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Leseprobe aus „Eine Blume ohne Wurzeln“ von Nada Chekh

Coming of Age – zwischen Wiener Gemeindebau und rigiden Rollenbildern:
Nada Chekh wuchs zwischen den moralischen Vorstellungen und Werten ihrer Eltern, dem wachsamen Blick „ihrer Community“ und jenen, zu denen sie gehören will und eigentlich auch gehört, auf. Aber Zugehörigkeit ist so viel mehr als nur ein Wort. Und schwer zu finden, wenn man in mehreren Welten lebt. Dann sind da noch die eigenen Wünsche und die Bedürfnisse, das Leben selbst zu gestalten. Mit viel Einfühlungsvermögen und Humor reflektiert Nada Chekh über das Erwachsenwerden in verschiedenen Kulturen. In eindringlichen Anekdoten lässt sie uns ganz nah an sich heran, nimmt uns mit in das Daheim ihrer Kindheit und Jugend. Nimmt uns an der Hand und zeigt uns, wie Selbstermächtigung aussehen kann. Sie schreibt über das Aufstehen im Religionsunterricht, über die Komplikationen, die für eine junge Frau wie sie bei Dates oder Student*innen-Parties lauern. Sie erzählt von der selbstverständlichen Bewertung von Mädchen und Frauen, vom Risiko, eigene Entscheidungen zu treffen, und vom Risiko, es nicht zu tun. Es geht aber auch um das Zusammenfinden, immer und immer wieder, das aufeinander Zugehen, Stück für Stück. Denn manchmal ist es gerade der Abstand, der zu einer neuen Nähe – und zu sich selbst – führen kann.

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die Nacherzählung einer Geschichte, die ich selbst nicht glauben würde, hätte ich sie nicht durchlebt. Womöglich ist „Geschichte“ auch nicht der passende Begriff für diese langwierige Reise zu meinem heutigen Leben, das sich so stark von jenem unterscheidet, das mir vorgelebt wurde.

Als Tochter arabisch-muslimischer Migranten, die in den 90ern und frühen 2000ern in einem Gemeindebau, wie die in Wien typischen sozialen Wohnbauten genannt werden, in Wien-Favoriten aufwuchs und dort zur Schule ging, habe ich nie Frauen aus der Community gesehen, die so waren, wie ich es heute bin. Weltoffenheit und Toleranz, zum Beispiel gegenüber der LGBTQ+-Community, weibliche Unabhängigkeit oder Freizügigkeit sind keine erstrebenswerten Dinge in der Community, in der ich, gemeinsam mit meinen Geschwistern, in erster Generation unserer Familie in Österreich aufwuchs. Dieses Aufwachsen, diese Reise erstreckt sich über viele Etappen und birgt auch einige dunkle Abschnitte, mit denen ich mich bis zu dem Moment, in dem ich sie für dieses Buch aufarbeitete, nicht beschäftigen wollte – oder konnte.

Dieses Buch handelt von der Erfahrung, in einer Welt zu leben, in der es ein „Wir“ und ein „die Anderen“ gibt, und reicht bis zu der Erkenntnis, dass selbst, wenn ich mich zu den „Anderen“ zugehörig fühlen würde, diese mich niemals als eine von „ihnen“ sehen würden. Es geht um einen Kampf um Privatsphäre, um das Recht, über meinen Körper und mein Leben verfügen zu können, den ich zuerst mit mir selbst führen musste, bevor ich mich außenstehenden Gegnerinnen und Gegnern stellen konnte. Eine große Stütze beim Schreiben über diese Vergangenheit waren meine persönlichen Tagebücher, die ich umso minutiöser führte, je einsamer ich mich auf diesem Weg fühlte. Bei all der Dramatik erlebte ich aber auch freudige Momente beim Schreiben dieses Buches, in denen sich unerwartete Verbindungen erschlossen oder auch schöne und skurrile Erinnerungen miteinflossen.

Für manch einen Leser oder eine Leserin mag es eine gewöhnliche, wenn nicht sogar banale Sache sein, sich gegen die eigene Familie aufzulehnen, und, wenn nötig, auch einen Bruch mit ihr in Kauf zu nehmen. Doch aus einer Community kommend, in der Familie über allem steht, waren meine Entscheidungen, die ich damals treffen musste, kein leichtes Unterfangen. Ich weiß, dass es gerade sehr viele junge Frauen gibt, die auf eine Geschichte wie meine warten – egal, ob sie ebenso aus muslimischen Familien stammen oder auch anders kulturell geprägt sind, oder ob sie einfach wissen, wie sich religiös-konservative und patriarchale Strukturen am eigenen Leib nun einmal anfühlen.

Nicht nur im Zuge meiner Tätigkeit als Journalistin bei dem transkulturellen Magazin biber, sondern auch als Speakerin an Wiener Schulen begegne ich immer wieder Mädchen und jungen Frauen, die einen ähnlichen Hintergrund haben wie ich, von denen manche sagen: „Du hattest einfach Glück mit deiner Familie, dass du dein Leben selbst in die Hand nehmen konntest.“ In Wahrheit ist dies jedoch das Ergebnis eines phasenweise endlos scheinenden, oft auch schmerzhaften Prozesses – wie man hier nachlesen wird –, den ich ohne jene wunderbaren und ermutigenden Menschen, die ich kennenlernen durfte, nicht hätte durchstehen können.

Auch wenn ich selbst ohne Vorbilder aufgewachsen bin, mit denen ich mich identifizieren hätte können, bin ich mir ihrer Wichtigkeit bewusst. Es kommt vor, dass ich gefragt werde: „Was bedeutet es, den Mut aufzubringen, sich von konservativen und religiösen Vorstellungen zu lösen?“ Die ehrliche Antwort sieht so aus: Ich bin keine „mutige“ Frau. Im Gegenteil, in meinem bisherigen Leben war ich in vielerlei Hinsicht von tiefer Angst getrieben. Die Angst davor, ein Leben führen zu müssen, das nicht meinen eigenen Überzeugungen entspricht, wurde jedoch an einem bestimmten Punkt noch größer als die Angst, von meiner Familie verstoßen zu werden, weil sich unsere Weltansichten nicht vereinbaren ließen. Rückblickend kann ich sagen, dass ich viele Dinge auch aus Notwendigkeit tun musste, um meine Integrität und Eigenständigkeit überhaupt installieren zu können. Es ist denkbar schwer, seine persönlichen Grenzen festzusetzen und Privatsphäre einzufordern, wenn man nie vermittelt bekommen hat, dass man – gerade als Frau – eine schützenswerte Privatsphäre hat.

Bevor wir uns nun gemeinsam in meine Geschichte stürzen, möchte ich noch einige wichtige Anmerkungen vorweg anführen: Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Namen in diesem Buch zum Schutz der Identität der realen Personen geändert. Zudem möchte ich noch erwähnen, dass ich genderinklusive Sprache in diesem Buch aus Gründen der Einfachheit und zum Erhalt des Leseflusses nach eigenem Ermessen verwendet habe. Mit dem generischen Maskulinum sind selbstverständlich alle Menschen, unabhängig von ihrer persönlichen Identifikation oder Nicht-Identifikation mit dem männlichen Geschlecht mitgemeint, sofern sie sich mitgemeint fühlen.

Dieses Buch soll keine Anleitung zum Ausbruch aus konservativen Familien darstellen, sondern gibt meine individuelle Erfahrung in dieser Sache wieder. Sollte Dich das Lesen von Szenen über Krieg, Gewalt, Depression, Selbstverletzung und ähnlich „triggernde“ Themen verstören, so möchte ich hier davor warnen.

Nachdem wir das alles nun geklärt haben und Du immer noch weiterlesen möchtest: Wollen wir auf eine Reise gehen?

 

Aus dem Buch „Eine Blume ohne Wurzeln“ von Nada Chekh, ab 31. Oktober 2023 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich. 

Nada Chekh ist kritisch, laut und ehrlich. Interkulturelle Konflikte, die tief in den persönlichen Lebensalltag und die engsten Beziehungen eindringen, hat sie hautnah erlebt. Ihre Erfahrungen prägen, was sie heute tut: Als Journalistin, die ihre Anfänge unter dem Namen Nada El-Azar bei „biber“ machte, schreibt sie darüber, was die multiethnische Community in Österreich bewegt, rüttelt an den Missständen in unserer Gesellschaft, fordert Debatten heraus und spricht über Langzeittabus, aber auch Potenziale, die ein Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen bereit halten kann.

„Gewalt ist ein Mittel, um Frauen auf die ihnen zugeschriebene Rolle zu verweisen.“ – Interview mit dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser

Bist du schon einmal alleine unterwegs gewesen – nur du und die Angst, dir könnte genau jetzt etwas passieren? Etwas Schreckliches, angetan von einem anderen Menschen? Wenn du eine Frau bist oder einer in dieser Hinsicht vulnerablen Gruppe, wie zum Beispiel queeren Menschen, angehörst, kennst du dieses Gefühl mit sehr großer Wahrscheinlichkeit. Dabei ist das Gewaltrisiko in den eigenen vier Wänden statistisch gesehen am größten. Aktuelle Untersuchungen ergeben: Jede dritte Frau in Österreich ist von körperlicher und/oder sexueller Gewalt innerhalb oder außerhalb von intimen Beziehungen betroffen. Was wird dagegen unternommen? Wir haben uns mit dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser darüber unterhalten.

Eure Arbeit erstreckt sich von der Frauenhelpline über Aufklärungsarbeit in verschiedensten Formen bis hin zur Umsetzung von EU-weiten Projekten und Kampagnen. All dies eint das Ziel, über das Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder zu informieren und dafür zu sensibilisieren. Diese angesprochene Gewalt ist dabei sehr vielschichtig und komplex und wirkt sich auf das ganze Leben der Betroffenen aus. Könnt ihr uns erklären, was es für Frauen und auch Kinder bedeutet, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein?

Frauen sind vielen verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt: körperlicher, sexueller, psychischer und ökonomischer Gewalt sowie Gewalt im Internet, die natürlich auch in vielen Fällen ineinandergreifen. Sich in einer gewalttätigen Beziehung wiederzufinden ist ein schleichender Prozess, die Gewalt nimmt oft mit der Zeit an Häufigkeit und Schwere zu. In dieser Gewaltspirale wechseln sich Phasen der Kontrolle, Einschüchterung, emotionaler Erpressung/Missbrauch und Aggression mit Phasen von Entschuldigungen und Versprechung von Wiedergutmachung seitens des Täters ab. Den Betroffenen wird auch durch teilweise subtile Manipulationen des Täters die Schuld an seinem Verhalten zugeschoben. Besonderer Gefahr sind Frauen in der Trennungsphase ausgesetzt, in dieser Zeit finden besonders häufig auch Femizide und Fälle von schwerer Gewalt statt. Betroffene Frauen befinden sich oftmals in prekären Abhängigkeitsverhältnissen, vor allem auch, wenn gemeinsame Kinder da sind und es kaum Zugang zu leistbarem Wohnen gibt. All das lässt die Aussage, sich doch „einfach zu trennen“, nicht legitimieren, die schmerzhafte Realität gewaltbetroffener Frauen wird dadurch verharmlost. Die Trennung von einem gewalttätigen Partner ist ein langwieriger, belastender Prozess, sowohl in ökonomischer, juristischer, emotionaler und psychischer Hinsicht. Darüber hinaus ist die Trennung die gefährlichste Phase für eine gewaltbetroffene Frau – zu diesem Zeitpunkt werden die meisten Morde an Frauen durch einen gewalttätigen Partner begangen. Kinder sind bei häuslicher Gewalt immer mit betroffen – entweder direkt, indem sie selbst Misshandlungen ausgesetzt sind, oder indirekt, weil sie die Gewalt, die ihre Mutter erleiden muss, hautnah mitbekommen.

Häufig wird betont, dass Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem ist, bei dem gerade auch staatliche Institutionen nicht genug sensibilisiert sind oder sogar an der Reproduktion von Strukturen beteiligt sind, in denen diese Gewalt möglich ist. Welche strukturellen und politischen Veränderungen müssen stattfinden, um Frauen vor Gewalt zu schützen? 

Eigentlich haben wir in Österreich gute Gesetze zum Schutz vor Gewalt, jedoch werden diese oft nicht wirksam angewendet oder ausgeschöpft, z.B. werden gefährliche und polizeibekannte Gewalttäter oft nur auf freiem Fuß angezeigt oder sogar freigesprochen, was oft zu schwereren Gewalttaten bis zu Femiziden führt. Obwohl immer mehr Frauen den Mut aufbringen, Anzeige gegen ihre Misshandler zu erstatten, bleibt die Tat für die Gewaltausübenden leider nach wie vor oft ohne ernsthafte Konsequenzen.
Für eine echte Gleichstellungs- und Gewaltschutzpolitik wäre das Wichtigste eine langfristige und gesicherte Finanzierung. Das Budget des Frauenministeriums und spezifisch der Bereich für Gewaltprävention ist grundsätzlich (auch im Vergleich zu anderen Ressorts und Ministerien) viel zu niedrig. Angesichts der immens hohen Folgekosten von Gewalt braucht es eine Erhöhung der Mittel für das Frauenministerium. Dringend finanziert werden müsste z.B. auch eine langfristige österreichweite Bewusstseinskampagne gegen Gewalt an Frauen, besonders auch für die breitere Bekanntwerdung der Nummer der Frauenhelpline (0800 222 555). Darüber hinaus benötigt es 3000 neue Vollzeitstellen im Gewaltschutzbereich und für Betreuung und Begleitung der betroffenen Frauen und ihrer Kinder.
Frauen werden in unserer Gesellschaft strukturell abgewertet – frauenspezifische Tätigkeiten wie Care-Arbeit, also Kindererziehung, Haushalt oder die Pflege kranker oder älterer Angehöriger, werden schlecht bis gar nicht entlohnt. Oft sind diese Tätigkeiten unsichtbar und werden als selbstverständlich hingenommen. Es findet eine Ausbeutung dieser reproduktiven Tätigkeiten statt, die oft rund um die Uhr geleistet werden. An diesen Ausbeutungsverhältnissen gilt es anzusetzen, es muss eine gerechte Entlohnung, z.B. in Pflegeberufen, gewährleistet werden und eine gesellschaftliche Aufwertung dieser Tätigkeiten stattfinden.

