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100 Jahre danach: eine Auseinandersetzung mit dem Erbe des Ersten Weltkriegs – Bettina Balàka blickt vor allem auf die Frauen (Leseprobe)

Kaiser, Krieger, Heldinnen … 100 Jahre nach dem Ausrufen der Ersten Republik sind sie verschwunden, diese Figuren der Vergangenheit. Doch nicht ihre Geschichten: Präzise recherchiert und erzählerisch gewitzt erzählt Bettina Balàka über die Schicksale und Erlebnisse verschiedenster Menschen und Menschengruppen von 1918 bis heute. Besonderes Augenmerk legt sie dabei auf die Entwicklung der Stellung der Frau. In ihren Essays wirft die Autorin einen Blick auf den immer noch lebendigen Habsburger-Mythos, die Tradition Europas als Schmelztiegel der Kulturen und darauf, wie wir uns an den Krieg erinnern.

Leseprobe aus Bettina Balàkas „Kaiser, Krieger, Heldinnen

Ein Bus steht in der Haltestelle. Doch er fährt nicht los. Die Minuten vergehen. Immer wieder versucht der Fahrer zu starten, doch der Motor bleibt tot. Unruhe macht sich breit unter den Passagieren. „Wie lange dauert das denn noch?“

Dann plötzlich sagt eine Frau: „Is des a Frau?“ Alle lugen nach vorne zum Führerstand und versuchen, über die Köpfe der anderen hinweg zu erkennen, wer sich dort abmüht. „Des is a Frau!“, sagt eine andere Frau zur ersten. „Wirklich?“, schalten sich weitere Fahrgäste ein. „Jössas na!“ „Na dann wundert mi nix.“

Die Fahrerin kämpft. Der Busmotor stottert, jammert und stirbt. Man schüttelt die Köpfe, raunt, spricht gerade so laut, dass es die Fahrerin hören muss, aber nicht laut genug, als dass man einem Einzelnen vorwerfen hätte können, er hätte etwas gesagt. Oder sie hätte etwas gesagt. Denn vor allem Frauen sind von der Aussichtslosigkeit der Fahrerinnenbemühungen überzeugt. Zumindest tun sie diese Überzeugung kund, während die Männer still beobachten.

Die Fahrerin steigt aus. Sie hat rote Flecken im Gesicht und ein bisserl verschwitzt scheint sie auch zu sein. Sie geht um den Bus herum und schaut irgendetwas nach. „Des wird nix mehr.“ „Also wenn ma so an Bus ned amal starten kann …“ Die Busfahrerin steigt wieder ein und versucht, halbwegs würdevoll eine Durchsage zu machen: „Bitte alle aussteigen. Aufgrund eines technischen Gebrechens kann die Fahrt leider nicht fortgesetzt werden.“

Die Bustüren öffnen sich, die Fahrgäste versammeln sich vor dem zusammengebrochenen Bus zum Meinungsaustausch. Die Fahrerin kommt dazu, sie ist mit ihren Nerven am Ende, hat sie gar Tränen in den Augen? Wahrscheinlich wird sie auch gleich zusammenbrechen. Sie versucht sich zu rechtfertigen: „Ich kann nichts machen! Es ist ein technisches Problem!“ Man tauscht wissende Blicke aus und strömt auseinander. „A Jammergschpü, des Ganze …“, ist noch zu hören.

Diese Szene spielte sich nicht 1916 ab, nicht 1956 und auch nicht 1976, sondern 1992 – dem ersten Jahr in der Geschichte der Wiener Verkehrsbetriebe, in dem Frauen als Busfahrerinnen eingesetzt wurden. Was undenkbar erscheint, kann sich erstaunlich schnell ändern. Heute wäre eine Szene wie die eben beschriebene undenkbar, vor einigen Jahrzehnten waren es Frauen als Busfahrerinnen.

