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Lesen als Gegengift in lärmigen Zeiten – Dankesrede von Christoph W. Bauer anlässlich des Anton-Wildgans-Preises 2023

„Christoph W. Bauer ist in nahezu allen literarischen Genres zuhause. In seinen Prosa-Arbeiten, die vielfach im Grenzbereich zwischen Historiographie und Fiktion angesiedelt sind, dominieren Geschichten, die er im Alphabet ramponierter oder auch längst verschwundener Häuser ermittelt, sei es in Saint-Denis, sei es in Innsbruck-St. Nikolaus. Und in seinen Gedichten setzt Christoph W. Bauer mit seiner ganz eigenen Stimme souverän alle nur denkbaren lyrischen Formen ein, um in einer schier endlosen Kette von intertextuellen Bezügen, die von Homer und Catull über Dante und Villon und Borges bis zum Punk-Rock reichen, immer von neuem auf ein Spiel mit Möglichkeiten zuzusteuern, das ganz wenig übrig hat für scheinbar unverrückbare Gegebenheiten,“ heißt es in der Jurybegründung für den Anton-Wildgans-Preis 2023. Hier gibt’s Christoph W. Bauers Dankesrede in voller Länge zum Nachlesen: 

Sehr geehrte Damen und Herren,

vorab, ich rede nicht gerne, ich schreibe lieber, und noch weit lieber als das Schreiben ist mir das Lesen. Und wenn ich heute vor Ihnen stehe und diese Auszeichnung entgegennehmen darf, weiß ich, wem ich das zu verdanken habe: Dem Lesen. Alles, was ich über Literatur zu sagen weiß, hat mich das Lesen gelehrt. In der Auseinandersetzung mit den Werken anderer hat sich mein Denken geformt, meine Sprache. Ich bin durch die Schule des Lesens gegangen, durfte einige meiner Lehrerinnen und Lehrer persönlich kennenlernen, Julian Schutting, Robert Schindel, Sabine Gruber und Paul Nizon, um hier nur einige zu nennen. Sie haben mich durch ihren Zuspruch gefördert, vor allem aber durch ihre Bücher.

Ich habe keine Lehre abgeschlossen, die Universität einige Monate lang im wahrsten Wortsinn bloß besucht, war also Gast in einem Leben, das für mich keine Möglichkeit darstellte. Die Literatur jedoch begriff ich als ein Spiel mit Möglichkeiten, ein Spiel mit Masken, sie lehrte mich Alternativen, lehrte mich Aufbrüche, Ankünfte. Sie wurde mir Fluchthelferin, selbst wenn ich die Gefahr noch nicht erahnte, sie trieb mich an und ließ mich ins Leere laufen, düpierte meine Denkgewohnheiten, feite mich vor voreiligen Schubladisierungen; immer wieder war sie mir Fallenstellerin, auf sicheren Wegen wähnte ich mich, als sich plötzlich mit wenigen Worten ein Abgrund auftat. Ich lebte in den Tag hinein und dachte nicht an die Zukunft, ich setzte alles auf eine Karte, ich wollte, was ich tat: schreiben.

Das hat nun so gar nichts mit Berufung zu tun, sondern verdankt sich dem Umstand, dass ich mich in die Gegenwart immer erst hineinbuchstabieren muss, um sie mir greifbar zu machen, hineinzweifeln muss ich mich, nach jedem Aufwachen, Wort für Wort setzt sich ein Hier und Jetzt zusammen. Das mag hochtrabend klingen, pathetisch gar, ist aber bloß meinem Wunsch nach Neuanfängen geschuldet, literarischen Wahlverwandten gewiss auch, nicht zuletzt meiner Kindheit.

Vor mir ein Berg, hinter mir einer, links ein Berg, rechts ein anderer, dieses Bild stellt sich mir ein, wenn ich an meine Kindheit denke. Aufgewachsen im Tiroler Unterland, im Brixental, im Schatten des Hahnenkamms wurde mir dieses Bild zur Sprungfeder für Träume, Fantasien, nicht zuletzt für meine Neugier. Es muss noch etwas anderes geben als diese Berge, dachte ich, etwas anderes als Wachsgeruch in der Nase, etwas anderes als rote Tore, blaue, und jeden Tag Skiclubtraining und jedes Wochenende ein Skirennen, fünf vier drei zwo eins ab, fünf vier drei zwo eins ab, und runter den Hang, zweiter ist letzter, zweiter ist letzter, das war die Parole, mit der uns der Trainer in den Ohren lag.

Ja, es muss etwas anderes geben als die Sorge um ausgelastete Hotelbetten, als Nachbarn, die saisonlang mit ihren Kindern in die Keller ziehen, um ihre Schlaf- und Kinderzimmer an Gäste zu vermieten. Etwas anderes als postsaisonalen Baulärm und die herbstliche Zurüstung auf die nächste Wintersaison, schlicht etwas anderes als das Wort Saison, das wie ein Sesamöffnedich verwendet wird.

Etwas anderes als argwöhnische Blicke, die all jene trafen, die sich dem Ganzen entzogen, und die gab es freilich auch, solche, die sich abseits einer Melange aus Blasmusik und Hardrockklängen für andere musikalische Formen interessierten, für Bücher gar, oder sogenannte Zuagroaste. Letztere fielen auf, das hat sich bis heute nicht geändert. War ich einer von ihnen? Gewissermaßen ja. Der Herkunft meines Vaters geschuldet sprach ich zuhause Hochdeutsch, kaum hatte ich die elterliche Wohnung jedoch verlassen, redete ich im Dialekt, früh lernte ich, die Sprachebenen zu wechseln, eine Fähigkeit, wenn es denn eine ist, die ich noch heute beherrsche. Mein Vater zog Beethoven Mozart vor, meine Mutter konnte da nur protestieren, und beide lasen, Tolstoi, Dostojewski, aber auch Dante Alighieri, erinnere ich mich und sofort fällt mir ein, wie alleine die Namen der Schriftsteller meine Fantasie anregten.

Mein Lieblingsbuch im elterlichen Bücherregal war Meyers Universallexikon, in dem ich mich stundenlang vertiefen konnte – und dadurch so manches Skiclubtraining versäumte. Als Grund für mein Fehlen wagte ich, das Lexikon allerdings nicht zu nennen, ich erfand Geschichten, die zumindest für mich plausibel klangen, ich schwadronierte, ich war ein anderer. Ich verwandelte mich und spürte, dass Worte dies ermöglichten. Ob der Trainer mir die Geschichten abnahm, weiß ich nicht, sehr wohl aber, dass er mich ohnehin nicht als künftigen Skiweltmeister einstufte, was ihn mir plötzlich sehr sympathisch macht.

Vielleicht hätte er sogar am wahren Grund für mein Abwesenheit Gefallen gefunden, ja, ich hätte ihm erzählen sollen, was mich umtrieb: Worte, in deren Klang ich rote Tore und blaue Tore hinter mir ließ, ich war sozusagen über alle Berge, wenn ich das Lexikon aufschlug und Begriffe aneinanderreihte zu einer Zauberformel, die ich laut vor mich hin sprach: Madagaskar, Maracuja, Mare internum.

All das kommt mir jedes Mal in den Sinn, wenn ich in einen Zug einsteige, um ins Dorf meiner Kindheit zu fahren. Dann denke ich wieder an die Faszination, die von Worten ausging, an den Klang, den Worte auslösen können, ich denke an das Bücherregal meiner Eltern und daran, wie sehr sie mich im Lesen immer gefördert haben.

Diese Leseförderung versuche ich seit mehr als zwanzig Jahren auch an andere weiterzugeben, an Schülerinnen und Schüler aller Altersklassen, ich gehe in Volksschulen, Hauptschulen, Abendschulen, ich gestalte Schreibwerkstätten, Lesungen, lasse mir selbst vorlesen – und merke erschreckend oft, wie sehr es dieser Förderung bedarf. Erst vor ein paar Tagen las ich in einer österreichischen Tageszeitung: „Rund eine Million Erwachsene in Österreich können nicht ausreichend lesen, schreiben und rechnen. 720.000 Menschen zwischen 16 und 65 befanden sich auf Lesekompetenzstufe eins. Das bedeutet, dass sie nur kurze Texte mit einfachen Vokabeln lesen und darin eine einzelne Information finden können, sofern der Text nur wenige widersprüchliche Informationen enthält. 140.000 Personen lagen unter der Kompetenzstufe eins. Sie haben Schwierigkeiten, Verträge zu lesen, Formulare auszufüllen, Beipackzettel von Medikamenten zu lesen oder sich an Fahrplänen zu orientieren. Die Mehrheit der Betroffenen hat Deutsch als Erstsprache, einen niedrigen formalen Schulabschluss trotz in Österreich erfüllter Schulpflicht.“

Wie kann das sein? Wieso misst man dem Lesen im Unterricht so wenig Wert bei? Oder ist es so, dass man die Leseschwächsten einfach mitzieht von einer Schulstufe in die nächste in der Meinung, sie würden ohnehin irgendwann in einem Beruf landen, und dann Extrawurst aufschneiden oder Weingläser nachfüllen oder unseren Müll wegräumen? Hauptsache, sie funktionieren, sie stellen nichts in Frage – wie es gute Literatur immer tun sollte.

Und warum überhaupt wird im Schulunterricht kaum noch Literatur vermittelt? Mehr noch: Warum wurde die Literatur in den letzten Jahrzehnten sukzessive aus den Lehrplänen gestrichen? Und durch welche Inhalte wurde sie ersetzt? Wie man einen Lebenslauf erstellt oder ein Bewerbungsschreiben formuliert, stand schon in meiner Schulzeit auf dem Lehrplan. Den Schülerinnen und Schülern wird hier – mit Vorsatz – etwas vorenthalten, worauf sie ein  Anspruch haben, etwas vorenthalten, das ihr Leben prägen könnte, das ihnen die Augen öffnen und sie dazu bestärken könnte, eine eigene Meinung zu entwickeln: Bildung durch Literatur.

Und ist nicht eine ausreichende Lesekompetenz die Grundvoraussetzung für Bildung schlechthin? Im erwähnten Artikel ist zu lesen: In unserem Schulsystem würden Kinder zwar lernen, wie das Lesen geht, aber das Einüben müsse außerhalb der Schule passieren. Wenn es die Eltern selbst nicht können, können sie die Kinder nicht unterstützen. In Österreich werde Bildung vererbt.“ Nun ja, überspitzt ausgedrückt wage ich die Behauptung: In Österreich wird Unbildung vererbt. Weniger spitz: Hierzulande erhält man Anerkennung über die verschiedensten Kanäle, aber kaum noch über Bildung. Auch eine Folge davon: Kunst und Wissenschaft werden abgetan, wer braucht sie denn noch.

Wenn ich mit Schülerinnen und Schülern arbeite, versuche ich, sie auf dem spielerischen Weg zum Lesen und Schreiben zu verführen. Und sie machen mit, sie wollen ihre Texte schreiben und vorlesen, sie erhalten Applaus. Und ich merke, wie viele von ihnen, gerade die Schreib- und Leseschwächsten, geradezu nach Anerkennung gieren. Sie erhalten sie, so wie ich sie heute erhalte, indem ich den Anton Wildgans Preis empfangen darf.

Bei Paul Nizon lese ich die Sätze: „Es ist ja nicht einfach nur Schicksal oder Pech, dass der eine im Lichte steht und der andere im Dunkel. Es ist die Frage: Wieviel Anerkennung braucht der Mensch, um überleben und als Schriftsteller weitermachen zu können.“ Lassen wir den Schriftsteller kurz weg. Wieviel Anerkennung braucht der Mensch, um überleben und weitermachen zu können? Egal in welchem Beruf. Wieviel braucht er?

Mir als Schriftsteller wird diese Anerkennung nun zuteil, sie ermöglicht es mir, meinen Weg unbeirrt weiterzugehen, ich setzte alles auf eine Karte, ich tue es immer noch. Anerkennung, also Respekt, und an Letzterem mangelt es leider viel zu vielen Menschen in diesem Land. Ein Blick in Online-Foren genügt, da wird gepostet, was das Zeug hält, Hauptsache, glauben und meinen und dabei zumeist nichts wissen. Unfassbar, mit welcher Häme und Respektlosigkeit hier abgeurteilt wird, ein hartes Wort, aber es trifft zu. Und wäre es nicht so beschämend, was meine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen von sich geben, könnte ich mitunter sogar laut auflachen über diesen ungewollt spielerischen Umgang mit Sprache, der jede Grammatik und Rechtschreibung außer Kraft setzt, sodass man sich ob der Unverständlichkeit der geposteten Kommentare schon fragen will, in welcher Sprache sie verfasst worden sind.

Der spielerische Umgang mit Sprache war auch Anton Wildgans nicht fremd. Zumindest glaube ich ihn zu erkennen, schon in seinem frühen Stück Sappho, das er als Neunzehnjähriger schrieb, aber auch in späteren Arbeiten, in der Anverwandlung antiker Motive, in der Abwandlung antiker Versmaße. Ein Gedicht der frühgriechischen Dichterin verwende auch ich bei Lesungen in Klassenzimmern, ein Liebesgedicht, das ich nachgedichtet habe – und immer wieder bin ich erstaunt, welch großen Anklang es bei den Schülerinnen und Schülern findet. Floh Sappho mit ihren nur in Fragmenten vorhandenen Gedichten vor der Realität? Mitnichten.

Auch Anton Wildgans flieht nicht vor der Realität, im Gegenteil, er versucht, sich ihr einzuschreiben, er beschönigt nichts. Eines seiner Gedichte trägt den Titel „Ich bin ein Kind der Stadt“, was mich an dieser Stelle sagen lässt: Ich bin ein Hund meiner Zeit. Als solcher schnüffle ich herum, stöbere ich, belle schon mal vorlaut, aber nie ohne Grund, vor allem aber, ich bin wachsam. In Anton Wildgans Lebenszeit fallen der Zerfall der Monarchie, der Erste Weltkrieg, die Nachkriegszeit, in meine bisherige Lebenszeit der Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion, die Balkankriege und zu viele andere mehr. Und nun erleben wir erneut einen Krieg, wir erleben ihn aus der Ferne, während andere ihn jedoch erleiden, erleiden müssen.

Wir leben in lärmigen Zeiten, Lesen könnte ein Gegengift sein, es ist ein stilles Unterfangen. Und schon klar, das Lesen kann keine Kriege verhindern, so naiv bin ich nicht, aber das Lesen schärft das Bewusstsein für Sprache. Kriege brechen nicht aus, sie sind keine Häftlinge, Kriege werden entfesselt, um im Bild zu bleiben, sie werden entfesselt von Demagogen, Verführern – diesen nicht immer ganz so rasch auf den Leim zu gehen, auch davor kann das Lesen feien.

Ja, lärmig ist unsere Zeit und voll der Debatten, und ich behaupte keineswegs, dass diese nicht geführt werden sollen, ich frage mich nur, warum sie immer so hitzig geführt werden. Und warum sich immer so viele daran beteiligen und das in einer Sprache, die – mit Verlaub – darauf schließen lässt, die Aufwiegler und Abwieglerinnen, die Aufwieglerinnen und Abwiegler haben nicht recht viel Literatur in ihrem Leben gelesen.  Ich will hier keine Beispiele nennen, ich denke, Sie finden selbst viele dafür.

Ich bin ein lesender Dichter, ein poeta legens, auch ein poeta ludens, ein spielender Dichter, was ich mit Sicherheit nicht bin, ein poeta vates, ein gottbegnadeter Seher, ein Genie. Gottbegnadet, ich habe das Wort mit Absicht gewählt, ein Begriff, den ich an sich aus meinem Vokabular gestrichen habe, weil er an die Liste der Gottbegnadeten erinnert in der Zeit des Nationalsozialismus, für mich ein verseuchter Begriff, aber erst das Lesen hat mich zu dieser Einsicht gebracht, das Lesen und sonst nichts. Lesen ist für mich in diesem Sinn auch ein Anlesen gegen das Vergessen, weil die gelesenen Werke ein Anschreiben gegen das Vergessen sind. Weil die gelesenen Werke der Geschichte einen Namen und ein Gesicht verleihen, weil sie Geschichte sichtbar machen. Wenn es heißt, dass Menschen nicht aus der Geschichte lernen, dann hat das auch diesen Grund: Weil sie nicht lesen.

Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte mit einer ernstgemeinten Aufforderung schließen: Lesen Sie, und dann lesen Sie noch ein bisschen mehr, und dann, ja, dann lesen Sie halt bitte noch ein bisserl mehr! Herzlichen Dank.

„Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden für das, was in diesem Haus passiert ist – und in diesem Land.“ Christoph W. Bauer zur Erinnerungskultur

Der größte noch bestehende NS-Bau in Tirol ist das Neue Landhaus in Innsbruck, das 1938/39 als Gauhaus für Parteidienststellen errichtet wurde. In diesem Machtzentrum wurde der menschenverachtende NS-Terror in Tirol und Vorarlberg geplant und bürokratisch in die Wege geleitet. 1955 zog die Tiroler Landesregierung in das Gebäude ein. Die historischen Hintergründe des Baus wurden lange verleugnet und verdrängt. Im Herbst 2023 startet die erste öffentlich zugängliche Ausstellung im Landhaus, die die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in diesem Gebäude anstoßen soll. Der Schriftsteller Christoph W. Bauer hielt anlässlich der Ausstellungseröffnung eine Rede, die zum Nachdenken anregt. 

Sehr geehrter Herr Landeshauptmann,
sehr geehrte Damen und Herren,

ich gestehe es, es ist ein ungewöhnlicher Rahmen für mich, ein wenig mulmig zumute ist mir, und wenn ich heute diese Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung Vom Gauhaus zum Landhaus halten darf, ist mir das Würdigung meiner Arbeit wie Last zugleich. Denn dieses Haus ist von der allergrößten Bedeutung für die jüngere Geschichte Tirols, es polarisiert, es löste zahlreiche Debatten aus und wird für weitere sorgen, was unser Demokratieverständnis betreffend nur zu befürworten ist. Ich bin kein Historiker, ich bin Schriftsteller und als solcher gestalte ich meine kurze Rede, ohne dabei im Detail auf Inhalte der Ausstellung einzugehen, das werden Hilde Strobl und Christian Mathies später tun.

Im Jahr 1975 wurde ich schulpflichtig, auf vier Jahre Volksschule in Kirchberg in Tirol, folgte das Gymnasium in St. Johann im Tiroler Unterland. Ich hatte auch gute Lehrerinnen und Lehrer, das muss hier gesagt werden, vor allem im Fach Geschichte, ich lernte viel über die Historie Tirols, über Margarete Maultasch, über Friedl mit der leeren Tasche, über die Schatzkammer im Schloss Ambras, über die Habsburger, über den Kampf gegen Napoleon, ich lernte über einen Hofer alles, über einen anderen nichts, nicht einmal namentlich wurde Franz Hofer im Geschichtsunterricht erwähnt.

Freilich, ich erfuhr viel über den Nationalsozialismus, aber die Darstellung in den Geschichtsbüchern und Reden meiner Lehrerinnen und Lehrer rückten ihn in eine weite Ferne. Als hätte sich der ganze Schrecken nicht auch hier bei uns, vor der eigenen Haustür zugetragen. Ich hörte von den Novemberpogromen in Wien, in Berlin, in München, in Nürnberg und in anderen deutschen Städten, ich erfuhr nichts von der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Innsbruck und in Tirol. Ich erfuhr von Dachau, Mauthausen, Buchenwald, von Auschwitz und Treblinka, ich hörte nichts vom Lager in der Reichenau, und von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen war überhaupt nie die Rede. Auch nicht von jenen Menschen, die in den Baracken hausen mussten, an denen mein täglicher Weg in die Volksschule vorbeiführte, Zigeuner hat man sie despektierlich genannt, auch noch in meiner Kindheit und Jugend. Zunächst nach Innsbruck abgeschoben, wurden sie später nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Oder um Ihnen noch ein anderes Beispiel zu geben, wie mein Unterricht aussah:

Ein Verkehrsknotenpunkt ist Wörgl, das lernte ich in der Schule, ich erfuhr von der Giselabahn, die durchs Brixental führt, wo ich aufgewachsen bin. Namenspatronin der Bahn ist Erzherzogin Gisela Louise Marie von Österreich, die zweite Tochter von Franz Joseph I. Mit Fertigstellung der Bahntrasse im Jahr 1875 begann Wörgls Aufschwung, zuvor war der Ort ein Bauerndorf gewesen, an einer alten Durchzugsstraße im Inntal gelegen. Auch das war Schulstoff.

Christoph W. Bauer, geboren 1968 in Kärnten, wuchs in Tirol auf, wo er heute noch lebt. Er verfasst Lyrik, Prosa, Essays, Hörspiele, Übersetzungen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen dafür, u.a. den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2002), Outstanding Artist Award und Tiroler Landespreis für Kunst (beide 2015) sowie zuletzt den Anton-Wildgans-Preis (2023).

Foto: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Begleiten Sie mich, sehr geehrte Damen und Herren, ein Stück durch die Bahnhofsstraße von Wörgl, wir bleiben stehen vorm Haus Nr. 21. Dort also gingen die Heimischen in den 1920er-Jahren ein und aus, um einzukaufen „beim Jud“, wie das Geschäft im Volksmund genannt wurde. Besitzer des Geschäfts war Rudolf Gottlieb, der sich mit seiner Frau Elisabeth 1906 in Wörgl niedergelassen hatte, die Stadt war in wenigen Jahren zu einem Handels- und Gewerbezentrum geworden. Reaktionen auf den ersten Zuzug eines jüdischen Ehepaars sind nicht bekannt, die beiden mieteten zunächst eine Wohnung in besagtem Haus. Gut zwei Jahre später bekamen sie mit der Familie Ostermann neue Nachbarn, was den Wörgler Pfarrer offensichtlich erzürnte, vorwurfsvoll wandte er sich an den Vermieter: „Z’erst nimmst an Juden, und iatz gar no an Protestanten.“

Gleichwohl begann das Ehepaar Gottlieb mit dem Aufbau eines Textilgeschäfts, das regen Zuspruch fand und bald den Kauf des Hauses in der Bahnhofstraße ermöglichte. 1916 erhielt die Familie Gottlieb, mittlerweile um die drei Kinder Otto, Erwin und Irma angewachsen, das Heimatrecht in Wörgl – von größter Bedeutung für die Erringung der Staatsbürgerschaft nach Kriegsende. Diese feite sie freilich nicht vor den aggressiven Verbal-Attacken des „Tiroler Antisemitenbundes“, der 1919 gegründet wurde.

Zu tätlichen Übergriffen kam es in der Zwischenkriegszeit nicht, auch nicht in den Tagen nach dem sogenannten „Anschluss“. Das Geschäft wurde indes umgehend „arisiert“ und den Gottliebs eine Frist gesetzt, Wörgl zu verlassen. Dies geschah im März 1939, die Familie wurde nach Wien ausgewiesen. Von dort konnten die Söhne Otto und Erwin nach Shanghai flüchten, Irma und ihr Mann versuchten, mit einem illegalen Schiffstransport über die Donau ins Schwarze Meer und weiter nach Palästina zu gelangen. Das Zufrieren der Donau nötigte sie jedoch, den Winter 1939 in einer kleinen jugoslawischen Hafenstadt zu verbringen; sie durften nicht von Bord. Im Sommer 1940 wurden sie mit anderen Vertriebenen in die Nähe von Belgrad verlegt, eine Weiterreise scheiterte. Im Zug des Balkanfeldzugs 1941 holte die Wehrmacht die Flüchtlinge ein und internierte sie in Baracken am Ufer der Save.

Sondereinheiten erschossen in einer „Sühneaktion“ im Oktober 1941 alle Männer unter den Gefangenen, darunter auch Irmas Ehemann Karl Rosenberg. Frauen und Kinder wurden in ein KZ in Belgrad gebracht, wo man ihnen eine „Umsiedlung“ vorgaukelte, täglich kamen zwei Lastwägen ins Lager. Und so stieg auch das jüngste Kind von Rudolf und Elisabeth Gottlieb im Frühjahr 1942 in den Laderaum und wurde während der Fahrt durch eingeleitete Abgase ermordet. Irmas Leiche verscharrte man in Alava bei Belgrad.

In Anbetracht ihres Alters hatten die in Wien zurückgeblieben Eltern kaum noch eine Möglichkeit, die Stadt zu verlassen. Mit Ausbruch des Kriegs verschlechterte sich ihre Situation drastisch. Zuletzt lebte das Ehepaar Gottlieb im II. Bezirk in der Großen Mohrengasse 14. Im Oktober 1942 wurde es nach Theresienstadt verschickt und überlebte die katastrophalen Zustände dort nur um wenige Monate.

Davon erfuhr ich in der Schule nichts. Man mag einwenden, dass die Aktenlage damals noch eine andere war und die Archive für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschlossen waren, das stimmt zweifelsohne. Aber mittlerweile hat sich die Lage geändert, Dank der Leistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck wurde vieles sichtbar gemacht, wie auch durch Künstlerinnen und Künstler und andere kritische Geister in diesem Land. Das Schicksal der Familie Gottlieb ist bekannt und sollte Schulstoff sein. Wie auch die Geschichte dieses Hauses, in dem wir uns befinden, Schulstoff sein sollte, denn was in diesem Haus damals beschlossen und angeordnet wurde, hatte weitreichende und verheerende Folgen. Wer in diesem Haus seit seiner Errichtung und bis Kriegsende ein und aus ging, wer hier Dekrete diktierte, wer sie unterschrieb und weiterleitete, hat sich mitschuldig gemacht. Da gibt es nichts zu beschönigen, das muss sichtbar gemacht werden. Und darum geht es in dieser Ausstellung: um Sichtbarmachung von Geschichte. Um Sichtbarmachung, so hoffe ich, vor allem auch für junge Menschen.

Aber warum denn das alles, kann man diese Geschichte nicht endlich ruhen lassen? Nein, das kann man nicht, mehr noch: das darf man nicht! Und die Frage ist ja nicht neu, ich hörte sie bereits in meiner Kindheit und Jugend, ich hörte sie als Schriftsteller, als ich über das Schicksal der Familie Graubart schrieb und über weitere jüdische Familien, die aus Tirol vertrieben wurden. Über die Familien Bauer und Schwarz, über die Familie Pasch, über Hans und Felix Heimer, über Abraham Gafni und Peter Gewitsch, Menschen, die ich in Israel und England aufsuchte, mit denen ich Gespräche führte, Gespräche führen wollte und musste, ehe es dafür zu spät ist. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben mir ihre Geschichten anvertraut, Geschichten, die ihre Schicksale am Leben erhalten über ihren Tod hinaus. Meine Arbeit verstehe ich in diesem Sinn auch als ein Anschreiben gegen das Vergessen.

Und ich will und werde nicht lockerlassen, im Auftrag des Tiroler Landestheaters habe ich in den vergangenen Monaten ein Stück geschrieben, das bald Premiere haben wird. Kein herkömmliches Stück, nein, ein Klassenzimmerstück, das von Flucht und Vertreibung in der Zeit des Nationalsozialismus spricht und Jugendlichen die Thematik näherbringen soll. Mobiles Theater in ganz Tirol, von einer Klasse in die nächste, ein Stück für Jugendliche, das Geschichte sichtbar machen und ihr ein Gesicht geben soll. Von Verantwortung ist in dem Stück die Rede, von der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, oder um es mit dem bildendenden Künstler Franz Wassermann zu sagen: Wir haften für unsere Geschichte. Aber nichts ist falscher, fataler als Jugendlichen gegenüber heute von Schuld zu sprechen, das greift zu kurz und darüber hinaus längst nicht mehr, damit erreichen wir junge Menschen nicht. Abgesehen davon, sie haben selbstredend keine Schuld, wie auch ich in meiner Schulzeit keine hatte, die drei Jahrzehnte nach Kriegsende begann.

Aber haben Jugendliche heute nicht andere Probleme? Haben sie. Und mir ist klar, dass auch der Unterrichtstoff inzwischen enorm angewachsen ist. Mit einem befreundeten Lehrer, der Geschichte an einer Hauptschule unterrichtet, habe ich oft darüber gesprochen. Der Fall der Mauer, der Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion, die Balkankriege, 9/11 all das ist mittlerweile Lehrstoff. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass die Auseinandersetzung mit der regionalen Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus von immenser Wichtigkeit ist, da sie den Blick schärft und in der Folge über den eigenen Tellerrand schauen lässt.

Und dieser Teil der regionalen Geschichte beginnt ja nicht am 11. März 1938 und endet im Mai 1945, er beinhaltet auch die Jahre des Austrofaschismus und die Nachkriegszeit, in der sich viele Menschen in diesem Land der Verantwortung entledigten wie eines abgetragenen, zerfledderten Anzugs. Oder ihre Gesinnung weiterhin ohne jegliches Schuldbewusstsein schamlos zur Schau stellten.

Während der Arbeit an dieser Rede, kam mir ein alter Mann im Dorf meiner Kindheit in den Sinn. Meine Freunde und ich spielten oft auf einem Feld nahe dem Haus des Alten Fußball und jedes Mal stapfte er wütend auf uns zu, wild mit seinem Gehstock fuchtelnd und bellte uns an auf gut Brixentoierisch: I drah enk s Gas ob. Auf seiner Oberlippe ein Hitlerbart.

Und ich erinnerte mich an die Landsergrauen Gestalten, die ich bei jedem Kirchgang beim Kriegerdenkmal stehen sah, sie gingen ja lieber ins Wirtshaus, Gottgläubige eben durch und durch. Hoben sie das Glas auf ihn, den Gauleiter, als der im Jahr meiner Einschulung 1975 in Mühlheim an der Ruhr eines natürlichen Todes starb, ohne je für seine Schandtaten zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Der hier in diesem Haus bis 1943 ein und ausging, ehe er von Bozen aus seine menschenverachtende Politik weiter betrieb. Der hier in diesem Haus die Fäden in der Hand hatte; der hier in diesem Haus sich rühmte, den Gau „judenrein“ gemacht zu haben, ehe er in eine Bar ging, um sich zu treffen mit Seinesgleichen, in die Hiebl-Bar eines Totenkopf-SSlers in der Maria-Theresien-Straße, ein arisiertes Lokal, das man der Familie Schindler gestohlen hatte. Alles ging über seinen Tisch im Gauleiterzimmer, dessen Einrichtung Bände spricht vom Geschmack des ehemaligen Radioverkäufers und Briefmarkendiebs.

Und ich erinnerte mich an das Raunen, das jedes Mal anhob, wenn die Rede – etliche Jahre später, ich lebte bereits in Innsbruck und recherchierte für ein Buch, dessen Inhalt die Stadt Innsbruck selbst ist – wenn also die Rede auf das Gauleiterzimmer kam oder auf den Gauleitertresor, als würde es sich um Mysterien handeln, die viele Jahrzehnte durch Köpfe spukten – und denen diese Ausstellung Abhilfe schafft.

Dieses Haus ist ein Unikum, es findet keinerlei Entsprechung in anderen Gauhäusern der damaligen Gauhauptstädte. Es wurde geplant als Zeichen der Macht und ist dem Baustil jener Zeit geschuldet, darüber werden Sie später mehr hören. Schaue ich mir alte Ansichten von Innsbruck an, wirkt das Haus noch wuchtiger und ich bekomme ein Gespür dafür, wie das Haus damals auf die Menschen gewirkt haben muss, ein beinahe angsteinflößender Bau, der Ansitz uneingeschränkter Macht. Aus heutiger Sicht bietet das Haus die Gelegenheit zur direkten Konfrontation mit der Vergangenheit. Und ich selbst lerne durch die Ausstellung und das Buch Vom Gauhaus zum Landhaus von Hilde Strobl und Christian Mathies neues hinzu.

Vor fünfzehn Jahren erschien mein Buch Graubart Boulevard. Es handelt von der Familie Graubart, die einst aus Galizien über Wien nach Innsbruck kommt. Simon Graubart eröffnet hier im Jahr 1888 ein Schuhgeschäft, das Schuhhaus Graubart, das sich zuletzt in der Museumstraße 8 befindet. Simon Graubart ist zweimal verheiratet, er hat drei Söhne – Siegfried, Alfred und Richard – die alle in Innsbruck geboren werden, hier die Schule besuchen und später zu arbeiten beginnen. Die Familie ist – wie die meisten anderen jüdischen Familien in Innsbruck auch – nicht sehr religiös, sie will nicht auffallen, sie will einfach, was auch andere Menschen in der Stadt wollen, ein gutes Leben führen, sommers auf Berge kraxeln, im Winter Schifahren oder Rodeln gehen.