Um betroffenen Frauen wirkungsvoll helfen zu können, braucht es Wissen – Wissen um diese strukturellen Probleme und um die Faktoren, die Gewalt gegen Frauen begünstigen. Wann sind Frauen, wann bin ich selbst besonders gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden?

Gewalt an Frauen passiert überall auf der Welt und ist ein weltweites Problem. Sie kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor und hängt weder mit Einkommen oder Bildung, noch mit der Herkunft oder Staatszugehörigkeit zusammen – Frauen bzw. Migrantinnen aus anderen Herkunftsländern sind also generell nicht häufiger von Gewalt betroffen, jedoch haben es gewaltbetroffene Migrantinnen aufgrund von prekären Lebensumständen (Flucht, etc.) besonders schwer, sich aus einer Situation häuslicher Gewalt zu befreien. Diese Faktoren bzw. Hindernisse machen die Situation von gewaltbetroffenen Migrantinnen im Vergleich zu betroffenen Österreicherinnen schwieriger.

Ein besonders wichtiger Faktor, um der Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken bzw. sie zu verhindern, ist die Prävention gegen Gewaltbereitschaft. Was sind eurer Meinung nach sinnvolle Präventionsmaßnahmen?

Wie in anderen Ländern leben wir auch in der österreichischen Gesellschaft in einem Patriarchat. Gewalt ist ein Mittel, um Frauen auf die ihnen zugeschriebene Rolle zu verweisen.
Es fehlen langanhaltende, flächendeckende und umfassende Kampagnen zum Thema Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, um das Bewusstsein und das Wissen in der breiten Bevölkerung zu erhöhen. Eine gute und effektive Maßnahme, um patriarchalen und frauenverachtenden Einstellungen in der Gesellschaft entgegenzuwirken, sind möglichst flächendeckende Präventionsworkshops und Seminare in Schulen zu häuslicher Gewalt und Geschlechtergerechtigkeit, besonders auch für Burschen zu den Themen toxische Männlichkeit und stereotypische Frauen- und Männerbilder, um Gewalt schon im Vorhinein zu verhindern.

Viele betroffene Frauen schämen sich für das, was ihnen passiert, oft kommt es zu einer Täter-Opfer-Umkehr und sie sind gesellschaftlichen Verurteilungen ausgesetzt. Wie kommt es zu den vielen Vorurteilen, mit denen dieses Thema behaftet ist, und wo muss hier ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden? Wie kann das am besten gelingen?

Trotz aller Fortschritte seit den 1970er Jahren ist das Thema geschlechtsspezifische Gewalt leider immer noch mit Scham assoziiert. Es wird selten darüber gesprochen und oft bekommen die Betroffenen vom Umfeld keinen Rückhalt, sie werden noch immer für die Tat des Mannes verantwortlich gemacht (sogenanntes victim blaming). Das hat leider oft zur Folge, dass sich gewaltbetroffene Frauen keine Hilfe holen.
Patriarchale Vorstellungen von Geschlecht spielen dabei ebenfalls eine große Rolle. Wir haben in Österreich seit Jahren Regierungen mit Beteiligung (rechts-)konservativer Parteien – im rechten bzw. konservativen politischen Spektrum wird Gewalt an Frauen verharmlost und oft als ein „importiertes Problem“ dargestellt. Gewalt von Männern gegenüber Frauen wird immer noch viel zu oft im Sinne eines patriarchalen Männlichkeitsbildes mit „Männer sind halt so“ abgetan und verharmlost und diese Männer werden auf diese Weise nicht zur Verantwortung für ihr eigenes Verhalten gezogen.
Auch verbale Gewalt an Frauen wird oft gesellschaftlich toleriert und Hass im Netz hat sich in den letzten Jahren deutlich gesteigert. Hierbei hat die Verrohung der Sprache im Umgang und Diskurs deutlich zugenommen. Gewalt durch Worte ist auch psychische Gewalt und der Weg von der psychischen Gewalt zur körperlichen Gewalt ist oft ein kurzer.
In der Berichterstattung der Medien über Gewalt an Frauen, besonders im Boulevard, werden leider nach wie vor immer wieder patriarchale Klischees reproduziert. Immer noch werden Fälle von Gewalt von Männern an Frauen als „Familientragödie“, „Beziehungsdrama“ oder „Einzelfall“ verharmlost sowie der Täter entschuldigt. Von den Medien wünschen wir uns, dass Journalist*innen sich über verantwortungsvolle und sensible Berichterstattung zum Thema Gewalt an Frauen und Kindern informieren – z.B. über den vom Verein AÖF erstellten Leitfaden zu verantwortungsvoller Berichterstattung – und diese auch anwenden.

Gemeinsam mit diesem Umdenken muss auch das Gespür dafür geschärft werden, wo jede*r einzelne aktiv werden kann. Wie übernimmt man als Einzelperson Verantwortung und kann betroffenen Frauen am besten helfen?

Um gesellschaftliche Veränderungen zu schaffen, braucht es flächendeckende langfristige Bewusstseinsarbeit. Das kann u.a. durch Projekte, wie das Nachbarschaftsprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ erreicht werden, das der Verein AÖF aktuell in mehreren Wiener Bezirken und an insgesamt 25 Standorten in ganz Österreich durchführt.
„StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ ist ein nachhaltiges und zukunftsorientiertes Gesamtpaket in der Gewaltprävention, das alle Menschen, insbesondere Nachbar*innen einlädt und befähigt, sich aktiv gegen Femizide und gegen häusliche Gewalt an Frauen und Kindern zu engagieren. Es richtet sich explizit und direkt an die Zivilgesellschaft, bindet diese aktiv ein und weist ihnen konkrete und anwendbare Handlungsmöglichkeiten auf, um sie zu involvieren und zu zeigen, was jede*r Einzelne*r beitragen kann. Durch das Aufzeigen von Unterstützungsmöglichkeiten klärt StoP auf, was bei Verdacht auf Partnergewalt zu tun ist, wie sich Nachbar*innen selbst schützen und wie sie Gewalt verhindern können. Nachbar*innen können z.B. die Gewalthandlung unterbrechen, indem sie anläuten und nach etwas Unverfänglichem fragen (z.B. Zucker ausleihen). Auf diese Weise wird dem Täter signalisiert, dass die Nachbarschaft mithört und der Betroffenen wird signalisiert, dass sie nicht allein ist. Nachbar*innen verbünden sich mit anderen Personen, wie Familie und Freund*innen, informieren sich und überlegen, wie sie helfen können. Zudem können Nachbar*innen betroffene Frauen und Kinder niederschwellig über wichtige Notrufnummern, wie z.B. die Frauenhelpline 0800 222 555, Anlaufstellen, etc. informieren. StoP ermutigt Personen, eine klare Haltung gegen (häusliche) Gewalt/Partnergewalt einzunehmen, genau hinzuschauen und zivilcouragiert zu handeln. Entsprechend ist StoP auch ein Appell an die österreichische Zivilgesellschaft, sich aktiv einzusetzen und sich eindeutig und klar gegen Gewalt an Frauen und Kindern zu positionieren. Mehr Informationen auf stop-partnergewalt.at.

 

Es gibt zahlreiche Initiativen und Plattformen, die über häusliche Gewalt informieren und Hilfe bieten. Hier ein paar davon:

Das Start-Up Frontline entwickelt Trainings und digitale Tools für Betroffene und jene, die mit Opfern häuslicher Gewalt in Kontakt stehen.

SOS@Home bietet Aufklärungsarbeit sowie ein Netzwerk aus Hilfeleistenden und Initiativen.

In Deutschland:

Das bundesweite Hilfetelefon richtet sich an Frauen*, die Gewalt erfahren haben, aber auch Angehörige sowie Freund*innen werden anonym beraten. Es ist jederzeit und kostenfrei unter +49(0)8000 116 016 erreichbar.

Hier können Frauenhäuser und Fachberatungsstellen in ganz Deutschland gesucht werden.

In Österreich:

Frauenhelpline gegen Gewalt, rund um die Uhr, anonym, kostenlos und mehrsprachig: 0800 222 555 www.frauenhelpline.at

Onlineberatung für Mädchen und Frauen im HelpChat, täglich 18-22 Uhr und jeden Freitag von 9-23 Uhr, mehrsprachig: www.haltdergewalt.at

Frauenhäuser bieten Frauen*, die häusliche Gewalt erleben, und ihren Kindern eine sichere Wohnmöglichkeit. Frauenhäuser sind für alle Gewaltopfer offen, unabhängig von Nationalität, Einkommen oder Religion.

Das Nachbarschaftsprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ setzt da an, wo häusliche Gewalt passiert, am Wohnort, in der Nachbarschaft, und hilft, häusliche Gewalt früh zu erkennen und zu unterbrechen.

BAKHTI – EmPOWERmentzentrum für gewaltbetroffene Mädchen* mit einem Zusatzangebot für mitbetroffene Burschen*: www.bakhti.at  und www.burschen.bakhti.at

Infowebsite für Kinder und Jugendliche: www.gewalt-ist-nie-ok.at

„Im Krankenhaus sind wir Nebenfiguren in der Lebensgeschichte unserer Patient*innen“ – David Fuchs im Interview

Sechs Nächte, vier Wände, zwei Unbekannte, eine Frage: Haben alle Menschen das gleiche Maß an Fürsorge verdient, ganz ungeachtet ihrer Vergangenheit? Dieses moralische Dilemma steht in David Fuchs’ neuem Buch „Zwischen Mauern“ im Mittelpunkt. Wir haben uns mit dem Schriftsteller, der auch als Palliativmediziner in Linz arbeitet, über die Arbeit an seinem dritten Roman, das Krankenhaus als „Bouillonwürfel des Lebens“ und schrullige Kuriositäten des Ärztealltags unterhalten.

In deinem neuen Roman spielt eine sogenannte Sitzwache eine zentrale Rolle. Worin besteht die Aufgabe einer Sitzwache?

Eine Sitzwache ist eine Person, die z.B. in einem Krankenhaus dafür da ist, am Bett eines/einer Kranken – häufig Menschen mit Demenz – zu wachen, d.h. daneben zu sitzen, sich – wenn möglich und gewünscht – mit den Menschen zu unterhalten; vor allem aber, um dafür zu sorgen, dass niemand stürzt oder sich anderweitig in Gefahr bringt.

Warst du selbst schon einmal Sitzwächter?

Nein, war ich nicht, aber ich hätte mir nicht selten gewünscht, dass es eine Sitzwache gegeben hätte. An der Palliativstation haben wir viel Personal, auch Ehrenamtliche, aber z.B. an internistischen oder neurologischen Stationen ist die Betreuung von verwirrten Patient*innen oft eine große Herausforderung.

Welche Bücher würdest du dir für eine Nachtwache in den Rucksack packen?

David Fuchs
David Fuchs, geboren 1981 in Linz, ist Autor und Palliativmediziner. Mit schnörkelloser Sprache lenkt er unseren Blick auf die Dinge, die sich zwischen und in uns abspielen. Sensibel zeichnet er uns in unseren menschlichsten Momenten: in unserer unfreiwilligen Komik, in unseren einschneidendsten Augenblicken, in unserer tiefsten Nähe zueinander. Portrait: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Es müssten Bücher sein, in denen man immer wieder kurz lesen kann, die man weglegen und wieder zur Hand nehmen kann, wenn es passt. Neben mir liegt z.B. gerade „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ von Nick Cave und Sean O’Hagan, das sich gut eignen würde – eine Serie von wunderbaren Gesprächen über Kunst, Musik und das Leben. Einen Lyrikband hätte ich sicherlich auch mit dabei: einen, den ich schon gut kenne, den ich einfach irgendwo aufschlagen und in dem ich mich sofort zu Hause fühlen kann: „im felderlatein“ von Lutz Seiler oder „Die Worte, die Worte, die Worte“ von W.C. Williams.

In „Zwischen Mauern“ meldet sich die Protagonistin Meta ehrenamtlich für die Aufgabe. Warum, glaubst du, entschließt sie sich dazu?