Ich wünschte nun, ich könnte eine glorreiche Erinnerung vorweisen, etwa, dass ich damals schon (womöglich als eine von wenigen) genau durchschaute, was sich da abspielte. Oder dass ich gar in einem heroischen Akt der Zivilcourage der Fahrerin gegen das Mehrheitsknurren zu Hilfe gekommen wäre. Aber für ein solch geistesgegenwärtiges Handeln war ich damals, mit sechsundzwanzig, zu unsicher und unerfahren.

Allerdings bezog ich aus dem Vorfall einige wertvolle Erkenntnisse. Etwa: Die Sozialisation wirkt auf sehr heimtückische Weise. Denn obwohl ich mich – insbesondere im universitären Umfeld – seit Jahren geradezu im Zentrum feministischen Denkens und Forschens bewegte, und obwohl ich nicht eine Sekunde gezögert hätte, für die Ausübung jeden Berufes durch Frauen auf die Barrikaden zu gehen, trieb mein Gehirn für wenige Augenblicke ein unheimliches Spiel mit mir. Inmitten des raunzigen Aufruhrs hatte auch ich – plötzlich und sofort niedergekämpft – das Gefühl: Vielleicht ist es doch nicht so eine gute Idee, wenn Frauen Autobusse fahren.

Gewohnheit prägt. Man will auf der sicheren Eisschicht des eigenen vorbildlichen Denkens über sie hinwegschreiten, und bricht doch immer wieder ein. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich noch nie eine Busfahrerin gesehen. Ich hatte in meinen wenigen Jahren in Wien auch noch nie eine Straßenbahnfahrerin gesehen, obwohl diese offiziell seit 1970 zugelassen waren. Wohl operierten sie nur sehr vereinzelt und sehr versteckt oder mittlerweile vielleicht gar nicht mehr.

Im Salzburger Biotop meiner frühen Kindheit, Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, war selbst das Autofahren für Frauen ein nervenaufreibender Ausstieg aus der traulichen Normalität, in der der Mann die Familienkutsche lenkte. Nur wenige Mütter in meiner Bekanntschaft fuhren Auto (oder besaßen gar eines), und ehrlich gesagt fuhr ich auch lieber bei den Vätern mit. Sie waren gelassener und souveräner und schrien nicht zu den Kindern, die unangeschnallt auf der Rückbank herumkugelten, nach hinten: „Ihr müsst jetzt still sein, damit ich mich konzentrieren kann!“

Zuschreibungen wirken innerlich. Die Frauen, denen man immer wieder gesagt hatte, dass sie zum Autofahren zu nervös, zu emotional, zu hysterisch, zu sehr hormonellen Schwankungen unterworfen, zu wenig technisch versiert und nicht hinreichend mit räumlichem Orientierungsvermögen ausgestattet seien – wie sollten sie dabei souverän sein? Sie mussten nicht nur gegen die äußeren, sondern auch gegen innere, internalisierte Stimmen aufbegehren: Kann ich das wirklich? Was, wenn die anderen Recht haben und ich mich irre?

Auf der anderen Seite gab es für Auto fahrende Frauen eine spezielle Gratifikation. So manche berichtete, sie habe schon wieder „einen Mann überholt“. Im wörtlichen Sinne. Damit könnte man heute wohl kaum mehr Furore machen. Auch die Busfahrerin aus der eingangs geschilderten Szene sah sich einer selbsterfüllenden Prophezeiung ausgesetzt. Obwohl es fast jeder Fahrgast schon einmal erlebt hatte, dass ein Bus auf der Strecke blieb, und keiner je auf die Idee gekommen wäre, den männlichen Fahrer dafür persönlich verantwortlich zu machen, musste sie gegen den Generalverdacht auf weibliche Busfahrunfähigkeit ankämpfen. Sie zeigte Nerven, sie hatte Mühe, ihr Selbstbewusstsein zu bewahren. (Im Übrigen: Wäre es nicht sogar vorstellbar, dass sich spaßig aufgelegte Kollegen den Jux machten, der neuen Fahrerin zum Einstand einen nicht ganz fahrtüchtigen Bus zuzuweisen?)