Als Simon Graubart 1936 stirbt, ist die Bestürzung über seinen Tod in der Stadt groß, was eine Todesanzeige in den Innsbrucker Nachrichten bezeugt, dem Vorläuferblatt der heutigen Tiroler Tageszeitung. Zwei Jahre nach Simon Graubarts Tod wird sein jüngster Sohn Richard in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in seiner Villa in der Gänsbacherstraße Nummer 5 von einem Rollkommando der SS ermordet, eines von vier Todesopfern jener Schreckensnacht. Graubarts Frau Margarethe und seine damals vierjährige Tochter Vera werden nach Wien abgeschoben, von dort gelingt ihnen die Flucht nach England.

Was ich damals, als ich an dem Buch schrieb, noch nicht wusste – und das bringt mich jetzt auf das Gauhaus zurück, dass zu dessen Errichtung andere Gebäude auf dem Areal geschleift werden mussten. Das Problem aber war, dass diese Häuser bewohnt waren und man für die Bewohnerinnen und Bewohner neue Unterkünfte auftreiben musste. Die Saggener Villa der Graubarts mit zwei Wohnungen war bereits vergeben, dort lebten der Bürgermeister von Innsbruck und der Direktor der Stadtwerke, aber es gab ja noch die drei Wohnungen über dem arisierten Schuhgeschäft in der Museumstraße, die auch der Familie Graubart gehörten. Also bot man unter anderen auch diese Wohnungen an. Was ich damit sagen will: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit kommt nie an ein Ende, sie liefert immer wieder neue Einsichten.

Was reitet der Bauer bloß immer auf der Vergangenheit herum, wir leben im Hier und Jetzt! So ist es, sehr geehrte Damen und Herren, wir leben im Hier und Jetzt, und gerade deshalb scheint eine Beschäftigung mit der Vergangenheit aufs Äußerste geboten zu sein. Wir leben in einer Zeit, in der antisemitische Stereotypen wieder durch die Hintertür hereinkommen, in einer Zeit, in der Jüdinnen und Juden erneut Übergriffe fürchten müssen. Und wie erklären wir einem Kind oder Jugendlichen, warum Polizei vor der Synagoge in der Sillgasse Aufstellung nimmt, um das Gebetshaus und jene, die es betreten oder verlassen, zu schützen. Wer also behauptet, mit der Vergangenheit haben wir nichts mehr am Hut, der oder die irren ganz gewaltig. Auf diese Art und Weise wird unsere Demokratie aufs Spiel gesetzt.

Wir leben in einer Zeit der Islamophobie, der Homophobie, in einer Zeit des Populismus, ob der nun von rechts oder links kommt, spielt keine Rolle. Wir leben in einer Zeit, in der ein Begriff wie Faschismus inflationär verwendet wird, was darauf schließen lässt, dass jene, die das Wort im Mund führen, einfach nichts wissen, ja, wir leben in einer Zeit des Unwissens. Was daraus resultiert, ist offensichtlich, wir leben in einer Zeit des Fremdmachens, was nicht hierher passt, wird fremdgemacht, es wird diskriminiert, es muss weg. Auf diese Methode verstanden sich schon die Nationalsozialisten, wohin das geführt hat, ist wohl jeder und jedem hier bekannt.

Wir müssen uns der Vergangenheit stellen, wenn wir nicht wollen, dass sie uns zur Gegenwart wird. Wir dürfen Kindern, Jugendlichen, wir dürfen Menschen nicht nehmen, worauf sie ein Recht haben: ein Recht auf Wissen.

Diese Ausstellung sorgt für Wissenserweiterung. Aber die Ausstellung darf nicht nur ein Punkt auf der Tagesordnung bleiben, eröffnet, rasch abgehakt und weiter geht’s. Die Inhalte der Ausstellung müssen ins Bewusstsein der Menschen übergehen. Es muss ein Bewusstsein geschaffen werden für das, was in diesem Haus passiert ist – und in diesem Land.

Es ist nie zu spät, Verantwortung zu übernehmen, wenngleich es selbstverständlich längst an der Zeit gewesen ist, die Geschichte dieses Hauses sichtbar zu machen. In diesem Sinne danke ich jenen, die dies ermöglicht haben, so wie ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit danke. Herzlichen Dank.

 

Christoph W. Bauer am 4. Oktober 2023

Coming of Age in Österreich: Drei Haymon-Autor*innen im Interview

Ach, Kindheitserinnerungen: Mit dem Postbus ewig in die Schule brauchen, Jollyeis im Freibad im Sommer genießen, Skifahren lernen (bevor man überhaupt Lesen und Schreiben kann) … Viele Erinnerungen teilen wir mit anderen, viele sind ganz unterschiedlich: Es gibt unzählige verschiedene Lebenswelten in diesem Land, so viele einzigartige Kindheiten und Coming-of-Age-Erlebnisse in Österreich. Vieles, was fast schon als kollektives Kindheitsgedächtnis zählt, ist nur eine Seite, eine Perspektive. Jede*r hat schöne, aber auch schwere Erinnerungen. Vielleicht auch welche, an die man nicht so gern zurückdenkt oder auch erst als Erwachsene*r richtig einordnen kann. Was hat sich seitdem geändert, was ist genau gleichgeblieben? Was vermisst man – und was gar nicht? Im Interview erzählen Nada Chekh, Herbert Dutzler und Precious Chiebonam Nnebedum vom Eiskunstlaufen und Comiclesen, von den Süßigkeiten, die unsere uns Eltern niemals erlaubt hätten (hätten sie davon gewusst) und von den Lektionen, die sie erst heute verstehen gelernt haben …

Nada Chekh ist kritisch, laut und ehrlich. In den 1990ern und 2000ern wuchs sie im Wiener Gemeindebau auf. Heute schreibt sie als Journalistin darüber, was die multiethnische Community in Österreich bewegt.
Foto: © Zoe Opratko

Was ist deine prägendste oder präsenteste Kindheitserinnerung?

Nada Chekh: Es gibt viele Erinnerungen aus meiner Kindheit, die mir – je nach Gefühlslage – in den Kopf kommen. Als ich zwölf Jahre alt war, wollte ich unbedingt Eiskunstläuferin werden. Mich in einem Verein anzumelden, konnten sich meine Eltern damals nicht leisten, aber dafür hat mein Vater mich mehrmals die Woche zu einem Eislaufplatz gebracht, wo ich nach der Schule abends zwei Stunden lang üben konnte. Einmal hatte ich den ganzen Platz im Außenbereich für mich alleine, und es schneite gerade so richtig dicke Flocken, und der Himmel war ganz erleuchtet davon, obwohl die Sonne bereits vor Stunden untergegangen war. Ich drehte ganz glückselig ein paar einfache Pirouetten vor mich hin und spürte so eine Ruhe in mir, wie selten zuvor. Lustigerweise erinnert mich der Song „Blue Dress“ von Depeche Mode an diesen Moment, obwohl ich mir gar nicht sicher bin, ob dieses Lied damals über die Anlage gespielt wurde.

Herbert Dutzler: Wenn ich versuche, mich zurückzuerinnern, fallen mir fast nur Szenen im Freien ein, wo ich mit anderen Kindern zusammen war. Meist beim Radfahren, Fußball spielen oder einfach nur im riesigen Haselnussbusch herumhängen. Ein besonderer Nachmittag sticht aber heraus: Ich war in Bad Aussee bei einem Schulfreund zu Besuch, der eine riesige Sammlung von Micky-Maus-Heften hatte. Ich bin den ganzen Nachmittag auf der Veranda gesessen, der Regen rauschte durch die Bäume im Garten, und ich war völlig in die Comics vertieft.

Precious Chiebonam Nnebedum: Die präsenteste Erinnerung, die ich an meine Kindheit habe, muss mein siebter Geburtstag sein. Das war das Jahr, in dem ich jeden einzelnen Tag genossen habe, und es scheint wirklich sehr, sehr bedeutsam in meiner Erinnerung zu sein. Um ehrlich zu sein, habe ich an dem Tag nicht viel gemacht, aber eine Sache, die ich sehr lebhaft erinnere, ist, dass ich zu Hause einen kleinen Kuchen mit meinen Cous*inen gegessen habe, die zu Besuch gekommen waren. Danach habe ich ein bisschen Geld von der Familie bekommen, und es war nicht einmal viel, aber für eine Siebenjährige war ich reich. Ich bin damit mit meinen Cous*inen zum Laden an der Ecke gegangen und habe Süßigkeiten und Milchpulver gekauft, denn das war für uns damals eine Delikatesse, R.I.P. an unsere Zähne.
Ich bin mir zwar nicht hundertprozentig sicher, aber ich glaube ich habe auch eine Geburtstagskarte bekommen. Es muss eine rosa und blau glitzernde Geburtstagskarte gewesen sein, ich habe vergessen, von wem. Und ich war einfach glücklich. Es ist nicht viel passiert, aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass dieses Alter der Höhepunkt war. Und jedes Mal, wenn ich denke, oh Mann, Erwachsensein ist eine Abzocke, erinnere ich mich an mein siebtes Jahr zurück. Denn damals war ich einfach am glücklichsten.

Herbert Dutzler ist in den 1960er Jahren in Altaussee im Salzkammergut großgeworden, heute schreibt er Bestseller.
Foto: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

 

Was waren die größten Kämpfe, die du als junge*r Erwachsene*r ausfechten musstest?

Precious Chiebonam Nnebedum: Ich bin sehr dankbar und erkenne an, dass ich zu den wenigen POC in Österreich gehöre, die das Privileg hatten, in sehr jungen Jahren die Möglichkeit geboten zu bekommen, einflussreich zu werden und eine beeindruckende Liste von Erfolgen anzuhäufen. So sehr ich weiß, dass dies eine lobenswerte Tatsache ist, ging es auch mit vielen Unsicherheiten, Zweifeln und Fragen einher. Eine der größten hatte definitiv damit zu tun, ob ich überhaupt das Recht hatte, in bestimmten Räumen zu sein, in die ich hineinging. Ich betrat politische Räume, ich betrat leitende, autoritäre Räume und Rollen, und jedes Mal hinterfragte ich die Tatsache, ob es einer jungen Schwarzen Frau erlaubt war, dort zu sein, ob sie dort sein sollte und ob sie überhaupt etwas Wertvolles beizutragen hatte oder ob sie einfach nur eine Beobachterin sein durfte. Ich denke, das Schwierige daran war, dass mir klar wurde, dass das nur in meinem Kopf war, aber aus irgendeinem Grund war es dennoch sehr schwer, diese Hürde zu überwinden und einfach zu handeln.
Ich muss wirklich Anerkennung zollen, wo Anerkennung gebührt, und offenlegen, dass es nur durch die Gnade Gottes war, dass ich in den meisten Fällen tatsächlich gehandelt und gesprochen habe. Ich habe eine Einstellung entwickelt, die besagt: „Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht ich, wer dann?“ Ich könnte nie sagen, dass es allein meine Leistung war. Ich verdanke das dem Support und Rückhalt von den Menschen um mich herum – meinen Geschwistern, meiner Familie, meinem Partner, meiner Community. Menschen, die Dinge in meinem Leben gesehen und über mich gesprochen haben, so oft, dass ich einfach daran glauben musste. Ich musste daran glauben, um weiterzukommen, und letztendlich habe ich das getan.

Herbert Dutzler: Da ging es vor allem um Kleidung und Haare. Meine Eltern hatten wenig Verständnis dafür, dass es unbedingt Jeans sein mussten, und noch dazu welche einer bestimmten Marke (Levis). Später mussten Jeans her, die einen V-Cut am Knie hatten, der irgendwann in den Siebzigern ein modisches Must-have war. Und unten mussten sie so weit ausgestellt sein, dass man die Schuhspitzen drinnen verstecken konnte. Die Haare waren auch ein ständiges Thema. Sie mussten zumindest so lang sein, dass man sie unterhalb der Ohren zusammenführen konnte, sonst war man komplett und völlig out. „So stellt sich der Bub nicht unter den Christbaum!“, hieß es, wenn die Frisur für die Feiertage dem Vater unpassend erschien.

Nada Chekh: Ich glaube, dass im Allgemeinen der Kampf um meine Privatsphäre der schwierigste in meiner Jugend war. Also nicht nur räumlich – es gab in unserer Wohnung nur drei Schlafzimmer für fünf Kinder und meine Eltern – sondern auch persönlich. Solange man finanziell und strukturell von seiner Familie abhängig ist, gelten auch deren Regeln unter dem Dach. Je erwachsener ich wurde, desto mehr spürte ich gewisse Rollenbilder, die mir als Frau auferlegt wurden. Dazu gehörte nicht nur, keinen Kontakt zum anderen Geschlecht zu haben, sondern auch eine Unfreiheit über meinen eigenen Körper. Als Jugendliche reagierte ich sehr empfindlich und frustriert auf diese Kontrolle, das hat mich ziemlich geprägt. Ich habe mich zudem nie mit meiner Religion wirklich identifiziert, was mich eine Stufe weiter von meiner Familie, meiner Muttersprache und den Sitten entfremdet hat.

 

Precious Chiebonam Nnebedum wuchs in Nigeria und Österreich auf. Nachdem sie zahlreiche Poetry-Slam-Bühnen gestürmt hat, lebt die Lyrikerin und Musikerin heute in Wien.
Foto: © Ella Börner

Gibt es etwas, das dir deine Eltern früher vermittelt haben, das für dich heute noch sehr wichtig ist? Oder gibt es vielleicht Haltungen, Werte, die dir deine Eltern mitgegeben haben, die du irgendwann beim Älterwerden verworfen hast?

Herbert Dutzler: Meine Mutter hat mich ab der ersten Klasse Volksschule wöchentlich in die Bibliothek mitgenommen, wofür ich ihr heute noch dankbar bin. Das Regal mit den Büchern für Leseanfänger war für mich die reinste Wunderkammer, und ich hatte alle Bücher darin noch vor dem Ende der ersten Klasse durch. Die politische Einstellung meiner Eltern und ihre Haltung fremden Menschen gegenüber ist ein Wert, den ich mit etwa 16 endgültig verworfen habe. Ihre Haltung war von distanzloser Verherrlichung einer schrecklichen Vergangenheit geprägt, was später auch zu gröberen Auseinandersetzungen geführt hat, als mein politisches Interesse erwachte und in eine völlig andere Richtung ging.

Nada Chekh: Heute finde ich es sehr schade, dass ich mich in meiner zweiten Muttersprache Arabisch niemals wohlgefühlt habe, obwohl meine Eltern mehrere Offensiven dazu gestartet haben, dass ich richtig lesen und schreiben lerne. Leider hat es mit Diktaten von Koransuren und Gebeten beim Sprachunterricht kaum funktioniert, weil ich nicht religiös war. Das ist so eine Sache, die ich meinen Eltern beim Aufwachsen vorgeworfen habe – dass sie mir die arabische Sprache vor allem über die islamische Religion näherbringen wollten, obwohl ich mich sehr heftig dagegen gesträubt habe. Auch über die Tatsache, dass die Bekannten meiner Eltern sich ohne Weiteres über meinen deutschen Akzent lustig machen konnten, habe ich mich lange geärgert. Mittlerweile sehe ich das gelassener, womöglich weil ich stattdessen Russisch gelernt habe und zuhause mit meinem Mann eine quasi „neue Muttersprache“ spreche, die ich an meine Kinder weitergeben würde, sollte ich eines Tages welche haben.

