habe, entsprechen nicht der klassischen Vorstellung darüber, wann und wie Leute Kinder bekommen. Mutter zu werden, das war für mich höchstens ein Vielleicht, ein Irgendwann. Eigentlich hatte ich so gut wie nie drüber nachgedacht, ob ich überhaupt einmal Kinder bekommen wollte und wie das dann sein sollte. Deswegen hatte ich bis dahin auch kaum Anlass, mich in Bezug auf mich selbst damit auseinandersetzen zu müssen, was Mutterschaft für mich bedeuten könnte, und vor allem hatte ich kaum Anlass dazu, mich mit der riesigen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an (werdende) Mütter auseinanderzusetzen. Noch nicht einmal in dieses „Kinder kriegen will ich schon irgendwann später mal“, von dem viele Freundinnen sprachen, stimmte ich mit ein, so wenig relevant war das Thema in meinem Leben.
Das erklärt ein Stück weit, weshalb meine Mutterschaft ein riesiger Entwicklungsschritt für mich war. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass es auch Frauen, die die Mutterschaft geplant haben, überrascht und erschreckt, mit welcher Vehemenz die gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter herangetragen werden, und wie eng der gesellschaftliche Rahmen für Mütter gesteckt ist. Mutter zu werden, heißt nicht nur, sich die eigenen emotionalen, die pädagogischen, die zwischenmenschlichen Fragen zu stellen. Mutter zu werden, heißt auch, sich mit der übergroßen gesellschaftlichen Erwartungshaltung an Mütter auseinandersetzen zu müssen.
Meine damalige Beschäftigung mit Feminismus und der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft hat mich nicht darauf vorbereitet, was für einen krassen Einschnitt das Mutterwerden im Leben einer Frau darstellt und was es in unserer Gesellschaft für einen „Rückschritt“ darstellt in Bezug auf „Frauen können alles erreichen“. Das hängt auch damit zusammen, dass es wenig Kontinuitäten im Feminismus gibt. Nicht nur gibt es unterschiedliche Theorien und Schwerpunkte, sondern jede Generation Frauen entdeckt den Feminismus immer wieder ein Stück weit neu. Lange Zeit hatte Feminismus einen schlechten Ruf, es war nicht erstrebenswert, Feministin zu sein. Das ist nicht mehr so, aber der Feminismus, der heutzutage medial präsent und sexy ist, speist sich weniger aus der feministischen Theorie, dafür umso mehr aus der marktbezogenen Nutzbarmachung eines popkulturellen Feminismus. Eine verwässerte feministische Botschaft, gedruckt von ausgebeuteten Frauen auf ein „Made-in-Bangladesh“-T-Shirt.
Frauen entdecken Feminismus meist dann für sich, wenn sie ihn brauchen, und als Mutter erwächst da eine besondere Dringlichkeit. Dass man sich mit Anfang  20 noch nicht für die Lage von Müttern, insbesondere alleinerziehenden Müttern interessiert, ist logisch. Die Zeit, in der man selbst ein Teenager war und Eltern langweilig, uncool und uninformiert fand, ist noch nicht lange her. Selbst Kinder zu bekommen, erscheint verdammt fern am Horizont. Rückblickend fand auch ich wohl mit den Zusammenhang zwischen der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft und der Mutterschaft kein ergiebiges Thema, weil es keine so naheliegende Idee ist, dass Frauen, die als Mütter durchschnittlich alle älter sind als man selbst, aufgrund ihrer Lebenslage „unterdrückter“ sind, weniger Wahlfreiheit haben. Das Erwachsenwerden funktioniert doch von der Jugend bis zum Ende der Ausbildung so, dass man immer mehr Autonomie und finanziellen Spielraum dazugewinnt. Ich hatte mich mit Sexismus beschäftigt, Simone de Beauvoir gelesen, fand erschreckend, wie weitverbreitet Gewalt gegen Frauen ist, und war persönlich nicht daran interessiert, aufgrund meines Geschlechts gesellschaftlich einer untergeordneten Position zugeordnet zu werden.
Die Geschlechterrolle „Frau“ ist bereits eine Zumutung, aber die Mutterrolle stellt handfeste Grenzen auf. Wie schwierig die Lebenslage von Müttern sein kann und was das mit Patriarchat und Kapitalismus zu tun hat, das war mir nicht klar, bevor ich selbst Kinder hatte. Und ich war geschockt. Sehr geschockt, dass man als Mutter so derartig im Stich gelassen werden kann, ohne jegliche Konsequenz für den Vater, der keinen Unterhalt zahlt und so gut wie nie das Kind betreut. Weil sich ab und zu um das Kind zu kümmern zwar insofern schön ist, als dass wenigstens ein bisschen Vater-Kind-Bindung entsteht, aber es für die Mutter wegen der fehlenden Planbarkeit keine Entlastung in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf darstellt. Zudem ist es eine zusätzliche Belastung, bis zur letzten Minute nicht zu wissen, ob ein Treffen stattfindet: sich mental darauf vorzubereiten, den Expartner zu treffen, Freizeitaktivitäten spontan absagen zu müssen, weil er doch nicht kommt, all das neben den ganzen anderen Stressoren, wie Armut, Stigma oder Überlastung, die das „So-richtig“-alleinerziehend-Sein mit sich bringt.
In so eine Situation können Männer einen einfach so bringen, und es gibt kein Instrument, wie wir als Gesellschaft damit umgehen. Sich nicht um die eigenen Kinder zu kümmern, keine Verantwortung für die Familie zu übernehmen, passt in das Bild, das wir uns von Vätern in dieser Gesellschaft machen. Am allerschlimmsten sind die Leute, die die Empörung darüber gar nicht verstehen, die irritiert sind: Als Mutter sei es doch sowieso unsere Aufgabe. Man hätte das Kind ja nicht bekommen müssen, wenn man sich jetzt nicht darum kümmern will. 50:50-Elternzeit? Völlig übertriebene Anspruchshaltung! Durch eine Schwangerschaft tun sich jede Menge Themen auf, sowohl die persönliche, die individuelle Entwicklung betreffende als auch Themen, die die eigene Position in der Gesellschaft und den Umgang mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betreffen.
Durch meine Schwangerschaft hat sich mein ganzes Leben verändert. Formell betrachtet ist bei mir alles gut gelaufen. Gesunde Mutter, gesundes Kind. Keine Komplikationen, keine Geburtsverletzungen. Aber jede Geburt ist ein einschneidendes Erlebnis. Ich hätte jemanden gebraucht, der in meinem Team ist, auf den ich mich in diesem vulnerablen Moment verlassen kann. Die Geburt meines Sohnes war mein erster großer „Das-war-verdammt-hart-und-ich-habe-das-allein-geschafft,-weilich-es-schaffen-musste“-Moment. Fast ein kleiner Vorgeschmack darauf, wie das Leben als alleinerziehende Mutter werden würde.
Für mich war völlig klar, dass ich mein Studium abschließen wollte, dass ich es abschließen musste. Und weil ich nicht wusste, dass allgemein üblich ist, dass gute Mütter mindestens ein Jahr Elternzeit machen, in Westdeutschland besser drei, und Väter höchstens, wenn überhaupt, die zwei danach benannten Vätermonate, habe ich nur ein Urlaubssemester lang Elternzeit gemacht. Zum nächsten Semester, als mein Kind acht Monate alt war, habe ich mir dann einen Praktikumsplatz für das anstehende fünfmonatige Praxissemester, das in meinem Studiengang Pflicht war, besorgt. „Ist ja nicht nur mein Kind“, dachte ich, und fand es völlig selbstverständlich und normal, dass der Vater die zweite Hälfte der Elternzeit machen würde. Dem war dann leider nicht so. Kurz vor Beginn meines Praxissemesters hat er mir mitgeteilt, dass er den Kleinen nicht betreuen würde können oder wollen. Wie sollte ich nun das Praxissemester machen, ohne das ich meinen Hochschulabschluss nicht bekommen würde? Und wie sollte ich ohne Abschluss genug Geld verdienen, um für mich und mein Kind zu sorgen? Fragen, die sich der Erzeuger in unserer Gesellschaft offenbar nicht stellen muss.
Care-Arbeit, also das notwendige Sich-um-jemanden-Kümmern, zum Beispiel in Form von Pflege, Erziehung, Hausarbeit, bleibt meistens an Frauen hängen. Nach der Geburt des ersten Kindes findet in bürgerlichen Heterokleinfamilien in der Regel die sogenannte Retraditionalisierung statt, bei der plötzlich die klassischen Geschlechterrollen und Zuständigkeiten in der Familie gelebt werden, die für Frauen viel Selbstaufgabe und wenig Freiheit bedeuten.
Bei mir hat sich das trotz aller gesellschaftlichen Gegebenheiten, Institutionen, Gesetze, des Drucks und der Geschlechterrollen, die uns alle in diese Richtung drängen, dann anders weiterentwickelt, und zwar im Wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen war einfach kein Partner da, der die klassische Vaterrolle hätte übernehmen können. Ich lebe nicht in einer traditionellen, bürgerlichen Kleinfamilie, weil ich gar nicht die Möglichkeit dazu hatte. Ohne Partner keine klassische Rollenverteilung. Und der andere Grund, warum ich mich nicht in einer traditionellen Kleinfamilie wiedergefunden habe, ist der, dass ich von vornherein wenig Interesse daran hatte, weil ich den Deal der klassischen Rollenverteilung in der Heterokleinfamilie von Anfang an absolut ungerecht fand.

Aus „Mutter, schafft“ von Linda Biallas

Leseprobe aus „Wie rote Erde“ von Tara June Winch

Tara June Winch ist eine in Frankreich lebende Wiradjuri-Autorin und Teil einer jungen Generation selbstbewusster, indigener Kulturschaffender aus Australien. ⁠Mit „Wie rote Erde“ („The Yield“) erschien im Oktober 2022 erstmals ein Buch von Tara June Winch in deutscher Übersetzung. Darin setzt sie der Sprache ihrer Vorfahren ein Vermächtnis. 

Eins

Ich wurde geboren auf Ngurambang – hörst du das? – Nguram-bang. Wenn du es richtig aussprichst, schlägt es hinten im Mund an, und du solltest in deinen Worten Blut schmecken. Jeder Mensch in diesen Gegenden sollte das Wort für Land in der alten Sprache, der ersten Sprache, lernen – denn das ist der Weg, der zu allen Zeiten hinführt, zu mythischen Reisen! Ihr könnt euch ganz zum Anfang zurückbegeben.

Mein Daddy war Buddy Gondiwindi, er starb als junger Mann aufgrund einer inzwischen ausgerotteten Krankheit. Meine Mutter war Augustine, und sie starb als alte Frau – nun, auch an einer Krankheit der alten Welt.

Doch tatsächlich stirbt nichts, vielmehr gerät alles unter eure Füße, neben euch, wird Teil von euch selbst. Schaut hin – das Gras am Straßenrand, der Baum, der sich im Wind biegt, die Fische im Fluss, der Fisch auf eurem Teller, Fisch, der euch ernährt. Nichts verschwindet jemals. Wenn ich mich bald verändere, werde ich nicht tot sein. Stets habe ich Johannes 11:26 im Gedächtnis behalten: Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben, doch das Leben ist durch mich hindurch und an mir vorbeigeeilt, wie es jedem Menschen geschieht.

Bevor ich alles geglaubt habe, was man mich lehrte, dachte ich, wenn alle tot sind, dann wären alle nicht mehr da, und so versuchte ich als junger Bursche meinen Platz in diesem kurzen Leben zu finden. Ich war nur darauf aus, selbst zu entscheiden, wie ich leben würde, aber das war viel verlangt in einem Land, das einen Plan für mich bereithielt, der bereits vor der Geburt in meinen Adern angelegt war.

Was ich wenigstens beherrschen zu können glaubte, war mein eigener Verstand. Gut lesen zu lernen schien mir das Sinnvollste, was ich tun konnte. In einem Land, wo zu sein uns eigentlich nicht erlaubt war, beschloss ich also zu sein. Die Sterne vom Himmel zu holen, versteht ihr?

Später lernte ich meine schöne Frau kennen, wenn auch die Schönheit das Geringste an ihr war, weit größer war ihre Stärke und Furchtlosigkeit –, nun, sie brachte mir eine Menge bei. Das Größte, Beste, was sie mir beibrachte, war, die Wörter auch zu schreiben, sie brachte mir bei, dass ich nicht nur ein zweitklassiger Mann war, aufgezogen mit weißem Mehl und Christentum. Es war meine Frau Elsie, die mir das erste Wörterbuch kaufte. Ich glaube, sie wusste, dass sie damit einen Samen pflanzte, der in mir keimte. Was für ein treuer Gefährte das Wörterbuch ist. In diesem Buch stehen Geschichten, die euch glatt umhauen. Bis heute ist es mein wertvollster Besitz, und um nichts in der Welt würde ich es hergeben.

Wegen des Wörterbuchs von Elsie schreibe ich dies nieder – es führte mich an die Idee heran, ein Verzeichnis anzulegen, in schriftlicher Form, so wie der Reverend einst die Geburten und Taufen in der Mission erfasste, wie der Farmvorsteher die Zuteilungen notierte, wie die Dienstherrinnen und -herren unser gutes Benehmen im Jungenwohnheim zu Papier brachten – eine Liste von Wörtern, in der jeder Dummkopf nachschlagen und erfahren kann, was sie bedeuten. Ein Wörterbuch, selbst wenn diese Sprache nicht nur meine ist, selbst wenn wir nur in sie hineinwachsen und, wenn wir genug gelebt haben, uns von ihr entfernen. Ich schreibe, weil die Geister mich mahnen, dass ich mich erinnere, und weil die Stadt wissen muss, dass ich mich erinnere, mehr denn je müssen die Menschen das wissen.

Am Anfang – aber es gibt sehr viele Anfänge für uns Gondiwindi, damit wurden wir durch ein und dieselbe zwielichtige Magie beschenkt wie verflucht – war ein ewiges Es war einmal. Es heißt, die Kirche habe uns die Zeit gebracht, und die Kirche werde sie uns, wenn ihr es geschehen lasst, wieder nehmen. Ich schreibe jedoch über die andere Zeit, die abgrundtiefe Zeit. Dies hier ist eine große, große Geschichte. Die großen Dinge nehmen ihren ewigen Lauf, die Zeit zieht sich hin und windet sich, niemals verläuft sie geradlinig, das ist die wahre Geschichte der Zeit.