Es gibt viele Motive, um ehrenamtlich tätig zu werden, wahrscheinlich so viele, wie es Ehrenamtliche gibt. Meta hat sich wahrscheinlich dazu entschieden, weil sie hofft, Sinn in dieser Tätigkeit zu finden, den sie in ihrem Beruf nicht findet. Sie geht das durchaus naiv an – im positiven wie im negativen Sinn.

Metas Vorstellungen über ihren freiwilligen Dienst ändern sich nach wenigen Nächten zwangsläufig. Kommen ähnliche Situationen in der Praxis oft vor?

Viele Menschen beginnen mit hohem Idealismus im Gesundheitsbereich zu arbeiten oder starten eine Ausbildung. Dass es dann zu einer Konfrontation mit der Realität kommt und diese hohen Erwartungen bis zu einem gewissen Grad gedämpft werden, liegt in der Natur der Sache. Wichtig ist in der Praxis, diesen Idealismus behutsam auf den Boden der Realität zu bringen – die Personen sollen ja viele Jahre hier arbeiten. Andererseits kann natürlich ein bestehendes Team profitieren, wenn alte Gewohnheiten hinterfragt und neue Möglichkeiten aufgezeigt werden.

Der Roman dreht sich auch um ein moralisches Dilemma. Warum zweifelt sie letztendlich daran, in das Pflegeheim zurückzukehren?

Metas Weltbild ist zu Beginn des Romans recht schwarz/weiß. Was sie sich letztlich erkämpfen muss, ist ein Gefühl für die Graustufen dazwischen, für einen gangbaren Weg in einer nicht idealen Situation. Das ist übrigens auch etwas, was vielen Leuten in aktuellen aufgeheizten Diskussionen gut zu Gesicht stünde.

Es gibt eine illustre „Ahnenreihe“ von Ärzt*innen, die sich erfolgreich schriftstellerisch betätigten, mit William Carlos Williams hast du deinem Roman auch die Lyrik eines „Ärztedichters“ vorangestellt. Geht mit dem Arztberuf ein besonderer Blick auf unser Dasein einher?

Menschen gewähren uns Zugang zu intimen und entscheidenden Momenten ihres Lebens, auch zu ihren Körpern, zu ihrer Psyche, und das bedingt einen besonderen, einen im besten Sinn privilegierten Blick auf unser Dasein, der nicht ohne Einfluss auf das eigene Leben bleibt. Das betrifft natürlich nicht nur Ärzt*innen, sondern gleichermaßen die Pflege und andere Gesundheitsberufe.

In einem Interview hast du einmal eine Schriftstellerin zitiert, die schrieb: „Ein Text sollte sein wie ein Bouillonwürfel. So konzentriert und eingekocht und der Leser gibt dann sein Wasser dazu.“ Ist das Krankenhaus als Ort konzentrierter existentieller Erfahrungen manchmal wie ein Bouillonwürfel des Lebens?

Im Krankenhaus sind wir Nebenfiguren in der Lebensgeschichte unserer Patient*innen, und das sehr oft an entscheidenden Wendepunkten in ihrer Existenz, z.B. am Beginn oder eben, wie in meinem Fall, am Ende des Lebens. Diese hohe Dichte an schönen, an schrecklichen, jedenfalls aber wichtigen Momenten, die wir miterleben, ist schon sehr besonders und ein großer Schatz.

 

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David Fuchs im Haymon- Videointerview 2018

Du wirst bestimmt häufig gefragt, ob und wie dein Ärztedasein dein Schreiben beeinflusst. Wie verhält es sich umgekehrt, hat die Schriftstellerei deinen Alltag im Krankenhaus verändert?

Ich glaube, dass ich durch das Schreiben mehr Bewusstsein für die Geschichten meiner Patient*innen entwickelt habe, auch für die Sprache, in der sie diese Geschichten erzählen. Es tut auch gut, diesen zweiten Beruf zu haben, diese ganze andere Welt zu kennen, um nicht aus dem Blick zu verlieren, dass das Krankenhaus, wenn es auch einen großen Teil meines Lebens bestimmt, nicht mein ganzes Leben ist.

Auch in deinem letzten Roman „Leichte Böden“ geht es – neben einigen anderen – um die Frage, ob jedem Menschen ungeachtet seiner Vergangenheit gleich viel Fürsorge zusteht. Ist dein Schreiben auch ein Weg, einen Umgang mit dieser Frage zu finden, die sich in deiner Rolle als Arzt eigentlich gar nicht stellen darf?

Es ist eine wichtige und vor allem eine sehr alltägliche Frage, die mich deswegen auch schriftstellerisch beschäftigt. Jeder Mensch verdient die gleiche Fürsorge, und wir urteilen nicht; allerdings geht es nicht spurlos an uns vorüber, welches Verhalten Patient*innen zeigen, welche Vergangenheit sie haben oder wie sympathisch sie uns sind. Alle Menschen werden krank, und so sind wir eben mit einem Querschnitt der Gesellschaft konfrontiert.

Spannend finde ich, wie es uns gelingen kann, damit umzugehen und wichtig ist mir, dass wir uns auch eingestehen dürfen, dass es bei manchen Menschen einfach sehr schwierig ist, das Maß an Fürsorge und Professionalität aufrechtzuerhalten, das wir uns wünschen.

Was Außenstehenden oft als kalte, sterile Institution erscheint, wird in deinem Roman trotz des etwas verlassenen Settings als facettenreicher und menschelnder Lebensraum gezeichnet. Wir lernen eine interessante Parallelwelt kennen, die von strengen Routinen, aber auch von schrulligen Kuriositäten geprägt ist. Ist die landläufige Vorstellung, die wir uns von Gesundheitseinrichtungen (und deren Angestellten!) machen, oft zu abstrakt und unpersönlich?

Ja klar. 😊 Der Alltag ist menschelnder, auch humorvoller und schrulliger, als man sich das vielleicht gemeinhin vorstellt. Ich behaupte ja immer, dass „Scrubs“ die Krankenhausserie mit dem vielleicht höchsten Grad an Realismus war.

Hallende menschenleere Gänge, vereinzeltes Schnarchen, Ächzen, Rascheln hinter den Türen, allein klackern wir durch das nächtliche Pflegeheim: Der Handlungsort von „Zwischen Mauern“ versprüht eine einzigartige Atmosphäre, die einen in ihren Bann zieht. Und einen ein bisschen auf sich selbst zurückwirft. Fällt in der Nacht das Abstreifen des privaten Menschen für die Rolle, die man als Personal einnimmt, schwerer?

Ich arbeite selbst schon seit einigen Jahren nicht mehr nachts, habe die besondere Atmosphäre aber immer gemocht. Die Arbeitsdichte ist in der Nacht meist nicht geringer als untertags, aber der Grad der Erschöpfung ist bei allen Berufsgruppen höher. Da mag es schon oft schwerer fallen, gut in der Rolle zu bleiben und Grenzen zu spüren.

 

Bist du neugierig geworden? „Zwischen Mauern“ findest du ab 19. September in deiner Lieblingsbuchhandlung . Alle Infos zum Buch findest du hier!

„Ich lese täglich Lyrik. Wie andere morgens ihre Yoga-Übungen machen, ziehe ich einen Band mit Gedichten aus dem Regal“ – Sabine Gruber im Interview

Über Lesen als Yoga, Schreiben als Bedürfnis, Recherche als diffuses Schnüffeln und was es eigentlich bedeutet, den Nachlass einer Autorin zu betreuen. Über diese Dinge haben wir mit der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin Sabine Gruber gesprochen, die gerade ihren 60. Geburtstag gefeiert und ihren neuen Roman „Die Dauer der Liebe“ veröffentlicht hat. Im folgenden Interview gibt sie uns einen spannenden Einblick in ihre literarische Arbeit, ihre Inspirationen und ihren kreativen Prozess.

Wir gratulieren Ihnen  ganz herzlich zu Ihrem 60. Geburtstag dieses Jahr. Im Laufe Ihres erfolgreichen literarischen Schaffens haben Sie Erzählungen, Romane, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke und Essays veröffentlicht und waren zudem als Universitätslektorin tätig. Gab es gewisse Meilensteine oder Herausforderungen, die Sie als Schriftstellerin besonders geprägt haben? Und: Was hat Sie ursprünglich zu dieser Berufswahl inspiriert?

Vielen Dank für die Glückwünsche!

Mit Sicherheit war der RAI-Kurzgeschichten-Preis 1985 eine Ermunterung weiterzuschreiben. Und als ich nach dem Studium als Lektorin an der Universität Venedig tätig war, stellte mir mein ehemaliger Diplomarbeit-Betreuer, Professor Sigurd Paul Scheichl, die richtigen Fragen, ob ich denn die Universitätslaufbahn einschlagen oder doch lieber schreiben wolle. Er verstand früher als ich, daß beides gleichzeitig nicht möglich ist.

An einem der ersten Schultage im Gymnasium wurden wir gefragt, warum wir uns für das Humanistische Gymnasium (mit Latein und Altgriechisch) entschieden hätten. Meine Antwort war damals schon, im Alter von 14 Jahren, ich wolle Journalistin oder Schriftstellerin werden. Es gab keine „Inspiration“ zu dieser Berufswahl, es war auch keine „Wahl“, es war vielmehr ein Bedürfnis, ein Verlangen, mich auszudrücken, zu lesen, die eine Welt, aus der ich kam, zu überwinden, neue auszudenken, mich in anderen, mir fremden Bücher-Welten aufzuhalten.

Welche Bücher oder Autor*innen haben Sie in den Anfängen Ihres Schreibens besonders fasziniert? Welche tun es heute? (Wie) Hat sich Ihre Einstellung zum Schreiben verändert?

Ich komme aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, ich las, was ich zwischen die Finger bekam: Bücher aus der Schulbibliothek und Pfarrbücherei, Bücher von meinem Vater (Karl May, Ernst Hemingway, Joseph von Eichendorff usw.), Zeitschriften und Magazine, auch die Regenbogenpresse, da meine Großmutter einen Zeitungsladen besaß und bei uns von der Illustrierten Quick (gibt es seit 1992 nicht mehr) bis zu den Comic-Heften alles herumlag. Heute lese ich nur mehr Bücher, die literarisch wertvoll sind. Sobald ich sprachliche und/oder formale Mängel bemerke, lege ich ein Buch weg. Mit 60 gilt es keine Zeit zu verlieren. Zuletzt hatte ich fast alle Bücher von Anne Carson und Maggie Nelson gelesen, aber auch die Essays von Lukas Bärfuss, der sich den radikalen Blick „von unten“ bewahrt hat.

 

Foto von Till Raether

© privat

Trauer, Verlust und Schmerz sind zentrale Motive in Ihrer Lyrik. Finden Sie, die Lyrik eignet sich besonders gut dafür, mit diesen Themen umzugehen und diese Emotionen zu verarbeiten? Wo liegen Ihrer Meinung nach die Stärken (oder auch Schwächen) der Lyrik im Vergleich zu anderen literarischen Gattungen?

Vor allem der vorletzte Lyrikband war eine Art Requiem auf meinen verstorbenen Lebensgefährten Karl-Heinz Ströhle. Der letzte Band „Am besten lebe ich ausgedacht“ besteht auch aus Reisegedichten, die sich mit bestimmten Orten, Bauten etc. auseinandersetzen.  Ob ich Lyrik oder Prosa schreibe, hat meist profane Gründe: Für die Romane bedarf es eines langen Atems, der Konzentration, der ökonomischen Sicherheit – Lyrik entsteht meist zwischen größeren Projekten. Ich möchte die Gattungen gar nicht gegeneinander ausspielen. Die Themen der Literatur ändern sich nicht, es gilt neue Formen zu finden, sowohl in der Lyrik, wo ich für mich zuletzt die Zwischenform „Journalgedicht“ gefunden habe, als auch in der Prosa, in der ich mich schon lange vom chronologischen, auktorialen Erzählen entfernt habe.

Unterscheiden sich Ihr kreativer Prozess, Ihre Herangehensweise oder Ihre Schreibroutine, je nachdem, ob Sie Gedichte oder Romane verfassen?

Ich lese täglich Lyrik. Wie andere morgens ihre Yoga-Übungen machen, ziehe ich einen Band mit Gedichten aus dem Regal, das ist eine gute Einübung ins Schreiben, ich werde beim Lesen mit dem Wesentlichen konfrontiert. Ich glaube, dass es eine Möglichkeit ist, Konzentration zu üben. Dieses Ritual bleibt gleich, egal ob ich Lyrik oder Prosa schreibe. Und sowohl der Prosa, aber auch einigen Gedichten, gehen Recherchen voraus.

Gemeinsam mit Renate Mumelter verwalten Sie den literarischen Nachlass der Meraner Schriftstellerin Anita Pichler, zu deren Werk Sie auch Anthologien und Bücher herausgegeben haben. Welche Bedeutung hat das Konservieren und Aufbewahren von Erinnerungen bzw. das Erinnern in Ihrer literarischen Arbeit und für Sie selbst?

Nachlassarbeit bedeutet vor allem, die Bücher lieferbar zu halten. Eine Autorin existiert nur, wenn ihr Werk vorhanden ist. Deswegen ist es für Autorinnen und Künstlerinnen wichtig, dass sie zu Lebzeiten entscheiden, wer sich darum kümmern soll, dass sie die entsprechenden Personen gesetzlich dazu berechtigen.