Precious Chiebonam Nnebedum: Eine der vielen Haltungen, die ich von meinen Eltern übernommen habe, ist die „offene-Haustür-Regel“. Unser Zuhause war immer offen, für jeden, seien es Cous*inen, die kamen und übernachteten. Wir hatten Tanten, Onkel, wir hatten Freund*innen, die kamen und übernachteten. Es wurde nie wirklich in Frage gestellt, ob wir genug zu bieten und teilen hatten, es war einfach die Tatsache klar, dass Menschen Bedarf hatten und wir immer bereit waren, zu helfen. Das ist etwas, dem ich auch heute noch folge. Immer wenn Freund*innen oder Familie oder wer auch immer in meiner Nähe sind, ist meine erste Aussage: „Hast du einen Platz zum Schlafen? Möchtest du bei mir bleiben?“ „Möchtest du abhängen? Ich kann für dich kochen. Du kannst kommen und so lange bleiben, wie du möchtest.“ Das ist mir zuallererst von meinen Eltern eingeprägt worden, bevor es später von Freund*innen und meiner Community verstärkt wurde.
Es gibt jedoch auch bestimmte Dinge, die ich von meinen Eltern gelernt habe und von denen ich mich nun langsam distanziere. Eines davon wäre die Vorstellung, dass Kreativität oder der Wunsch, kreativ zu arbeiten und eine Karriere daraus zu machen, definitiv in einer Sackgasse enden wird. Mir wurde tausendmal gesagt: „Ja, du kannst schreiben, du kannst auftreten, du kannst singen, du kannst all das tun. Aber du brauchst einen richtigen Job. Du brauchst einen richtigen Abschluss.“ Ehrlich gesagt sehe ich die Wahrheit in dieser Angst. Aber ich weiß trotzdem, dass es so viel Potenzial gibt, wenn man die Disziplin und die Arbeit und den Aufwand investiert, um eine Karriere im kreativen Bereich zu starten und aufrechtzuerhalten. Etwas, das ich immer noch anstrebe.

Welcher Sache – das kann ein Lied, eine Fernsehsendung, eine Süßigkeit etc. sein –, die es nicht mehr gibt, träumst du heute noch hinterher?

Nada Chekh: Ui, da gibt es mehrere Sachen. Es gab in Wien ein supertolles Café namens Berfin, das ich als junge Studentin mit meiner Mutter und meinen Geschwistern gerne besucht habe. Es hatte ein wunderbares orientalisches Flair, ohne kitschig zu sein. Wir waren früher manchmal sogar mehrmals die Woche dort, haben Shisha geraucht und miteinander getratscht, da habe ich sehr schöne Erinnerungen daran. Und das erste (und letzte) Mal, als ich in Ägypten war, war mit sechs Jahren. Ich kann mich gut an den Strand in Alexandria erinnern, wo es Verkäufer gab, die Freska – so eine Art Honigwaffel – verkauften. Als Kind habe ich diese Süßigkeit geliebt, aber eben nur bei diesem einen Besuch gegessen. Bis heute denke ich an diese großen, runden Waffeln und frage mich öfter, ob ich sie jemals wieder essen werde.

Herbert Dutzler: Die großen Samstagabendshows, die es heute kaum mehr gibt, waren absolute Straßenfeger, und die ganze Familie saß gebannt vor dem Fernseher. Die beliebteste von allen war „Einer wird gewinnen“ mit Hans Joachim Kulenkampff. Und den habe ich sogar einmal auf dem Balkon seines Pensionszimmers in Bad Aussee gesehen (von unserer Terrasse aus). Das war eine echte Sensation. Allerdings gibt es die meisten dieser Shows auch heute noch zu sehen – Youtube vergisst nichts!

Precious Chiebonam Nnebedum: Definitiv die Fernsehsendung: „The Grim Adventures of Billy and Mandy“ aus meiner Kindheit!

Warum wir 2023 noch über die Protagonistinnen der 1848er-Revolution diskutieren müssen und wie sich Geschichtsvernebelung aus dem 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit fortschreibt. Ein Interview mit Andreas Kloner

Der Zauberer vom Cobenzl“ von Bettina Balàka ist eine mitreißende und kuriose Geschichte von einem schillernden Wissenschaftler und Entdecker, der dem Altersstarrsinn anheim fällt und sein Denkmal beschädigt. Der Roman ist auch ein lebendiges Epochenbild, das uns Leser*innen aus einer weiblichen Perspektive heraus eintauchen lässt in eine Zeit der Umbrüche, in eine Zeit des erwachenden Widerstands und die Geburtsstunde der ersten politisch organisierten Gruppe, die sich im Kaiserreich der Gleichstellung von Frauen und Männern verschrieb.

Während so manche Begegnung und Bekanntschaft in Bettina Balàkas fiktivem Roman geschichtlich nicht belegbar ist, fußen viele Begebenheiten auf breitem historischen Konsens: Etwa die Rolle der ersten Wiener Frauendemonstration 1848 kurz vor der sogenannten Praterschlacht, oder der solidarische Einsatz des „Ersten Wiener Demokratischen Frauenvereins“

Der Journalist und Autor Andreas Kloner arbeitet seit 2003 als Sendungsgestalter für den Österreichischen Rundfunk, Deutschlandradio Kultur, Radio France und andere europäische Kultursender.
Fotocredit: privat

Obwohl die Ereignisse des Revolutionsjahrs gut dokumentierter Gegenstand geschichtlicher Forschung sind und sich auch im Stadtbild verschiedentlich manifestieren (so gibt es etwa einen Platz der Erdarbeiterinnen im 2. Bezirk), kamen schon während der Recherche am Roman und nach der Veröffentlichung Widersprüchlichkeiten und weit verbreitete Fehlannahmen ans Tageslicht.

Immer wieder wurden wir zum Beispiel mit dem Wikipedia-Eintrag des Protagonisten Karl von Reichenbach konfrontiert, der eine der Hauptfiguren, Ottone, fälschlicherweise nicht anführt. Wo liegt die Ursache für faktische Fehlinformationen, fehlende Quellen und offensichtliche Geschichtsklitterung, die anscheinend unwidersprochen kursieren?

Wir haben Andreas Kloner interviewt, um das herauszufinden, der Journalist und Schriftsteller forscht aktuell selbst für ein Buch über Karoline Perin. Über die 1848-er Revolution, Stolpersteine bei der Recherche und patriarchale Traditionen der Geschichtsschreibung haben wir uns mit ihm unterhalten.

Lieber Herr Kloner, Bettina Balàkas Roman versetzt seine Leser*innen in eine bewegte Epoche. 1848 wurde das Kaiserreich von Aufständen erschüttert, neben Autonomiebestrebungen einzelner Kronländer hatte die Revolution auch eine Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung zum Ziel. Lassen Sie uns kurz in den historischen Kontext eintauchen:

Um die Zusammenhänge während der europäischen Revolutionszeit 1848/49 einordnen zu können, empfehle ich das neue Buch von Christopher Clark „Frühling der Revolution“, in dem der Autor den Leser*innen auf mehr als tausend Seiten eine Gesamtschau der Ereignisse und Beweggründe bietet. In Österreich brach sich die Revolution Bahn von etwa Mitte März 1848, mit der Forderung nach einer Verfassung und nach Pressefreiheit, im Mai 1848 folgte der Studentenaufstand und der damit verbundene Bau zahlreicher Barrikaden innerhalb der Wiener Stadtmauern. Die Geschehnisse gipfelten in der Demonstration der Erdarbeiter*innen und dem Pratermassaker vom 23. August. Die Ermordung des verhassten Kriegsministers Latour, am 6. Oktober 1848, bildete Argument und Auftakt zur Konterrevolution, die den Aufstand Ende Oktober 1848 blutig niederschlagen ließ. Zart gesprossene liberale und demokratische Pflänzchen wurden zertreten. Das nachhaltigste Ergebnis der Wiener Revolution 1848 war die Bauernbefreiung unter der Ägide von Hans Kudlich.

In dieser turbulenten Zeit kommen zwei Protagonistinnen des Romans – Hermine und Ottone – mit revolutionären Kreisen in Berührung und wir erfahren viel über das Engagement von Teilen der Aristokratie und des Bürgertums. Wir lernen im Roman auch Protagonistinnen der entstehenden Frauenbewegung kennen. Welche Rolle spielte etwa der „Erste Wiener Demokratische Frauenverein“ in dieser Zeit?

Ob Hermine und Ottone Reichenbach definitiv mit den revolutionären Kreisen in Berührung gekommen sind, dazu sind die Quellen zurzeit nicht ausreichend. Die literarische Freiheit Bettina Balàkas, die Schwestern Reichenbach als Mitglied des „Ersten Demokratischen Frauenvereins“ aufscheinen zu lassen, könnte allerdings von der Realität durchaus overruled werden, falls in einer Petition des Frauenvereins an den am 17. Oktober 1848 tagenden Reichstag auch die Unterschriften von Hermine und Ottone auftauchen sollten. Da bin ich noch auf der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. An einer kleinen, inneren Revolution haben Hermine und Ottone ohne Zweifel teilgenommen, nämlich die Entscheidung, ihren despotisch-psychopathischen Vater in einer regelrechten Nacht- und Nebelaktion zu verlassen.

Was den „Ersten Wiener demokratischen Frauenverein“ betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob sich dieser die politisch heißen Themen, wie Gleichberechtigung oder gleiche Bildung für Frauen, von Anfang an auf die Fahnen geheftet hat. Gegründet wurde der Verein, nachdem ein Protest von Erdarbeitern, aber vor allem auch Erdarbeiterinnen, die wegen einer einschneidenden Lohnkürzung protestiert hatten, von der Exekutive brutal niedergeschlagen wurde. Es gab eine große Anzahl an Toten und Verletzten. Für diese Arbeiterinnen und deren Kinder wollte sich der Frauenverein – so ist es in einem ersten handgeschriebenen Entwurf der Statuten noch zu lesen! – ausschließlich karitativen Angelegenheiten widmen. Wenige Tage später erschienen die Statuten gedruckt. Der karitative Inhalt war jedoch in den Hintergrund gerückt. Plötzlich dominierten die brisanten politischen Forderungen, um offenbar dem Demokratiegedanken dieser Tage Rechnung zu tragen.

Was wurde aus den Forderungen des Frauenvereins und was geschah nach der Niederschlagung der Revolution?

Die Forderungen des 1848er-Frauenvereins, wie Gleichberechtigung und Schulbildung für alle, wurden, wie es bei uns so schön heißt, nicht einmal ignoriert. Allein bei dem Begriff „Gleichberechtigung“ dürften die Männer (aber auch ein Großteil der Frauen) tief nach Luft gerungen haben. – Transferieren wir eine derartig unmögliche Möglichkeit in die heutige Zeit: Vor wenigen Jahren wäre es völlig unvorstellbar gewesen, von rauchfreien Lokalen zu träumen! Heute ist es – zumindest aus meiner persönlichen Erfahrung heraus – eine Selbstverständlichkeit. – Gehen wir einen Schritt weiter, in unsere Tage: Hier wird das Anliegen, neben der männlichen stets auch die weibliche Form zu schreiben und auszusprechen, mehrheitlich noch immer als „Genderwahn“ wahrgenommen. So manchem graut vor einem Gender-Doppelpunkt, -Sternchen, -Binnen-I, -Unterstrich noch immer derartig, als wären sie der in diakritische Zeichen gegossene Gott-sei-bei-uns höchstpersönlich. Die Rede vom alten, weißen Mann ist jetzt zwar auch nur ein Klischee und Narrativ (auch ich bin alt und weiß), aber es gibt ihn immer noch. – Ob die damaligen Forderungen des Frauenvereins nach Gleichberechtigung im Heute des 21. Jahrhunderts bereits zur Gänze angekommen sind, darf sich jede*r selbst ausrechnen.

Bei den Nachforschungen zu ihrem Roman stieß Bettina Balàka auf Ungereimtheiten und Hindernisse. Zur Existenz Ottones von Reichenbach gibt es wohl widersprüchliche Darstellungen, zum demokratischen Frauenverein gibt es noch nicht einmal einen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag (Anm.: Stand 18.10.2023). Sie recherchieren aktuell an einem Buch über Karoline von Perin, die unter anderem die Vorsitzende des ersten politischen Frauenvereins in Österreich war.  Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Errungenschaften dieser mutigen Frauen im öffentlichen Diskurs so wenig präsent sind. (Ganz zu schweigen vom hohen Preis, den sie für ihren Einsatz bezahlen mussten.)

Eine sehr komplexe Frage, die einer komplexen Antwort bedarf. Was die Existenz Ottones betrifft, wäre diese gar nicht so widersprüchlich, wenn nicht der Name „Wurzbach“, der Verfasser des „Biographischen Lexikons des Kaiserthums Österreich“, nicht derartig wuchtig nachwirkte. Im konkreten Fall geht es um seinen 150 Jahre alten Eintrag, es habe einen „Otto Eugen“ (Reichenbach) gegeben, während Bettina Balàka in ihrem Roman „behauptete“, es handle sich um eine „Ottone Eugenie“. So.

Wenn nun die in der Gegenwart lebende (weibliche!) Bettina Balàka, die einen historischen Roman geschrieben hat, dem historisch-biographisch arbeitenden (männlichen) Konstantin von Wurzbach – eine beinahe sakrosankt wahrgenommene Institution in der Wiener Geschichtsforschung – gegenübergestellt wird, wem wird letztlich das bessere Wissen zugeschrieben werden? – Richtig! Dann sehen wir, wie tiefgreifend das patriarchiale System in uns allen weiterhin funktioniert. Und wir sehen auch gerade in diesem Fall, wie schwerfällig moderne Enzyklopädien, wie in diesem Fall Wikipedia, darauf reagieren. Offenbar gilt noch immer das Zitat aus dem Western-Klassiker „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“: „Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende!“

Fundstück: Auszug aus dem Blansker Geburtenregister. „Otto Eugen“ war demnach tatsächlich „Ottone Eugenie von Reichenbach”.
Konstantin von Wurzbachs Lebenswerk, das Biographische Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, gilt als einzigartige und wirkmächtige historische Referenz und scheint auch hier ursächlich für die nachhaltige Löschung Ottones aus den Enzyklopädien zu sein.
Das Register liegt öffentlich zugänglich im Mährischen Archiv zu Brünn auf. (Moravian Provincial Archives – Book #51, Blansko region, Births 1805-1839). Dig. Archivlink.

Kurios: Ausgerechnet Karoline von Perin erlitt ebenfalls ein „Wurzbach-Schicksal“. Bei den Einträgen unter „Pasqualati“ findet sich auch Andreas Joseph Pasqualati, der Vater von Karoline. Allerdings werden lediglich seine Söhne Joseph und Moritz erwähnt. Die Tochter wird totgeschwiegen.
Gedenkstein im Volksgarten
Credit: Geolina163, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Was den noch nicht vorhandenen Wikipedia-Eintrag zum ersten politischen Frauenverein in Österreich betrifft, bin ich schon froh über den Wikipedia-Eintrag, der Karoline von Perin vor wenigen Jahren gewidmet worden ist. Was die historische Faktizität betrifft, möchte ich den gut versteckten, nicht einmal kniehohen Gedenkstein im Wiener Volksgarten als Beispiel nehmen, auf dem sich eine Minimalstbiographie von Karoline von Perin befindet, der sage und schreibe in einem einzigen Satz gleich drei grobe Fehler beinhaltet: Nein, Karoline von Perin wurde nicht 1808 geboren; nein, sie ist nicht die Gründerin des Vereins gewesen; nein, die Vereinsversammlungen fanden nicht regelmäßig im Volksgarten-Café statt.

Die Errungenschaften des Vereins lagen vor allem darin, etwa zwei Wochen nach seiner Gründung ein Statut herausgegeben zu haben, das seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war. Die Zeit war einfach noch nicht reif dafür. Um es auf den Punkt zu bringen: Es waren die Menschen, sowohl Männer als auch Frauen, die noch nicht reif dafür waren. Den im Raum stehenden psychoanalytischen Ansatz möchte ich nur andeuten: Wie schützen sich Männer vor starken Frauen? Indem sie etwas per Gesetz verbieten oder gesetzliche Vorgaben ohnehin an der Praxis scheitern lassen! Mit letzterem könnten wir gar in der Jetztzeit gelandet sein.

Sind Sie bei der Recherche zu Ihrem Buch ebenfalls auf Lücken oder gar tätige Geschichtsklitterungen und Hindernisse gestoßen?

Häufig ergeben sich historiographische Fehler aus unabsichtlichen Schlampereien, Missverständnissen, Abschreibfehlern und und und. Klassische Geschichtsklitterungen, im Sinne von absichtlichen Irreführungen, sind mir während meiner Recherche immer wieder untergekommen.