Das Problem, dem sich jetzt mein eigenes Es war einmal gegenüber sieht, besteht darin, dass mir Doktor Shah von der Praxis in der High Street ein lausiges Gesundheitszeugnis ausgestellt hat: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Demzufolge bin ich ein hoffnungsloser Fall.

Weil es also heißt, es sei dringend, und weil ich die Kirchenzeit gegen mich habe, greife ich zur Feder, um alles, was jemals jemandem im Gedächtnis war, weiterzugeben.

All die Wörter, die ich im Wind gefunden habe.

Dankesrede von Andrej Kurkow zum Geschwister-Scholl-Preis 2022

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow erhielt am 28. November 2022 den Geschwister-Scholl-Preis 2022 für sein „Tagebuch einer Invasion“. Das Buch sei zugleich als „eindringliche Chronik wie auch als kritische Reflexion einer politischen und zivilisatorischen Katastrophe zu lesen, so die Jurybegründung. Die Auszeichnung wird jährlich an ein Buch verliehen, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern.

Der Preis wird vom bayerischen Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gemeinsam mit der Stadt München vergeben.

Hier die berührende Dankesrede von Andrej Kurkow im Wortlaut:

Sehr geehrte Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, den Sophie- und Hans-Scholl-Preis zu erhalten. Ich bin den Mitgliedern der Jury für diese Entscheidung dankbar und nehme diese Auszeichnung an, im Bewusstsein der großen Verantwortung für mein weiteres Handeln.

Wenn Sie heute Abend von oben aus dem Kosmos auf Europa blicken, werden Sie sehen, dass Europa hell erleuchtet ist. Aber es gibt auch einen dunklen, unbeleuchteten Flecken auf seinem Territorium. Das ist die Ukraine. Die Ukraine ist aber kein schwarzes Loch in Europa. Die Ukraine lebt heute wegen der russischen Aggression in Dunkelheit und Kälte. In den meisten ukrainischen Haushalten werden jetzt Kerzen statt Glühbirnen angezündet. Statt fernzusehen oder Radio zu hören, sitzen die Ukrainer jetzt an ihren Küchentischen. Sie trinken Tee und reden über die Zukunft.

Ja, in der Ost- und Südukraine finden schwere Kämpfe statt. Russische Truppen bereiten einen erneuten Versuch vor, Kyjiw von Belarus aus anzugreifen. Das Ende dieses Krieges ist vielleicht noch weit weg, aber viele Ukrainer sind bereits in Gedanken mit Plänen für die Zukunft beschäftigt. Und all diese Pläne beziehen sich auf den Wiederaufbau der von Russland zerstörten Städte und Dörfer, die Wiederherstellung zerstörter Museen, Universitäten, Schulen und Kirchen.

Übrigens brennen jetzt in vielen ukrainischen Haushalten auch Kirchenkerzen. Aber nicht etwa vor Ikonen wie in Kirchen. Wenn einem Dorfladen die gewöhnlichen Kerzen ausgehen, gehen die Ukrainer nicht nur in die Kirche, um für Siege und für ihre Familien zu beten, sondern auch, um von dort Kerzen nach Hause zu bringen.

Leider wiederholt sich die Geschichte viel zu oft. Im Januar 1918 griff der General der Roten Armee, Michail Murawjow, Kyjiw an, die Hauptstadt der damals schon unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik. Er marschierte 1918 auch von Nordosten auf Kyjiw – so wie Putins Armee am 24. Februar dieses Jahres. Am 10. Oktober dieses Jahres feuerte Russland Raketen auf die Straßen des historischen Zentrums von Kyjiw, einschließlich der Wolodymyrska-Straße. Dieselben Straßen wurden im Januar 1918 vom bolschewistischen General Murawjow mit Kanonen beschossen, bevor er die Stadt stürmte. Nach der Eroberung Kyjiws durch die Bolschewiki gab General Murawjow die Stadt zur Plünderung frei, er erlaubte den Soldaten die Bevölkerung Kyjiws zu töten und auszuplündern [mit der Begründung, es handle sich um ukrainische Nationalisten!]. Die Gewalt von damals kann nur mit der Gewalt verglichen werden, die die Bewohner der Städte Bucha, Irpin, Hostomel und Worzel im Februar/März dieses Jahres ertragen mussten. Es sind diese Vororte in der Nähe von Kyjiw, die zu Symbolen des russischen Terrors gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine geworden sind. Dort werden noch immer Bürger der Ukraine gefunden, die von russischen Soldaten gefoltert und erschossen wurden. Dort, in Bucha, wurde Oleksandr Kisljuk, Professor an der Pädagogischen Universität Drahomanov und Übersetzer aus dem Altgriechischen, vor seinem Haus erschossen. Die Werke von Aristoteles in seiner Übersetzung ins Ukrainische werden immer noch in ukrainischen Buchhandlungen verkauft, zusammen mit Büchern anderer Autoren, die in diesem Krieg getötet wurden, wie Ilya Chernilewskyj, Ewgen Bal, Wolodymyr Wakulenko und drei Dutzend anderer ukrainischer Dichter und Schriftsteller.

Aber trotz der Opfer in diesem Krieg planen die Ukrainer weiterhin die Zukunft ihres Landes. Eines der bereits in Umsetzung befindlichen Projekte ist die Restaurierung des alten Gebäudes der Tschernihiwer Regionalbibliothek für Jugend, das von russischer Artillerie zerstört wurde. Dieses Gebäude überlebte den Krieg von 1918-1921, es überlebte den Zweiten Weltkrieg, aber nicht die russische Aggression von 2022. Freunde der Bibliothek wollten anfangen, Geld für die Restaurierung der Bibliothek zu sammeln, aber dann entschieden sie, dass es jetzt wichtiger sei, die Armee mit Spenden zu unterstützen. Aber sie begannen, Bücher für die Bibliothek von Tschernihiw zu sammeln, und wenn das Gebäude nach dem Krieg restauriert wird, wird die Bibliothek neue ukrainische Bücher anstelle der verbrannten Bücher bekommen. Das gilt nicht nur für die Bibliothek von Tschernihiw, sondern auch für viele andere von der russischen Armee zerstörte Bibliotheken.

Auf dem Rückzug aus der Region Cherson plünderten russische Truppen und die Besatzungsverwaltung lokale Museen und nahmen mehr als 15.000 Gemälde und andere Artefakte mit. Aus Cherson wurden alle Archive, einschließlich der historischen, gestohlen. Russland will die Geschichte der Ukraine stehlen und zerstören. Aber das wird sie nicht können. Die Geschichte der Ukraine gehört der Ukraine.

Die Ukraine kennt und schätzt ihre Geschichte. Die Ukraine bewahrt ihr historisches Gedächtnis. Und nur eines kann bei den Ukrainern wie bei den Einwohnern jedes anderen demokratischen Landes Bedauern hervorrufen: dass sich die Geschichte wiederholt. Dass Putin glaubt, das Ergebnis des bolschewistischen Generals Murawjow wiederholen und Kyjiw erobern zu können, ist sein persönlicher Irrglaube. Die Tatsache, dass sein Wunsch, die Ukraine und die Ukrainer zu zerstören, von der großen Mehrheit der russischen Bürger unterstützt wird, ist eine russische Entscheidung und russische Verantwortung. Eines Tages werden ihre Kinder und Enkel das verstehen und für ihre Sünden büßen, aber heute stehen die Russen auf der Seite des Bösen, auf der Seite von Gewalt und Aggression.

Aber die Ukrainer sind heute anders als 1918. Die Ukrainer sind heute bereit, die Unabhängigkeit ihres Landes zu verteidigen, und tun dies erfolgreich. Auch während der Okkupation.

Während der gesamten 9 Monate der Besetzung Chersons operierte in der Stadt die patriotische Untergrundorganisation „Gelbes Band“, deren Mitglieder jeden Tag patriotische Flugblätter und Plakate in der Stadt aufhängten. Sie haben unter hohem persönlichem Risiko russische Fahnen abgehängt und ukrainische aufgehängt. Unter den Aktivistinnen dieser Organisation sind viele Frauen. Eine von ihnen, die 50-jährige Swetlana, erzählte nach der Befreiung der Stadt, dass sie das Haus während der Besetzung nie ohne ein gelb-blaues Band in der Tasche oder versteckt in ihrer Kleidung verlassen habe. Während der Besetzung verbrannte das „Gelbe Band“ Auflagen russischer Propagandazeitungen und zerstörte Bestände an SIM-Karten für Mobiltelefone, die aus Russland mitgebracht worden waren. Sie führten sogar illegale Importe von Sprühdosen mit Graffiti-Farbe durch, und nachts bemalten Cherson-Teenager die Wände von Häusern mit der Erinnerung, dass Cherson Teil der Ukraine ist. All dies geschah während der vollständigen Informationsblockade der Stadt, als es nicht möglich war, mit dem freien Territorium der Ukraine zu kommunizieren. Und das zu einem Zeitpunkt als die russischen Invasoren ständig und immerzu wiederholten: „Die Ukraine hat dich vergessen. Russland wird für immer hier sein!“

Am meisten beeindruckten mich die Flugblätter des Gelben Bandes, auf denen ein einzelner Buchstabe „Ї“ abgebildet war, ein Buchstabe, der zum Symbol des Widerstands wurde, ein Buchstabe, der die Besatzer wütend machte, in Rage brachte. Er wurde auf Wände und auf Säulen gemalt. Der Buchstabe „Ji“ ist ebenso zu einem Symbol des Widerstands geworden wie die gelb-blauen Bänder, die die Bewohner Chersons abends heimlich an Äste banden.

Die Verleihung dieses Ehrenpreises hat mich in die Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus in Deutschland vor und während des Zweiten Weltkriegs zurückversetzt. Sophie und Hans Scholl und ihre Mitstreiter liebten ihr Land, liebten Deutschland und wollten das Beste für ihre Heimat. Sie wollten in einem anderen Deutschland leben, ohne Antisemitismus, ohne Nazi-Ideologie. Sie hatten die Wahl zwischen Konformismus und dem Kampf für ein anderes, demokratisches, vor allem freies Deutschland. Sie entschieden sich für den Kampf. Mit friedlichen Mitteln versuchten sie, die deutsche Gesellschaft mit Worten zu erreichen.

„Man darf nicht nur dagegen sein, man muss etwas tun,“ sagte Sophie Scholl.

Die Ukrainer lernen heute zu gewinnen. Sie kennen den Preis, der für die Freiheit und eine glückliche Zukunft ihrer Kinder und Enkel zu zahlen ist. Sie lernen, dem Bösen und Unrecht zu widerstehen, unter anderem von der Weißen Rose, von Sophie und Hans Scholl und ihren Gleichgesinnten.

„Die Sonne scheint noch,“ sagte Sophie Scholl vor ihrem Tod.

Die Sonne scheint immer noch und wird immer scheinen. Auch im Dunkeln. Sonne der Hoffnung. Die Sonne, die täglich die Dunkelheit besiegt.

Das Engagement und die Aufopferungsbereitschaft von Hans und Sophie Scholl, 80 Jahre nach ihrem Tod, ist ein Beispiel für staatsbürgerliche Verantwortung. Ihr Kampf und ihr Schicksal werden zukünftige Generationen immer inspirieren.

Ja, die Geschichte wiederholt sich. Aber sie wird sich auf beiden Seiten der Front wiederholen. Und wenn eine Seite das alte Böse wiederholt, dann wiederholt sich auf der anderen Seite auch der Widerstand gegen dieses Böse. Und am Ende besiegt stets das Gute das Böse, so wie die Sonne immer die Dunkelheit besiegt.

 

Herzlichen Glückwunsch, Andrej Kurkow zum Geschwister-Scholl-Preis!

Wir bestimmen, wohin die Welt sich entwickelt

Magdalena Baran-Szołtys ist promovierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Sie studierte Germanistik und Slawistik an der Universität Wien, der Jagiellonen-Universität in Krakau und der Universität Breslau und forscht seit März 2021 zu ihrem Postdoc-Projekt „Stories Of/In Transformation – Transformations- und Ungleichheitsnarrative im postsozialistischen Polen“. In unserem Beitrag erzählt sie uns, wie wichtig Literatur für die Erinnerungskultur ist und welche Transformation die Ukraine durchläuft.


© Pamela Rußmann

In deinen Forschungen beschäftigst du dich mit der Beziehung zwischen Literatur und Politik. Wie hängt dies für dich, gerade in Hinblick auf die derzeitige Situation in der Ukraine, zusammen?

Ganz grundsätzlich gilt, dass es keine Literatur ohne Politik gibt, denn Politik bestimmt die Welt, in der wir leben, in der Literatur entsteht und von der sie erzählt. Das ist ein Gemeinplatz, grundsätzlich ist es aber gut, sich das vor Augen zu halten, vor allem in Anbetracht von Künstler*innen und Bürger*innen, die meinen, „neutral“ oder „politisch nicht interessiert“ zu sein oder sich von der Politik abschirmen wollen.

Literatur und Kunst entstehen nicht im luftleeren Raum und ihr Wert besteht im Spiegeln der Realität, im Aufbrechen von Vorstellungen und Imaginieren von Möglichkeiten. Das ist der gesellschaftliche Sinn von Kultur, weit mehr als nur Unterhaltung ist sie der Ort für unsere Ängste und legt den Finger in unsere Wunden. Sie lässt uns Angst und Trauer artikulieren und macht diese zugänglich.

Literatur tröstet uns, gestaltet unsere Deutung der Welt und nimmt damit Einfluss auf unser Handeln sowie den öffentlichen Diskurs.

 

Besonders in Zeiten von großen Erschütterungen wie dem Krieg sind diese Funktionen wichtig. In Krisen ist sinnstiftendes Erzählen essenziell, denn es animiert zum Verstehen und Weitermachen, zum Kämpfen. Wir können uns in ihren Utopien und Dystopien verlieren und lassen uns von ihnen gleichzeitig den Weg weisen.