Es ist wichtig, sich an diese Pionierinnen zu erinnern und ihnen zu danken. Nicht nur den Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen, den Ärztinnen und Politikerinnen, den Juristinnen und Journalistinnen, sondern jeder einzelnen Frau, die bei all dem vorauseilenden Misstrauen den Mut hatte, in eine „Männerdomäne“ zu gehen. Junge Frauen der Gegenwart sind häufig überzeugt, dass sie niemals Selbstzweifel gehabt oder sich irgendetwas gefallen hätten lassen. Wie mühevoll die Wege geebnet wurden, auf denen sie heute schreiten, ist ihnen oft schwer vorstellbar.

Österreichische Geschichte aus einer vollkommen neuen Perspektive: Bettina Balàkas Kaiser, Krieger, Heldinnen

 

 

Erhellend und unterhaltsam beschreibt Bettina Balàka einen Teil österreichischer Geschichte aus einer vollkommen neuen Perspektive! Mit Fokus auf die Frauengeschichte, den Habsburgermythos und Europa als Vielvölkerstaat trifft die Autorin auch den heutigen Zeitgeist und zeigt uns, wie die Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt. Hier geht’s zum Buch!

Sprengt den Parthenon!

 „Wir sind die verträumten Irren dieser Erde,

die mit dem entflammten Herzen, dem enthemmten Blick.

Wir sind die unerlösten Denker und die tragisch Liebenden.“

– Jorgos Makris, „Wir, die Wenigen“ (1950) 

 

Zerstörung als Kunst, Zerstörung als Befreiung. Was vielen von uns als größtmöglicher Akt der Barbarei erscheint, als Zivilisationsbruch schlechthin, das ist für Jorgos Makris eine Geste der Emanzipation: „Sprengt den Parthenon!” – so lautet sein ungeheuerlicher Aufruf am 18. November 1944.

In Tagen, in denen uns der blindwütige Bildersturm des „Islamischen Staates” erschüttert, liest sich sein Programm heute wie ein verdammenswerter Aufruf zum Terrorismus. Und doch lohnt sich die Auseinandersetzung mit seinem subversiven Werk, denn es berührt uns in den Grundfesten unserer Gesellschaft und lässt tief blicken. Christos Chryssopoulos nimmt in seinem neuen Roman das provokante Manifest des Künstlers auf und wagt ein ungeheuerliches Gedankenexperiment: Ein Buch wie pures Dynamit.

Hoch thront die Akropolis über Athen, der übergroße Schatten den sie wirft, erstreckt sich auf alle Lebensbereiche. Als Symbol für die Zivilisation schlechthin, als „Wiege der Demokratie” und als Ausgangspunkt europäischer Kultur verkörpert sie wie kaum ein anderes Monument ein gemeinsames Erbe, das sich tief in unser Selbstverständnis und unser kollektives Unterbewusstsein eingegraben hat. Eines das die nationale Identität determiniert, ein Monument, wie ein unüberwindbares Mahnmal, das an eine glorifizierte Vergangenheit erinnert. Die Akropolis als Über-ich einer Gesellschaft, als gigantische Vaterfigur, die an die eigene Unzulänglichkeit appelliert, ein unerbittlicher Patriarch, dem man nicht gerecht werden kann.

Jorgos Makris

Für den Surrealisten Makris stand das Emblem abendländischer Überlegenheit für einen lähmenden Kult: Der Parthenon lastet schwer auf den Schultern der (griechischen) Gesellschaft, die nicht aus seinem Schatten treten kann. Die Auslöschung aller antiken Denkmäler propagierte der streitbare Künstler jahrzehntelang in Pamphleten, Interventionen und Debatten. In Traktaten der „Bewegung der Verantwortungslosen“, wie sich Anfang der 1950er Jahre eine größere Gruppe von Intellektuellen und KünstlerInnen nannte, in der auch Jorges Makris Mitglied war, wird die Zerstörung von antiken Denkmälern als nihilistisch motivierter Akt erklärt, der das Ende des „lächerlichen und verlogenen Überlebensgetues“ und der Anziehung von stümperhaften „Amateurtouristen und Eunuchen“ zum Ziel habe.