Zwei Beispiele möchte ich nennen, die unterschiedlich motiviert waren: Zum einen hat Karoline von Perin vermutlich selbst geschichtsgeklittert, als sie in ihrem Bericht über ihre Flucht, Gefangennahme und Gefängniszeit dem revolutionären Gedanken abschwor, um durch diese Abbitte wieder Teil der Gesellschaft zu werden. Der Treppenwitz daran: Die Rückkehr in die Gesellschaft wurde ihr zeitlebens nicht mehr gewährt. Man hat an ihr – vermutlich zur Abschreckung – ein Exempel statuiert.

Zum anderen gibt es einen bösartigen Nekrolog auf sie, der – bis auf die Einleitung – im völlig gleichen Wortlaut in zwei unterschiedlichen Tageszeitungen erschienen war. Das Bemerkenswerte daran: Einmal erschien der Artikel bereits vor, im anderen Fall nach dem Begräbnis. Die Einleitung in der ersten Zeitung wurde auf die Zukunft hin formuliert, in etwa: „Kaum jemand wird an ihrem Begräbnis teilnehmen …“, während in der zweiten Zeitung geschrieben stand: „Kaum jemand nahm an ihrem Begräbnis teil …“. Hier wird das ursprünglich noch nicht stattgefundene Ereignis in ein historisches Faktum umgeschrieben. Das ist zutiefst infam und beschämend.

Haben Sie zum Abschluss vielleicht einen Tipp für unsere Leser*innen, die mehr über die Zeit und das Schicksal der ersten politisch organisierten Frauenbewegung erfahren möchten?

Über den ersten demokratischen Frauenverein während der Revolutionszeit sind die Bücher und Artikel von der Historikerin Gabriella Hauch zu empfehlen. Das Schicksal des ersten politisch organisierten Frauenvereins war mit der Niederschlagung der Revolution derartig rasch besiegelt, dass der Verein nach nur zwei Monaten Geschichte war. Spannend wäre es – neben Karoline von Perin – weitere Mitstreiterinnen ausfindig zu machen und deren Lebensläufe nach der Revolution weiterzuerzählen. Etwa jene von der Nichte eines Vereinsmitglieds, die einen Vater hatte, der sich zeit seines Lebens für die Frauenrechte einsetzte, und die als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität promovieren konnte: Dr. Isabella Eckardt: „Der Romzug Kaiser Sigmunds (1431-33)“ aus dem Jahr 1902.

 

Möchtest auch du mehr erfahren über eine Zeit im Umbruch, einen Roman, der einen Wissenschaftskrimi beinhaltet und der erlebbar macht, wie Frauen in Wien zum ersten Mal organisiert für bessere Lebensbedingungen auf die Barrikaden gehen? „Der Zauberer vom Cobenzl“ ist in deiner Lieblingsbuchhandlung erhältlich. Alle Infos zum Buch findest du hier!

Leseprobe aus „Eine Blume ohne Wurzeln“ von Nada Chekh

Coming of Age – zwischen Wiener Gemeindebau und rigiden Rollenbildern:
Nada Chekh wuchs zwischen den moralischen Vorstellungen und Werten ihrer Eltern, dem wachsamen Blick „ihrer Community“ und jenen, zu denen sie gehören will und eigentlich auch gehört, auf. Aber Zugehörigkeit ist so viel mehr als nur ein Wort. Und schwer zu finden, wenn man in mehreren Welten lebt. Dann sind da noch die eigenen Wünsche und die Bedürfnisse, das Leben selbst zu gestalten. Mit viel Einfühlungsvermögen und Humor reflektiert Nada Chekh über das Erwachsenwerden in verschiedenen Kulturen. In eindringlichen Anekdoten lässt sie uns ganz nah an sich heran, nimmt uns mit in das Daheim ihrer Kindheit und Jugend. Nimmt uns an der Hand und zeigt uns, wie Selbstermächtigung aussehen kann. Sie schreibt über das Aufstehen im Religionsunterricht, über die Komplikationen, die für eine junge Frau wie sie bei Dates oder Student*innen-Parties lauern. Sie erzählt von der selbstverständlichen Bewertung von Mädchen und Frauen, vom Risiko, eigene Entscheidungen zu treffen, und vom Risiko, es nicht zu tun. Es geht aber auch um das Zusammenfinden, immer und immer wieder, das aufeinander Zugehen, Stück für Stück. Denn manchmal ist es gerade der Abstand, der zu einer neuen Nähe – und zu sich selbst – führen kann.

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die Nacherzählung einer Geschichte, die ich selbst nicht glauben würde, hätte ich sie nicht durchlebt. Womöglich ist „Geschichte“ auch nicht der passende Begriff für diese langwierige Reise zu meinem heutigen Leben, das sich so stark von jenem unterscheidet, das mir vorgelebt wurde.

Als Tochter arabisch-muslimischer Migranten, die in den 90ern und frühen 2000ern in einem Gemeindebau, wie die in Wien typischen sozialen Wohnbauten genannt werden, in Wien-Favoriten aufwuchs und dort zur Schule ging, habe ich nie Frauen aus der Community gesehen, die so waren, wie ich es heute bin. Weltoffenheit und Toleranz, zum Beispiel gegenüber der LGBTQ+-Community, weibliche Unabhängigkeit oder Freizügigkeit sind keine erstrebenswerten Dinge in der Community, in der ich, gemeinsam mit meinen Geschwistern, in erster Generation unserer Familie in Österreich aufwuchs. Dieses Aufwachsen, diese Reise erstreckt sich über viele Etappen und birgt auch einige dunkle Abschnitte, mit denen ich mich bis zu dem Moment, in dem ich sie für dieses Buch aufarbeitete, nicht beschäftigen wollte – oder konnte.

Dieses Buch handelt von der Erfahrung, in einer Welt zu leben, in der es ein „Wir“ und ein „die Anderen“ gibt, und reicht bis zu der Erkenntnis, dass selbst, wenn ich mich zu den „Anderen“ zugehörig fühlen würde, diese mich niemals als eine von „ihnen“ sehen würden. Es geht um einen Kampf um Privatsphäre, um das Recht, über meinen Körper und mein Leben verfügen zu können, den ich zuerst mit mir selbst führen musste, bevor ich mich außenstehenden Gegnerinnen und Gegnern stellen konnte. Eine große Stütze beim Schreiben über diese Vergangenheit waren meine persönlichen Tagebücher, die ich umso minutiöser führte, je einsamer ich mich auf diesem Weg fühlte. Bei all der Dramatik erlebte ich aber auch freudige Momente beim Schreiben dieses Buches, in denen sich unerwartete Verbindungen erschlossen oder auch schöne und skurrile Erinnerungen miteinflossen.

Für manch einen Leser oder eine Leserin mag es eine gewöhnliche, wenn nicht sogar banale Sache sein, sich gegen die eigene Familie aufzulehnen, und, wenn nötig, auch einen Bruch mit ihr in Kauf zu nehmen. Doch aus einer Community kommend, in der Familie über allem steht, waren meine Entscheidungen, die ich damals treffen musste, kein leichtes Unterfangen. Ich weiß, dass es gerade sehr viele junge Frauen gibt, die auf eine Geschichte wie meine warten – egal, ob sie ebenso aus muslimischen Familien stammen oder auch anders kulturell geprägt sind, oder ob sie einfach wissen, wie sich religiös-konservative und patriarchale Strukturen am eigenen Leib nun einmal anfühlen.

Nicht nur im Zuge meiner Tätigkeit als Journalistin bei dem transkulturellen Magazin biber, sondern auch als Speakerin an Wiener Schulen begegne ich immer wieder Mädchen und jungen Frauen, die einen ähnlichen Hintergrund haben wie ich, von denen manche sagen: „Du hattest einfach Glück mit deiner Familie, dass du dein Leben selbst in die Hand nehmen konntest.“ In Wahrheit ist dies jedoch das Ergebnis eines phasenweise endlos scheinenden, oft auch schmerzhaften Prozesses – wie man hier nachlesen wird –, den ich ohne jene wunderbaren und ermutigenden Menschen, die ich kennenlernen durfte, nicht hätte durchstehen können.

Auch wenn ich selbst ohne Vorbilder aufgewachsen bin, mit denen ich mich identifizieren hätte können, bin ich mir ihrer Wichtigkeit bewusst. Es kommt vor, dass ich gefragt werde: „Was bedeutet es, den Mut aufzubringen, sich von konservativen und religiösen Vorstellungen zu lösen?“ Die ehrliche Antwort sieht so aus: Ich bin keine „mutige“ Frau. Im Gegenteil, in meinem bisherigen Leben war ich in vielerlei Hinsicht von tiefer Angst getrieben. Die Angst davor, ein Leben führen zu müssen, das nicht meinen eigenen Überzeugungen entspricht, wurde jedoch an einem bestimmten Punkt noch größer als die Angst, von meiner Familie verstoßen zu werden, weil sich unsere Weltansichten nicht vereinbaren ließen. Rückblickend kann ich sagen, dass ich viele Dinge auch aus Notwendigkeit tun musste, um meine Integrität und Eigenständigkeit überhaupt installieren zu können. Es ist denkbar schwer, seine persönlichen Grenzen festzusetzen und Privatsphäre einzufordern, wenn man nie vermittelt bekommen hat, dass man – gerade als Frau – eine schützenswerte Privatsphäre hat.

Bevor wir uns nun gemeinsam in meine Geschichte stürzen, möchte ich noch einige wichtige Anmerkungen vorweg anführen: Bis auf wenige Ausnahmen wurden alle Namen in diesem Buch zum Schutz der Identität der realen Personen geändert. Zudem möchte ich noch erwähnen, dass ich genderinklusive Sprache in diesem Buch aus Gründen der Einfachheit und zum Erhalt des Leseflusses nach eigenem Ermessen verwendet habe. Mit dem generischen Maskulinum sind selbstverständlich alle Menschen, unabhängig von ihrer persönlichen Identifikation oder Nicht-Identifikation mit dem männlichen Geschlecht mitgemeint, sofern sie sich mitgemeint fühlen.

Dieses Buch soll keine Anleitung zum Ausbruch aus konservativen Familien darstellen, sondern gibt meine individuelle Erfahrung in dieser Sache wieder. Sollte Dich das Lesen von Szenen über Krieg, Gewalt, Depression, Selbstverletzung und ähnlich „triggernde“ Themen verstören, so möchte ich hier davor warnen.

Nachdem wir das alles nun geklärt haben und Du immer noch weiterlesen möchtest: Wollen wir auf eine Reise gehen?

 

Aus dem Buch „Eine Blume ohne Wurzeln“ von Nada Chekh, ab 31. Oktober 2023 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich. 

Nada Chekh ist kritisch, laut und ehrlich. Interkulturelle Konflikte, die tief in den persönlichen Lebensalltag und die engsten Beziehungen eindringen, hat sie hautnah erlebt. Ihre Erfahrungen prägen, was sie heute tut: Als Journalistin, die ihre Anfänge unter dem Namen Nada El-Azar bei „biber“ machte, schreibt sie darüber, was die multiethnische Community in Österreich bewegt, rüttelt an den Missständen in unserer Gesellschaft, fordert Debatten heraus und spricht über Langzeittabus, aber auch Potenziale, die ein Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen bereit halten kann.

„Gewalt ist ein Mittel, um Frauen auf die ihnen zugeschriebene Rolle zu verweisen.“ – Interview mit dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser

Bist du schon einmal alleine unterwegs gewesen – nur du und die Angst, dir könnte genau jetzt etwas passieren? Etwas Schreckliches, angetan von einem anderen Menschen? Wenn du eine Frau bist oder einer in dieser Hinsicht vulnerablen Gruppe, wie zum Beispiel queeren Menschen, angehörst, kennst du dieses Gefühl mit sehr großer Wahrscheinlichkeit. Dabei ist das Gewaltrisiko in den eigenen vier Wänden statistisch gesehen am größten. Aktuelle Untersuchungen ergeben: Jede dritte Frau in Österreich ist von körperlicher und/oder sexueller Gewalt innerhalb oder außerhalb von intimen Beziehungen betroffen. Was wird dagegen unternommen? Wir haben uns mit dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser darüber unterhalten.

Eure Arbeit erstreckt sich von der Frauenhelpline über Aufklärungsarbeit in verschiedensten Formen bis hin zur Umsetzung von EU-weiten Projekten und Kampagnen. All dies eint das Ziel, über das Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder zu informieren und dafür zu sensibilisieren. Diese angesprochene Gewalt ist dabei sehr vielschichtig und komplex und wirkt sich auf das ganze Leben der Betroffenen aus. Könnt ihr uns erklären, was es für Frauen und auch Kinder bedeutet, häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein?

Frauen sind vielen verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt: körperlicher, sexueller, psychischer und ökonomischer Gewalt sowie Gewalt im Internet, die natürlich auch in vielen Fällen ineinandergreifen. Sich in einer gewalttätigen Beziehung wiederzufinden ist ein schleichender Prozess, die Gewalt nimmt oft mit der Zeit an Häufigkeit und Schwere zu. In dieser Gewaltspirale wechseln sich Phasen der Kontrolle, Einschüchterung, emotionaler Erpressung/Missbrauch und Aggression mit Phasen von Entschuldigungen und Versprechung von Wiedergutmachung seitens des Täters ab. Den Betroffenen wird auch durch teilweise subtile Manipulationen des Täters die Schuld an seinem Verhalten zugeschoben. Besonderer Gefahr sind Frauen in der Trennungsphase ausgesetzt, in dieser Zeit finden besonders häufig auch Femizide und Fälle von schwerer Gewalt statt. Betroffene Frauen befinden sich oftmals in prekären Abhängigkeitsverhältnissen, vor allem auch, wenn gemeinsame Kinder da sind und es kaum Zugang zu leistbarem Wohnen gibt. All das lässt die Aussage, sich doch „einfach zu trennen“, nicht legitimieren, die schmerzhafte Realität gewaltbetroffener Frauen wird dadurch verharmlost. Die Trennung von einem gewalttätigen Partner ist ein langwieriger, belastender Prozess, sowohl in ökonomischer, juristischer, emotionaler und psychischer Hinsicht. Darüber hinaus ist die Trennung die gefährlichste Phase für eine gewaltbetroffene Frau – zu diesem Zeitpunkt werden die meisten Morde an Frauen durch einen gewalttätigen Partner begangen. Kinder sind bei häuslicher Gewalt immer mit betroffen – entweder direkt, indem sie selbst Misshandlungen ausgesetzt sind, oder indirekt, weil sie die Gewalt, die ihre Mutter erleiden muss, hautnah mitbekommen.

Häufig wird betont, dass Gewalt gegen Frauen ein strukturelles Problem ist, bei dem gerade auch staatliche Institutionen nicht genug sensibilisiert sind oder sogar an der Reproduktion von Strukturen beteiligt sind, in denen diese Gewalt möglich ist. Welche strukturellen und politischen Veränderungen müssen stattfinden, um Frauen vor Gewalt zu schützen? 

Eigentlich haben wir in Österreich gute Gesetze zum Schutz vor Gewalt, jedoch werden diese oft nicht wirksam angewendet oder ausgeschöpft, z.B. werden gefährliche und polizeibekannte Gewalttäter oft nur auf freiem Fuß angezeigt oder sogar freigesprochen, was oft zu schwereren Gewalttaten bis zu Femiziden führt. Obwohl immer mehr Frauen den Mut aufbringen, Anzeige gegen ihre Misshandler zu erstatten, bleibt die Tat für die Gewaltausübenden leider nach wie vor oft ohne ernsthafte Konsequenzen.
Für eine echte Gleichstellungs- und Gewaltschutzpolitik wäre das Wichtigste eine langfristige und gesicherte Finanzierung. Das Budget des Frauenministeriums und spezifisch der Bereich für Gewaltprävention ist grundsätzlich (auch im Vergleich zu anderen Ressorts und Ministerien) viel zu niedrig. Angesichts der immens hohen Folgekosten von Gewalt braucht es eine Erhöhung der Mittel für das Frauenministerium. Dringend finanziert werden müsste z.B. auch eine langfristige österreichweite Bewusstseinskampagne gegen Gewalt an Frauen, besonders auch für die breitere Bekanntwerdung der Nummer der Frauenhelpline (0800 222 555). Darüber hinaus benötigt es 3000 neue Vollzeitstellen im Gewaltschutzbereich und für Betreuung und Begleitung der betroffenen Frauen und ihrer Kinder.
Frauen werden in unserer Gesellschaft strukturell abgewertet – frauenspezifische Tätigkeiten wie Care-Arbeit, also Kindererziehung, Haushalt oder die Pflege kranker oder älterer Angehöriger, werden schlecht bis gar nicht entlohnt. Oft sind diese Tätigkeiten unsichtbar und werden als selbstverständlich hingenommen. Es findet eine Ausbeutung dieser reproduktiven Tätigkeiten statt, die oft rund um die Uhr geleistet werden. An diesen Ausbeutungsverhältnissen gilt es anzusetzen, es muss eine gerechte Entlohnung, z.B. in Pflegeberufen, gewährleistet werden und eine gesellschaftliche Aufwertung dieser Tätigkeiten stattfinden.