In der Ukraine sieht man das gerade besonders gut. Schriftsteller*innen sind hier im Kampfmodus. Manche sind an der Front im Einsatz, andere unterstützen die Armen und alle schreiben gegen den Krieg an. Ihre neuesten vom Krieg handelnden Werke sind nicht nur eine Quelle der Dokumentation, sondern vor allem auch eine Quelle der Hoffnung für die ukrainische Bevölkerung. Im Zentrum dieser Werke stehen die Freiheit und der Sinn des Überlebens, des Kämpfens. Dies motiviert, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen. Die Sachen klar zu benennen und zu sehen. Das ist ein politischer Akt.

Ukrainische Kulturschaffende sind zudem die Sprachrohre der Ukraine im Ausland, mit einer klaren diplomatischen Agenda. Durch ukrainische Literatur lernt das Ausland die Ukraine kennen und wird zum Verbündeten. Autor*innen als Intellektuelle sind mit ihren Büchern, Texten und Auftritten die Botschafter*innen des Landes. Das ist ein nicht zu unterschätzendes, politisch sehr einflussreiches Kapital.

Welche Bedeutung hat Kriegsliteratur für die Geschichtsschreibung?

Zunächst muss hier zwischen zwei Sachen unterschieden werden: der Geschichtsschreibung in einem wissenschaftlichen Sinne als Geschichtswissenschaft und der Geschichtsschreibung in einem gesellschaftlichen, viel breiteren Sinne als Gedächtnispolitik bzw. Erinnerungskultur, also der Umgang der Gesellschaft mit der Erinnerung allgemein. Beide bestimmen, was ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben und woran überhaupt erinnert wird. Wir haben es mit Politiken der Erinnerung zu tun. Vieles wird bewusst oder unbewusst vergessen. Den unerzählten Teil der Geschichte muss man mitdenken, denn viele Stimmen bleiben stumm.

In der Erinnerungskultur hat Literatur einen fixen Platz, weil der*die Rezipient*in zu ihr eine emotionale Verbindung herstellt. Während uns Daten oft unberührt lassen, können wir mit literarischen Figuren empathisch sein, mit ihnen mitleiden. Botschaften kommen so besser an und bleiben in unserer Erinnerung, weil sie uns berühren. So kann man uns leichter überzeugen. Nicht zu unterschätzen ist, dass unsere Vorstellung von historischen Ereignissen und Zeiten oft auf Kunst, Literatur oder Film zurückgeht. Oft verbinden wir Geschichte im Kopf unmittelbar mit Bildern, die aus der Kultur kommen. Wenn ich an die Französische Revolution denke, habe ich unmittelbar das Gemälde von Eugène Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“ vor Augen. Beim Ersten Weltkrieg denke ich an „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque. Diese Vorstellungen müssen nicht unbedingt viel mit den historischen Abläufen zu tun haben, aber sie bestimmen unsere Erinnerung daran. Das ist ihre große Wirkmacht. So spielen gegenwärtig die literarischen Texte über die Ukraine eine ausschlaggebende Rolle – sie erinnern uns an den Krieg, geben uns Einblicke und wecken unser Mitgefühl. Gleichzeitig werden sie als Dokumente in die Geschichtsschreibung eingehen und unsere Vorstellung von diesem Krieg prägen.

In deinem Postdoc-Projekt „Stories Of/In Transformation“ beschäftigst du dich mit Transformation und Ungleichheit. Wie siehst du diese zwei Punkte in der Ukraine? Welche Entwicklungen gibt es?

Für die postsozialistischen und -sowjetischen Länder Ostmitteleuropas ist dieses Thema bestimmend. Diese Länder, u.a. eben die Ukraine wurden auch nach 1989 bzw. 1991, dem Jahr der Wende bzw. des Zerfalls der Sowjetunion, vom Westen und Russland nie als ebenbürtig angesehen, sondern als Objekte ihrer eigenen Wirtschaft, Politik und Kultur. Das fühlten auch die Betroffenen und wussten, dass sie aus einer unterlegenen Position agieren. Das russische Volk und ukrainische Volk wurden seit Jahrhunderten als Brudervölker bezeichnet, wobei die Russen sich in der Rolle des großen Bruders sehen. Der Westen sah sich wiederum gegenüber den postsozialistischen Ländern als Erzieher in Sachen Kapitalismus, Konsumtionismus und Demokratie und investierte viel Geld in diese Staaten. Dazu kommt der Antislawismus, ein Rassismus gegenüber den slawischen Völkern, der im Westen immer noch weit verbreitet ist. Die Konsequenzen dieser historischen Entwicklungen sehen wir heute.

Die Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus vergrößerte überdies die sozioökonomische Ungleichheit in der Bevölkerung. Es gab zahlreiche Menschen, die ihr Vermögen und ihre Freiheit vergrößern konnten, doch für eine größere Anzahl war es eine sozioökonomische Katastrophe, auch in der Ukraine. Die sozialistischen Länder wiesen weltweit ein sehr niedriges Niveau der Ungleichheit auf. Der Staat versorgte seine Bürger*innen mit dem Wichtigsten: Wohnen, Essen, Bildung etc. Doch musste man auf viele Freiheiten wie Reisen oder vollständige Meinungsfreiheit verzichten. Das Problem vieler ehemals sozialistischen Länder, einschließlich vieler der Erfolgsbeispiele wie Polen, besteht darin, dass die Profite der Transformation so ungleich verteilt sind, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Veränderungen in dieser Form nicht mehr unterstützt.

In der Ukraine war die Situation noch dramatischer: Sie ist eines der sechs postsozialistischen Länder, deren Bruttoinlandsprodukt 2016 unter dem von 1989 lag. Nicht einmal das Kapital, das ungleich verteilt werden könnte, war hier groß. Dazu kommen Probleme wie die Korruption. Die Lage ist deshalb besonders schwierig, da die Ukraine zwischen Ost und West gefangen ist, somit aus geopolitischen Gründen nicht in die NATO oder EU aufgenommen wurde, gleichzeitig aber aufgrund der Geschichte verständlicherweise mehrheitlich keine gemeinsame Politik und Wirtschaft mit Russland mehr haben wollte. Das war eine Pattsituation.

Gibt es etwas, das du den Leser*innen noch mitgeben möchtest?

Nicht aufzugeben, an seine Ideale zu glauben und sich davon in seinem Lebensweg leiten und von der Literatur unterstützen zu lassen. Dies gilt in Zeiten des Friedens wie des Krieges. Wir dürfen nicht auf unsere Werte vergessen, auch wenn es scheint, dass wir dafür einen hohen Preis bezahlen könnten.

Wir bestimmen, wohin die Welt sich entwickelt.

 

Und auch in schwierigen Zeiten gibt es immer etwas, was wir lieben können – unser Leben und die Literatur: „Ich liebe alles, was mir geschenkt ist, ich muss es einfach teilen. Ich muss einfach über die Freude und Bitterkeit, über die Sorge und Melancholie reden. Dazu habe ich tausend Bücher, die ich lesen soll, dazu habe ich das Schreiben.“ Literatur ist und bleibt. Wie diese von Zhadan.

Andreas Grubers Laudatio für Herbert Dutzler, Preisträger des Österreichischen Krimipreises 2022

Herbert Dutzler erhielt den Österreichischen Krimipreis 2022, der bereits zum fünften Mal verliehen wurde. Für seine Laudatio reiste Andreas Gruber, der Preisträger 2021, sogar an den ehemaligen Arbeitsplatz seines Krimikollegen:

Jedes Jahr wird ein Autor, eine Autorin für die Leistungen in der Kriminalliteratur mit dem Österreichischen Krimipreis ausgezeichnet. In den kommenden Jahren werden vermutlich noch Beate Maxian ausgezeichnet werden, Claudia Rossbacher, Wolf Haas, Theresa Prammer, Marc Elsberg und so weiter und so fort … Jetzt gibt es in Österreich ca. 80 Schriftsteller, die Krimis schreiben. Ich weiß, es werden jedes Jahr neue dazustoßen, aber auch einige wegfallen. Aber im Jahr 2098, wenn dann schon wirklich jeder diesen Preis gewonnen hat, wird es dann so sein:

„Der österreichische Krimipreis 2098 geht an jemanden, der eine Krimi-Kurzgeschichte von 3 Seiten als Self-Publisher im Netz hochgeladen hat.”

Im Jahr darauf:

„Der österreichische Krimipreis von 2099 geht an jemanden, der ein Gedicht über einen True-Crime-Fall verfasst hat.“

Irgendwann einmal werden uns die guten Autorinnen ausgehen. ABER … und jetzt kommt das ABER: Man muss es schaffen, unter die Top Ten zu kommen. Und nach Thomas Raab, Ursula Poznanski und Alex Beer hast du es, lieber Herbert, sogar unter die ersten fünf geschafft.

Du blickst jetzt schon auf ein beachtliches Gesamtwerk zurück. Bis vor kurzem warst du ja noch Lehrer und dein erstes Buch „IT-schülertaugliches Material für den Unterricht an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz“ war jetzt nicht der große Bestseller – wurde mir berichtet … Aber … in „Bär im Bierkrug, Gott und Teufeleiner Sammlung von 14 Krimi-Kurzgeschichten – und du hast ja schließlich mit Kurzgeschichten begonnen –, lesen wir abwechselnd Grausiges, Tiefsinniges, Spannendes und Humorvolles mit viel Wortwitz, und das auf einer Almhütte, einem Adventmarkt, am Schulhof, bei einer Gartenschau, in einer Tanzschule oder während einer Zugfahrt.

Du hast auch vier – ich würde sagen psychologisch tiefsinnige, teils autobiografische, teils kriminalistische, belletristische Romane verfasst – auf die wir später noch zu sprechen kommen. Und schließlich …

… deine neun Gasperlmaier-Kriminalromane

… aus dem Altausseer-Land. Eigentlich 10, denn nächstes Jahr ist das Gasperlmaier-Jubiläum, und da erscheint „Letzter Tropfen“.

Die Filmreihe ist kürzlich mit der dritten Servus-TV-Verfilmung durchgestartet, die die Bücher auch in der richtigen Reihenfolge bringen – was nicht immer eine Selbstverständlichkeit ist. Gasperlmaier wird diesmal zwar von einem anderen Schauspieler gespielt, aber Ian Flemings James Bond hat schließlich auch mehrere Schauspieler. Und wenn Cornelius Obonya Sean Connery ist, dann ist Johannes Silberschneider jetzt Roger Moore. Ich habe alle drei Filme gesehen und ich habe im 1. und 3. Teil auf einen Cameo-Auftritt von dir á la Alfred Hitchcock gewartet, aber leider vergeblich. Aber dafür warst du zumindest im 2. Teil vertreten, als Polizist grandios, und hättest mit deinem Auftritt, trotz fehlender Sprechrolle, Cornelius Obonya fast an die Wand gespielt. Und jetzt noch vom TV-Star zum Krimi-Preisträger.

In einem Interview hast du Folgendes gesagt:

„Die Reise begann 2008, als meine erste Kurzgeschichte in einer Krimi-Anthologie eines Kleinverlages erschien. Und heute, zwölf Jahre danach, bin ich beim österreichischen Krimipreis angekommen, ein Ziel, das mir bisher so utopisch erschien wie einem Gelegenheitsradler die Fahrt auf den Großglockner. Ich hätte nie gedacht, dass meine Romane einmal preiswürdig werden würden und bin entsprechend gerührt. Ich hoffe allerdings – trotz der mir zuteil gewordenen Ehre – sehr, das Ziel der zuvor erwähnten Reise noch nicht erreicht zu haben!”

Lieber Herbert, ich kann dich beruhigen. Jetzt, wo du seit 2022 im Lehrer-Ruhestand bist, jetzt, wo du hauptberuflich Schriftsteller bist und nicht mehr Nebenerwerbs-Schriftsteller und Teilzeit-Autor, der während zweier Sabbaticals schreiben musste, geht es erst so richtig los mit dem Schreiben. Und dann hast du ja vielleicht auch Zeit für einen weiteren Cameo-Auftritt im 4. und 5. Teil und in allen, die noch kommen werden.

Und dieses Thema finde ich wahnsinnig interessant: Du warst Deutsch- und Englisch-Professor am Bundesrealgymnasium Schloss Wagrain in Vöcklabruck. Als Herr Prof. hast du in einem Schloss unterrichtet! Ich habe im Internet entdeckt, dass dir eine ehemalige Schülerin Folgendes geschrieben hat:

Daniela Hansl: „Soeben erfahre ich in den Medien, dass mein einstiger Englischlehrer seinen Lebenstraum erfüllt hat und Autor geworden ist. An diese Zukunftsvisionen kann ich mich noch ganz genau erinnern. Dazu gratuliere ich Ihnen sehr herzlich und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg.“

Also du hast schon damals von deiner Vision erzählt, Autor werden zu wollen.

Regina Ahammer: „Ich erhielt durch Zufall vor einigen Tagen Ihr Buch „Letzter Kirtag“ von meinem 86-jährigen Großonkel und er meinte: Regina, dieser Krimi von Herbert Dutzler, den ich da gerade lese, der ist echt gut geschrieben! Nachdem ich mir gedacht hatte, dass mein ehemaliger Englisch-„Prof“ so hieß, und dies dann auch noch durch Ihr Bild auf der Rückseite des Buches bestätigt wurde, musste ich es natürlich sofort lesen! Jedenfalls gratuliere ich Ihnen zu diesem gelungenen Werk, welches trotz der kriminalistischen Story doch so authentisch mit Ihnen selbst ist, und möchte Ihnen sagen, dass ich stolz bin, dass Sie mal mein Lehrer waren. Damals hielt man „plötzlich auf Schüler fliegende Kreiden“ noch nicht für Schülermisshandlungen, sondern gerade an solche erinnere ich mich noch gerne lachend zurück …“

Du hast mit Kreide auf deine Schülerinnen geschossen?