Christos Chryssopoulos erlebt die schwierigen Verhältnisse in Griechenland hautnah und sieht es als Pflicht, in seinen Büchern Stellung zu beziehen. Der 1968 in Athen geborene Schriftsteller, Übersetzer und Fotograf studierte Wirtschaftswissenschaften und Psychologie. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. verlieh ihm die Französische Republik 2015 den Titel des Ritters der Wissenschaften und Künste. Christos Chryssopoulos ist Mitglied des Europäischen Kulturparlaments und schreibt regelmäßig für die nationale und internationale Presse. Seine Bücher werden weltweit übersetzt. Mit „Parthenon“ (2018) erscheint erstmals ein Werk von Christos Chryssopoulos in deutscher Sprache. Foto: Tom Langdon

Die freilich provokanten Thesen, die Makris mit revolutionärem Pathos vorbrachte, mögen verstören und gerade angesichts der fatalen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts – aus gutem Grund – indiskutabel scheinen. Und doch werfen sie Fragen auf, die auch vor dem Hintergrund der griechischen Wirtschaftshavarie und Identitätskrise aktueller sind denn je.

Was wäre, wenn die Akropolis eines Tages einfach nicht mehr da wäre? Würde aus den rauchenden Trümmern der Tempelanlage Neues entstehen? Nach dem Schock die Befreiung, das Aufatmen, die Erlösung?

Makris’ radikaler Gedanke ist der Ausgangspunkt für Christos Chryssopoulos’ Gedankenexperiment. Kann die Zerstörung des übermächtigen Monuments ein schöpferischer Akt der Befreiung sein? Kann man seine Vergangenheit auslöschen? Und was tritt an ihre Stelle?

Parthenon

„Parthenon” beginnt mit der vollendeten Tatsache. 60 Jahre nach Makris’ Manifest erwacht die Stadt und ihr Wahrzeichen liegt in Trümmern.  Ein junger unbescholtener Mann hat das jahrtausendealte Symbol zum Einsturz gebracht. Getrieben von der Sehnsucht, sich und die Griechen von der hemmenden Bürde ihres übermächtigen antiken Erbes zu befreien. In einer Zeit, in der sich die griechische Kultur auf eins reduziert hat, nämlich einen Haufen schmutziger Steine, physisch und moralisch verschmutzt von den Horden ungepflegter und ungebildeter Touristen, die keinen Unterschied zwischen einem römischen Tempel und einem griechischen Tempel sehen würden.

So ging der Protagonist Ch.K. den ganzen Weg bis ans Ende seiner Idee, die fest verankert ist mit seinem Gewissen, dass nur die Folgen der Handlung wichtig sind … Und die Reaktion der Behörden lässt nicht lange auf sich warten. Nach dem ersten Schock, geht man der sofortigen Aufklärung des Verbrechens nach, bis immer mehr Details ans Tageslicht kommen und der Täter schließlich entlarvt ist und seine gerechte Strafe erfährt.

Hier setzt die Auseinandersetzung mit der politischen Dimension von Kunst, der Frage der Performativität von Literatur und jene nach Identität ein: Was ist eine Stadt, eine Nation ohne Monument? Was bleibt, außer dem Gefühl von Schutzlosigkeit, wenn man dessen entledigt wird? Was ist die gerechte Strafe für eine so tiefschürfende Tat?

In der Art einer journalistischen Untersuchung, eingebettet mit Archivdokumenten und Zeugenaussagen, macht Christos Chryssopoulos die große Ambivalenz jeder nationalen Identität zum Thema. Es ist ein mutiger, sprachlich kraftvoller Roman über die Konstruktion einer Nation und die Poesie der Zerstörung, der – nun erstmals aus dem Neugriechischen übersetzt – dazu beiträgt, die Lücke der griechischen Gegenwartsliteratur zu erschließen.

Wir laden Sie ein, auf eine längst überfällige Reflexion über das Warum einer ewigen und systematischen Bewunderung für die Überreste einer scheinbar „glorreichen“ Vergangenheit und über den aufwendigen Versuch, die Geschichte frei von allen Übeln neu zu schreiben.