Um betroffenen Frauen wirkungsvoll helfen zu können, braucht es Wissen – Wissen um diese strukturellen Probleme und um die Faktoren, die Gewalt gegen Frauen begünstigen. Wann sind Frauen, wann bin ich selbst besonders gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden?

Gewalt an Frauen passiert überall auf der Welt und ist ein weltweites Problem. Sie kommt in allen gesellschaftlichen Schichten vor und hängt weder mit Einkommen oder Bildung, noch mit der Herkunft oder Staatszugehörigkeit zusammen – Frauen bzw. Migrantinnen aus anderen Herkunftsländern sind also generell nicht häufiger von Gewalt betroffen, jedoch haben es gewaltbetroffene Migrantinnen aufgrund von prekären Lebensumständen (Flucht, etc.) besonders schwer, sich aus einer Situation häuslicher Gewalt zu befreien. Diese Faktoren bzw. Hindernisse machen die Situation von gewaltbetroffenen Migrantinnen im Vergleich zu betroffenen Österreicherinnen schwieriger.

Ein besonders wichtiger Faktor, um der Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken bzw. sie zu verhindern, ist die Prävention gegen Gewaltbereitschaft. Was sind eurer Meinung nach sinnvolle Präventionsmaßnahmen?

Wie in anderen Ländern leben wir auch in der österreichischen Gesellschaft in einem Patriarchat. Gewalt ist ein Mittel, um Frauen auf die ihnen zugeschriebene Rolle zu verweisen.
Es fehlen langanhaltende, flächendeckende und umfassende Kampagnen zum Thema Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, um das Bewusstsein und das Wissen in der breiten Bevölkerung zu erhöhen. Eine gute und effektive Maßnahme, um patriarchalen und frauenverachtenden Einstellungen in der Gesellschaft entgegenzuwirken, sind möglichst flächendeckende Präventionsworkshops und Seminare in Schulen zu häuslicher Gewalt und Geschlechtergerechtigkeit, besonders auch für Burschen zu den Themen toxische Männlichkeit und stereotypische Frauen- und Männerbilder, um Gewalt schon im Vorhinein zu verhindern.

Viele betroffene Frauen schämen sich für das, was ihnen passiert, oft kommt es zu einer Täter-Opfer-Umkehr und sie sind gesellschaftlichen Verurteilungen ausgesetzt. Wie kommt es zu den vielen Vorurteilen, mit denen dieses Thema behaftet ist, und wo muss hier ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden? Wie kann das am besten gelingen?

Trotz aller Fortschritte seit den 1970er Jahren ist das Thema geschlechtsspezifische Gewalt leider immer noch mit Scham assoziiert. Es wird selten darüber gesprochen und oft bekommen die Betroffenen vom Umfeld keinen Rückhalt, sie werden noch immer für die Tat des Mannes verantwortlich gemacht (sogenanntes victim blaming). Das hat leider oft zur Folge, dass sich gewaltbetroffene Frauen keine Hilfe holen.
Patriarchale Vorstellungen von Geschlecht spielen dabei ebenfalls eine große Rolle. Wir haben in Österreich seit Jahren Regierungen mit Beteiligung (rechts-)konservativer Parteien – im rechten bzw. konservativen politischen Spektrum wird Gewalt an Frauen verharmlost und oft als ein „importiertes Problem“ dargestellt. Gewalt von Männern gegenüber Frauen wird immer noch viel zu oft im Sinne eines patriarchalen Männlichkeitsbildes mit „Männer sind halt so“ abgetan und verharmlost und diese Männer werden auf diese Weise nicht zur Verantwortung für ihr eigenes Verhalten gezogen.
Auch verbale Gewalt an Frauen wird oft gesellschaftlich toleriert und Hass im Netz hat sich in den letzten Jahren deutlich gesteigert. Hierbei hat die Verrohung der Sprache im Umgang und Diskurs deutlich zugenommen. Gewalt durch Worte ist auch psychische Gewalt und der Weg von der psychischen Gewalt zur körperlichen Gewalt ist oft ein kurzer.
In der Berichterstattung der Medien über Gewalt an Frauen, besonders im Boulevard, werden leider nach wie vor immer wieder patriarchale Klischees reproduziert. Immer noch werden Fälle von Gewalt von Männern an Frauen als „Familientragödie“, „Beziehungsdrama“ oder „Einzelfall“ verharmlost sowie der Täter entschuldigt. Von den Medien wünschen wir uns, dass Journalist*innen sich über verantwortungsvolle und sensible Berichterstattung zum Thema Gewalt an Frauen und Kindern informieren – z.B. über den vom Verein AÖF erstellten Leitfaden zu verantwortungsvoller Berichterstattung – und diese auch anwenden.

Gemeinsam mit diesem Umdenken muss auch das Gespür dafür geschärft werden, wo jede*r einzelne aktiv werden kann. Wie übernimmt man als Einzelperson Verantwortung und kann betroffenen Frauen am besten helfen?

Um gesellschaftliche Veränderungen zu schaffen, braucht es flächendeckende langfristige Bewusstseinsarbeit. Das kann u.a. durch Projekte, wie das Nachbarschaftsprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ erreicht werden, das der Verein AÖF aktuell in mehreren Wiener Bezirken und an insgesamt 25 Standorten in ganz Österreich durchführt.
„StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ ist ein nachhaltiges und zukunftsorientiertes Gesamtpaket in der Gewaltprävention, das alle Menschen, insbesondere Nachbar*innen einlädt und befähigt, sich aktiv gegen Femizide und gegen häusliche Gewalt an Frauen und Kindern zu engagieren. Es richtet sich explizit und direkt an die Zivilgesellschaft, bindet diese aktiv ein und weist ihnen konkrete und anwendbare Handlungsmöglichkeiten auf, um sie zu involvieren und zu zeigen, was jede*r Einzelne*r beitragen kann. Durch das Aufzeigen von Unterstützungsmöglichkeiten klärt StoP auf, was bei Verdacht auf Partnergewalt zu tun ist, wie sich Nachbar*innen selbst schützen und wie sie Gewalt verhindern können. Nachbar*innen können z.B. die Gewalthandlung unterbrechen, indem sie anläuten und nach etwas Unverfänglichem fragen (z.B. Zucker ausleihen). Auf diese Weise wird dem Täter signalisiert, dass die Nachbarschaft mithört und der Betroffenen wird signalisiert, dass sie nicht allein ist. Nachbar*innen verbünden sich mit anderen Personen, wie Familie und Freund*innen, informieren sich und überlegen, wie sie helfen können. Zudem können Nachbar*innen betroffene Frauen und Kinder niederschwellig über wichtige Notrufnummern, wie z.B. die Frauenhelpline 0800 222 555, Anlaufstellen, etc. informieren. StoP ermutigt Personen, eine klare Haltung gegen (häusliche) Gewalt/Partnergewalt einzunehmen, genau hinzuschauen und zivilcouragiert zu handeln. Entsprechend ist StoP auch ein Appell an die österreichische Zivilgesellschaft, sich aktiv einzusetzen und sich eindeutig und klar gegen Gewalt an Frauen und Kindern zu positionieren. Mehr Informationen auf stop-partnergewalt.at.

 

Es gibt zahlreiche Initiativen und Plattformen, die über häusliche Gewalt informieren und Hilfe bieten. Hier ein paar davon:

Das Start-Up Frontline entwickelt Trainings und digitale Tools für Betroffene und jene, die mit Opfern häuslicher Gewalt in Kontakt stehen.

SOS@Home bietet Aufklärungsarbeit sowie ein Netzwerk aus Hilfeleistenden und Initiativen.

In Deutschland:

Das bundesweite Hilfetelefon richtet sich an Frauen*, die Gewalt erfahren haben, aber auch Angehörige sowie Freund*innen werden anonym beraten. Es ist jederzeit und kostenfrei unter +49(0)8000 116 016 erreichbar.

Hier können Frauenhäuser und Fachberatungsstellen in ganz Deutschland gesucht werden.

In Österreich:

Frauenhelpline gegen Gewalt, rund um die Uhr, anonym, kostenlos und mehrsprachig: 0800 222 555 www.frauenhelpline.at

Onlineberatung für Mädchen und Frauen im HelpChat, täglich 18-22 Uhr und jeden Freitag von 9-23 Uhr, mehrsprachig: www.haltdergewalt.at

Frauenhäuser bieten Frauen*, die häusliche Gewalt erleben, und ihren Kindern eine sichere Wohnmöglichkeit. Frauenhäuser sind für alle Gewaltopfer offen, unabhängig von Nationalität, Einkommen oder Religion.

Das Nachbarschaftsprojekt „StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“ setzt da an, wo häusliche Gewalt passiert, am Wohnort, in der Nachbarschaft, und hilft, häusliche Gewalt früh zu erkennen und zu unterbrechen.

BAKHTI – EmPOWERmentzentrum für gewaltbetroffene Mädchen* mit einem Zusatzangebot für mitbetroffene Burschen*: www.bakhti.at  und www.burschen.bakhti.at

Infowebsite für Kinder und Jugendliche: www.gewalt-ist-nie-ok.at

„Im Krankenhaus sind wir Nebenfiguren in der Lebensgeschichte unserer Patient*innen“ – David Fuchs im Interview

Sechs Nächte, vier Wände, zwei Unbekannte, eine Frage: Haben alle Menschen das gleiche Maß an Fürsorge verdient, ganz ungeachtet ihrer Vergangenheit? Dieses moralische Dilemma steht in David Fuchs’ neuem Buch „Zwischen Mauern“ im Mittelpunkt. Wir haben uns mit dem Schriftsteller, der auch als Palliativmediziner in Linz arbeitet, über die Arbeit an seinem dritten Roman, das Krankenhaus als „Bouillonwürfel des Lebens“ und schrullige Kuriositäten des Ärztealltags unterhalten.

In deinem neuen Roman spielt eine sogenannte Sitzwache eine zentrale Rolle. Worin besteht die Aufgabe einer Sitzwache?

Eine Sitzwache ist eine Person, die z.B. in einem Krankenhaus dafür da ist, am Bett eines/einer Kranken – häufig Menschen mit Demenz – zu wachen, d.h. daneben zu sitzen, sich – wenn möglich und gewünscht – mit den Menschen zu unterhalten; vor allem aber, um dafür zu sorgen, dass niemand stürzt oder sich anderweitig in Gefahr bringt.

Warst du selbst schon einmal Sitzwächter?

Nein, war ich nicht, aber ich hätte mir nicht selten gewünscht, dass es eine Sitzwache gegeben hätte. An der Palliativstation haben wir viel Personal, auch Ehrenamtliche, aber z.B. an internistischen oder neurologischen Stationen ist die Betreuung von verwirrten Patient*innen oft eine große Herausforderung.

Welche Bücher würdest du dir für eine Nachtwache in den Rucksack packen?

David Fuchs
David Fuchs, geboren 1981 in Linz, ist Autor und Palliativmediziner. Mit schnörkelloser Sprache lenkt er unseren Blick auf die Dinge, die sich zwischen und in uns abspielen. Sensibel zeichnet er uns in unseren menschlichsten Momenten: in unserer unfreiwilligen Komik, in unseren einschneidendsten Augenblicken, in unserer tiefsten Nähe zueinander. Portrait: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Es müssten Bücher sein, in denen man immer wieder kurz lesen kann, die man weglegen und wieder zur Hand nehmen kann, wenn es passt. Neben mir liegt z.B. gerade „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ von Nick Cave und Sean O’Hagan, das sich gut eignen würde – eine Serie von wunderbaren Gesprächen über Kunst, Musik und das Leben. Einen Lyrikband hätte ich sicherlich auch mit dabei: einen, den ich schon gut kenne, den ich einfach irgendwo aufschlagen und in dem ich mich sofort zu Hause fühlen kann: „im felderlatein“ von Lutz Seiler oder „Die Worte, die Worte, die Worte“ von W.C. Williams.

In „Zwischen Mauern“ meldet sich die Protagonistin Meta ehrenamtlich für die Aufgabe. Warum, glaubst du, entschließt sie sich dazu?

Es gibt viele Motive, um ehrenamtlich tätig zu werden, wahrscheinlich so viele, wie es Ehrenamtliche gibt. Meta hat sich wahrscheinlich dazu entschieden, weil sie hofft, Sinn in dieser Tätigkeit zu finden, den sie in ihrem Beruf nicht findet. Sie geht das durchaus naiv an – im positiven wie im negativen Sinn.

Metas Vorstellungen über ihren freiwilligen Dienst ändern sich nach wenigen Nächten zwangsläufig. Kommen ähnliche Situationen in der Praxis oft vor?

Viele Menschen beginnen mit hohem Idealismus im Gesundheitsbereich zu arbeiten oder starten eine Ausbildung. Dass es dann zu einer Konfrontation mit der Realität kommt und diese hohen Erwartungen bis zu einem gewissen Grad gedämpft werden, liegt in der Natur der Sache. Wichtig ist in der Praxis, diesen Idealismus behutsam auf den Boden der Realität zu bringen – die Personen sollen ja viele Jahre hier arbeiten. Andererseits kann natürlich ein bestehendes Team profitieren, wenn alte Gewohnheiten hinterfragt und neue Möglichkeiten aufgezeigt werden.

Der Roman dreht sich auch um ein moralisches Dilemma. Warum zweifelt sie letztendlich daran, in das Pflegeheim zurückzukehren?

Metas Weltbild ist zu Beginn des Romans recht schwarz/weiß. Was sie sich letztlich erkämpfen muss, ist ein Gefühl für die Graustufen dazwischen, für einen gangbaren Weg in einer nicht idealen Situation. Das ist übrigens auch etwas, was vielen Leuten in aktuellen aufgeheizten Diskussionen gut zu Gesicht stünde.

Es gibt eine illustre „Ahnenreihe“ von Ärzt*innen, die sich erfolgreich schriftstellerisch betätigten, mit William Carlos Williams hast du deinem Roman auch die Lyrik eines „Ärztedichters“ vorangestellt. Geht mit dem Arztberuf ein besonderer Blick auf unser Dasein einher?

Menschen gewähren uns Zugang zu intimen und entscheidenden Momenten ihres Lebens, auch zu ihren Körpern, zu ihrer Psyche, und das bedingt einen besonderen, einen im besten Sinn privilegierten Blick auf unser Dasein, der nicht ohne Einfluss auf das eigene Leben bleibt. Das betrifft natürlich nicht nur Ärzt*innen, sondern gleichermaßen die Pflege und andere Gesundheitsberufe.

In einem Interview hast du einmal eine Schriftstellerin zitiert, die schrieb: „Ein Text sollte sein wie ein Bouillonwürfel. So konzentriert und eingekocht und der Leser gibt dann sein Wasser dazu.“ Ist das Krankenhaus als Ort konzentrierter existentieller Erfahrungen manchmal wie ein Bouillonwürfel des Lebens?

Im Krankenhaus sind wir Nebenfiguren in der Lebensgeschichte unserer Patient*innen, und das sehr oft an entscheidenden Wendepunkten in ihrer Existenz, z.B. am Beginn oder eben, wie in meinem Fall, am Ende des Lebens. Diese hohe Dichte an schönen, an schrecklichen, jedenfalls aber wichtigen Momenten, die wir miterleben, ist schon sehr besonders und ein großer Schatz.

 

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David Fuchs im Haymon- Videointerview 2018

Du wirst bestimmt häufig gefragt, ob und wie dein Ärztedasein dein Schreiben beeinflusst. Wie verhält es sich umgekehrt, hat die Schriftstellerei deinen Alltag im Krankenhaus verändert?