Jemand, der im Internet einen alten Deutschen Orden als Profilfoto hat, hat auf deiner Webseite Folgendes geschrieben:

„Hallo, so viel Lobhudelei kann man kaum ertragen. Habe soeben den „Letzten Stollen“ abgeschlossen. Erstens heißt es „Pfiat Enk!“ und nicht „Pfiat Euch!“, zweitens ist die ewige Biersauferei vom Gasperlmaier auf die Dauer albern. Und schließlich hätt ich schon gern gewusst, was zum Geier die Flacherdler bitteschön mit den „Rechten“ zu tun haben? Schmarrn! Aber vielleicht kommt ja endlich ein Krimi-Autor mal wieder ohne Seitenhiebe auf Nicht-Linke aus. Zu hoffen wär’s …“

Wenn mir das passiert, gehe ich sofort in die Diskussion, ich verteidige mich, ich rechtfertige mich und sage: „Ja, aber … ich schreibe nicht nur Kritik gegen Rechte, auch gegen Linke!“ Er antwortet: „Ja, aber …“ Ich antworte wiederum: „Ja, aber …“ Und das wiegelt sich dann zu einer Katastrophe auf.

Was macht der Herr Dutzler? Er schreibt kurz und prägnant:

„Wer einen Naziorden als Profilfoto verwendet, disqualifiziert sich selbst.“

Und zwar hast du das am 12. Februar 2019 um 8.41 Uhr geschrieben. Das war ein Dienstag. Und zwar waren da keine Semesterferien, denn die haben in OÖ erst am 18. Februar 2019 begonnen. Wahrscheinlich hast du das in der kleinen Pause zwischen erster und zweiter Unterrichtsstunde, flott im Konferenzzimmer, geschrieben.

Und weil mich dieses Thema so fasziniert hat – der Lehrer Prof. Dutzler –, habe ich an deiner ehemaligen Schule angerufen …

… und zwar im Schloss Wagrain in Vöcklabruck. Irena Marjanovic vom Sekretariat war dran. Die ist neu und noch nicht so lange an der Schule. Ich habe gesagt: „Mein Name ist Andreas Gruber, und der Herr Professor Dutzler bekommt dieses Jahr den Österreichischen Krimpreis verliehen, und ich darf die Laudatio halten. Ich möchte gern über ihn recherchieren.“ Und sie hat geglaubt, das ist Gernot Kulis, der Ö3-Call-Boy. Meine Anfrage wurde dann an den Herrn Direktor Manfred Kienesberger weitergeleitet, der hat dann mit der Personalvertreterin gesprochen. Die haben Kontakt mit mir aufgenommen.

Am Tag der offenen Tür, Samstag, 22. Oktober, also letzte Woche, bin ich nach Vöcklabruck gefahren, um mit Lehrern und Schülern über dich zu sprechen.

Einige ehemalige Mitschülerinnen sind selbst, wie du später auch, Lehrer geworden und auch einige Schülerinnen, die du unterrichtet hast, sind mittlerweile auch Lehrerkolleginnen geworden. Mit denen habe ich gesprochen. Und so hatte ich eine breite Quelle an Recherchen angezapft, um mehr über dich zu erfahren.

Kurzer Einschub: Herbert und ich haben uns übrigens letzte Woche in Innsbruck beim Tiroler Krimifest getroffen, und in einem Pub geplaudert. Und zu diesem Zeitpunkt wusste ich schon alles über ihn, musste mich aber dumm stellen.

Völlig naiv habe ich ihn gefragt: „Du hast doch früher unterrichtet, oder?“ Und mehrmals wäre mir fast ein „Ja, richtig, das weiß ich eh!“ herausgerutscht.

Das ist übrigens noch nicht die Laudatio. Das ist das Vorwort. Das ist die Einleitung. Der Prolog. Die Laudatio kommt noch.

Und da sind wir auch schon beim Thema: Einer deiner Lieblingsautoren ist der schottische SF-Autor Iain Banks. Vielleicht bist du – als Sci-Fi-affiner Mensch – auch ein bisschen mit dem Film Matrix vertraut. Neo, der von Keanu Reeves gespielt wird, werden zwei Pillen angeboten: eine rote und eine blaue. Die blaue führt ihn zurück in seine heile Welt, in die Illusion, die rote Pille zeigt ihm schonungslos die Realität. Er muss sich für eine entscheiden. So … und ich habe zwei Reden vorbereitet. In einem roten und in einem blauen Kuvert! Wie heißt die Mehrzahl von „Laudatio“? Richtig, Herr Professor, Laudationes. Ich musste im Duden nachschauen!

In einem Kuvert befindet sich eine Laudatio über deine herausragenden schriftstellerischen Leistungen. Im anderen Kuvert befindet sich die schonungslose Wahrheit über den Professor Herbert Dutzler, wie er wirklich ist, erzählt von seinen ehemaligen Schülerinnen und Lehrerkollegen. Ich weiß nicht, wo was drinnen ist! Ich habe es blind eingepackt. Du musst dich entscheiden! Es tut mir leid … es ist …

© Fotowerk Aichner

Die schonungslose Wahrheit über Herbert Dutzler

Du bist geboren in Schwanenstadt und wohnst dort in deinem Elternhaus. Du hast in deiner Kindheit die Ferien in Altaussee verbracht, ca. 1 Std. entfernt, wo deine Gasperlmaier-Romane spielen. D.h. das Setting deiner Romane sind autobiografische Erinnerungen an deine Kindheit. Du war selbst kein Lehrerliebling, hast im BG Vöcklabruck ein Jahr wiederholt. Und Undemokratisches hat dich bereits als Schüler auf die Palme gemacht. Du warst immer ein loyaler Schulfreund und später auch ein loyaler Kollege, der zu seinem Wort gestanden hat. Du hast deine Frau, die Uli, noch als Schüler an der Schule kennengelernt, die dann später auch Lehrerin wurde und Mathe unterrichtet. Ende der 80er hast du deinen Schülerinnen am Pensi, dem Gymnasium in Gmunden, Ort der Kreuzschwestern, eine reine Mädchenschule, schon erzählt, dass du eines Tages einen Roman schreiben möchtest.

Du warst ein fortschrittlicher Lehrer, hast vom Erlebnisaufsatz Abstand genommen und bereits Zeitungsartikel im Unterricht verwendet. Du hast deinen Schülerinnen H.C. Artmann vorgelesen. Und später deine jungen Kolleginnen im Umgang mit dem Computer geschult, wie man z.B. mit PowerPoint Filme macht. „Was will uns dieser alte Dattel beibringen?“, haben deine jungen Kolleginnen zunächst gedacht, dann aber nur so gestaunt, wie fit der Herr Prof. ist. Leider waren deine Schulungen aber erfolglos, denn sie können heute immer noch nicht mit dem PC umgehen.

Und nebenbei bemerkt: Im Konferenzzimmer schaut es schrecklich aus. Alles voll geräumt, kein Platz!

Du hast Sprachreisen organisiert. Du hast Lese-Beweismappen eingeführt. Und warst der erste Professor, der auf Laptop umgestellt hat, wodurch deine Kolleginnen im Konferenzzimmer an ihren engen Schreibtischen mehr Platz hatten – und wie ich mich selbst davon überzeugen konnte, haben die ihn dringend notwendig. Du warst ein effizienter Arbeiter, immer gut strukturiert, gut organisiert und sehr diszipliniert.

Das hast du auch von deinen Schülerinnen verlangt. Du wolltest den Kindern kritisches Denken beibringen. Vor allem auch gutes Benehmen. Wobei … ich denke da nur an die fliegende Kreide!

Du bist in der Kommunikation wahnsinnig effektiv. Du bringst es auf den Punkt und bist kein Dampfplauderer. Du hast die Pausen stets in der Lehrerküche verbracht, und dort warst du der Einzige, der es geschafft hat, in nur fünf Minuten alles zu erfahren, was du wissen wolltest, um danach wieder pünktlich in der Klasse zu sein. Du bist neugierig und interessiert, und du hast gern diskutiert.

Ja, das stimmt, denn man kann mit Herbert Dutzler keinen Smalltalk führen. Das ist unmöglich! Wenn man ihn trifft und fragt: „Wie war die Fahrt nach Velden?“

  • Landet man bei der Verkehrspolitik der ÖBB

Wenn man nebenbei erwähnt: „Zum Glück ist heute ein schönes Wetter.“

  • Landet man beim Klimawandel.

Das ist das Schöne an dir. Du bist an den wichtigen Themen des Lebens und der Gesellschaft interessiert.

Bei Maturareden und offiziellen Anlässen, wo du übrigens sehr launige Reden hältst, trittst du immer gern in Lederhose auf. Als du einmal viel Gewicht abgenommen hast, und du dir deine Lederhose enger hast machen lassen, hattest du Bedenken, dass sie dir vielleicht später einmal nicht mehr passen könnte. Aber bei Recherchen hast du herausgefunden … ich zitiere dich selbst: „Der Hintern wird bei alten Männern nicht mehr größer!“ Ein schöner Aphorismus!

Du warst einmal sehr stolz, als dich ein Schüler um ein Autogramm gebeten hat. Dann hat er allerdings gesagt: „Vielen Dank, das ist für meine Oma!“

Du war ja mehrmals beim ORF eingeladen, einmal aber als „Stargast“. Wenn du Hausarbeit daheim machen solltest, willst du dich oft davor drücken, weil du ja ein „Stargast“ bist, aber das lässt die Frau Dutzler, die Uli, nicht zu. Weiter so, Frau Dutzler! Das ist der richtige Weg, mit Star-Autoren umzugehen!

Einmal wurdest du von einem Kollegen gefragt: „Sind dir die Lesungen nicht langweilig?“ Und deine knappe und präzise Antwort war: „Im Vergleich zur Schule sind Lesungen viel besser, weil:

  • man sich nur 1 x vorbereiten muss,
  • immer das Gleiche liest,
  • man das Honorar nimmt
  • und am Ende wird applaudiert.“

Auch ein schöner Aphorismus!

Alle deine Kolleginnen erkennen in den Romanen schulische Situationen aus dem Konferenzzimmer wieder. Die Kolleginnen unterhalten sich dann darüber in der Lehrerküche. Und sie haben nach den ersten beiden Bänden kritisiert, dass in deinen Gasperlmaier-Romanen zu viel Busen-Schauen vorkommt. Du hast versprochen, dass du den Gasperlmaier in Therapie schickst. Aber darauf warten deine ehemaligen Kolleginnen immer noch.

Ich soll übrigens die Namen der Kollegen bei der Laudatio nicht erwähnen, darum haben sie mir auch nicht verraten, wie sie heißen … Aber! Aber es war ja „Tag der offenen Tür“, als ich dort war, und die hatten alle Planketten und Namensschilder an der Kleidung. Wir Autoren sind ja halbe investigative Journalisten. Also wenn du wieder einmal nach Vöcklabruck kommen solltest, verrate ich dir, wen du aller auf ein Achterl einladen musst. Ich soll jedenfalls ganz liebe Grüße von allen ausrichten.

So, wir haben noch fünf Minuten Zeit, schauen wir rein, was in der Laudatio steht:

Die Gasperlmaier Krimis …

Mag sein, dass Inspektor Franz Gasperlmaier unter Höhenangst und Flugangst leidet, ein Ermittler ist, der sich von einem Fettnäpfchen zum nächsten rettet, und der lieber bei einem Bier oder Obstler und einer Leberkäsesemmel beim Kirtag sitzt, und lieber den üppigen Damen nachschaut, als einen Mordfall zu ermitteln – aber genau deshalb gibt es ja die kluge und toughe Frau Dr. Kohlross vom Bezirks-Polizeikommando Liezen, selbstsicher und elegant in Highheels, die die Ermittlungen forciert, wodurch die beiden ein humorvolles Team bilden. Wenn Dr. Kohlross ein Porsche ist, dann ist Gasperlmaier ein VW-Käfer – aber manchmal braucht man beides, um vorwärts zu kommen.

Außerdem ist Gasperlmaier mit der intelligenten und scharfsinnigen Christine, die übrigens auch Lehrerin und Schulleiterin im Ort ist, verheiratet. Dann gibt es auch noch seine kluge und engagierte, aber manchmal auch zickige Tochter Katharina, die später auch noch eine Lebensgefährtin bekommt. In Gasperlmaiers Welt dominieren also die starken Frauenfiguren. Und er selbst ist ein normaler und warmherziger Mensch, der versucht, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Die Figuren entwickeln sich in Dutzlers Reihe weiter – Gasperlmaier wird Postenkommandant, er bekommt eine neue junge Kollegin, Kohlross bekommt ein Baby, seine Tochter eine Lebensgefährtin, Sohn Christoph wohnt in Kanada, Gasperlmaiers Frau nimmt ein Sabbatical und besucht ihn … so ist immer was los in den Büchern.

Sein Können beweist Dutzler u.a. auch im Zeichnen schräger Nebenfiguren, wie dem Gerichtsmediziner, dem das Fingerspitzengefühl fehlt, dem Dorfpfarrer, der ein Verhältnis mit einer Lehrerin hat oder einer lästigen Reporterin. Er schaut den Menschen aufs Maul und schreibt die Dialoge so, wie die Menschen reden. Natürlich leben die Romane vom Lokalkolorit, aber es fehlt auch nicht an scharfer, bissiger Kritik an der so scheinbaren dörflichen Idylle, ohne dass Dutzler jemals belehrend wirkt.

Würde man Herbert Dutzler aber nur auf seine Gasperlmaier-Romane reduzieren – die zwar den Großteil seines Schaffens ausmachen, aber eben nicht alles sind – würde man ihm keinesfalls gerecht werden. Es steckt noch viel mehr in diesem brillanten Erzähler.

InDie Einsamkeit des Bösen

beschreibt Dutzler die schreckliche Kindheit von Alexandra, die auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, was fast einem Martyrium gleicht. Viele Zeit später, als erwachsene Frau, nach Jahren der Hin- und Her-Gerissenheit zwischen Gewalt und Schuldgefühlen, beginnt ihre Fassade langsam zu bröckeln und die Wut ihrer Kindheit bricht hervor.