Ich notiere viel, sammle Dokumente, Bücher, nutze Fotos als Erinnerungsspeicher. W.G. Sebald sagte einmal in einem Interview, man müsse auf eine diffuse Weise recherchieren, so wie ein Hund sucht, also in alle Richtungen, rauf und runter, langsam, schnell. Meine abgelegten Notizen und Bilder können zu einem späteren Zeitpunkt alte Erinnerungen freisetzen, sie enthalten Reste von Geschichten, die sich neu formulieren lassen. Den eigenen Erinnerungen ist nicht zu trauen, aber das spielt für die Literatur keine Rolle, denn es gilt ohnehin, das Eigene zu verfremden und sich das Fremde einzuverleiben.

Woran arbeiten Sie aktuell?

Ich sammle Material für einen neuen Roman, aber darüber detailliert zu sprechen,  ist noch zu früh. Mein Großonkel Luis Gruber (1919-1944) hat ein interessantes Tagebuch hinterlassen, das er vom Tag der Einberufung durch die Deutsche Wehrmacht bis wenige Tage vor seinem Tod in der Nähe von Witebsk/Belarus geführt hat, das wird möglicherweise eine Rolle spielen.

Vielen Dank für das Gespräch!

„Sie will und bekommt beides, Erfolg und Liebe, wenn auch nacheinander und nicht gleichzeitig, wie wir es heute erwarten würden.” Bettina Balàka im Interview

Zwei außergewöhnliche Frauen voller Wut und Ambitionen, ein Vater, dessen Erfolg auf bröckelnden Säulen errichtet ist und eine Revolution, die nicht nur einen ganzen Kontinent wachrüttelt. In ihrem neuen Roman „Der Zauberer vom Cobenzl“ erzählt Bettina Balàka eine Geschichte von Magie und Wissenschaft, Feuer und Forschung. Sie erschreibt eine Bühne, für Reichenbachs Tochter Hermine, die wahre Protagonistin in der Lebensgeschichte des Freiherrn und seiner Suche nach der Existenz von „Od“,  eine Kraft, die aus allen Dingen und Lebewesen strömt – doch sehen kann sie kaum jemand. Wie ihre Schwester Ottone verliebt sich Hermine in einen Mann, der ihr ferngehalten wird. Beide Töchter werden vom Vater gefördert – Hermine in ihren Forschungen, Ottone in der Musik – aber doch zurückgehalten. Und beide brechen aus.

Welche Möglichkeiten hat eine Frau des 19. Jahrhunderts wirklich?“ eine der leitenden Fragen, die uns in Ihrem Buch „Der Zauberer vom Cobenzl“ begleiten. Hermine und Ottone werden beide durch die Zeit, in der sie leben, eingeschränkt. Obwohl sie einen Vater haben, der die Talente der beiden fördert, anstatt sie zu verstecken – eine unterstützende Haltung, die nicht üblich war. Ottone wird als talentierte Musikerin gefördert, Hermine unterstützt ihn mit ihrem wissenschaftlichen Eifer und Geschick. Aber wo endet die Bereitschaft von Reichenbach, seine Töchter wirklich frei sein zu lassen?

Zu dem Zeitpunkt, als Hermine und Ottone sich ernsthaft verlieben, hat Reichenbach bereits eine Reihe von traumatischen Verlusten hinter sich. Innerhalb weniger Jahre sterben seine geliebte Gattin, sein Vater sowie sein treuer Freund und Mentor Fürst Salm. Dann entzieht man Reichenbach auch noch Anstellung und Zuhause in Blansko, sein Bruder begeht Selbstmord. Durch seine fragwürdige Od-Forschung verliert er in der wissenschaftlichen Welt an Reputation, infolge des Gerichtsverfahrens gegen den jungen Fürsten Salm, den Sohn seines Freundes, wenden sich weitere gesellschaftliche Kreise von ihm ab. In dieser Situation sind die Töchter die einzigen Menschen, die ihm noch aus seiner Glanzzeit bleiben, sie repräsentieren für ihn Kontinuität und Stabilität in seiner brüchig gewordenen Existenz. Die Methode, mit der er sie zu halten versucht, entspricht dem patriarchalen Zeitgeist: Er erklärt die von ihnen gewählten Männer für sozial inadäquat und untersagt seinen erwachsenen Töchtern den Umgang respektive die Heirat – und damit den Auszug. Die zugrundeliegende Motivation aber ist gewissermaßen zeitlos: die Angst, eine vertraute Lebenssituation für eine völlig neue aufzugeben. Man könnte dabei durchaus auch an Jelineks „Klavierspielerin“ denken, wo die Mutter ebenfalls alle Männer für unzulänglich erklärt, um die Tochter bei sich zu behalten.

Hermine ist – wie ihr Vater – der Forschung verfallen. Entgegen den damaligen Rahmenbedingungen kann sie diese Leidenschaft ausüben. Der Zugang zur Universität ist ihr zwar verboten, jedoch kann sie bei Dr. Unger in Graz am Joanneum ihre Forschung etablieren. Auch er fördert sie sehr. Öfter als selten ist jedoch ihr Ehestand Thema. „In der wissenschaftlichen Arbeit beherrscht sie alles so gut wie ein Mann – wenn nicht gar besser als mancher – und sieht dabei nicht einmal schlecht aus. Aber wer will mit so einer Frau verheiratet sein?“, sagt er zu bzw. über Hermine. Hermine ärgert dies. Es ist ein altes Klischee, dass eine Frau nicht Karriere bzw. Erfolg und Liebe zugleich wollen kann. Beides aber macht Hermine aus. War es Ihnen in Ihrem Roman wichtig, dass Hermine nach beidem streben darf?

Hermine ist nicht bereit, hier irgendwelche Abstriche zu machen und sich dem Klischee zu beugen. Schon bevor sie sich in ihren späteren Ehemann verliebt, schwört sie, dass sie heiraten würde, „und zwar glücklich, und sei es nur, um die Ungers zu ärgern“. Sie will und bekommt beides, Erfolg und Liebe, wenn auch nacheinander und nicht gleichzeitig, wie wir es heute erwarten würden. Dabei hilft ihr aber auch ein sehr glücklicher Zufall. Mit Carl Schuh, einem Pionier der Daguerreotypie, lernt sie einen Mann kennen, der nicht nur ihre naturwissenschaftlichen Interessen teilt, sondern sich auch durch ihre Bildung nicht bedroht fühlt und kein Problem damit hat, mit ihr auf Augenhöhe zu sprechen. Dennoch gibt Hermine mit der Eheschließung ihre wissenschaftliche Karriere auf, auch, um die Trennung vom Vater endgültig zu besiegeln. Aus heutiger Sicht wäre das nicht politisch korrekt, aber für sie ist es stimmig. Sie hat in der Botanik für eine Frau ihrer Zeit außergewöhnliche Anerkennung erreicht, nun, mit dreißig, nimmt sie sich den Raum, sich anderen Aspekten des Daseins zu widmen. Ich musste dabei durchaus an heutige erfolgreiche Frauen wie Julia Roberts denken, die sich mit der Geburt ihrer Kinder eine Auszeit vom Filmbusiness nahm und auch dazu steht, das Familienleben zu genießen.

Besonders die Natur – die Pflanzenphysiologie – ist es, die Hermine fasziniert. Schon als kleines Kind hat sie die Wiesen und den Wald geliebt, später dann (verbotenerweise) Höhlen erkundet. Warum spielt die Natur so eine große Rolle für sie?

 

© Alain Barbero

Hermine wächst im Einflussbereich zweier leidenschaftlicher Naturforscher auf: ihr eigener Vater und dessen Mentor Fürst Salm. Beide besitzen chemische Labors, sind Pioniere der Höhlenforschung, haben museumsreife Sammlungen und Bibliotheken. In den Parks und Glashäusern der Schlösser beobachtet sie die Pflanzenzucht. Von ihrem Vater wird sie intensiv gefördert, er schenkt ihr das erste Brennglas und zeigt ihr, wie man ein Herbar anlegt. Gleichzeitig ist die wilde, ungebändigte Natur ihr Sehnsuchtsort, ein Symbol der Freiheit, wo es keine Mauern und Konventionen gibt.

Die Beziehung der zwei Schwestern zueinander ist – wie es Geschwisterbeziehungen oft sind – vielschichtig und komplex. Als Kinder sind sie quasi wie Zwillinge, später wandelt sich die tiefe Verbundenheit, sie werden einander Feindinnen, aber auch das nicht wirklich. Als erwachsene Frauen ist wieder eine Annährung zu spüren. Ist es sogar Ottone schlussendlich, die Hermine auf einen Weg bringt, den sie gehen muss?

Indem Ottone als Erste den Schritt wagt, sich vom Vater zu lösen, eröffnet sie auch für Hermine diese Option. Hermine zieht aber nicht nur von zu Hause aus, um ihrem Vater gegenüber ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren, sondern auch, um ihrer Schwester beizustehen. Ottone hat den geliebten Mann an eine andere verloren, ist in ihrer neu gewonnenen Freiheit traurig und allein. Als Hermine das erkennt, ist der Entschluss zu ihr zu ziehen, schnell gefasst. Wie ein Schutzengel wacht sie über ihre kleine Schwester, gemeinsam durchleben sie die aufwühlende Zeit der Revolution.

War von Anfang an klar, dass nur Hermine die Geschichte erzählen kann? Dass auch wir als Leser*innen ihr am nächsten sein sollen?

Hermine bot sich aus zwei Gründen als Erzählerin an. Erstens ist sie eine ebenso außergewöhnliche historische Figur wie ihr Vater, und zweitens hat sie lange gelebt, nämlich bis 1902 (sie wurde 83 Jahre alt). Dadurch kann sie als einzige Überlebende der Familie die Geschichte Reichenbachs bis zu dessen Tod erzählen. Sie befürchtet, dass er und all seine Errungenschaften vergessen werden könnten, doch wir Nachgeborenen wissen, dass sie selbst noch viel mehr vergessen wurde. Indem ich sie die Erinnerung an ihren Vater wachhalten ließ, wollte ich sie mit einer ganz eigenen Stimme versehen und damit ebenfalls dem Vergessen entreißen – genauso wie ihre Schwester Ottone, die ja schon mit 28 starb.

Mit Wörtern konnte man sich in die Ewigkeit einschreiben, egal, ob man sie selbst erfunden hatte oder ob sie aus dem eigenen Namen gebildet wurden.“ Carl Ludwig Freiherr von Reichenbach ist einer, der stets versucht, voranzukommen. Er kann es – wie man so sagt – nicht sein lassen. Brennt darauf, in die Geschichte einzugehen. Was hat Sie an der historischen Figur so fasziniert, dass Sie diese in einem Roman verarbeitet haben?

Allein die Tatsache, dass Reichenbach so umfassend vergessen wurde, war faszinierend für mich. Er kommt zwar ab und zu als Kuriosum in Wien-Büchern vor, aber allgemein bekannt ist er keineswegs. Vor allem seine großen Leistungen in Mähren werden kaum erwähnt, was möglicherweise damit zu tun hat, dass dieser so nahe Landstrich viele Jahrzehnte durch den sogenannten „Eisernen Vorhang“ abgetrennt war. In Reichenbach personifiziert findet man einen Konflikt, der bis zum heutigen Tag anhält: Wo scheidet sich die evidenzbasierte Wissenschaft von der Esoterik und anderen Pseudowissenschaften? Von der Modernisierung der Holzverkohlung und der Eisengussproduktion über die Entdeckung des Paraffins bis zur Meteoritenforschung war Reichenbach auch nach heutigen Maßstäben ein auf der Seite des Realen und Faktischen stehender Pionier. Erst mit seiner Od-Forschung bog er in eine Richtung ab, in die ihm andere zeitgenössische Wissenschaftler nicht mehr folgen wollten. Wir leben nun in einem für viele postfaktischen Zeitalter und gerade in der Pandemie kamen wieder Debatten auf, wie es sich mit der Realität von Dingen verhält, die man nicht sehen kann: Viren, Impfungen etc. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie es mit dem Od weiterging. Ein Vierteljahrhundert nach Reichenbachs Tod wurden die Röntgenstrahlen entdeckt, die vom Menschen ja ebenfalls weder gesehen noch gefühlt werden können. Damals hofften seine Anhänger, dass nun auch die Od-Forschung rehabilitiert werden könnte, was aber bekanntlich bis heute nicht der Fall ist. Die Homöopathie dagegen, die Reichenbach leidenschaftlich ablehnte, gibt es noch immer.

Ihr Schreibprozess umfasst viel Recherchearbeit, das Sichten von historischen Dokumenten und Quellen. Wie lernen Sie dadurch die Figuren kennen, über die Sie schreiben? Wie erhalten diese Figuren ihre Charaktereigenschaften, ihre Stärken und Schwächen?