 

„Die Profanierung des Nicht-Profanierbaren

ist die politische Aufgabe der kommenden Generation.“

Giorgio Agamben, „Profanierung“

»Wozu sind wir fähig, wenn der dünne Lack der Zivilisation abblättert?« – Autorin Tanja Paar im Interview

Tanja Paar erzählt in „Die Unversehrten“ eine Geschichte von Unglück, Eifersucht und Rache, die sich in der kleinsten Zelle unserer Gesellschaft abspielt – der Familie. Sie legt mit ihrem Debüt ein intensives Buch vor, das Fragen aufwirft, die Frauen und Männer im modernen Leben gleichermaßen berühren.

Die Konstellation im Roman ist so fatal wie alltäglich: Zwei Frauen, ein Mann, ein Kind – das Kind stammt aus der vorigen Beziehung, die Mutter ist eifersüchtig auf die neue Freundin, der Vater kämpft um den Kontakt zu seinem Kind. Ist die Rollenverteilung so einfach?

Tanja Paar ist Journalistin, Moderatorin und Medientrainerin. Neben ihrem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Graz, Wien und Lausanne arbeitete sie freiberuflich beim FALTER und dem Nachrichtenmagazin Profil. Danach war sie zwölf Jahre Redakteurin der österreichischen Tageszeitung derStandard. 2011 wurde sie zur „Journalistin des Jahres“ gewählt, 2015 zur „Medienlöwin“. „Die Unversehrten“ ist ihr Debüt. Foto: Pamela Russmann

Die Rollenverteilung ist gar nicht einfach. Jede der Figuren gibt ihr Bestes, und doch geht es sich nicht aus mit der heilen Familie – leider. Mir war wichtig, einen emanzipierten Mann zu zeigen, der sich um sein Kind kümmern will. Als Vater funktioniert dieser Martin gut, als Liebhaber hervorragend, als Ehemann weniger bis gar nicht. Und die beiden Frauen liefern sich ein Match, bei dem nur eine – nein, das verrate ich jetzt nicht

Was sind das für Frauen, Violenta und Klara, was unterscheidet die beiden, was eint sie?

Violenta ist sehr strukturiert, karrierebewusst, intellektuell. Manche würden sie vielleicht sogar egoistisch nennen. Bei einem Mann sagt man dazu „zielstrebig“. Klara ist erdiger. Beide sind berufstätig, beide wollen ein selbstbestimmtes Leben führen, beide wollen ein Kind. Der einen passiert es, die andere plant es – und am Ende sitzen sie im selben Boot. Ausgerechnet mit Martin!

Die Themen in deinem Roman sind enorm zeitgemäß, es geht um Frauen zwischen Kind und Karriere, Männer und ihre Rechte in der Obsorge – was hat dich bewegt, darüber zu schreiben?

Rund jede zweite Ehe wird in Österreich geschieden, die Lebensgemeinschaften sind dabei nicht erfasst, geben aber ein ähnliches Bild ab. Die Leidtragenden sind nicht nur, aber besonders, die Kinder. Patchwork ist eine Normalität. Mich hat es interessiert, dieses Modell auf die Spitze zu treiben, quasi als eine Art Gedankenexperiment. Wozu sind wir fähig, wenn der dünne Lack der Zivilisation abblättert? Oder sich schlicht die Gelegenheit zur bösen Tat bietet?

Vor allem geht es in deinem Roman auch um Beziehungen: wie sie sich entwickeln, vom Verliebtsein über den Schmerz der Gewöhnung bis zum Beziehungsaus und was danach passiert. Kann man da tatsächlich Muster ausmachen, die in Beziehungen auftauchen, so unterschiedlich die jeweiligen Partner auch sind?

Ich mag Muster. Mich interessiert diese Geschichte strukturell: Wie können wir nach großem Leid – das kann Krankheit sein, oder ein arger Verlust – weitermachen, weiterleben? Weil im Grunde genommen bin ich Optimistin, auch wenn dieses Buch manchmal ganz schön böse ist.

Ist es ein lustiges oder ein trauriges Buch?