Am Ende bist du still

In diesem psychologischen Krimi nimmt uns Herbert Dutzler mit in den Kopf und in die Gedanken einer jungen Frau, die unter der großen omnipräsenten Liebe ihrer Mutter, einer kontrollsüchtigen Herrscherin, leidet, sodass sie beschließt, sich zu befreien und diese zu töten.

InDie Welt war eine Murmel

nimmt uns Herbert Dutzler, ausgehend von einer Rahmenhandlung, die in der Gegenwart spielt, mit auf eine Zeitreise in das Jahr 1968, als der zehnjährige Sigi – im selben Jahr geboren wie Dutzler selbst –, mit dem Zug in die Schule fährt, Karl May liest, am Bach hinter dem Haus spielt und die Welt entdeckt. Sigi erinnert sich an die Aufnahmeprüfung aufs Gymnasium und an die Zeit, wo er von seinen Mitschülern verdroschen wurde. Höchstwahrscheinlich sehr autobiografisch – doch letztendlich steckt in uns allen, die diese Zeit miterlebt haben, ein wenig von Sigi.

In der Schlinge des Hasses

… ist der beklemmende Blick in den Kopf des kleinen Jungen Leo, der durch seine Erziehung und sein äußeres Umfeld zu einem hasserfüllten, rechtsradikalen Mörder wird. Fazit des Romans: Faschisten werden nicht geboren, sondern gemacht.

Dadurch dass Herbert Dutzler Lehrer im Ruhestand ist, war er fast 40 Jahre mit dem Thema konfrontiert, wie Menschen sich entwickeln, und wodurch Menschen sich entwickeln. Wie man diese Entwicklung prägen und manipulieren kann. Das zwischenmenschliche Spiel zwischen Jugendlichen und zwischen Kindern und Erwachsenen ist eines der großen Themen in seinen Romanen abseits der Gasperlmaier-Krimis. Er ist ein Beobachter der menschlichen Psyche und entdeckt und beschreibt Ursachen der Welt, wie sie ist und warum sie so ist.

Wie entsteht Hass? Wie wird man zu Psychopathen? Wie wird man zur Mörderin?

Die Antworten darauf findet man in Herbert Dutzlers Romanen, in denen er facettenreich die Emotionen seiner Figuren auslotet.

Dutzler erzählt in vielen Rückblenden, Erinnerungen, Rahmenhandlungen, zeitlich verschobenen Handlungssträngen oder kursiven Einschüben, teils in Ich-Form, teils in der dritten Person. Und es bleibt dabei immer spannend, interessant und lehrreich. Die Romane sind dadurch nicht nur inhaltlich, sondern auch formal abwechslungsreich.

Lieber Herbert, ich wünsche dir, dass du dir deine Neugierde, deine Beobachtungsgabe, dein Interesse am Menschen, deine Faszination für Sprache, Text und Geschichten, deinen Erfindergeist, deine Inspiration, Kreativität und Schaffensfreude noch lange beibehältst, und du – obwohl du den Krimi-Preis gewonnen hast, wie du selbst sagst – noch nicht am Ende deiner literarischen Großglockner-Tour angekommen bist. Mögen noch viele Jahre ins Land ziehen, bis du am „Letzten Gipfel“ angekommen bist und dein „Letztes Kapitel“ geschrieben hast.

Danke!

Lyrik, die Herzen mit Wucht trifft und verändert: Interview mit Anja Bachl

© Theresa Wey

Leise Töne, zarte Erschütterungen, aber auch Selbstbewusstes, das mutig in die Welt schreit. Anja Bachl wird weich, lässt uns weich werden, verortet sich selbst und stellt gleichzeitig fest, dass wir uns nicht verorten lassen. Mit ihren Texten verstehen wir, wer wir sind und was uns als Menschen ausmacht.

Wir haben mit der Autorin und Kunsttherapeutin über ihr Leben und ihren Gedichtband „weich werden“ gesprochen. Im Interview betont Anja Bachl, wie wichtig es ist, einfühlsam zu sein. Sie spricht über ihre Erfahrungen mit dem Mental Load als getrennt Erziehende und welche Dinge im Arbeitsalltag wirklich wichtig sind.

 

Deine Gedichte sind sehr eindringlich, treffen uns genau dort, wo wir uns oft nicht trauen, hinzuhören. Wie entstand die Idee zum Gedichtband?

Erst einmal Dankeschön für das feine Feedback! Das ist tatsächlich etwas, das mir am Herzen liegt – das Thematisieren und mich nicht scheuen, in Thematiken einzutauchen und diese dann in Formen zu legen.

Die Idee entstand aus zwei Motivationen heraus. Zum einen habe ich eines Abends angefangen, meinen vollen Kopf zu entleeren, indem ich dieses Erleben, die Gleichzeitigkeit der Dinge, dieses viele Fühlen und Denken und das an Grenzen Stoßen zu versprachlichen. Die Gedichte waren mir ein Ventil, um mich zu orientieren oder mich auszuschütten, mich zu positionieren.

Zum anderen wollte ich es bei „weich werden“ einfach wissen: Wo stehe ich mit meinem Können ungefähr, was schaffe ich wie anzuwenden, welche Bögen sind spannbar? Ich hatte Lust, an etwas länger zu feilen und diese fancy Disziplin anzuwenden, von der alle reden. Zumindest meine eigene Version davon, die so geht: Ich schäle alle möglichen Schichten an Bewertungsstrukturen und deute und erstelle mich, abseits von starren und kurzsichtigen Mustern. Bleibe dran, ohne mich anzuleinen.

 

„If they cannot love and resist at the same time, they probably will not survive.” – Audre Lorde*
Dieses Zitat hast du für dein neues Buch gewählt. Warum genau dieses? Welche Verknüpfungspunkte hast du dazu?

Dieser Satz, so wie ich ihn deute oder verstehe, definiert für mich etwas, das in „weich werden“ eine tragende Rolle spielt: lieben und Widerstand leisten als ein Gleichzeitigkeitsprinzip, das sich bedingt. Wir brauchen die Liebe, das Zarte, das Weiche, um über das Fühlen zu einer Kraft zu kommen, zu einer Wut, zu einer Stärke, die uns mobilisiert und antreibt, für ein Leben einzustehen, das nicht vorrangig für eine Mehrheitsgesellschaft und für weiße Männer mit Macht funktioniert.

Von Audre Lorde durfte und darf ich da viel lernen. Ich sehe dieses Zitat auch als Erinnerung, besonders an weiße Feminist*innen, also auch an mich, nicht stehen zu bleiben bei einem „das ist ein schönes Zitat“, etwas Performativem, sondern es als meine Verantwortung zu verstehen, aktiv zu werden und zu handeln.

 

Der Titel und die Gedichte deines Buches greifen ein Thema auf, das in der heutigen Gesellschaft oft ausgekapselt wird: Einfühlsamkeit, das weich werden von Menschen. Warum genau dieses Thema?

Verletzlichkeit, Offenheit und Fühlfähigkeit haben eine unglaubliche Kraft, Prozesse ins Rollen zu bringen und eigenes Involviertsein einerseits griffig zu machen und andererseits zu transformieren und zu kontextualisieren. Wenn du sagst, das Thema wird gesellschaftlich oft ausgekapselt, dann stimme ich dir insofern zu, als dass Sensibilität und Durchlässigkeit immer wieder als Eigenschaften interpretiert werden, die es von Stärke oder Resilienz zu überwachsen lassen gilt. Was ein Trugschluss ist. Denn Nahbarkeit, sich selbst und seiner Umwelt gegenüber, ist eine wilde Ressource, die es uns ermöglicht, eine emphatische Sicht zu etablieren und so Verständnis zu lernen. Und dieses Verständnis und Wissen über Vorgänge ist wiederum ein sperrender Schlüssel in Bezug auf Diversität und wie viel Sinn es macht, Menschen ihre Facetten, ihre Unterschiedlichkeit zu lassen. Das Aufmachen verkrusteter Denkdynamiken macht uns nahbarer und so empfänglicher für Entwicklung. Widerstandskraft ist nicht das Fernbleiben von Emotion, das sofort wieder Aufstehen oder das Hartwerden, im Gegenteil. Sie ist die Fähigkeit Zusammenhänge herzustellen und sanft mit sich zu sein, hinzuhorchen und an Situationen zu wachsen. Das tun wir nicht, wenn wir spalten, da verschieben und verdrängen wir nur. Weich zu werden meint eben auch die Überzeugung, sich als Ganzes zu verstehen und uns verletzlich zu zeigen – wider diesen absurden Duktus einer objektifizierenden Gesellschaft und dem immerwährenden Appell an Funktionsfähigkeit zum Trotz. Mensch kann es als einen revolutionären Akt verstehen, weil sich für Verwundbarkeit und Spüren zu entscheiden etwas mit Entgegensetzen und Solidarität zu tun hat.

 

Du bist Autorin und Kunsttherapeutin. Wie sieht dein Alltag momentan aus? Was ist dir in deiner Arbeit besonders wichtig? Was bedeutet Schreiben für dich?

Gerade versuche ich mein Berufsleben noch mehr entlang meiner Fähigkeiten und meiner Passion zu formen, das bedeutet, ich schreibe viel, suche mir Aufträge und lasse mich für Aufträge finden. In der Arbeit als Kunsttherapeutin spezialisiere ich mich auf Mental Load, Care-Arbeit und alternative Familienmodelle. Das heißt, mein Alltag ist gerade ein arbeitsreicher, ein emsiger, einer voller Ideen, eigener Struktur und bewegt Sein.

Die Frage nach Dingen, die mir in meiner Arbeit besonders wichtig sind, hat auch viel mit Wünschen, Möglichkeiten und Privilegien zu tun. Ich weiß sehr genau, was mich mit Freude erfüllt, was ich gut kann oder worin ich aufgehe. Dem kann ich mal mehr, mal weniger nachgehen. Ich habe viele Jahre wenig geschlafen und unzählige Stunden gearbeitet, an verschiedenen Stellen. So entlang der Bedürfnispyramide Vorstellungen wachsen lassen. Als Erstes muss halt einfach Einkommen gesichert sein, die Fixkosten bezahlt werden können. Das ist mir primär wichtig, meine Miete bezahlen zu können und meinem Sohn eine Winterjacke. Es ist eine Illusion zu glauben, Mensch kommt als getrennt Erziehende, Studierende, pflegende Angehörige mit ausreichend Schmalz und Power und Willen, oder wie all diese toxic heuchlerischen Positiv-Mantren heißen, als Konsequenz des Fleißes an einen Punkt, wo man richtig gestalten kann. Es ist eine Systemschwierigkeit, die es manchen Menschen schlichtweg nicht ermöglicht, sich die Frage stellen zu können, wie sie wo und wieviel arbeiten wollen. Ich betone das, weil ich mir diese Frage, also das „Was ist mir besonders wichtig?“ zwar schon lange stelle und auch beantworten kann, es für die Durchführung aber nochmal mehr als die reine ausgeklügelte Theorie braucht. Das heißt, nach Miete und Jacke gehe ich auf in einer Arbeit, wo ich in Resonanz gehen kann, mit Menschen und ihren Themen. Bestmöglich biete ich also etwas an, das da draußen widerhallt, nachhallt und weitergesponnen wird. Des Weiteren ist es für mich wichtig, mich weiterzubilden und nicht unflexibel zu werden, mich einzusetzen und Freude zu haben an dem, was ich tue. Wenn ich nämlich Freude habe und die Möglichkeit, auf meine Grenzen zu achten, dann kann ich intensiv und effektiv arbeiten, ohne am Ende des Tages nur mehr eine Hülle zu sein.

Schreiben bedeutet für mich atmen und mich neu erfinden und mich wieder fassen und aus den Winkeln hervorzukramen und schreiben bedeutet für mich, mich ordnen und die Zügel zu verräumen. Schreiben ist mein Ventil und mein Werkzeug, der Versuch, über das Konkretisieren zu verstehen und die Gelegenheit, das Spiel und die Leichtigkeit nicht zu verlernen. An manchen Tagen sage ich „Schreiben, das kann ich halt!“ und an manchen Tagen sage ich „Kann ich überhaupt schreiben?“. Aber eines ist sicher. Ich muss.

 

Deine Gedichte legen einen Teil von dir selbst offen. Wie findest du die Kraft, dich immer wieder mit dem auseinanderzusetzen, was vielleicht auch schmerzhaft sein kann/ist? Wie bleibst du dabei in Kontakt mit dir selbst?

Das Ziehende, das Zerschmetternde und das Zerrüttende ist zwar nicht das lässigste Life, das stimmt, es schmerzt sich auf die Bruchstellen und die mürben Tage einzulassen, beziehungsweise sie einfach sein zu lassen. Aber schlussendlich bleibt uns nichts anderes übrig. Denn das ist es nun mal, dieses Leben. Ein Sammelwerk aus all the feels. Zum einen habe ich für mich überhaupt keine andere Wahl, denn ich kann nicht erfolgreich verdrängen, ohne, dass es dann an einer anderen Stelle herausquillt. Also. Themen finden schon ihren Weg durch das Gestrüpp. Mensch kann vielleicht vertagen oder in Dosen Dingen ins Gesicht schauen. Aber wegschieben, das geht nur temporär. Andererseits bin ich ein Fan einer Idee von Menschsein, die nicht ausklammert, sondern integriert und bindet. Das bedeutet nicht, alles muss Sinn ergeben oder solche Trugschlüsse. Nicht jeder Schmerz macht uns widerstandsfähiger, das ist eine Mär und eine nette Masche von irgendwelchen Esoteriken. Was wir lernen können, ist, Strategien und Mechanismen zu finden und zu etablieren, ganz individuelle, die uns helfen, mit Dingen umzugehen. Vielleicht, damit sie weniger kratzen oder offene Stellen hinterlassen. Damit nicht Erfahrungen und die Gefühle dazu uns herumreißen, sondern wir selbst verstehen, was vor sich geht, und so über Wasser bleiben. Kunst und Kreativität hat sich für mich da auch bewährt als Kitt, als Verständnismaschine, als Übersetzerin und als Methode, zu realisieren, zuzulassen, gehen zu lassen oder mich ins Jetzt zu holen. Mich kostet es viel mehr Kraft, mich nicht auseinanderzusetzen mit der Welt, der inneren und der äußeren. Es ist viel schmerzhafter für mich, Augen zu kneifen, als Augen zu öffnen.