Es entsteht schon während der Recherche eine sehr enge Bindung zu den Figuren. Ich versuche, sie charakterlich komplex zu gestalten, wie reale Menschen nun mal sind – nur gute Lichtgestalten oder rein abstoßende Bösewichte fände ich langweilig. Dabei ist es mir wichtig, auch Verhaltensweisen, die wir heute ablehnen würden, im Zeitkontext verständlich zu machen. Schließlich sind wir ja alle in unseren Haltungen und Einstellungen den Einflüssen der jeweiligen Gegenwart ausgesetzt. In einer Rückprojektion über Menschen der Vergangenheit permanent überlegen den Kopf zu schütteln bedeutete ja auch anzunehmen, dass wir im Besitz der endgültigen Weisheit sind. Wahrscheinlicher ist aber, dass man sich schon in wenigen Jahrzehnten über so manches wundern wird, was uns jetzt selbstverständlich erscheint.

 

Bist du neugierig geworden? „Der Zauberer vom Cobenzl“ liegt ab 8.August in der Buchhandlung deines Vertrauens. Alle Infos zum Buch findest du hier!

„In der Literatur herrschen immer noch deutlich unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen“ – Veronika Schuchter im Interview

Auch die Literatur(branche) braucht nachhaltige, strukturelle Veränderungen und eine Perspektivenerweiterung. Denn: patriarchale Machtstrukturen beeinflussen immer noch was wir lesen und wie darüber gesprochen wird. Wie sich das äußert und auch was wir dagegen tun können haben wir mit Veronika Schuchter besprochen. Sie ist Germanistin, Genderforscherin, Literaturkritikerin und freie Lektorin. Im folgenden Interview gibt sie einen Überblick über die Auswirkungen von Ungleichheit und schiefen Machtverhältnissen im Literaturbetrieb, außerdem spricht sie über Kanonkritik sowie literarische Identitätspolitik.

 

In deinem Forschungsprojekt „Literaturkritik als Gender-Diskurs“ hast du dich mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich die Kategorie Gender auf die Literaturkritik auswirkt. Herrschen im Literaturbetrieb unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen* bzw. werden Autorinnen und Autoren unterschiedlich bewertet und welche Faktoren spielen hier eine Rolle? Und was lässt sich hier im Hinblick auf nicht-binäre Autor*innen beobachten?

Es herrschen leider immer noch deutlich unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen, das beginnt beim Verdienst, bei Vorschüssen und es hört damit auf, wie über Autorinnen gesprochen wird. Autoren werden meist zu ihrem Werk befragt, Autorinnen zu ihrer Person, oder wie es ist im Literaturbetrieb als Frau. Es ist wichtig auch darüber zu sprechen, doch das Werk sollte im Mittelpunkt stehen. Hier sind immer noch althergebrachte Rollenmuster am Werk, die oft gar nicht bemerkt werden, aber nur schwer zu überwinden sind. Nicht-binäre Autor*innen werden häufig auf diese Eigenschaft reduziert, das war etwa bei Kim de l’Horizon der Fall. Der Roman „Blutbuch“, der den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, wurde aus der identitätspolitischen Perspektive gelesen, dabei ist er viel mehr als das, etwa ein sehr berührender Text über die Mutter der erzählenden Figur.

In ihrem Roman „Das Licht ist hier viel heller“ thematisierte Mareike Fallwickl bereits 2019 die toxischen patriarchalen Strukturen in der Kulturbranche. Ihre Erzählung handelt von einem Schriftsteller, der sich die traumatische Geschichte einer Frau aneignet und damit sein literarisches Comeback feiert. Der Umgang mit Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch wach?“ erinnert die Autorin stark an den Plot ihres Romans: „Wie mein Protagonist Wenger steht Stuckrad-Barre vor allem selbst im Rampenlicht. Beide legen männerdominierte Machtstrukturen offen – und profitieren dabei von ebendiesen Strukturen. Die geschädigten Frauen haben diese Stimme nicht“, führt sie in einem Interview aus. Wie wichtig ist deiner Meinung nach die Perspektive und Biografie der Schreibenden? Inwiefern spielt es für die Vermittlung von feministischen, queeren, antirassistischen und dekolonialen Inhalten bzw. Lebensrealitäten von intersektional diskriminierten Menschen eine Rolle, wer über wen erzählt und welche Realitäten dadurch vermittelt werden?

Das ist eine sehr komplexe Frage, die sich nicht eindeutig beantworten lässt. Durch die identitätspolitische Sensibilisierung der letzten Jahre neigen momentan viele dazu, dass sie literarische Texte durch die Biografie der Autorin/des Autors beglaubigt haben wollen. Das ist verständlich, aber das Schöne an Literatur ist ja, dass man sich in andere hineinversetzen kann. Wenn jeder nur noch über die eigenen Erfahrungen schreibt, würde das die Literatur sehr arm machen. Sonst kann ich genauso gut nur dokumentarische Texte lesen, die auf Fakten basieren. Natürlich gibt es Themen, die mehr Sensibilität erfordern. Wir sollten aber nicht anfangen, Autor*innen vorschreiben zu wollen, welche Perspektiven sie einnehmen dürfen. Wir müssen woanders ansetzen: Ich plädiere stark dafür, wieder stärker auf die Texte einzugehen. Die Lesekompetenz muss gefördert werden, der Literaturbetrieb muss diverser werden und die Literaturkritik bzw. Literaturvermittlung muss der Aufgabe nachkommen, Texte besser einzuordnen. Stuckrad-Barre ist dafür ein gutes Beispiel: Kann ein Mann einen Me-Too-Roman schreiben? Natürlich. Aber das hat Stuckrad-Barre nicht gemacht, sondern er hat einen Schlüsselroman über sich selbst geschrieben. Die Literaturkritik sollte genug Kompetenz haben, um dem Marketing hier nicht auf den Leim zu gehen. Es geht also mehr darum, welche Bücher bekommen Aufmerksamkeit? Dann können die Leser*innen selbst entscheiden, wie wichtig ihnen die Biografien der Autor*innen sind.

Das Patriarchat prägt nicht nur unsere Gesellschaft und unseren Alltag, sondern es beeinflusst auch, was und wie wir lesen. Wo äußern sich deiner Meinung nach patriarchale Machtverhältnisse in der Literaturforschung und -vermittlung am deutlichsten und welche Möglichkeiten siehst du als Wissenschaftlerin und Lehrende, ihnen entgegenzuwirken ? 

Patriarchale Verhältnisse äußern sich in der Forschung und Literaturvermittlung vielfältig, besonders deutlich bei den Untersuchungs- bzw. Vermittlungsgegenständen. Wem Aufmerksamkeit gewidmet wird und wie über Literatur von Frauen und andere marginalisierte Gruppen gesprochen wird, ist noch deutlich androzentrisch und patriarchal geprägt, was auch durch die Unterrepräsentation dieser Gruppen in führenden Positionen bedingt ist. Über Literatur von Frauen wird beispielsweise deutlich weniger berichtet, in Interviews fragt man sie dann danach, wie sie sich als Frau im Literaturbetrieb fühlen, statt sich mit ihrem Text zu beschäftigen.

Ein erster, wichtiger Schritt ist es, Bewusstsein zu schaffen. Momentan tut sich da viel. Verlagsprogramme werden unter die Lupe genommen, quantitative Untersuchungen zu Geschlechterverhältnissen in verschiedenen Kulturbereichen erstellt usw. Mir persönlich ist es auf der einen Seite wichtig, Schieflagen zu belegen und herauszufinden, wie sie entstehen. Auf der anderen Seite möchte ich aber auch Vielfalt aufzeigen. Es ist ja nicht so, als hätte es keine Texte von Frauen, Texte in denen LGBTIQ+-Themen zentral sind, gegeben, sie sind nur oft nicht bekannt. Die lasse ich in meine Lehre miteinfließen.

Gibt es bestimmte Kriterien, nach denen du die Leselisten für deine Seminare zusammenstellst? Ist das Bedürfnis von Studierenden spürbar, sich diversitätskritischer mit Lektürelisten auseinanderzusetzen?

Das kommt ganz drauf an, worum es in meinem Seminar geht. Dieses Semester unterrichte ich ein Seminar zu Diversität und Gender, dementsprechend divers sieht die Literaturliste aus. Es geht auch nicht immer darum, von wem ein Text geschrieben wurde, sondern wie wir ihn heute behandeln, ob er noch anschlussfähig ist. Da kann man etwa von Grillparzers „Medea“ einiges lernen, obwohl er ein vermutlich heterosexueller cis-Mann war. Das Bedürfnis von Studierenden nach diverseren Lektürelisten und einem anderen Blick auf die Literatur hat in den letzten Jahren stark zugenommen und viele Lehrende kommen dem auch erfreulicherweise nach. Gerade auch für die Lehramtsstudierenden ist es wichtig, dass sie gut an diese Thematiken herangeführt werden und auch Texte kennenlernen, mit denen sie in der Schule später gut arbeiten können.

Ganz allgemein gefragt: Braucht es überhaupt einen Kanon? Kann der nicht einfach abgeschafft oder verändert werden und wer kann etwas dazu beitragen?

Den Kanon gibt es nicht, es gibt viele Kanones, die nach ganz unterschiedlichen Kriterien aufgebaut sind. Gemeinhin wird damit so etwas wie ein Bildungskanon gemeint – was muss ich gelesen haben? Kanones sind essenziell, weil sie dem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach Austausch entspringen. Es ist wichtig, dass wir Texte haben, die viele Menschen kennen, damit wir uns darauf beziehen können, in Diskussion treten können. Wenn niemand weiß, was die anderen lesen, würde das den sozialen Faktor der Literatur empfindlich schwächen. Ich bin zwar beim Lesen allein, aber Literatur geht auf das mündliche Erzählen zurück. Unsere Märchen sind ein Kanon! Unsere ganze Kultur ist ein großer Kanon, wenn man so will. Und jeder kann etwas dazu beitragen, indem er über Texte spricht. Wichtig ist vor allem, dass die großen kanonbildenden Instanzen, die Literaturkritik, die Literaturwissenschaft, das Verlagswesen, diverser werden – dann wird auch „der“ Kanon diverser. Es geht also eher darum, den Kanon positiv aufzuladen und nicht als hierarchische, patriarchal geprägte Liste zu verstehen, sondern als bunten Fundus an Texten, über die wir sprechen können und der gefüllt werden muss mit Texten, die eben nicht mehr in erster Linie privilegierte Gruppen repräsentiert.

 

Behauptetes Klassikertum: Warum deine Leseliste ein diskriminierender Boys-Club ist und wie wir das jetzt ändern!

Literaturklassiker“– das klingt nach einer überzeitlichen, objektiven, allgemeingültigen Auswahl. Bücher, die so eingeordnet sind, sind über jede Kritik erhaben, schließlich haben sie sich über viele Jahre bewährt und – so sagt man – stehen beispielhaft für ganze Literaturepochen und Gesellschaften. Sie bieten Orientierung, nach der wir uns alle sehnen und können uns Wissen über Herrschaftsverhältnisse, ästhetische Werte, geschichtliche Entwicklungen vermitteln. So weit, so gut – aber stimmt das überhaupt?

Teresa Reichl ist Germanistin (inkl. Staatsexamen fürs Lehramt), Literaturnerd, Kabarettistin mit Solo-Programm, Youtuberin – und: Autorin. Auf Instagram (@teresareichl), Tiktok und Youtube wird sie von mehreren Tausend Menschen gefeiert. Denn: Teresa Reichl geht den Erzählungen auf den Grund, die wir rund um die großen Autoren und ihre Bücher erschaffen haben. Ihr Ziel: Jugendlichen die Freude am Lesen zu vermitteln. Den literarischen Kanon diverser zu gestalten. Lehrkräfte dabei zu unterstützen, neue und andere Bücher in den Unterricht zu bringen. Und vor allem: Literatur endlich feministisch zu machen.
Foto: © Lolografie

Teresa Reichl hat sich durch die Deutsch-Lehrpläne für die Oberstufen aller deutschen und österreichischen Bundesländer geackert und kommt zum Schluss, dass auf den Leselisten fast ausschließlich Werke von Menschen versammelt sind, die in die Kategorien männlich, weiß, christlich, cis, nicht-behindert, aus der „Oberschicht“ und hetero fallen. Und weil Klassiker nicht nur für die Lehrpläne, sondern für sehr viele Lebensbereiche den (zumindest behaupteten) Qualitätsstandard setzen, sieht es in Zeitungen, Buchhandlungen, Uni-Bibliotheken und vielleicht auch in deinem Regal genauso wenig divers aus.

Aber können solche Listen, in denen immer wieder der gleiche kleine Ausschnitt einer Gesellschaft zu Wort kommt, wirklich die Realität ihrer Zeit abbilden und für ihre Gesamtheit sprechen? Ist es wirklich so, dass Frauen oder migrantifizierte Menschen nichts geschrieben haben? – Bullshit!, sagt Teresa Reichl und zeigt auf, wie über viele Jahrhunderte Stimmen bewusst verdrängt und unsichtbar gemacht wurden. Und dass wir deswegen heute nicht so tun dürfen, als wüssten wir nichts von patriarchalen, klassistischen, rassistischen, ableistischen Strukturen, die den Großteil der Menschen von Teilhabe und Kanonisierung ausgeschlossen haben und dies bis heute tun.

Es ist deshalb Zeit für den nächsten logischen feministischen Schritt: Die Literatur und ihre Geschichte werden umgeschrieben. Werden divers. Werden endlich korrigiert. Teresa Reichl hat einen ausgewachsenen Alternativ-Kanon zusammengestellt. Um zu zeigen, dass es Bücher (ja, auch alte!) von Autor*innen gibt, von denen immer behauptet wird, sie hätten nichts geschrieben.