Die größte Herausforderung für mich ist es, das Lustige traurig und das Traurige lustig zu erzählen.

Du erzählst die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive von Violenta und Klara. Warum hast du diese Erzählform gewählt?

Mir geht es um das Spiel mit der Sympathie. Die Leserin bzw. der Leser können einmal mit der einen, einmal mit der anderen Figur mitfiebern. Wer von den beiden ist im Recht? Vio, die vorher da war? Oder Klara, mit der Martin ein Kind hat? Und gibt es das überhaupt, „Recht haben“ im Sinn von der einen, einzigen Wahrheit? Diese Frage möchte ich als Autorin nicht beantworten, sondern jedem selbst überlassen. Insofern ist es ein sehr offenes Buch, das viel Interpretationsspielraum lässt – hoffe ich jedenfalls. Nur eines ist sicher: Alle Figuren lügen.

Dein Stil ist geprägt von einer knappen, schlichten Sprache. Die Kapitel sind eher kurz und durch den Perspektivenwechsel von der einen Protagonistin zur anderen entsteht eine große Spannung, ein richtiger Sog. Da brodeln die Emotionen, ohne dass davon die Rede ist. Was passiert da?

Die Geschichte ist sehr verdichtet und auf das mir Wesentliche reduziert. Die raschen Szenenwechsel kennen wir aus dem Film. Es gibt kaum Beschreibungen der Umgebung oder der Städte, in denen die  Protagonistinnen agieren. Also quasi das Gegenteil von Knausgard. Mich hat interessiert: Wie sage ich es noch knapper und noch knapper? Zum Glück hat mich der Verlag gestoppt, sonst wäre aus dem Roman ein Haiku geworden.

 

Zwei Frauen, ein Mann, ein Kind – und die bittere Süße des Lebens: Dieses Romandebüt hat es in sich.

Es ist ein harter Text, sehr präzise, sehr eindringlich. Und, ja, am Ende schreckt die Geschichte mit ihrem Mut. Denn manchmal ist das, was sich in einem Menschen aufgrund seines Alters oder einfach seiner Lebensverhältnisse dort transformiert, wo er keinen Zugriff darauf hat, das Unheimlichste schlechthin. Jenseits von Gut und Böse.”
Martin Prinz

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Wie fühlt es sich an, die eigene Biografie zu schreiben? Felix Mitterer steht Rede und Antwort.

Der beliebte Volksdichter beantwortet Hintergrundfragen zu seiner in Kürze erscheinenden Autobiografie. Offenherzig und mit viel Humor erzählt er über Höhen und Tiefen des Schreibprozesses und verrät uns, wie sich Realitätsflucht im Laufe der Zeit verändert hat. Hier findet ihr einige Zitate zum Nachlesen und das ganze Interview als Video!

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Wie fühlt es sich an, die eigene Biografie zu schreiben?

[…] ich [habe] ein Problem gekriegt mit mir selber, weil ich mir gedacht habe, ist das jetzt alles eitle Selbstbespiegelung, das kann es ja überhaupt nicht sein, dass ich so viel schreibe; dann habe ich aber doch bemerkt, dass ich auch viel über Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter und Menschen, die mir einfach wichtig waren in meinem Leben, in meinem Privatleben, in meinem Arbeitsleben, geschrieben habe, und ich hoffe, dass dieser Teil dann überwiegt und nicht ich selber – hoffentlich.

 

Hat das Schreiben überwiegend Spaß gemacht, oder war es letztlich doch eher schwierig?

Naja, ich war ja sehr spät dran – wie wir wissen – und ich habe einen ziemlichen Zeitdruck verspürt. Man darf eines nicht vergessen, ich bin ja Drehbuchautor und Dramatiker, also alles, was man da schreibt, hört sich bei hundert Seiten normalerweise auf. Sonst wird das Stück zu lang und der Film zu lang. Und auf einmal war ich da bei, ich weiß nicht, 460 Seiten oder was, das ist ja anstrengend. Und ich habe gewusst, ich muss mich jetzt schön langsam beeilen, damit das Buch zu meinem Geburtstag herauskommt.