Ich bleibe durch pragmatische Komponenten in Kontakt mit mir selbst, ich brauche ausreichend Schlaf, genügend Frischluft, Zeit für mich, Zeit für meine Liebsten, Austausch und Rückzug, Sonne und Humor. Um mich nicht zu verlieren, brauche ich finanzielle Sicherheit, Leichtigkeitsinseln, Liebe und Verständnis. Ich achte sehr bewusst darauf, diesen Kontakt zu mir erstens zu sichern, oder ihm möglichst nahe zu kommen, und zweitens ist es kein starres System, sondern etwas Bewegliches, Fluides, Organisches, das ich immer wieder neu hinterfrage und dem ich immer wieder neu begegne.

Liebe Anja, herzlichen Dank für das Gespräch und den sehr persönlichen Einblick in dein Denken.

*Audre Lorde war eine US-amerikanische Dichterin und Aktivistin und beschrieb sich mit folgenden Worten: „Ich bin schwarz, lesbisch, Feministin, Kriegerin, Dichterin, Mutter“. Durch ihre das Leben beobachtenden Gedichte und Essays wurde sie zu einer der wichtigsten Theoretikerinnen der Frauenbewegung.

„Ein seltenes Buch. Von einer seltenen Autorin.“ – Laudatio an Marlen Pelny

Was ist das, „Liebe“? Was macht sie mit uns? Marlen Pelny hinterfragt das Glücksversprechen hinter gesellschaftlichen Idealen und zeigt, dass sich diese Offenheit lohnt. Für ihren Roman „Liebe / Liebe“, der 2021 bei Haymon erschienen ist, wurde die Autorin kürzlich mit dem Klopstock-Förderpreis ausgezeichnet.

Seit 2015 verleiht das Land Sachsen-Anhalt jährlich den „Klopstock-Preis für neue Literatur“ und den „Klopstock-Förderpreis”, der sich an Nachwuchsautor*innen aus Sachsen-Anhalt richtet, deren Debüt bundesweit Beachtung gefunden hat. Nina Gruber vom Haymon Verlag hielt bei der Verleihung diese sehr berührende Rede auf die Autorin, deren Werk sie als Lektorin begleiten durfte.

Ich freue mich darüber, heute anlässlich der Verleihung des Klopstock-Förderpreises meine Worte zu Marlen Pelnys Debütroman „Liebe / Liebe“ an Sie richten zu dürfen. Ich bedanke mich für diese Gelegenheit.

In seiner Besprechung zu Marlen Pelnys Roman sagt Ralf Julke: „Er geht an die Substanz.“ Und das tut „Liebe / Liebe“.

„Es braucht Mut, diese Geschichte zu erzählen. Marlen Pelny beweist ihn.“ – Isabelle Lehn über Marlen Pelnys Roman „Liebe / Liebe“

Dieses Buch rüttelt an den Grundfesten unseres Zusammenlebens. An Begriffen, über deren Bedeutung wir viel zu selten nachdenken. Am Schweigen, das wir uns angewöhnt haben und das wir verbreiten, wenn wir Dinge wahrnehmen, die eigentlich nicht existieren dürften. Dieses Buch rüttelt auch an einer gewissen Dichotomie der Emotionen. Damit meine ich den Eindruck, den dieses Buch hinterlässt. Den Eindruck, den „Liebe / Liebe“ in uns hinterlässt.

„Liebe / Liebe“ ist die Geschichte von Sascha, einer jungen Frau, dessen Kindheit vom Fehlen der Worte geprägt ist. Ihre Mutter spricht kaum mit ihr. Für sie ist Sascha unsichtbar. Dafür quält ihr Vater sie mit viel zu viel Nähe: Er missbraucht sie. Sascha weiß, dass diese Nähe nicht richtig ist, auch wenn sie als Kind die Begriffe dafür noch nicht kennt. Eine Wendung erfährt ihr Leben, als Saschas Eltern sie unter einem Vorwand bei ihrem Großvater zurücklassen. Dieser Großvater stellt sich als überraschend herzlicher, liebenswürdiger Mensch heraus. Sascha trifft Charlie, das Mädchen, das sie am ersten Schultag an der Hand nimmt und nie wieder loslässt. Da sind auch Rosa, die Hündin, und das neue Ich, das in Sascha wächst. – Als Leser*innen dürfen wir Sascha bei diesem Wachsen begleiten. Dieses Wachsen und Werden, dieses Heute und der Weg ins Morgen werden angegriffen: vom Gestern, das sich immer wieder in die Gegenwart drängt.

Dieses Gestern trägt die Namen „Liebe“ und „Familie“. Genauso wie das Heute diese Namen trägt. Und genau da ist sie, die Irritation, mit der uns Marlen Pelny zurücklässt. Diese zwei Wörter, die im Gestern und Heute identisch ausschauen, identisch klingen. Die Bedeutungen der Worte „Liebe“ und „Familie“, die Saschas Eltern ihr in der Vergangenheit beibrachten, haben mit dem, was Sascha im Laufe des Romans kennenlernt, allerdings kaum mehr gemeinsam als ein paar Buchstaben.

Was ist das, „Liebe“? Was macht sie mit uns? Ist sie Täuschungsmanöver, Waffe? Oder kann sie ein Zuhause sein? Und was ist das überhaupt, „Familie“? Wer ist Teil davon? Wer muss, wer darf Teil davon sein? – Marlen Pelny hinterfragt das Glücksversprechen der Konstellation Vater-Mutter-Kind. Sie hinterfragt Blutsverwandtschaft als Bedingung für „Familie“. Sie erkundet in ihrem Roman behutsam die Möglichkeiten einer Verbundenheit in anderen Konstellationen. – Ihr Roman zeigt, dass sich diese Offenheit lohnt. Und dass sie manchmal – wie bei Sascha – überlebenswichtig ist. Denn Saschas Leben, ihr Dasein als geliebter Mensch, beginnt, als ihre Eltern sie zurücklassen.

Was Sascha in ihrer Kindheit und Jugend durchlebt, ist schmerzhaft. Die Autorin beschreibt diese kräftezehrenden Veränderungen hin zu einem besseren Leben. Marlen Pelny versteckt nicht vor uns, dass dies auch ein Abschied ist, der Sascha den Mut abverlangt, verletzlich zu sein und verletzlich zu bleiben. Dass er auch ein Abschied von einem Teil des eigenen Selbst ist. Eine Konfrontation mit den eigenen Sehnsüchten und Wünschen, von denen sich Sascha schließlich trennen muss. Aber eben auch: das Erlangen von Freiheit, Selbstermächtigung, ein Befreiungsschlag.

Besonders augenscheinlich wird dieser Befreiungsschlag für mich in folgender Passage:

„Ich schloss die Tür ab und steckte den Schlüssel in die Hosentasche, als wäre er mein Eigentum. In diesem Moment, den Schlüssel in der Tasche, Rosa wie immer direkt hinter mir, spürte ich, dass ich jemand ganz Neues war. Mein alter Name konnte hier in den Straßen kleben wie er wollte, der neue hatte mir einen anderen Kern gegeben, ein stärkeres Herz. Eines, das nicht mehr schwieg, und eines, das nicht mehr zusammengedrückt wurde, von Papas Brust, die auf mir gelegen hatte, wie eine Million Steine, während er von Liebe sprach. Ich war jetzt die, die bei dem Wort Liebe an Charlie dachte.“

 

Marlen Pelny begleitet Sascha auf diesem Weg: von Nähe, die zerstörerisch wirkt, hin zu einer Nähe, die guttut. Von einer vermeintlichen Liebe, die nichts mit Wohlwollen und Fürsorge zu tun hat, hin zu einer Liebe, die Geborgenheit und Lebenskraft potenziert.

Dass Marlen Pelny von diesem Weg erzählt, und auf welche Art und Weise sie es tut, hat uns heute hier zusammengebracht. Das Gefühl, mit dem der Roman nach dem Lesen entlässt, ist eines der Verwunderung: Wie konnte die Autorin es schaffen, diese Geschichte, diese Wucht, diese Fülle, diese Gewalt, diese Verletzlichkeit und diese Verletzungen mit so viel Hoffnung, Stärke, Kraft und Zuversicht zu verbinden? Ohne dass der jeweilige Pol den anderen aufhebt, sondern im Gegenteil: so, dass sich diese Gegensätze gegenseitig verstärken. Und so, dass trotz allem ein tröstliches Gefühl zurückbleibt. – Dieser Roman führt zuerst dorthin, wo man nicht sein will. Dann überwältigt er mit seinem Vertrauen darauf, dass Empathie und Liebe tatsächlich möglich sind. Sascha ist eine Heldin, die nicht aufhört zu glauben: an das Heilen von Wunden, an das Leben und an all die innigen Beziehungen, die es für sie bereithält.

Marlen Pelny plakatierte deutsche Städte mit Lyrik und veröffentlichte die Gedichtbände „Auftakt“ (2007) und „Wir müssen nur noch die Tiere erschlagen“ (2013). Ihre Worte bringt sie nicht nur auf Wände und Papier, sondern mit ihrer Band Zuckerklub auch zum Klingen. Marlen Pelnys klare Poesie durchströmt auch ihr Romandebüt „Liebe / Liebe“: Für jede Phase, jedes Gefühl Saschas findet sie einen eigenen, eindringlichen Ton. – Foto: Mike Auerbach

Marlen Pelny ist eine aufmerksame Beobachterin und Erzählerin. Sie zeigt wahres Interesse an Menschen. Saschas Geschichte erzählt sie einfühlsam, findet für jede Situation, für jedes Alter ihrer Protagonistin, die man zurecht eine Heldin nennen kann, den richtigen Ton. Bei aller Feinfühligkeit ist Marlen Pelny jede Form von Euphemismus fern. Sie hat mit „Liebe / Liebe“ einen Roman geschaffen, der ermutigend ist, ohne beschönigend zu sein. Da liegt Klarheit in ihrer Sprache, und Poesie. Ich könnte es nicht besser ausdrücken, als Jakob Hein es getan hat: „Ich habe das Buch als ein wunderbares, langes Gedicht gelesen.“

Diese Poesie steht in Kontrast zur Umgebung, in der Sascha aufwächst. Marlen Pelnys Sprache beschreibt diese Umgebung, die arm ist an Ansprache, Aufmerksamkeit und Geborgenheit, eindrücklich und treffend. Nicht nur in Saschas engster Umgebung – der „biologischen“ Familie. Auch die Besuche der Mitarbeiterin des Jugendamts und die Kommunikation mit den Nachbar*innen im Hochhaus sind geprägt davon, möglichst nicht zu viel zu erfahren. Möglichst nicht mitzubekommen, was da hinter den Wänden passiert, die eigentlich viel zu dünn sind, um nichts zu ahnen. Möglichst nicht hinsehen. Möglichst nicht hinhören.

Ja, Saschas Schicksal ist hart zu ertragen. Ein Grund dafür ist auch, dass ihre Geschichte in sich trägt, in was für einer Gesellschaft wir leben und welchen Machtverhältnissen wir ausgesetzt sind. Diese Machtverhältnisse finden sich auf allen Ebenen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens. Sie wirken bis in den Kern hinein – in die Familie. Und sie nehmen keine Rücksicht auf die, die unseren besonderen Schutz benötigen.

Marlen Pelny lenkt unseren Blick in „Liebe / Liebe“ auf diese Verhältnisse. Sie macht die menschliche Ebene der Missstände begreifbar, an denen wir als Gesellschaft arbeiten müssen. Das zeichnet Marlen Pelny als Autorin eben auch aus: Sie schaut hin. Marlen Pelnys Literatur ist Literatur, die hinsieht. Literatur, die nicht schweigt. Literatur, die aufwühlt. Literatur, die Raum lässt. Und Literatur, die Raum gibt – auch für Hoffnung.

Ein Buch wie „Liebe / Liebe“ ist ein seltenes Buch. Von einer seltenen Autorin.
Wir dürfen gespannt sein auf alles, was von Marlen Pelny noch zu lesen und zu hören sein wird.
Ich bin überzeugt, wir können viel erwarten.

Wir stehen in Solidarität mit unseren ukrainischen Autor*innen.

„Die Literatur hat fantastische Möglichkeiten, Möglichkeiten, wie sie weder die Politik noch die Geografie noch die Anthropologie haben. Der Literatur ist es zu verdanken, dass ein Leser Liebe und Zuneigung zu Orten erfahren kann, die normalerweise nicht geliebt werden, über die normalerweise gesprochen wird, ohne dass Liebe oder Bitterkeit anklingen“, schreibt Serhij Zhadan im Vorwort zu Oleksij Tschupas „Märchen aus meinem Luftschutzkeller

Der Krieg in der Ukraine trifft auch unsere Autor*innen Kateryna BabkinaOleksandr Irwanez⁠Andrej Kurkow⁠Maria Matios⁠Natalka Sniadanko, ⁠Oleksij Tschupa⁠Jurij Wynnytschuk⁠ und Serhij Zhadan mit voller Wucht. In ihren Büchern erzählen sie von den Menschen in der Ukraine, von ihrem Alltag, davon, wie der Lauf der Geschichte ihr eigenes Leben beeinflusst, von ihren Träumen, von den Herausforderungen, vor denen sie stehen. Sie zeigen unterschiedliche Lebenswelten und -entwürfe, aber auch das im Kern allen Menschen Gemeinsame.

Was können wir in dieser Situation tun? Wir helfen, soweit wir können, materiell, emotional, in der Schaffung von Sichtbarkeit. Und indem wir eindeutig Position beziehen: Wir stehen in Solidarität mit unseren ukrainischen Autor*innen. Ihre Stimmen müssen gehört, ihre Geschichten verstärkt erzählt werden. Es ist für gegenseitiges Verständnis essentiell, ukrainische Literatur zu lesen, wie auch Schriftsteller Andrej Kurkow betont:

„Lesen ist auch eine Unterstützung für die Ukraine. Je mehr Sie über die Ukraine und die Ukrainerinnen und Ukrainer wissen, desto schneller findet die Ukraine zu einem normalen Leben zurück, desto besser verstehen Sie die ukrainische Geschichte, die ukrainische Kultur und können darüber sprechen. Desto mehr Freunde werden wir überall in der Welt haben. Und Freunde braucht die Ukraine heute mehr denn je. Ohne Freunde geht die Ukraine zugrunde.“ 

Tragen wir unsere Solidarität weiterhin nach außen, denn es zeigt den betroffenen Menschen, dass sie nicht allein sind.