Ihr Buch “Muss ich das gelesen haben?” und die folgende Liste sollen dabei nur ein Anfang sein. Du kennst Bücher, die auf dieser Liste fehlen und die unbedingt ergänzt gehören?

Reiche deine Must-Reads unter www.mussichdasgelesenhaben.com ein! Holen wir die verdrängten Stimmen zurück in die Literaturgeschichte und bauen wir gemeinsam einen Alternativ-Kanon, der viele Perspektiven kennt!

Komödien

  • Dürrenmatt, Friedrich: Der Besuch der alten Dame, 1956
  • Fleißer, Marieluise: Pioniere in Ingolstadt, 1928 (oder 1929 oder 1968)

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Das Testament, 1745

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Der Witzling, 1745

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die Hausfranzösinn oder die Mammsell, 1744

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, 1732

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die ungleiche Heyrath, 1743

  • Hauptmann, Gerhart: Der Biberpelz. Eine Diebskomödie, 1893

  • Hauptmann, Gerhart: Schluck und Jau, 1899

  • Lessing, Gotthold Ephraim: Minna von Barnhelm, 1767

  • Viebig, Clara: Pharisäer, 1899

Frauen [1]

  • Fleißer, Marieluise: Fegefeuer in Ingolstadt, 1924
  • Goethe, Cornelia: Briefe und Correspondance Secrete 1767-–1769, 1990
  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Panthea, 1744 (oder 1772)
  • Haushofer, Marlen: Die Mansarde, 1969
  • Haushofer, Marlen: Die Wand, 1963
  • Haushofer, Marlen: Eine Handvoll Leben, 1955
  • La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, 1771
  • Reuter, Gabriele: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens, 1895
  • Schwarz, Sibylla: Gesang wider den Neid. Sibylla Schwarz – Barockdichtung aus Greifswald, 2013
  • Schwarz, Sibylla: Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden, 2021
  • Viebig, Clara: Wildfeuer, 1896

Judentum

  • Becker, Jurek: Jakob der Lügner, 1969
  • Frank, Anne: Tagebuch, 1947
  • Kerr, Judith: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, 1971
  • Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen, 1975
  • Levoy, Myron: Der gelbe Vogel, 1977
  • Seghers, Anna: Das siebte Kreuz, 1942
  • Seghers, Anna: Transit, 1944
  • Tergit, Gabriele: Effingers, 1951

Islam

  • Abdel-Samad, Hamed: Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland, 2019
  • Daas, Fatima: Die jüngste Tochter, 2021
  • El Masrar, Sineb: Muslim Girls. Wer wir sind, wie wir leben, 2010
  • El Masrar, Sineb: Muslim Men. Wer sie sind, was sie wollen, 2018
  • Jagiella, Leyla: Among the Eunchs. A Muslim Transgender Journey, 2021
  • Yaghoobifarah, Hengameh und Aydemir, Fatma: Eure Heimat ist unser Albtraum, 2019
  • Yaghoobifarah, Hengameh: Ministerium der Träume, 2021

Sinti*zze und Rom*nja

  • Müller, Josef „Muscha“: Und weinen darf ich auch nicht … Ausgrenzung, Sterilisation, Deportation – eine Kindheit in Deutschland, 2002
  • Reinhardt, Dotschy: Gypsy. Die Geschichte einer großen Sinti-Familie, 2008
  • Stojka, Ceija: Meine Wahl zu schreiben – ich kann es nicht. Gedichte (Romanes, deutsch) und Bilder, 2003
  • Stojka, Ceija: Reisende auf dieser Welt. Aus dem Leben einer Rom-Z, 1992
  • Stojka, Ceija: Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Z, 1988
  • Tschawo, Latscho: Die Befreiung des Latscho Tschawo. Ein Sinto-Leben in Deutschland, 1984
  • Tuckermann, Anja: „Denk nicht, wir bleiben hier!“ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner, 2005
  • Tuckermann, Anja: Muscha, 1994

Behinderte Autor*innen [2]

  • Aguayo-Krauthausen, Raúl: Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Das Leben aus der Rollstuhlperspektive, 2014
  • AWO-Kreisverband Siegen-Wittgenstein/Olpe (Hrsg.): Bei Hörgeschütz: Ruhig Blutdruck, Geschichten aus dem echten Leben, 2013
  • Barroso, Carlos: Mein Leben und ich, 2010
  • Ebner, Amelie: Willkommen im Erdgeschoss: Wie ich mich mit 17 im Rollstuhl wiederfand, 2017
  • Feldwieser, Sabine (Hrsg.): Das Leben ist, bevor man stirbt. Texte und Bilder zu Sterben, Tod und Jenseits von Menschen mit geistiger Behinderung, 2011
  • Fohrmann, Petra: Ein Leben ohne Lügen! Die Tagebücher der Dagmar B., 2005
  • Fraas, Christine (Hrsg.): ICH kann schreiben. Briefe, Bilder und Geschichten von Hermine, 1999
  • Hanousek-Mader, Iris (Hrsg.): Es war die Eule in mir, 2014
  • Herbrand, Monika (Autorin) & Can Gercekoglu (Co-Autor): Wenn ich tanzen will. Autismus zum Anfassen, 2012
  • Huainigg, Franz-Joseph (Hrsg.): Kann nicht schlafen. Literaturpreis Ohrenschmaus: die besten Texte, 2012
  • Keller, Christoph: Jeder Krüppel ein Superheld. Splitter aus dem Leben in der Exklusion, 2020
  • Koenig, Michaela: Traust du mir das zu, 2000
  • Krieger, Armin: Einsamer Junge, 2005
  • L’Audace, Luisa: Behindert und stolz: Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht, 2021
  • Melle, Thomas: Die Welt im Rücken, 2018
  • Mevissen, Katharina: Ich kann dich hören, 2019
  • Paulmichl, Georg: Ins Leben gestemmt. Neue Texte und Bilder, 1994
  • Paulmichl, Georg: Verkürzte Landschaft. Texte und Bilder, 1990
  • Paulmichl, Georg: Vom Augenmass überwältigt. Briefe, Glossen und Bilder, 2001
  • Reeh, Alexander: Immer nach den Sternen greifen, 2009
  • Russ, Michael et al.: Special poetics. Neue Texte, 2005
  • Stabenow, Peter: Fantasie und Wirklichkeit, 2013
  • Tucker, Bonnie Poitras: Der Klang von fallendem Schnee. Leben ohne zu hören, 2018

Queere Autor*innen

  • Amborn, Erich: Und dennoch Ja zum Leben: die Jugend eines Intersexuellen in den Jahren 1915–1933, 1981
  • Anonym: Der Liebe Lust und Leid der Frau zur Frau, 1895
  • August Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg: Ein Jahr in Arkadien – Kyllenion, 1805
  • Conradi, Lou: Baby Butch, 2019
  • De l’Horizon, Kim: Blutbuch, 2022
  • Elbe, Lili: Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Eine Lebensbeichte, 1932
  • Giese, Linus: Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war, 2020
  • Kühnert, Phenix: Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau, 2022
  • Pelny, Marlen: Liebe / Liebe, 2021
  • Russo, Meredith: Als ich Amanda wurde, 2016
  • Schaefers, Marius: In den buntesten Farben, 2022
  • Slater, Dashka: Bus 57. Eine wahre Geschichte, 2017
  • Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen, 1891
  • Weirauch, Anna Elisabet: Der Skorpion (Band 1, 2 und 3), 1919, 1921, 1931

Bi_PoC [3]

  • Ayim, May: blues in schwarz-weiss, 1995
  • Ayim, May: Weiter gehen. Gedichte, 2020
  • Aziz, Amina et al.: Encyclopaedia Almanica: Diese neue deutsche Enzyklopädie ist eine Verweigerung, 2020
  • Götting, Michael: Contrapunctus, 2015
  • Ha, Kien Nghi: Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond, 2021
  • Hagen, Zoe: Tage mit Leuchtkäfern, 2016
  • Hasters, Alice: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten, 2019
  • Hierse, Lin: Wovon wir träumen, 2022
  • Hügel-Marschall, Ika: Daheim unterwegs. Ein deutsches Leben, 1998
  • Khabo Koepsell, Philipp (Hrsg.): Afro Shop, 2014
  • Michael, Theodor: Deutsch sein und schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen, 2013
  • Obulor, Evein; RosaMag (Hrsg.): Schwarz wird großgeschrieben, 2021
  • Ogette, Tupoka: exit racism. rassismuskritisch denken lernen, 2019
  • Oguntoye, Katharina; Opitz, May; Schultz, Dagmar: Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, 1986
  • Otoo, Sharon Dodua: Adas Raum, 2021
  • Otoo, Sharon Dodua: Die Dinge, die ich denke, während ich höflich lächle … und Synchronicity. Zwei Novellen, 2017
  • Park Hong, Cathy: Störgefühle. Über anti-asiatischen Rassismus, 2022
  • Phạm, Khuê: Wo auch immer ihr seid, 2021
  • Thomae, Jackie: Brüder, 2019
  • Thomas, Angie: The Hate U Give, 2017
  • Wenzel, Olivia: 1000 Serpentinen Angst, 2020
  • Zöllner, Abini: Schokoladenkind. Meine Familie und andere Wunder, 2013

„Arbeiter*innenklasse“

  • Baron, Christian: Ein Mann seiner Klasse, 2020
  • Baron, Christian; Barankow, Maria (Hrsg.): Klasse und Kampf, 2021
  • Darer, Harald: Blaumann, 2019
  • Gluchowski, Bruno: Der Honigkotten, 1969
  • Helms, Karl Heinrich: Krupp & Krause, 1965
  • Hüser, Fritz; Von der Grün, Max (Hrsg.): Aus der Welt der Arbeit – Almanach der Gruppe 61 und ihrer Gäste, 1966
  • Johnson, Uwe: Mutmassungen über Jakob, 1959
  • Mayr, Anna: Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht, 2020
  • Strittmatter, Erwin: Ole Bienkopp, 1963
  • Sudermann, Hermann: Die Ehre, 1889
  • Sudermann, Hermann: Frau Sorge, 1887
  • Sudermann, Hermann: Im Zwielicht, 1887
  • Von der Grün, Max: Irrlicht und Feuer, 1967
  • Von der Grün, Max: Männer in zweifacher Nacht, 1962
  • Wolf, Christa: Der geteilte Himmel, 1964

[1] Vieles aus Frauenliteratur von Nicole Seifert

[2] Vieles von diewortfinder.com

[3] Vieles von eulemagazin.de

Eine Liebe, allen Hindernissen zum Trotz, festgehalten für die Ewigkeit

Eine Vielzahl an Briefen, jahrzehntelang auf einem Dachboden vergessen. Der Inhalt: voller Sehnsucht, Frustrationen, Alltagserlebnisse, Berichte und Liebesbekundungen. Die Verfasser: zwei Männer im England der 40er-Jahre, der eine Student, der andere Professor der Philosophie.

Ludwig Wittgenstein gilt als einer der führenden Philosophen des 20. Jahrhunderts. Die Überlegungen in seinem Werk „Tractatus logico-philosophicus“ haben die Geschichte der modernen Philosophie grundlegend verändert.
Ben Richards war Student der Medizin an der Universität in Cambridge.

Was die beiden verbindet?
Eine innige Beziehung, festgehalten in mehr als 370 Briefen. Der Altersunterschied von 35 Jahren und die Ablehnung der Gesellschaft gegenüber homosexuellen Beziehungen rücken in den Hintergrund. Stattdessen erzählen die Briefe von den Leben zweier Männer, ihren Ängsten, Zukunftsträumen und einer tiefen Verbundenheit miteinander. Ergänzt durch Abbildungen beigelegter, getrockneter Pflanzen, Fotografien und Zeichnungen werden die Worte lebendig, lassen uns spüren, welche Zuneigung Wittgenstein und Richards füreinander empfinden.

Aus dem Englischen übersetzt, geben die Briefe einen erstmaligen, bisher unbekannten Einblick in diesen Teil des Privatlebens von Ludwig Wittgenstein und zeigen ihn von einer neuen Seite: als Liebenden und Geliebten, geplagt von Verlustängsten, Einsamkeit und dem Wunsch, alles mit Richards teilen zu wollen – bis zum letzten Brief kurz vor seinem Tod im April 1951.

>>I think of you constantly with love …<< Briefwechsel Ludwig Wittgenstein – Ben Richards 1946-1951, herausgegeben und übersetzt von Alfred Schmidt

Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 31.8.1946

2, Cwmdonkin Terrace
Swansea
31.8.46.