Ich glaube, dass ich durch das Schreiben mehr Bewusstsein für die Geschichten meiner Patient*innen entwickelt habe, auch für die Sprache, in der sie diese Geschichten erzählen. Es tut auch gut, diesen zweiten Beruf zu haben, diese ganze andere Welt zu kennen, um nicht aus dem Blick zu verlieren, dass das Krankenhaus, wenn es auch einen großen Teil meines Lebens bestimmt, nicht mein ganzes Leben ist.

Auch in deinem letzten Roman „Leichte Böden“ geht es – neben einigen anderen – um die Frage, ob jedem Menschen ungeachtet seiner Vergangenheit gleich viel Fürsorge zusteht. Ist dein Schreiben auch ein Weg, einen Umgang mit dieser Frage zu finden, die sich in deiner Rolle als Arzt eigentlich gar nicht stellen darf?

Es ist eine wichtige und vor allem eine sehr alltägliche Frage, die mich deswegen auch schriftstellerisch beschäftigt. Jeder Mensch verdient die gleiche Fürsorge, und wir urteilen nicht; allerdings geht es nicht spurlos an uns vorüber, welches Verhalten Patient*innen zeigen, welche Vergangenheit sie haben oder wie sympathisch sie uns sind. Alle Menschen werden krank, und so sind wir eben mit einem Querschnitt der Gesellschaft konfrontiert.

Spannend finde ich, wie es uns gelingen kann, damit umzugehen und wichtig ist mir, dass wir uns auch eingestehen dürfen, dass es bei manchen Menschen einfach sehr schwierig ist, das Maß an Fürsorge und Professionalität aufrechtzuerhalten, das wir uns wünschen.

Was Außenstehenden oft als kalte, sterile Institution erscheint, wird in deinem Roman trotz des etwas verlassenen Settings als facettenreicher und menschelnder Lebensraum gezeichnet. Wir lernen eine interessante Parallelwelt kennen, die von strengen Routinen, aber auch von schrulligen Kuriositäten geprägt ist. Ist die landläufige Vorstellung, die wir uns von Gesundheitseinrichtungen (und deren Angestellten!) machen, oft zu abstrakt und unpersönlich?

Ja klar. 😊 Der Alltag ist menschelnder, auch humorvoller und schrulliger, als man sich das vielleicht gemeinhin vorstellt. Ich behaupte ja immer, dass „Scrubs“ die Krankenhausserie mit dem vielleicht höchsten Grad an Realismus war.

Hallende menschenleere Gänge, vereinzeltes Schnarchen, Ächzen, Rascheln hinter den Türen, allein klackern wir durch das nächtliche Pflegeheim: Der Handlungsort von „Zwischen Mauern“ versprüht eine einzigartige Atmosphäre, die einen in ihren Bann zieht. Und einen ein bisschen auf sich selbst zurückwirft. Fällt in der Nacht das Abstreifen des privaten Menschen für die Rolle, die man als Personal einnimmt, schwerer?

Ich arbeite selbst schon seit einigen Jahren nicht mehr nachts, habe die besondere Atmosphäre aber immer gemocht. Die Arbeitsdichte ist in der Nacht meist nicht geringer als untertags, aber der Grad der Erschöpfung ist bei allen Berufsgruppen höher. Da mag es schon oft schwerer fallen, gut in der Rolle zu bleiben und Grenzen zu spüren.

 

Bist du neugierig geworden? „Zwischen Mauern“ findest du ab 19. September in deiner Lieblingsbuchhandlung . Alle Infos zum Buch findest du hier!

„Ich lese täglich Lyrik. Wie andere morgens ihre Yoga-Übungen machen, ziehe ich einen Band mit Gedichten aus dem Regal“ – Sabine Gruber im Interview

Über Lesen als Yoga, Schreiben als Bedürfnis, Recherche als diffuses Schnüffeln und was es eigentlich bedeutet, den Nachlass einer Autorin zu betreuen. Über diese Dinge haben wir mit der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin Sabine Gruber gesprochen, die gerade ihren 60. Geburtstag gefeiert und ihren neuen Roman „Die Dauer der Liebe“ veröffentlicht hat. Im folgenden Interview gibt sie uns einen spannenden Einblick in ihre literarische Arbeit, ihre Inspirationen und ihren kreativen Prozess.

Wir gratulieren Ihnen  ganz herzlich zu Ihrem 60. Geburtstag dieses Jahr. Im Laufe Ihres erfolgreichen literarischen Schaffens haben Sie Erzählungen, Romane, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke und Essays veröffentlicht und waren zudem als Universitätslektorin tätig. Gab es gewisse Meilensteine oder Herausforderungen, die Sie als Schriftstellerin besonders geprägt haben? Und: Was hat Sie ursprünglich zu dieser Berufswahl inspiriert?

Vielen Dank für die Glückwünsche!

Mit Sicherheit war der RAI-Kurzgeschichten-Preis 1985 eine Ermunterung weiterzuschreiben. Und als ich nach dem Studium als Lektorin an der Universität Venedig tätig war, stellte mir mein ehemaliger Diplomarbeit-Betreuer, Professor Sigurd Paul Scheichl, die richtigen Fragen, ob ich denn die Universitätslaufbahn einschlagen oder doch lieber schreiben wolle. Er verstand früher als ich, daß beides gleichzeitig nicht möglich ist.

An einem der ersten Schultage im Gymnasium wurden wir gefragt, warum wir uns für das Humanistische Gymnasium (mit Latein und Altgriechisch) entschieden hätten. Meine Antwort war damals schon, im Alter von 14 Jahren, ich wolle Journalistin oder Schriftstellerin werden. Es gab keine „Inspiration“ zu dieser Berufswahl, es war auch keine „Wahl“, es war vielmehr ein Bedürfnis, ein Verlangen, mich auszudrücken, zu lesen, die eine Welt, aus der ich kam, zu überwinden, neue auszudenken, mich in anderen, mir fremden Bücher-Welten aufzuhalten.

Welche Bücher oder Autor*innen haben Sie in den Anfängen Ihres Schreibens besonders fasziniert? Welche tun es heute? (Wie) Hat sich Ihre Einstellung zum Schreiben verändert?

Ich komme aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, ich las, was ich zwischen die Finger bekam: Bücher aus der Schulbibliothek und Pfarrbücherei, Bücher von meinem Vater (Karl May, Ernst Hemingway, Joseph von Eichendorff usw.), Zeitschriften und Magazine, auch die Regenbogenpresse, da meine Großmutter einen Zeitungsladen besaß und bei uns von der Illustrierten Quick (gibt es seit 1992 nicht mehr) bis zu den Comic-Heften alles herumlag. Heute lese ich nur mehr Bücher, die literarisch wertvoll sind. Sobald ich sprachliche und/oder formale Mängel bemerke, lege ich ein Buch weg. Mit 60 gilt es keine Zeit zu verlieren. Zuletzt hatte ich fast alle Bücher von Anne Carson und Maggie Nelson gelesen, aber auch die Essays von Lukas Bärfuss, der sich den radikalen Blick „von unten“ bewahrt hat.

 

Foto von Till Raether

© privat

Trauer, Verlust und Schmerz sind zentrale Motive in Ihrer Lyrik. Finden Sie, die Lyrik eignet sich besonders gut dafür, mit diesen Themen umzugehen und diese Emotionen zu verarbeiten? Wo liegen Ihrer Meinung nach die Stärken (oder auch Schwächen) der Lyrik im Vergleich zu anderen literarischen Gattungen?

Vor allem der vorletzte Lyrikband war eine Art Requiem auf meinen verstorbenen Lebensgefährten Karl-Heinz Ströhle. Der letzte Band „Am besten lebe ich ausgedacht“ besteht auch aus Reisegedichten, die sich mit bestimmten Orten, Bauten etc. auseinandersetzen.  Ob ich Lyrik oder Prosa schreibe, hat meist profane Gründe: Für die Romane bedarf es eines langen Atems, der Konzentration, der ökonomischen Sicherheit – Lyrik entsteht meist zwischen größeren Projekten. Ich möchte die Gattungen gar nicht gegeneinander ausspielen. Die Themen der Literatur ändern sich nicht, es gilt neue Formen zu finden, sowohl in der Lyrik, wo ich für mich zuletzt die Zwischenform „Journalgedicht“ gefunden habe, als auch in der Prosa, in der ich mich schon lange vom chronologischen, auktorialen Erzählen entfernt habe.

Unterscheiden sich Ihr kreativer Prozess, Ihre Herangehensweise oder Ihre Schreibroutine, je nachdem, ob Sie Gedichte oder Romane verfassen?

Ich lese täglich Lyrik. Wie andere morgens ihre Yoga-Übungen machen, ziehe ich einen Band mit Gedichten aus dem Regal, das ist eine gute Einübung ins Schreiben, ich werde beim Lesen mit dem Wesentlichen konfrontiert. Ich glaube, dass es eine Möglichkeit ist, Konzentration zu üben. Dieses Ritual bleibt gleich, egal ob ich Lyrik oder Prosa schreibe. Und sowohl der Prosa, aber auch einigen Gedichten, gehen Recherchen voraus.

Gemeinsam mit Renate Mumelter verwalten Sie den literarischen Nachlass der Meraner Schriftstellerin Anita Pichler, zu deren Werk Sie auch Anthologien und Bücher herausgegeben haben. Welche Bedeutung hat das Konservieren und Aufbewahren von Erinnerungen bzw. das Erinnern in Ihrer literarischen Arbeit und für Sie selbst?

Nachlassarbeit bedeutet vor allem, die Bücher lieferbar zu halten. Eine Autorin existiert nur, wenn ihr Werk vorhanden ist. Deswegen ist es für Autorinnen und Künstlerinnen wichtig, dass sie zu Lebzeiten entscheiden, wer sich darum kümmern soll, dass sie die entsprechenden Personen gesetzlich dazu berechtigen.

Ich notiere viel, sammle Dokumente, Bücher, nutze Fotos als Erinnerungsspeicher. W.G. Sebald sagte einmal in einem Interview, man müsse auf eine diffuse Weise recherchieren, so wie ein Hund sucht, also in alle Richtungen, rauf und runter, langsam, schnell. Meine abgelegten Notizen und Bilder können zu einem späteren Zeitpunkt alte Erinnerungen freisetzen, sie enthalten Reste von Geschichten, die sich neu formulieren lassen. Den eigenen Erinnerungen ist nicht zu trauen, aber das spielt für die Literatur keine Rolle, denn es gilt ohnehin, das Eigene zu verfremden und sich das Fremde einzuverleiben.

Woran arbeiten Sie aktuell?

Ich sammle Material für einen neuen Roman, aber darüber detailliert zu sprechen,  ist noch zu früh. Mein Großonkel Luis Gruber (1919-1944) hat ein interessantes Tagebuch hinterlassen, das er vom Tag der Einberufung durch die Deutsche Wehrmacht bis wenige Tage vor seinem Tod in der Nähe von Witebsk/Belarus geführt hat, das wird möglicherweise eine Rolle spielen.

Vielen Dank für das Gespräch!

„Sie will und bekommt beides, Erfolg und Liebe, wenn auch nacheinander und nicht gleichzeitig, wie wir es heute erwarten würden.” Bettina Balàka im Interview

Zwei außergewöhnliche Frauen voller Wut und Ambitionen, ein Vater, dessen Erfolg auf bröckelnden Säulen errichtet ist und eine Revolution, die nicht nur einen ganzen Kontinent wachrüttelt. In ihrem neuen Roman „Der Zauberer vom Cobenzl“ erzählt Bettina Balàka eine Geschichte von Magie und Wissenschaft, Feuer und Forschung. Sie erschreibt eine Bühne, für Reichenbachs Tochter Hermine, die wahre Protagonistin in der Lebensgeschichte des Freiherrn und seiner Suche nach der Existenz von „Od“,  eine Kraft, die aus allen Dingen und Lebewesen strömt – doch sehen kann sie kaum jemand. Wie ihre Schwester Ottone verliebt sich Hermine in einen Mann, der ihr ferngehalten wird. Beide Töchter werden vom Vater gefördert – Hermine in ihren Forschungen, Ottone in der Musik – aber doch zurückgehalten. Und beide brechen aus.

Welche Möglichkeiten hat eine Frau des 19. Jahrhunderts wirklich?“ eine der leitenden Fragen, die uns in Ihrem Buch „Der Zauberer vom Cobenzl“ begleiten. Hermine und Ottone werden beide durch die Zeit, in der sie leben, eingeschränkt. Obwohl sie einen Vater haben, der die Talente der beiden fördert, anstatt sie zu verstecken – eine unterstützende Haltung, die nicht üblich war. Ottone wird als talentierte Musikerin gefördert, Hermine unterstützt ihn mit ihrem wissenschaftlichen Eifer und Geschick. Aber wo endet die Bereitschaft von Reichenbach, seine Töchter wirklich frei sein zu lassen?

Zu dem Zeitpunkt, als Hermine und Ottone sich ernsthaft verlieben, hat Reichenbach bereits eine Reihe von traumatischen Verlusten hinter sich. Innerhalb weniger Jahre sterben seine geliebte Gattin, sein Vater sowie sein treuer Freund und Mentor Fürst Salm. Dann entzieht man Reichenbach auch noch Anstellung und Zuhause in Blansko, sein Bruder begeht Selbstmord. Durch seine fragwürdige Od-Forschung verliert er in der wissenschaftlichen Welt an Reputation, infolge des Gerichtsverfahrens gegen den jungen Fürsten Salm, den Sohn seines Freundes, wenden sich weitere gesellschaftliche Kreise von ihm ab. In dieser Situation sind die Töchter die einzigen Menschen, die ihm noch aus seiner Glanzzeit bleiben, sie repräsentieren für ihn Kontinuität und Stabilität in seiner brüchig gewordenen Existenz. Die Methode, mit der er sie zu halten versucht, entspricht dem patriarchalen Zeitgeist: Er erklärt die von ihnen gewählten Männer für sozial inadäquat und untersagt seinen erwachsenen Töchtern den Umgang respektive die Heirat – und damit den Auszug. Die zugrundeliegende Motivation aber ist gewissermaßen zeitlos: die Angst, eine vertraute Lebenssituation für eine völlig neue aufzugeben. Man könnte dabei durchaus auch an Jelineks „Klavierspielerin“ denken, wo die Mutter ebenfalls alle Männer für unzulänglich erklärt, um die Tochter bei sich zu behalten.

Hermine ist – wie ihr Vater – der Forschung verfallen. Entgegen den damaligen Rahmenbedingungen kann sie diese Leidenschaft ausüben. Der Zugang zur Universität ist ihr zwar verboten, jedoch kann sie bei Dr. Unger in Graz am Joanneum ihre Forschung etablieren. Auch er fördert sie sehr. Öfter als selten ist jedoch ihr Ehestand Thema. „In der wissenschaftlichen Arbeit beherrscht sie alles so gut wie ein Mann – wenn nicht gar besser als mancher – und sieht dabei nicht einmal schlecht aus. Aber wer will mit so einer Frau verheiratet sein?“, sagt er zu bzw. über Hermine. Hermine ärgert dies. Es ist ein altes Klischee, dass eine Frau nicht Karriere bzw. Erfolg und Liebe zugleich wollen kann. Beides aber macht Hermine aus. War es Ihnen in Ihrem Roman wichtig, dass Hermine nach beidem streben darf?

Hermine ist nicht bereit, hier irgendwelche Abstriche zu machen und sich dem Klischee zu beugen. Schon bevor sie sich in ihren späteren Ehemann verliebt, schwört sie, dass sie heiraten würde, „und zwar glücklich, und sei es nur, um die Ungers zu ärgern“. Sie will und bekommt beides, Erfolg und Liebe, wenn auch nacheinander und nicht gleichzeitig, wie wir es heute erwarten würden. Dabei hilft ihr aber auch ein sehr glücklicher Zufall. Mit Carl Schuh, einem Pionier der Daguerreotypie, lernt sie einen Mann kennen, der nicht nur ihre naturwissenschaftlichen Interessen teilt, sondern sich auch durch ihre Bildung nicht bedroht fühlt und kein Problem damit hat, mit ihr auf Augenhöhe zu sprechen. Dennoch gibt Hermine mit der Eheschließung ihre wissenschaftliche Karriere auf, auch, um die Trennung vom Vater endgültig zu besiegeln. Aus heutiger Sicht wäre das nicht politisch korrekt, aber für sie ist es stimmig. Sie hat in der Botanik für eine Frau ihrer Zeit außergewöhnliche Anerkennung erreicht, nun, mit dreißig, nimmt sie sich den Raum, sich anderen Aspekten des Daseins zu widmen. Ich musste dabei durchaus an heutige erfolgreiche Frauen wie Julia Roberts denken, die sich mit der Geburt ihrer Kinder eine Auszeit vom Filmbusiness nahm und auch dazu steht, das Familienleben zu genießen.