Kateryna Babkina, geboren 1985 im ukrainischen Iwano-Frankiwsk, lebte vor dem Krieg viele Jahre als Schriftstellerin in Kyjiw. Sie studierte Journalistik und arbeitet für zahlreiche nationale und internationale Zeitungen und Zeitschriften. Kateryna Babkina veröffentlicht Gedichtbände, Romane und Kinderbücher und ist als Dramaturgin tätig.

2016 erschien ihr Debütroman „Heute fahre ich nach Morgen“ bei Haymon in der Deutschen Übersetzung (aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe), der in einer federleichten und atmosphärischen Sprache von der Gefühlswelt einer jungen Frau erzählt.

Oleksandr Irwanez wurde in Lwiw geboren. 1985 gründete er zusammen mit Jurij Andruchowytsch und Wiktor Neborak das legendäre Lwiwer Schriftstellertrio „Bu-Ba-Bu“. Bis vor dem Angriffskrieg Russlands 2022 lebte und arbeitete er in Irpin, in der Nähe von Kyjiw. Das vielseitige Schaffen von Oleksandr Irwanez umfasst Lyrik, Prosa, Theaterstücke, Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Weißrussischen sowie Literaturkritiken.

2017 erschien mit „Pralinen vom roten Stern“ (aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil) erstmals ein Roman von ihm auf Deutsch.

Andrej Kurkow kennst du vielleicht als Autor von Romanen wie „Picknick auf dem Eis“, „Der Milchmann in der Nacht“ oder „Graue Bienen“. Bis vor Kurzem lebte er nur wenige Gehminuten vom Kyjiwer Majdan entfernt und hat die Proteste 2013 und 2014 hautnah miterlebt. Bei Haymon erschienen u. a. sein „Ukrainisches Tagebuch“ (aus dem Russischen von Steffen Beilich) über die Proteste von 2013 und 2014 oder die Romane „Welt des Herrn Bickford“ (2017, aus dem Russischen von Claudia Dathe) und „Kartografie der Freiheit“ (2018, aus dem Russischen von Claudia Dathe) sowie die Trilogie „Geografie eines einzelnen Schusses“, bestehend aus den Romanen „Der wahrhaftige Volkskontrolleur“ (2011, aus dem Russischen von Kerstin Monschein), „Der unbeugsame Papagei“ (2013, aus dem Russischen von Sabine Grebing) und „Die Kugel auf dem Weg zum Helden“ (2015, aus dem Russischen von Claudia Dathe). 2022 erscheinen bei Haymon Andrej Kurkows Aufzeichnungen aus der Ukraine: „Die Vermessung des Krieges“ (aus dem Russischen von Rebecca DeWald).

Maria Matios zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsautorinnen der Ukraine. Ihre Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Maria Matios nahm an den Protesten am Kyjiwer Majdan teil und engagiert sich politisch. Regelmäßig macht sie auf fehlende demokratische Strukturen und Rechtsunsicherheit in der Ukraine aufmerksam.

Im Haymon Verlag erschienen ihre Romane „Darina, die Süße“ (2013, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe) und „Mitternachtsblüte“ (2015, aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck).

Die in Lwiw geborene Natalka Sniadanko ist Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin. Unter ihren Übersetzungen aus dem Deutschen und Polnischen finden sich u. a. Werke von Elfriede Jelinek, Franz Kafka oder Günter Grass. Natalka Sniadanko kennt in Lwiw jede Ecke und hat ein Herz für exzentrische Figuren.

Ihr Debütroman „Sammlung der Leidenschaften“ (aus dem Ukrainischen von Anja Lutter) erschien erstmals 2007 auf Deutsch. 2016 folgte bei Haymon „Frau Müller hat nicht die Absicht, mehr zu bezahlen“ (aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel). 2021 erschien mit „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“ (aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck) der dritte Roman der Autorin auf Deutsch. Das Buch wurde gefördert mit Mitteln des Programms „Kreatives Europa“ der Europäischen Union. Mehr darüber erfährst du in diesem Interview mit der Autorin.

Oleksij Tschupa wurde im ostukrainischen Makijiwka geboren – der Ort liegt heute in der nicht anerkannten „Volksrepublik Donezk“. Als Autor setzt er sich mit der Identität und den sozialen Verwerfungen des Donbas auseinander und wendet sich dabei intensiv der Geschichte der Sowjetunion und der ersten Jahre der ukrainischen Unabhängigkeit zu.

Mit „Märchen aus meinem Luftschutzkeller“ (aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe) erschien 2019 erstmals ein Werk des Autors auf Deutsch. Hier geht’s zum Profil des Autors auf Facebook.

Jurij Wynnytschuk⁠, geboren 1952 in Iwano-Frankiwsk, ist einer der bekanntesten ukrainischen Autoren. Bis heute ist sein Schaffen prägend für die Literaturwelt der Ukraine, Jurij Andruchowytsch bezeichnet ihn als „ukrainischen Kultautor“. In der Sowjetunion konnte er seine Arbeiten nicht unter eigenem Namen veröffentlichen. Seit 1990 erschienen zahlreiche seiner Publikationen, unter anderem „Divy Notschi“ („Diven der Nacht“, 1992) und der Roman „Tango Smerti“, der bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurde und im Haymon Verlag unter dem Titel „Im Schatten der Mohnblüte“ (aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil) auf Deutsch erschien (2014).

Serhij Zhadan wurde im Gebiet Luhansk geboren, lebt in Charkiw und gehört seit seiner Jugend zu den prägenden Stimmen der ukrainischen Literatur. Er veröffentlichte zahlreiche Gedichtbände und Romane, die auch ins Deutsche übersetzt wurden, darunter zuletzt „Die Erfindung des Jazz im Donbass“, „Mesopotamien“, „Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte aus dem Krieg“ und „Internat“. Serhij Zhadan ist auch Musiker und Mitglied der Band Zhadan i Sobaky. Gemeinsam unterstützen sie seit Jahren die Menschen in den Kriegsregionen der Ukraine. Im Haymon Verlag erschien Serhij Zhadans Erzählung „Laufen ohne anzuhalten“ in bibliophiler Ausstattung. Sabine Stöhr übersetzte den Text aus dem Ukrainischen.

 

 

 

 

Foto: © Volodymyr Tschajkowsky

Natalja Tschajkowska hat mehrere Kurzgeschichten und Romane verfasst; 2020 gewann sie mit ihren Texten den Literaturwettbewerb „Crown of the Word“. Neben dem Schreiben arbeitet sie in der Kommunikationsbranche und spricht auf Social Media über Bücher und Motivation. Mit „All die Frauen, die das hier überleben“ erscheint das erste Mal eines ihrer Werke auf Deutsch.

We #standwithukraine! Menschen in und aus der Ukraine brauchen unsere Solidarität.

Die Menschen in der Ukraine brauchen jetzt unsere Hilfe!

Für die Menschen in der Ukraine, für unsere Autor*innen und Freund*innen dort, herrscht seit 2014 Ausnahmezustand. Protest, Krieg, Krise. Ermüdung und Enttäuschung, aber auch immer wieder Hoffnungsschimmer. ⁠Die Belastung, das Leid und die Trauer haben mit dem Einmarsch der Truppen Russlands einen neuen, einen schrecklichen Höhepunkt erreicht.⁠

Es gibt sehr viele wichtige Initiativen und Organisationen, die sich – teils vor Ort, teils von außerhalb – mit aller Kraft für die Menschen in der Ukraine einsetzen. Wir haben hier ein paar davon gesammelt. Schließe dich uns an und unterstütze sie, wenn du kannst. Auf dieser Seite findest du Links zu Spendenmöglichkeiten für die Ukraine.

„Der Krieg verändert alles. Er verändert die Politik. Er verändert Leben. Er verändert Menschen.“

Kateryna Malko ist Managing Editor beim in Kyjiw ansässigen Verlag Laboratorija. Am 15. Juni 2022 hielt sie im Rahmen des Young Publishing Professionals Programms in Brüssel eine eindringliche Rede: Sie erzählte von den Umständen, unter denen Verlage seit Beginn des Krieges arbeiten, davon, wie der Krieg alles verändert, wie der Schock dem Wunsch und der Notwendigkeit weicht, etwas zu bewegen. Wie die Menschen zusammenhalten. Kateryna Malko macht bewusst: Um Dinge zum Besseren zu verändern, müssen wir mit vereinter Kraft zusammenarbeiten, müssen wir ukrainische Stimmen hörbar machen.

Kateryna Malko ist Managing Editor beim ukrainischen Verlag Laboratorija.
© Laboratory Office

Liebe Europäer*innen, liebe Kolleg*innen,

zunächst einmal vielen Dank, dass Sie uns zusammengebracht haben. Ich bin wirklich dankbar, dass ich heute hier sein und meine Geschichte mit Ihnen teilen kann. Ich bin aus der Ukraine hierher gekommen. Und ich muss sagen, es war keine einfache Reise. Ich brauchte zwei Tage, um von meinem kleinen Dorf in der Zentralukraine nach Brüssel zu reisen. Und Sie kennen den Grund dafür.

Vor 112 Tagen hat Russland einen brutalen und unprovozierten ausgewachsenen Krieg gegen mein Land begonnen. Aber in Wirklichkeit fing dieser Krieg nicht im Februar an. Er begann vor acht Jahren nach der Annexion der Krim, als Russlands Armee in den Osten der Ukraine einmarschierte. Und schon damals hat er das Leben von Millionen Menschen verändert. Zu dieser Zeit war ich 16 Jahre alt. Und ich erinnere mich sehr genau, dass sogar mein klitzekleines Dorf Flüchtlinge aus dem Donbas aufgenommen hat.

Dennoch haben die meisten Menschen und ich selbst diesen Krieg hauptsächlich im Fernsehen gesehen, in den Nachrichten, und natürlich haben wir in Büchern darüber gelesen. Aber am 24. Februar hat sich für uns alle alles geändert.

Die Russen begannen, mein Land zu bombardieren, während alle noch schliefen, genau wie Hitler es getan hat. Ich wurde an diesem Tag um 6 Uhr morgens von den Explosionen in Kyjiw geweckt. Ich überprüfte mein Handy und sah Dutzende von Nachrichten meiner Freund*innen und Kolleg*innen. „Russland ist einmarschiert. Geh heute nicht zur Arbeit. Kauf dir etwas zum Essen, Wasser und Medizin“.

Die russische Armee griff friedliche Dörfer und Städte in der Ukraine an. Putin behauptete, es handle sich um eine „militärische Spezialoperation“, die ausgerufen worden sei, um Menschen zu „retten“ – so wie Stalin 1939 Polen „rettete“.

Dieser Krieg hat alle in eine Situation gebracht, in der niemand vorhersagen konnte, wie man sich verhalten würde. Ich selbst habe ein riesiges Messer gekauft und mir vorgestellt, mit den Russen zu kämpfen. Gut für sie, dass ich nie die Gelegenheit hatte, es zu benutzen. Ich scherze natürlich, aber einer Sache bin ich mir sicher: Damals gab es viele Ukrainer*innen, denen es genauso ging wie mir. Sie waren bereit, mit allen möglichen Mitteln für ihr Leben, für ihre Familien, für ihr Land zu kämpfen.

Der Krieg verändert alles. Er verändert die Politik. Er verändert Leben. Er verändert Menschen.

Vor der Invasion hätte ich mir nicht vorstellen können, wie stark die Menschen in meiner Nähe sind. Einige von ihnen schlossen sich den ukrainischen Streitkräften an, andere lokalen Verteidigungseinheiten, einige wurden Freiwillige, kämpften an der Informations- oder IT-Front, andere boten unbekannten Menschen Schutz oder kochten Essen für Flüchtlinge. Ich habe noch nie zuvor eine solche Einheit in meinem Land gespürt.

„Das Wichtigste für uns ist, das Team zu retten“, sagte der CEO unseres Verlags Laboratorija, Anton Martynov, den ich für eine wahre Führungspersönlichkeit halte. „Wir als Unternehmen sollten diesen Krieg gemeinsam überstehen. Ich brauche jeden von euch“, sagte er.

Mit Beginn der russischen Invasion wurde Anton ein Soldat der lokalen Verteidigungseinheit und verteidigte seitdem unsere Hauptstadt mit der sowjetischen Kalaschnikow. Hatte Anton etwas Freizeit, schrieb er anstelle unserer Social-Media-Managerin Iryna Yurtschenko Posts, wenn Iryna aufgrund des ununterbrochenen Luftalarms ihren Luftschutzbunker keine Minute verlassen konnte.

Unser Bookscout Zina Bakumenko und ihre vierjährige Tochter sind wie durch ein Wunder aus Charkiw entkommen, das damals fast ununterbrochen beschossen wurde.

Unser Übersetzer und Lektor Mykola Klymtschuk hat Dutzenden von Menschen, die aus Städten wie Charkiw, Tschernihiw, Sumy und Mariupol geflohen sind, eine Möglichkeit zur Übernachtung angeboten. Dies sind meist russischsprachige Städte, die gnadenlos mit russischen Bomben zerstört wurden.

Ich habe ein paar Tage in der nächstgelegenen U-Bahn-Station verbracht, nachdem eine russische Rakete das Nachbarhaus getroffen und dort lebende Menschen getötet hat.

Erst gestern haben mein Team und ich die Liste der Bücher besprochen, die wir auf dem Book Arsenal-Festival – der größten jährlichen Buchmesse in der Ukraine – präsentieren werden. Wir hatten eigentlich geplant, bis dahin sieben weitere Bücher zu veröffentlichen. Alle waren so aufgeregt. Aber der Krieg hat alles verändert.