Mein lieber Ben,
danke für Deinen Brief! Du sagst, Du bist sehr geneigt, gedankenlos zu sein. Ich nehme an, das ist so. Aber ob das allein erklärt, dass Du mir einen Monat lang nicht geschrieben hast, obwohl Du wusstest, was Du wusstest – ich werde es nicht sagen. – Bitte urteile selbst. Du kannst es besser als ich. – Wenn Du nach Swansea kommst, möchte ich, dass Du eine gute Zeit hast. Und Du weißt natürlich, dass eine gute Zeit mit uns (egal ob wir ernst sind oder nur herumalbern) ganz auf der Tiefe und Wärme unserer Beziehung beruht. Wenn sie da ist, dann kann ich Dir eine gute Zeit versprechen. Wenn nicht, komm nicht. Wie auch immer – Gott segne Dich! Mögest Du im Laufe der Zeit ein bisschen weniger gedankenlos, weniger egoistisch, freundlicher und zuverlässiger werden. Und bitte vergib mir, wenn ich Dich verletzt habe, indem ich selbst dumm und gemein war!
Lass mich wissen, ob und wann Du kommst.
In Liebe, wie immer
Ludwig

Bitte lies diesen Brief noch einmal langsam durch. In Liebe Ludwig
Gott segne Dich! Noch einmal.

Ben Richards an Ludwig Wittgenstein, 1.9.1946

GREENOGE
40, SWAKELEYS ROAD
ICKENHAM
UXBRIDGE
RUISLIP 2114
1. September 1946

Lieber Ludwig,
ich hoffe, es geht Dir sehr gut und Du bist glücklich. Ich habe gerade zwei weitere Briefe von Dir bekommen, die aus Norwegen nachgeschickt wurden; einer datiert mit 3. August und mit etwas Minze, die
immer noch ziemlich stark riecht, und eine Postkarte vom 2. Juli vom Swansea Civic Center (das Du mir sicherlich unbedingt zeigen willst), die zuerst nach Langdale geschickt wurde, dann zum King’s College,
dann nach Ickenham, dann nach Turtagrö, dann zurück nach Ickenham und schließlich runter nach Cornwall. Ich habe mich sehr über beide gefreut – vielen Dank!
Das Wetter in Cornwall ist immer noch so schlecht wie zuvor. Am Dienstagabend wurden sieben von acht Dutzend Hummerfangkörben in einem Sturm zertrümmert, der auch die meisten unserer Zelte umgeweht hat. Am nächsten Tag haben wir alle unsere Campingsachen in Mr. Michells Scheune gebracht und Platz für alle gefunden, um drinnen zu schlafen. Einigen anderen Campern wurde in derselben Nacht zum zweiten Mal in drei Wochen die Zeltstange gebrochen, und sie haben aufgegeben und sind am Donnerstag nach Hause gefahren. Ich fahre jetzt für eine Woche nach Skye, wo es normalerweise ziemlich nass ist.
Ich hoffe, wir sehen uns am 12. Kannst Du mich bitte wissen lassen, welche Züge Du mir empfiehlst und was Deine Pläne sind? Ich kann den Schubert wieder mitbringen, und ich möchte mit Dir und allein etwas lesen und lange Spaziergänge machen. Kannst Du William James’ Buch noch einmal bekommen oder hast Du Vorschläge für Bücher, die ich mitbringen könnte?
Immer in Liebe,
Ben

Ludwig Wittgenstein an Ben Richards, 6.9.1946

2 Cwmdonkin Terrace
Swansea
6.9.46.

Mein lieber Ben,
danke für Deinen Brief aus Uxbridge. Es tut mir sehr leid, dass Du in Cornwall so ein Pech mit dem Wetter hattest. Natürlich war es auch hier schlimm, nur hatte ich ein festes Dach über dem Kopf. Leider habe ich Dir am Sonntag, den 1., einen Brief nach Cornwall geschickt, der Dich nicht erreicht haben kann und vielleicht wieder auf eine wilde Gänsejagd geschickt wird. Das ist bedauerlich, denn der Brief war mir wichtig. Ich meinte jedes Wort, das ich schrieb, sehr ernst. Eine Sache, die ich geschrieben habe, möchte ich hier wiederholen, falls Du den Brief nicht erhältst. Ich sagte, ich möchte, dass Du eine wirklich gute Zeit hast, wenn Du nach Swansea kommst, und dass, wie Du weißt, eine gute Zeit für uns auf der Tiefe und auf der Wärme unserer Beziehung beruht; dass, wenn sie da sind, wir eine gute Zeit haben werden, wenn aber nicht, Du nicht kommen solltest; und dass, wie auch immer Du fühlst, Gott Dich segnen möge! Wenn Du am 12. kommst, ist es wunderbar. Dein bester Zug, denke ich, ist der 13:55 Uhr aus Paddington (vergewissere Dich aber). Er kommt hier gegen 19 Uhr an und ich werde am Bahnhof sein. – Ich habe keine psychologischen Bücher hier. Tatsächlich denke ich, es wäre vielleicht besser, wenn ich jetzt keine Psychologie mit Dir lese, weil mein Gehirn oft sehr müde ist. Ich habe ziemlich viel gearbeitet und tue es immer noch und ich muss mich vielleicht entspannen. Ich würde gerne Tolstoi mit Dir lesen, sagen wir „Hadschi Murat“ oder „Der Tod des Iwan Iljitsch“. Könntest Du es mitbringen? (Und, wenn Du möchtest, auch etwas Psychologie, nur für den Fall?) Mein Geist fühlt sich, wie gesagt, manchmal etwas erschöpft an und ich werde viel von Deiner Nachsicht, Geduld und Freundlichkeit brauchen.
Lass mich wissen, ob Du kommst und, wenn ja, wann. Telegrafiere einfach. – Sollte ich aus unvorhergesehenen Gründen daran gehindert werden, Dich vom Zug abzuholen, nimm bitte am Bahnhof den Bus Nr. 74 (alle zeigen Dir, wo er hält) und sag dem Schaffner, dass Du an der Haltestelle „Uplands“ aussteigen möchtest. Von dort sind es 2 bis 3 Minuten zu Fuß (und jeder wird Dir den Weg weisen).
Nochmals: Gott segne Dich. Ich denke immer in Liebe an Dich.
Ludwig

Das Wetter war die letzten zwei Tage besser. Nicht weit von Swansea gibt es einen Ort, an dem viele Pferde und Fohlen grasen. Die Fohlen sind lieb und so zahm, dass man ihnen nahe kommen und sie streicheln
kann usw. Neulich, als ich mit einem von ihnen sprach, habe ich bemerkt, dass ich dieselben Worte verwende, die ich oft benutze, wenn ich mit Dir spreche. Das ist eine Tatsache, in Liebe Ludwig

Podiumsdiskussion: „Queere Sichtbarkeit – Trendiges Nice-to-have oder Ausdruck gesellschaftspolitischer Wertedebatten?“

Im Rahmen der Leipziger Buchmesse diskutierten Verlagsleiterin Katharina Schaller, Netzwerker der Queer Media Society Alexander Graeff und Lektor Christian Lütjens mit Kabarettistin und YouTuberin Teresa Reichl über queere Sichtbarkeit in den deutschsprachigen Verlagsprogrammen. Hier ein Auszug aus der Paneldiskussion:

Teresa: Mein erster Gedanke, als ich den Titel dieses Panels gelesen habe, war: Was glaubt ihr denn, woher kommt der Gedanke, dass das alles ein Trend sein könnte, wenn’s das doch schon seit immer gibt?

Christian: Ich glaube, Alexander kann am besten anfangen, weil wir uns ein bisschen auch aufgehängt haben an dem Erfolg von Kim de l’Horizon letztes Jahr mit „Blutbuch“ und dem Deutschen Buchpreis. Das wurde ein bisschen auch so verkauft, als ob jetzt auf einmal große Verlage – es war der Dumont Verlag, das ist ein großer Mainstream-Verlag – queere Stoffe entdecken würden, was natürlich Unsinn ist.

Teresa (zum Publikum): Komplettes Novum, es gibt nicht-binäre Menschen, habt’s ihr das gewusst?

Alexander: So haben sie’s aber in den Medien auch dargestellt. So als hätten sie jetzt die nicht-binäre, queere Literatur erfunden. Da haben wir dieses Trend-Problem, dass große Verlage jetzt aufspringen, wo sie merken, dass die Leser*innennachfrage steigt, was queere Literatur anbelangt – vor allem im Jugendbuch-Bereich. Die [großen Verlage] wollen halt jetzt ein Stück vom Kuchen abhaben und machen damit aber wiederum Independent-Verlage, die seit Jahrzehnten eben in diesem Feld tätig sind und auch diese Kämpfe leisten – die Autor*innen und auch die Verleger*innen – unsichtbar. Also nicht nur im ökonomischen Sinne, auch in einem symbolischen Sinne, im kulturellen Sinne, werden die unsichtbar gemacht.

Katharina: Ich glaub auch, dass das ein grundsätzliches Thema ist, das die Literaturbranche ja immer wieder diskutiert. Also bei allem, wo Verlage merken, dass sie Geld machen können, steigen sie mit ein. Seien das jetzt rassismuskritische Literatur oder queere Literatur, also alles wo sie das Gefühl haben, das könnte jetzt kurzzeitig ein Trend werden, versuchen sie natürlich, die Hand drauf zu legen und deshalb kommt es auch immer wieder auf, ob das ein Trend ist oder nicht.

Teresa: Queere Literatur kann natürlich alles sein – angefangen von den Themen bis hin zu den Leute, die sie schreiben. Und vor allem da ist ja das Defizit da. Es ist halt, finde ich zumindest, gefährlich, wenn dann Leute, die gar keine Ahnung haben und die selber gar nicht queer sind, anfangen, queere Literatur schreiben zu wollen. Weil dann kommen wir wieder in Stereotype rein, die wir eh schon alle kennen und die es wirklich nicht mehr braucht. Was kann man denn da tun, als Verlagsmensch, als Pressesprecher*in, als Netzwerker*in?

Christian: Also man kann einfach dazu beitragen, dass queere Menschen, die schreiben und bereit sind, ihre Geschichten zu erzählen, sichtbar gemacht werden. Das ist ja erstmal auch noch ein Schritt, die queere Sozialisation zu erleben, da gibt’s ja wirklich sehr unterschiedliche Biographien. […] Das mit dem Trend ist ja auch ein bisschen ambivalent, man muss jetzt sagen, dass „Blutbuch“ ein großer Erfolg war und deswegen ist das Queer-Thema in die Debatte gekommen, aber es gab ja vorher schon Ocean Vuong und Bryan Washington, das waren ja erfolgreiche Bücher, die auch im Feuilleton besprochen wurden. Das Ding ist nur, dass oft das Queere dann nicht so benannt wird. Es wird so ein bisschen umgangen, genau wie es mit Sexualität generell oft ist in der allgemeinen Debatte. In der Geschichte, in der wir uns als Verlag befinden, dadurch, dass wir aus der queeren Bewegung kommen und immer queere Autor*innen und Stoffe verlegt haben, muss man immer aufpassen, dass diese Schieflage nicht reinkommt, dass eben diese Sicht von außen aufgrund eines Trends überhandnimmt. Also, die Aufgabe wäre: queere Menschen zu Wort kommen zu lassen, denen Sichtbarkeit und eine Stimme zu geben als Autor*innen.

Teresa: Wie würdest du denn das machen im Verlag, Katharina, wenn ein Hans-Peter Müller kommt, der ein Buch geschrieben hat und da sind sehr stereotype Dinge drin und dann stehst du da als Lektorin und sagst „Naaa ugh“?

Katharina: Als Verlagsleiterin ist das Schöne natürlich, dass ich das Buch gar nicht annehmen würde. Aber man hat ja nicht immer die Chance, auch als Lektor*in, sich gegen die Bücher aufzulehnen, die in einem Verlag veröffentlicht werden. Aber bei uns im Haymon Verlag ist es schon so, dass wir sehr daran arbeiten, das Verlagsprogramm zu diversifizieren, in jeder Hinsicht, und auch bei unseren Büchern, die wir dann machen, Sensitivity Readings durchführen zu lassen, also uns wirklich dafür einzusetzen, das entsprechend auf den Markt zu bringen. Das Wichtigste ist, glaube ich auch, wie du jetzt gesagt hast, die Sichtbarkeit der Autor*innen zu gewährleisten, sich die Geschichten zu suchen. Man spürt ja auch bei diesen Geschichten, dass das ganz andere Perspektiven sind, dass da ganz was anderes reinkommt, und ganz andere Lebensrealitäten drin stecken, als wenn Hans-Peter Müller versucht, eine queere Geschichte zu erzählen.

Teresa: Ganz kurz als Erklärung: Sensitivity Readings werden außerhalb vom Verlag gemacht. Es gibt extra Agenturen, die das anbieten. Da wird über den Text, wenn der fertig ist und bevor der rauskommt, nochmal drüber gelesen von Leuten, die von verschiedenen Diskriminierungen betroffen sind und die Expert*innen sind. Die schauen dann nochmal, wo etwas unsensibel ausgedrückt ist. In meinem Manuskript habe ich zum Beispiel ein paar Mal African-American Language benutzt und hab das einfach nicht gewusst, weil das in der Pop-Kultur so drin ist. Dann schauen die da nochmal drüber, damit jede Person dieses Buch lesen kann, ohne verletzt zu werden, was ein Wahnsinns-Konzept ist – mega geil!

Alexander: Stichwort Sensitivity: ich würde nicht so weit gehen, dass man vielleicht einem Hans auch nicht zutrauen kann, dass er queere Figuren baut, die sensitiv oder sensibel mit Verletzungen und queerer Geschichte umgehen […] Nein, ich würde nicht so weit gehen, ich würde das nicht kausal verketten, dass das per se so ist. Ein bi-sexueller Autor kann auch über Monosexualität schreiben, monosexuelle Figuren kreieren, wenn er es eben sensibel tut und wenn er sich damit beschäftigt. Und, da kommen wir wieder zum Trend, es nicht als einen Trend begreift. Da war mir jetzt wichtig, an der Stelle die Ambivalenz zwischen Stoff, Figur und Autor*innenschaft nochmal darzustellen.