Besonders die Natur – die Pflanzenphysiologie – ist es, die Hermine fasziniert. Schon als kleines Kind hat sie die Wiesen und den Wald geliebt, später dann (verbotenerweise) Höhlen erkundet. Warum spielt die Natur so eine große Rolle für sie?

 

© Alain Barbero

Hermine wächst im Einflussbereich zweier leidenschaftlicher Naturforscher auf: ihr eigener Vater und dessen Mentor Fürst Salm. Beide besitzen chemische Labors, sind Pioniere der Höhlenforschung, haben museumsreife Sammlungen und Bibliotheken. In den Parks und Glashäusern der Schlösser beobachtet sie die Pflanzenzucht. Von ihrem Vater wird sie intensiv gefördert, er schenkt ihr das erste Brennglas und zeigt ihr, wie man ein Herbar anlegt. Gleichzeitig ist die wilde, ungebändigte Natur ihr Sehnsuchtsort, ein Symbol der Freiheit, wo es keine Mauern und Konventionen gibt.

Die Beziehung der zwei Schwestern zueinander ist – wie es Geschwisterbeziehungen oft sind – vielschichtig und komplex. Als Kinder sind sie quasi wie Zwillinge, später wandelt sich die tiefe Verbundenheit, sie werden einander Feindinnen, aber auch das nicht wirklich. Als erwachsene Frauen ist wieder eine Annährung zu spüren. Ist es sogar Ottone schlussendlich, die Hermine auf einen Weg bringt, den sie gehen muss?

Indem Ottone als Erste den Schritt wagt, sich vom Vater zu lösen, eröffnet sie auch für Hermine diese Option. Hermine zieht aber nicht nur von zu Hause aus, um ihrem Vater gegenüber ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren, sondern auch, um ihrer Schwester beizustehen. Ottone hat den geliebten Mann an eine andere verloren, ist in ihrer neu gewonnenen Freiheit traurig und allein. Als Hermine das erkennt, ist der Entschluss zu ihr zu ziehen, schnell gefasst. Wie ein Schutzengel wacht sie über ihre kleine Schwester, gemeinsam durchleben sie die aufwühlende Zeit der Revolution.

War von Anfang an klar, dass nur Hermine die Geschichte erzählen kann? Dass auch wir als Leser*innen ihr am nächsten sein sollen?

Hermine bot sich aus zwei Gründen als Erzählerin an. Erstens ist sie eine ebenso außergewöhnliche historische Figur wie ihr Vater, und zweitens hat sie lange gelebt, nämlich bis 1902 (sie wurde 83 Jahre alt). Dadurch kann sie als einzige Überlebende der Familie die Geschichte Reichenbachs bis zu dessen Tod erzählen. Sie befürchtet, dass er und all seine Errungenschaften vergessen werden könnten, doch wir Nachgeborenen wissen, dass sie selbst noch viel mehr vergessen wurde. Indem ich sie die Erinnerung an ihren Vater wachhalten ließ, wollte ich sie mit einer ganz eigenen Stimme versehen und damit ebenfalls dem Vergessen entreißen – genauso wie ihre Schwester Ottone, die ja schon mit 28 starb.

Mit Wörtern konnte man sich in die Ewigkeit einschreiben, egal, ob man sie selbst erfunden hatte oder ob sie aus dem eigenen Namen gebildet wurden.“ Carl Ludwig Freiherr von Reichenbach ist einer, der stets versucht, voranzukommen. Er kann es – wie man so sagt – nicht sein lassen. Brennt darauf, in die Geschichte einzugehen. Was hat Sie an der historischen Figur so fasziniert, dass Sie diese in einem Roman verarbeitet haben?

Allein die Tatsache, dass Reichenbach so umfassend vergessen wurde, war faszinierend für mich. Er kommt zwar ab und zu als Kuriosum in Wien-Büchern vor, aber allgemein bekannt ist er keineswegs. Vor allem seine großen Leistungen in Mähren werden kaum erwähnt, was möglicherweise damit zu tun hat, dass dieser so nahe Landstrich viele Jahrzehnte durch den sogenannten „Eisernen Vorhang“ abgetrennt war. In Reichenbach personifiziert findet man einen Konflikt, der bis zum heutigen Tag anhält: Wo scheidet sich die evidenzbasierte Wissenschaft von der Esoterik und anderen Pseudowissenschaften? Von der Modernisierung der Holzverkohlung und der Eisengussproduktion über die Entdeckung des Paraffins bis zur Meteoritenforschung war Reichenbach auch nach heutigen Maßstäben ein auf der Seite des Realen und Faktischen stehender Pionier. Erst mit seiner Od-Forschung bog er in eine Richtung ab, in die ihm andere zeitgenössische Wissenschaftler nicht mehr folgen wollten. Wir leben nun in einem für viele postfaktischen Zeitalter und gerade in der Pandemie kamen wieder Debatten auf, wie es sich mit der Realität von Dingen verhält, die man nicht sehen kann: Viren, Impfungen etc. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, wie es mit dem Od weiterging. Ein Vierteljahrhundert nach Reichenbachs Tod wurden die Röntgenstrahlen entdeckt, die vom Menschen ja ebenfalls weder gesehen noch gefühlt werden können. Damals hofften seine Anhänger, dass nun auch die Od-Forschung rehabilitiert werden könnte, was aber bekanntlich bis heute nicht der Fall ist. Die Homöopathie dagegen, die Reichenbach leidenschaftlich ablehnte, gibt es noch immer.

Ihr Schreibprozess umfasst viel Recherchearbeit, das Sichten von historischen Dokumenten und Quellen. Wie lernen Sie dadurch die Figuren kennen, über die Sie schreiben? Wie erhalten diese Figuren ihre Charaktereigenschaften, ihre Stärken und Schwächen?

Es entsteht schon während der Recherche eine sehr enge Bindung zu den Figuren. Ich versuche, sie charakterlich komplex zu gestalten, wie reale Menschen nun mal sind – nur gute Lichtgestalten oder rein abstoßende Bösewichte fände ich langweilig. Dabei ist es mir wichtig, auch Verhaltensweisen, die wir heute ablehnen würden, im Zeitkontext verständlich zu machen. Schließlich sind wir ja alle in unseren Haltungen und Einstellungen den Einflüssen der jeweiligen Gegenwart ausgesetzt. In einer Rückprojektion über Menschen der Vergangenheit permanent überlegen den Kopf zu schütteln bedeutete ja auch anzunehmen, dass wir im Besitz der endgültigen Weisheit sind. Wahrscheinlicher ist aber, dass man sich schon in wenigen Jahrzehnten über so manches wundern wird, was uns jetzt selbstverständlich erscheint.

 

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„In der Literatur herrschen immer noch deutlich unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen“ – Veronika Schuchter im Interview

Auch die Literatur(branche) braucht nachhaltige, strukturelle Veränderungen und eine Perspektivenerweiterung. Denn: patriarchale Machtstrukturen beeinflussen immer noch was wir lesen und wie darüber gesprochen wird. Wie sich das äußert und auch was wir dagegen tun können haben wir mit Veronika Schuchter besprochen. Sie ist Germanistin, Genderforscherin, Literaturkritikerin und freie Lektorin. Im folgenden Interview gibt sie einen Überblick über die Auswirkungen von Ungleichheit und schiefen Machtverhältnissen im Literaturbetrieb, außerdem spricht sie über Kanonkritik sowie literarische Identitätspolitik.

 

In deinem Forschungsprojekt „Literaturkritik als Gender-Diskurs“ hast du dich mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich die Kategorie Gender auf die Literaturkritik auswirkt. Herrschen im Literaturbetrieb unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen* bzw. werden Autorinnen und Autoren unterschiedlich bewertet und welche Faktoren spielen hier eine Rolle? Und was lässt sich hier im Hinblick auf nicht-binäre Autor*innen beobachten?

Es herrschen leider immer noch deutlich unterschiedliche Regeln für Männer und Frauen, das beginnt beim Verdienst, bei Vorschüssen und es hört damit auf, wie über Autorinnen gesprochen wird. Autoren werden meist zu ihrem Werk befragt, Autorinnen zu ihrer Person, oder wie es ist im Literaturbetrieb als Frau. Es ist wichtig auch darüber zu sprechen, doch das Werk sollte im Mittelpunkt stehen. Hier sind immer noch althergebrachte Rollenmuster am Werk, die oft gar nicht bemerkt werden, aber nur schwer zu überwinden sind. Nicht-binäre Autor*innen werden häufig auf diese Eigenschaft reduziert, das war etwa bei Kim de l’Horizon der Fall. Der Roman „Blutbuch“, der den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, wurde aus der identitätspolitischen Perspektive gelesen, dabei ist er viel mehr als das, etwa ein sehr berührender Text über die Mutter der erzählenden Figur.

In ihrem Roman „Das Licht ist hier viel heller“ thematisierte Mareike Fallwickl bereits 2019 die toxischen patriarchalen Strukturen in der Kulturbranche. Ihre Erzählung handelt von einem Schriftsteller, der sich die traumatische Geschichte einer Frau aneignet und damit sein literarisches Comeback feiert. Der Umgang mit Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch wach?“ erinnert die Autorin stark an den Plot ihres Romans: „Wie mein Protagonist Wenger steht Stuckrad-Barre vor allem selbst im Rampenlicht. Beide legen männerdominierte Machtstrukturen offen – und profitieren dabei von ebendiesen Strukturen. Die geschädigten Frauen haben diese Stimme nicht“, führt sie in einem Interview aus. Wie wichtig ist deiner Meinung nach die Perspektive und Biografie der Schreibenden? Inwiefern spielt es für die Vermittlung von feministischen, queeren, antirassistischen und dekolonialen Inhalten bzw. Lebensrealitäten von intersektional diskriminierten Menschen eine Rolle, wer über wen erzählt und welche Realitäten dadurch vermittelt werden?

Das ist eine sehr komplexe Frage, die sich nicht eindeutig beantworten lässt. Durch die identitätspolitische Sensibilisierung der letzten Jahre neigen momentan viele dazu, dass sie literarische Texte durch die Biografie der Autorin/des Autors beglaubigt haben wollen. Das ist verständlich, aber das Schöne an Literatur ist ja, dass man sich in andere hineinversetzen kann. Wenn jeder nur noch über die eigenen Erfahrungen schreibt, würde das die Literatur sehr arm machen. Sonst kann ich genauso gut nur dokumentarische Texte lesen, die auf Fakten basieren. Natürlich gibt es Themen, die mehr Sensibilität erfordern. Wir sollten aber nicht anfangen, Autor*innen vorschreiben zu wollen, welche Perspektiven sie einnehmen dürfen. Wir müssen woanders ansetzen: Ich plädiere stark dafür, wieder stärker auf die Texte einzugehen. Die Lesekompetenz muss gefördert werden, der Literaturbetrieb muss diverser werden und die Literaturkritik bzw. Literaturvermittlung muss der Aufgabe nachkommen, Texte besser einzuordnen. Stuckrad-Barre ist dafür ein gutes Beispiel: Kann ein Mann einen Me-Too-Roman schreiben? Natürlich. Aber das hat Stuckrad-Barre nicht gemacht, sondern er hat einen Schlüsselroman über sich selbst geschrieben. Die Literaturkritik sollte genug Kompetenz haben, um dem Marketing hier nicht auf den Leim zu gehen. Es geht also mehr darum, welche Bücher bekommen Aufmerksamkeit? Dann können die Leser*innen selbst entscheiden, wie wichtig ihnen die Biografien der Autor*innen sind.

Das Patriarchat prägt nicht nur unsere Gesellschaft und unseren Alltag, sondern es beeinflusst auch, was und wie wir lesen. Wo äußern sich deiner Meinung nach patriarchale Machtverhältnisse in der Literaturforschung und -vermittlung am deutlichsten und welche Möglichkeiten siehst du als Wissenschaftlerin und Lehrende, ihnen entgegenzuwirken ? 

Patriarchale Verhältnisse äußern sich in der Forschung und Literaturvermittlung vielfältig, besonders deutlich bei den Untersuchungs- bzw. Vermittlungsgegenständen. Wem Aufmerksamkeit gewidmet wird und wie über Literatur von Frauen und andere marginalisierte Gruppen gesprochen wird, ist noch deutlich androzentrisch und patriarchal geprägt, was auch durch die Unterrepräsentation dieser Gruppen in führenden Positionen bedingt ist. Über Literatur von Frauen wird beispielsweise deutlich weniger berichtet, in Interviews fragt man sie dann danach, wie sie sich als Frau im Literaturbetrieb fühlen, statt sich mit ihrem Text zu beschäftigen.

Ein erster, wichtiger Schritt ist es, Bewusstsein zu schaffen. Momentan tut sich da viel. Verlagsprogramme werden unter die Lupe genommen, quantitative Untersuchungen zu Geschlechterverhältnissen in verschiedenen Kulturbereichen erstellt usw. Mir persönlich ist es auf der einen Seite wichtig, Schieflagen zu belegen und herauszufinden, wie sie entstehen. Auf der anderen Seite möchte ich aber auch Vielfalt aufzeigen. Es ist ja nicht so, als hätte es keine Texte von Frauen, Texte in denen LGBTIQ+-Themen zentral sind, gegeben, sie sind nur oft nicht bekannt. Die lasse ich in meine Lehre miteinfließen.

Gibt es bestimmte Kriterien, nach denen du die Leselisten für deine Seminare zusammenstellst? Ist das Bedürfnis von Studierenden spürbar, sich diversitätskritischer mit Lektürelisten auseinanderzusetzen?

Das kommt ganz drauf an, worum es in meinem Seminar geht. Dieses Semester unterrichte ich ein Seminar zu Diversität und Gender, dementsprechend divers sieht die Literaturliste aus. Es geht auch nicht immer darum, von wem ein Text geschrieben wurde, sondern wie wir ihn heute behandeln, ob er noch anschlussfähig ist. Da kann man etwa von Grillparzers „Medea“ einiges lernen, obwohl er ein vermutlich heterosexueller cis-Mann war. Das Bedürfnis von Studierenden nach diverseren Lektürelisten und einem anderen Blick auf die Literatur hat in den letzten Jahren stark zugenommen und viele Lehrende kommen dem auch erfreulicherweise nach. Gerade auch für die Lehramtsstudierenden ist es wichtig, dass sie gut an diese Thematiken herangeführt werden und auch Texte kennenlernen, mit denen sie in der Schule später gut arbeiten können.

Ganz allgemein gefragt: Braucht es überhaupt einen Kanon? Kann der nicht einfach abgeschafft oder verändert werden und wer kann etwas dazu beitragen?

Den Kanon gibt es nicht, es gibt viele Kanones, die nach ganz unterschiedlichen Kriterien aufgebaut sind. Gemeinhin wird damit so etwas wie ein Bildungskanon gemeint – was muss ich gelesen haben? Kanones sind essenziell, weil sie dem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach Austausch entspringen. Es ist wichtig, dass wir Texte haben, die viele Menschen kennen, damit wir uns darauf beziehen können, in Diskussion treten können. Wenn niemand weiß, was die anderen lesen, würde das den sozialen Faktor der Literatur empfindlich schwächen. Ich bin zwar beim Lesen allein, aber Literatur geht auf das mündliche Erzählen zurück. Unsere Märchen sind ein Kanon! Unsere ganze Kultur ist ein großer Kanon, wenn man so will. Und jeder kann etwas dazu beitragen, indem er über Texte spricht. Wichtig ist vor allem, dass die großen kanonbildenden Instanzen, die Literaturkritik, die Literaturwissenschaft, das Verlagswesen, diverser werden – dann wird auch „der“ Kanon diverser. Es geht also eher darum, den Kanon positiv aufzuladen und nicht als hierarchische, patriarchal geprägte Liste zu verstehen, sondern als bunten Fundus an Texten, über die wir sprechen können und der gefüllt werden muss mit Texten, die eben nicht mehr in erster Linie privilegierte Gruppen repräsentiert.