„Das Wichtigste ist, das Team zu retten.“ – Diese Worte haben uns inspiriert. Sie haben uns so inspiriert, wie es unsere Armee jeden Tag tut, indem sie mutig unser Land verteidigt und die russischen Truppen zurückschlägt.

Vor knapp vier Monaten hat sich in der Ukraine eine neue Sprache der Liebe entwickelt. Statt „Ich denke an dich“, „Du bist mir wichtig“ oder „Ich liebe dich“ sagen wir jetzt „Wie geht es dir?“, „Wie fühlst du dich?“, „Bist du in Sicherheit?“.

Meine Kolleg*innen leben in verschiedenen Städten und Dörfern der Ukraine. Nach der Invasion beschlossen wir, uns jeden Morgen kurze Nachrichten zu schreiben, um festzustellen, dass alle in Sicherheit und am Leben waren.

„Es geht mir gut. Letzte Nacht habe ich mit meinem Mann und meinem Sohn in einem Luftschutzbunker geschlafen. Ich habe Todesangst um ihn, aber es geht ihm gut. Er darf sein Lieblingsvideospiel spielen.“ Oder:

„Es geht mir gut. Ich habe letzte Nacht einige Explosionen gehört. Man sagt, es sei unsere Flugabwehr.“ Oder:

„Die Russen sind hier. Ich habe ihre Panzer gesehen. Ich könnte bald die Internetverbindung verlieren.“

 

Die letzte Nachricht stammt von unserer Buchdesignerin Olena Bilochwost, die einen Monat lang unter russischer Okkupation lebte. Es war die letzte Nachricht, die sie uns schickte, bevor wir wirklich die Verbindung zu ihr verloren.

Dank der ukrainischen Armee wurde ihr Dorf in der Nähe von Bucha am 30. März geräumt. Ihre Scheune und der Hof wurden von russischen Granaten getroffen, als sie sich im Keller versteckte. Aber sie lebte und war glücklicher als je zuvor, nachdem ukrainische Soldaten ihr Dorf betreten hatten.

Sicher, unter solchen Umständen konnten wir unsere Arbeit nicht fortsetzen. Als Managing Editor habe ich mit unseren Freelancern gesprochen – Übersetzer*innen, Lektor*innen, Korrektor*innen. Ich sagte: „Vergessen Sie die Deadlines. Kümmern Sie sich um sich und Ihre Familien. Stellen Sie sicher, dass Sie in Sicherheit sind. Erst dann macht es Sinn, die Arbeit wieder aufzunehmen.“

Ich persönlich konnte in den ersten ein oder zwei Kriegsmonaten kein Buch in den Händen halten. Und ich habe das gleiche von fast allen gehört. Damals konnte niemand Bücher lesen. Nur unaufhaltsames Doomscrolling.

Und trotzdem haben einige Leute Bilder von Büchern gepostet, die sie in die Luftschutzbunker gebracht hatten. Viele Bücher unseres Verlags waren darunter – „Coffeeland“ von Augustine Sedgewick, „Die Dopamin-Nation“ von Anna Lembke, „Hitler und Stalin“ von Laurence Rees.

Die Leute hörten auf, neue Bücher zu kaufen. Im März gingen die Verkäufe auf unserer Website um 90 Prozent zurück, was zu einem dreifachen Rückgang der Gehälter führte. Nun geht es vielen Verlagen in der Ukraine nicht mehr um den Profit. Es geht ums Überleben. Als wir nach langen Kriegstagen unsere erste Bestellung bekamen, konnten wir es kaum glauben. Fünf Bücher! Jemand hat gerade fünf Bücher auf einmal gekauft.

Nachdem wir uns vom ersten Schock erholt hatten, beschlossen wir, das zu tun, was wir als Team am besten können – neue Bücher zu veröffentlichen. Die meisten unserer alten Projekte wurden pausiert und die Arbeit an ihnen erst nach einem Monat wieder aufgenommen. Es war uns wichtig, nicht alles zu verlieren, woran wir in den letzten Jahren gearbeitet hatten.

Und dieser Krieg hat uns dazu gedrängt, etwas zu tun, von dem wir zuvor nur geträumt hatten. Als Verlag, der sich auf die Veröffentlichung ausländischer Sachbücher spezialisiert hat, haben wir schließlich einen offenen Aufruf an ukrainische Autor*innen gerichtet, um neue Stimmen in der ukrainischen Literatur zu finden – sowohl in der Belletristik als auch in der Sachliteratur. Der Fokus würde auf der Berichterstattung über den Krieg und die tektonischen Verschiebungen liegen, die er in unserer Gesellschaft verursacht hatte.

Wir wollen der Welt unsere eigene Geschichte dieses Krieges erzählen. Die Geschichte der Wahrheit. Wir wollen mit ausländischen Verlagen zusammenarbeiten, die ihren Leser*innen die Wahrheit über den Russisch-Ukrainischen Krieg zugänglich machen möchten, egal wie hart und brutal sie auch ist. Wir sind bereit, Anpassungen für ausländische Leser*innen vorzunehmen, damit sie den Kontext besser verstehen.

Denn: In diesen Zeiten kämpft unser kleines Team für die ukrainische Kultur und für die ukrainische Geschichte, die in Büchern erzählt werden muss. Während unsere Armee für Hunderttausende kleiner Teams wie das unsere kämpft.

Der Krieg verändert alles. Er verändert Menschen. Aber die Menschen können immer noch alles ändern.

Buch trifft Kaffee: Die schönsten Literaturcafés

Kennst du es auch? Dieses Gefühl von Wärme und Geborgenheit, von Aufregung und Herzklopfen? Wenn du endlich wieder dort bist, wo du hingehörst. Dort, wo dir Welten offenstehen, wo du dich verlieren und wiederfinden kannst? Ja genau, es ist deine Lieblingsbuchhandlung, die eine große Liebe, die Konstante in deinem Leben. Denn was gibt es Schöneres, als genau dort ausführlich zu schmökern? Den Alltag zwischen druckfrischen Seiten und überquellenden Büchertischen zu vergessen. Wenn Stunden vergehen, bis man mit einem Stapel unterm Arm und einem Lächeln auf den Lippen wieder zurück in die Realität stolpert. Ein besonders schönes Erlebnis ist es, wenn sich zu diesen Gefühlen auch noch der wohlig warme Geruch von frisch gemahlenem Kaffee mischt. Und weil Literaturcafés einfach den ultimativen Wohlfühlfaktor bei mir auslösen, habe ich mir einige meiner absoluten Favoriten etwas näher angeschaut.

Egal wie hoch dein SUB (also dein Stapel ungelesener Bücher natürlich) wird, mit einem Cappuccino in der Hand durch She said schlendern, ist Pflichtprogramm in Berlin!
Foto: @shesaidbooks

In Berlin sagen wir … books!

She said books! Und wo? In Berlin Neukölln ist die Indie-Buchhandlung, die sich auf die Werke von Autorinnen und queeren Autor*innen spezialisiert, nicht mehr wegzudenken. Weil: Der sogenannte „Literaturkanon, der von weißen Männern dominiert wird, der kann uns mal! She said ist ein Ort, der weiblichen und queeren Stimmen und Perspektiven Raum schafft und auch explizit Männer einlädt, hier neuen Lesestoff zu entdecken. She said bietet Platz für große Lesungen und noch größere Diskussionsrunden, die zum Nachdenken an- und aufregen. Abgesehen von ihrem beeindruckenden Know-How, weiß diese Buchhandlung auch durch wundervollen Kaffee und eigene Baristas zu begeistern. Und das ist noch nicht alles, nein: kulinarisch verwöhnt werden Besucher*innen auch mit classics with a twist. Was das ist und wie das schmeckt, davon überzeugt ihr euch am besten selbst. Ein Besuch bei She said books wird euch weder mit leeren Händen noch mit leeren Bäuchen und noch viel weniger mit leeren Herzen zurück nach Hause schicken. Wenn du gerade nicht nach Berlin kannst, mach’s wie ich und stalke die Buchhandlung auf Instagram und Facebook.

Heimvorteil? Aber sowas von!

Die Haymon Buchhandlung vereint die besten Buchhändler*innen, die besten Bücher und natürlich: den besten Kaffee von Innsbruck.
Foto: @haymonbuchhandlung

Achtung! Dieser Beitrag ist absolut objektiv und zu 100 Prozent neutral, so wie es nur Diplomat*innen und wir sind, wenn wir über die hauseigene (Lieblings-!) Buchhandlung und die hauseigenen (Lieblings-!) Buchhändler*innen sprechen. Okay, vielleicht sind wir nicht ganz unparteiisch, wenn es um die Eigene geht, eines ist jedoch klar: Die Haymon Buchhandlung in Innsbruck ist ein besonderer Ort – und das nicht nur für uns. Die Buchhandlung im Herzen Innsbrucks punktet nicht nur durch ihre mehrfach ausgezeichnete Innenarchitektur, sondern auch durch ein wohldurchdachtes und diverses Sortiment, das immer wieder umgeworfen wird, weil auch diese Branche immer wieder umgeworfen wird. Und: Das ist gut so, denn so gibt es immer neue Stimmen, neue Ideen, neue Menschen zu erleben. Abgesehen davon: Während man die Regale und Büchertische durchstöbert, zur Ruhe kommt und Literatur entdeckt, kommt man nicht umhin die zarte Note frischen Kaffees in der Luft zu vernehmen. Kaffee der nicht nur guttut, sondern auch aus fairem Anbau stammt. Da kann es schon mal passieren, dass aus einem schnellen Schmökerpäuschen eine Stunde oder mehr werden. Was gerade so abgeht bei uns, kannst du hier rausfinden! Und was ist das? Einen Newsletter gibt’s obendrauf? Den will ich dir auch nicht vorenthalten!

Feel good im phil

Zu viel versprochen? Sicher nicht, noch einladender könnte ein Buch-Kaffee-Hybrid-Ort gar nicht aussehen!
Foto: @phil_in_wien

Ja, man kann im Wiener phil wirklich sehr gut frühstücken und ja, man kann dort auch abends noch ein Getränk genießen, aber was ist hier das Besondere? Na das, was einfach immer das Besondere ist! Die Bücher natürlich! Und die sind wirklich im ganzen Lokal zu finden. Wundert auch keinen, ist schließlich eine Buchhandlung und eine mit einem wirklich ganz und gar einzigartigem Flair. Der vielfältige Kanon des phil ist nicht das einzige Highlight, das es hier zu entdecken gibt. Das phil ist ein Ort, an dem man bleiben will, an dem man bleiben muss. Denn es dauert, bis das ganze Brunch Sortiment probiert wurde, bis aus jeder Ecke ein Buch gezogen und durchblättert, umarmt und gelesen wurde. So geht es auch den Mitarbeiter*innen des phil. Vielleicht seid ihr auch daran interessiert, die älteste Mitarbeiterin des phil kennenzulernen? Ja? Der ausgezeichnete Kaffee, dessen Duft euch schon an der Tür entgegenweht, stammt aus der 50 Jahre alten Faema E 61 (klingt wie aus Star Wars importiert, ist aber aus Ligurien!), die sich im stolzen Besitz des phil befindet. Ihr wunderbarer, super authentischer, super italienischer caffè con allem, was dein Herz begehrt, lässt sich natürlich am besten mit einem guten Buch im Schoß genießen.

Wenn man von außen auf die Fassade und die großen Buchstaben „zürichparis“ blickt, kann man schon ein bisschen Herzklopfen bekommen.
Foto: @spheres_bar

In ganze neue Sphären aufsteigen im … Sphères!

Also, natürlich geht’s immer um die inneren Werte, die alles ausmachen, aber manchmal, ja manchmal – wir geben es zu – geht’s doch auch ein bisschen ums Äußere und dabei sprechen wir nicht nur von Büchern. Nein, wir sprechen auch von … Gebäuden! Wieso ist das relevant? Die Außenfassade des Sphères in Zürich ist was ganz Besonderes. Die inneren Werte interessieren uns aber trotzdem. Und das Sphères brilliert darin, beides zu vereinen. In seinen Mauern koexistieren Buchhandlung, Bar, Eventraum und natürlich Stapel über Stapel von Büchern. Genau diese Kombination schafft eine ganz besondere Atmosphäre. Man fühlt sich wie in einem großen Theater, einem, in dem Bücher von Schauspieler*innen bis hin zu Souffleusen jede Besetzung übernehmen. Das Theater-Feeling kommt hier nicht zu kurz. Mit vielen Events und Lesungen, bietet das Sphères wirklich alles, um den Kulturhunger zu stillen. Auch wenn es wohl nicht zu den klassischen Literaturcafés zählt, auch hier gibt es vorzüglichen Kaffee.

Hier kannst du dich fallen lassen, andere Leben leben und Bücher verschlingen.
Foto: @polylogue_leipzig

Babel? Nein, Leipzig! Also eigentlich: Polylogue! Aber hier wird man dich verstehen.

Im Westen von Leipzig findet sich ein weiterer, ganz besonderer Buchladen. Beim Betreten fällt sofort auf, die fahren hier – im linguistischen Sinne – nicht eingleisig! Im Polylogue findest du eine Riesenauswahl an französischer, englischer, spanischer und italienischer Literatur in Originalsprache: Neuheiten, Klassiker, Romane, Comics, Gedichte, Sachbücher und Kinder- und Jugendliteratur – also alles, was das Sprachenherz begehrt. Und wenn es doch mal Deutsch sein soll, oder du Proust doch nicht in Originalsprache lesen willst, findet sich auch die eine oder andere Übersetzung im Sortiment. Es herrscht viel Leben in diesen Räumen, bei Lesekreisen in verschiedenen Sprachen und einem auch sonst vollgepackten Veranstaltungskalender, wird es bestimmt nicht einseitig im Polylogue. Suchst du doch die Ruhe? Dann findest du die hier auch: bei Kaffee, Tee oder – zu späterer Stunde – bei Wein und Bier.

Na, wo wirst du zuerst Bücherlesen, Kaffeetrinken, Herzrasen bekommen und dich so richtig wohlfühlen? Ist es Wien? Berlin? Oder doch Innsbruck? Lass dir von Kaffeebohnen und Buchseiten den Weg weisen und dann ist es ganz egal für welches Literaturcafé du dich entscheidest.