Teresa: Da hast du voll Recht! Ich bin wahrscheinlich ein bissl voreingenommen gegen Hans-Peters. Das kann ich durchaus zugeben. Das ist mein großer Fehler.

Christian: Ich wollt auch schon sagen, wir wollen ja nicht Hans-Peter Müller diskriminieren, der kann ja auch ein ganz netter Kerl sein.

Teresa: Insgesamt, wenn es um Diskriminierung geht und auch wenn’s um queere Diskriminierungen geht, dann ist immer ganz viel die Rede von Repräsentation. Dass es eben wichtig ist, dass wir sichtbar gemacht werden, dass wir zu sehen sind und dass sich, ein so ein Stück weit hab ich zumindest das Gefühl, die Leute an uns gewöhnen und dann nicht mehr so reagieren: „Ahh, a gay!“ sondern es einfach irgendwie normal wird. Was ist denn der Sinn von Repräsentation, was bringt es denn in der Literatur?

Christian: […] Im Grunde ist der Auftrag queerer Literatur der gleiche, den Literatur generell hat: nämlich, dass die Leute sie als Zufluchtsort begreifen und als Erfahrungsraum, in den sie vielleicht selbst gar nicht reingucken können. Insofern hat das schon einen aufklärerischen Effekt, wenn queere Menschen ihre Geschichten erzählen und sich anhand eines Romans oder eines Memoirs oder Bildbänden da rantasten können. Das ist eine eigene [queere] Kultur, das muss man immer sagen, deswegen ist das mit dem Trend ja ganz falsch und ganz zynisch.

Katharina: Ich glaub auch, die Repräsentation ist am Ende wichtig, weil es die Literatur zur Aufgabe hat, ein Literaturverlag zur Aufgabe hat, die verschiedenen Teile der Gesellschaft abzubilden und denen eine Stimme zu geben. Und das funktioniert nur, wenn man nicht nur den weißen cis-hetero Männern, die vorherrschend sind – überall, aber auch in der Literatur und in den Büchern – eine Stimme gibt, sondern das sukzessive erweitert oder sich überhaupt als Verlag zur Gänze dafür einsetzt. Ich glaub nur, wir müssen aufpassen bei der Erwartung, dass queere Menschen, Schwarze Menschen, People of Color auch nur Literatur und Texte zu diesen Themen schreiben. Weiße cis-Männer sind die, die dazu befähigt sind, über alles zu schreiben, sich immer gesellschaftspolitisch, immer wertvoll, überall hineinversetzen zu können. Das spricht man anderen Autor*innen ganz selten zu und ich glaube, da müssen wir aufpassen.

Christian: Schön, das Positiv-Klischee.

Katharina: Genau!


 

 

„Queere Sichtbarkeit – Trendiges Nice-to-have oder Ausdruck gesellschaftspolitischer Wertedebatten?” Von links nach rechts: Alexander Graeff, Katharina Schaller, Christian Lütjens und Teresa Reichl.

 


Über die Mitwirkenden:

Teresa Reichl
Germanistin, Autorin, Kabarettistin, YouTuberin

Katharina Schaller
Verlagsleitung & Programmleiterin Haymon Verlag

Alexander Graeff
Autor, Literaturvermittler und QMS-Netzwerker

Christian Lütjens
Lektor und Pressesprecher der Salzgeber Buchverlage

„Weil ich vom zugleich berührenden und subversiven Potential der Lyrik zutiefst überzeugt bin.” – Barbara Hundegger im Interview

Pünktlich zum Erscheinen ihres Gedichtbandes [ in jeder zelle des körpers wohnt ein gedächtnis ] und zu ihrem 60. Geburtstag haben wir mit der Autorin Barbara Hundegger über ihr politisches und gesellschaftskritisches literarisches Schaffen gesprochen. Im Interview erzählt sie uns, wie der Feminismus sie und ihre Arbeiten prägt, was sie an österreichischer Literatur fasziniert und wie Kunst im Allgemeinen und Lyrik im Speziellen zugänglicher gemacht werden können.

Deine Lyrik zeichnet sich durch einen starken gesellschaftskritischen Zugang aus. In deinem neuen Gedichtband [ in jeder zelle des körpers wohnt ein gedächtnis ] thematisierst du unter anderem die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die Erinnerungen jüdischer Frauen, die als Kinder vor dem Holocaust fliehen mussten, den Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche oder den Brenner-Basistunnel. Warum funktioniert für dich Lyrik so gut als literarische Gattung, um gesellschaftspolitische Themen kritisch zu beleuchten?

Weil ich vom zugleich berührenden und subversiven Potential der Lyrik zutiefst überzeugt bin. Die Lyrik ist ja eine der ältesten Künste der Menschheit, die sich über Jahrtausende gehalten hat: etwas zwischen Mensch und Lyrik muss also so gut klappen, dass wir so lange an ihr festgehalten haben. Die komplexe Wirkung oft nur weniger – gut gemachter! − Zeilen ist ja wirklich erstaunlich.

© Fotowerk Aichner

Mehr als um die Benennung gesellschaftlicher Missstände – das wäre ein zu banales lyrisches Unterfangen − geht es mir in meiner Arbeit aber um die Atmosphären, die dadurch erzeugt werden, und um die Ankunft dieser Umstände und Zustände im konkreten Leben von Menschen. Diese permanent vorhandenen gesellschaftspolitischen Vorgaben in mein Schreiben nicht miteinzubeziehen wäre für mich: literarische Ungenauigkeit. Und die Lyrik lebt ja auch davon, im Gesagten das Mitschwingende, die Unter- oder Nebentöne mit abzubilden – das allerdings nicht als ein bei Lyrik ganz gern aufgerufenes Nebulöses, sondern eben im Sinne von Genauigkeit.

Du engagierst dich seit Jahren für die autonome Frauenbewegung in Österreich, inwiefern ist das feministische Prinzip der Politisierung des Privaten für dein künstlerisches Schaffen ausschlaggebend?

Nicht (nur) dieses Prinzip, das ja den problematischen und dehnbaren Begriff des „Privaten“ enthält, der vom Patriarchat je nach eigener Interessenslage verwendet wird (z.B. scheint ja der männliche Körper ein Anrecht auf Privatheit zu haben, während der weibliche als öffentliches Gemeingut gehandhabt wird und das Patriarchat von dessen Kontrolle geradezu besessen ist), sondern der Feminismus insgesamt war lebensprägend für mich – auch im Sinne einer umfassenden „Gerechtigkeitsbewegung“: Die Verwüstung von Weiblichkeit durch das Patriarchat ist markerschütternd, die Gewalt von Männern gegen Frauen sowie gegen andere abgewertete Gesellschaftsgruppen ein abgekartetes brutalstes Herrschaftsinstrument, der unverhohlene Frauenhass auch im Netz sichtbares Zeichen der Vulgarität des Patriarchats, die Verteilung von Ressourcen, Macht, Geld usw. spricht eine eindeutige Sprache. Die Abwertung alles Weiblichen (da hilft auch Mutter-sein, Schön-sein, sexuelles Verfügbar-Sein nicht!) und alles Non-Binären, das nicht der primitiven Definition von Männlichkeit entspricht, ist eine Tiefenstruktur des Patriarchats. Wie Frauen angesichts dieser Lage nicht Feministinnen sein können, ist mir ein Rätsel.
Und über seine analytische und gesellschaftspolitische Kraft hinaus hat der Feminismus mir herzerwärmende individuelle und kollektive Erlebnisse und Abenteuer geschenkt: hochinteressante Debatten, lebensverändernde Begegnungen, mutige und witzige Aktionen, rauschende Feste − und tiefe Frauen-Freundschaften, die ein Leben lang gehalten haben und eine unglaubliche Bereicherung waren und sind.

Österreich ist dieses Jahr Gastland der Leipziger Buchmesse. Eine der bekanntesten Autorinnen Österreichs ist ganz sicher Elfriede Jelinek, der du dein Gedicht [ angst-partie ] widmest. Was fasziniert dich an Jelineks Werk und was macht für dich österreichische Literatur aus?

Jelinek ist eine Sprach-Göttin: wie keine andere bringt sie in ihren Textflächen ans grelle Licht, was in der Sprache steckt, sich in ihr versteckt! In jeder einzelnen Wendung, in jedem Wort, den Floskeln, den Parolen, den Slogans, den Alltagssprachen, Wissenschaftssprachen, Tätersprachen usw. Ihre Arbeiten sind einzigartig! Und in ihrer messerscharfen, verspielten, doppelbödigen usw. organischen Verbundenheit mit „Sprache an sich“ österreichisch in dem Sinn, dass eine der literarischen Traditionslinien österreichischer Literatur keine Berührungsängste mit dem sprachspielerischen Aspekt des Schreibens kennt und ihn nutzt. Das und den oft recht harmlos daherkommenden strizzi-artigen, abgründigen, schlampigen, mieselsüchtigen, entlarvenden, lavierenden, bitteren, bodenlosen Humor – das ist es, was ich an der österreichischen Literatur besonders schätze. Ich sage z.B. nur: „Der Herr Karl“. Oder: Sargnagel.

Du feierst dieses Jahr deinen 60. Geburtstag (Gratulation!) und veröffentlichst nun seit 25 Jahren vielfach ausgezeichnete Lyrik. Was würdest du Autor*innen mit auf den Weg geben, die gerade am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere stehen?

Das mit den Ratschlägen an nächste Generationen ist so eine Sache – denn jede Generation lebt unter anderen und sich ändernden Bedingungen, und das Nervende an vielen Ratschlägen von Altvorderen ist ja, dass sie mit alten Rastern und Bestecken auf neue Probleme zugreifen wollen, auch als eine Art Bestätigung für das Unvergängliche der eigenen, aber eben verglimmenden Lebensphilosophie. Diese Renitenz ist mir aus eigener Erfahrung noch zu gut in Erinnerung − und ich möchte nur ungern zu jenen Boomern gehören, die sich selbst bis zum letzten Atemzug für den Inbegriff von Coolness halten. Die Devise sollte deshalb wohl eher sein: was sagen, wenn man von den Jungen gefragt wird, aber sie mit ungefragten Zurufen tunlichst verschonen.

In ihrem Nachwort bezeichnet Daniela Strigl deine Gedichte als „Lyrikangst-Desensibilisierungstherapie“ und bewundert deine demokratische Sprachkunst, die trotz komplexer Inhalte niemanden ausschließt. Braucht es in unserer Gesellschaft generell einen inklusiveren und niederschwelligeren Zugang zu Kunst, und hättest du konkrete Ideen, wie man den Berührungsängsten mit Lyrik entgegenwirken könnte?

Ja, den Zugang braucht es auf alle Fälle – und weil ich aus sogenannten „kleinen Verhältnissen“ stamme und aus dem ganz und gar Unintellektuellen, weiß ich von daher, dass die Kunst in solchem Umfeld gar nicht als relevantes „Lebens-Mittel“ wahrgenommen und davon eine Bereicherung fürs eigene Sein erwartet wird. Und das liegt neben anderen Faktoren auch daran, dass diese Bevölkerungsgruppen so mit Existenziellem eingedeckt sind, dass sie für Kunst schlicht keinen Nerv mehr haben. Es liegt an den Künstlern und Künstlerinnen, ihren Themenentscheidungen und Bearbeitungsweisen, und aus welchen Soziotopen Künstler:innen kommen – denn man muss es sich zunehmend leisten können, Künstler:in überhaupt zu sein. Und es liegt am Kunstbetrieb, wo „niederschwellig“ mit minderer Qualität assoziiert wird.
Das gilt auch für die Lyrik: sie hat sich sehr in die Unzugänglichkeit verabschiedet – und davon nehme ich mich nicht aus. Die Randexistenz der Lyrik innerhalb des Literaturbetriebes hat sie sich zu einem gewissen Teil also auch selbst zuzuschreiben – verschärft dadurch, dass sie in unseren Breiten vom Monopol des Romans (der auch leichter zu rezensieren ist!) − erdrückt wird. In anderen Kulturen oder zu anderen Zeiten war die Lyrik aber: das höchste der Gefühle! Auch meine eigene Bereitschaft, mich durch sehr gut gemachte, sehr hochwertige Lyrik zu kämpfen, von der man ohne intertextuelles Wissen sehr wenig versteht, ist gesunken. Und ich habe deshalb innerhalb meiner eigenen Arbeit einen gewissen Schwenk in Richtung mehr Zugänglichkeit gemacht – z.B. bei meinem [ anich.atmosphären.atlas ] und auch beim aktuellen Buch.
Vielleicht müssen wir Lyriker:innen einfach wieder etwas verständlicher schreiben und uns anderen Themen widmen – denn verstanden zu werden ist kein Makel, verstanden werden ist auch schön.
Und vielleicht müssen wir uns solche Gedanken bald gar nicht mehr machen – wenn die KI uns atemberaubende Gedichte schreibt . . .