 

Du hast damit ein Stück Theatergeschichte geschrieben. War dir das bewusst?

Für mich war das sehr wichtig, weil ein Stück Theatergeschichte heißt bei mir in diesem Fall, über mein Glück zu schreiben, das ich hatte. Nämlich zum einen, dass ich von der Volksbühne, vom Volkstheater meinen Ausgangspunkt nahm, […] das auch mein erstes Bühnenerlebnis war als Zwölfjähriger, der Bauernschwank nämlich. Also diesen Weg gehend, zu den Volksbühnen, Amateurbühnen, im ganzen Land Tirol und nicht nur da, auch in ganz Österreich und in Bayern und weiß Gott wo gespielt zu werden, und dann das Glück habend, auch in Wien oder München oder wo immer an den großen Theatern und auch an den Kellertheatern gespielt zu werden.

 

Was ihn antreibt im Schreiben und im Leben, was schmerzhaft war und was schön – davon spricht Felix Mitterer erstmals in dieser Autobiographie, die mit Aufnahmen aus seinem Privatarchiv und den Archiven der Theater- und Fernsehanstalten ergänzt ist. Sein langjähriger Verleger Michael Forcher hat ein Grußwort beigesteuert. Hier gehts zum Buch!

Selim Özdogan: Schrödingers Esel hat ein paar Fragen

Selim Özdogan hat die immer wieder aufköchelnde öffentliche Debatte zum deutsch-türkischen Verhältnis in einem entlarvenden, intelligent-augenzwinkernden Zeitkommentar gebündelt, der aktueller nicht sein könnte.

Lies hier seine pointierten Beobachtungen, die mitten ins Herz einer omnipräsenten politischen Diskussion treffen:

 

Selim Özdogan: Schrödingers Esel hat ein paar Fragen

 

Wenn jemand in der Türkei Wie bei Nasreddin Hodscha sagt, dann weiß der Gesprächspartner, auf welche der vielen Geschichten des Hodschas angespielt wird.

Nasreddin Hodscha ist eine Schelmenfigur, die im 14. Jahrhundert in Anatolien gelebt haben soll. Er ist Hauptperson zahlreicher Anekdoten und Geschichten, die in der Türkei jeder kennt, unabhängig von Region, sozialer Schicht und Bildung.

Foto: Tim Bruening

1

Der Hodscha beschloss eines Tages, seinem Esel das Fressen abzugewöhnen. Dafür gab er ihm einfach jeden Tag etwas weniger Futter als am Vortag.

Verdammt, sagte der Hodscha nach vier Wochen, kurz bevor ich ihn soweit hatte, ist der Esel einfach gestorben.

2

Die Redewendung vom Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, scheint mir etwas Ähnliches auszudrücken. Der Punkt, ab dem etwas zu viel wird. Nur dass ein Fass grundsätzlich für Flüssigkeiten gedacht ist, ein Esel aber nicht zum Hungern. Jeder Tropfen, der in das Fass fällt, hat seine Berechtigung, bis auf den letzten. Was man von den Kürzungen der Futterration nicht behaupten kann.

Das macht den Esel in diesem Text zu einem plausibleren Symbol für die Demokratie als das Fass.

3

Der türkische Satiriker Aziz Nesin saß 1944, 1947 und 1949 jeweils mehrere Monate wegen seiner Schriften im Gefängnis.

Der Journalist Uğur Mumcu saß 1971 fast ein Jahr wegen Verunglimpfung der Armee im Militärgefängnis, bevor das Urteil, sieben Jahre Haft, aufgehoben wurde. 1993 starb er bei einem bis heute nicht aufgeklärten Bombenattentat.

Die Seite tutuklugazeteciler.blogspot.de listet seit 2010 die Namen in der Türkei inhaftierter Journalisten auf.

2012 wurde die Studentin Duygu Kerimoğlu festgenommen und der RedHack-Mitgliedschaft beschuldigt. RedHack ist eine türkische Hacker-Gruppe, die vom Staat zeitweilig als Terrororganisation eingestuft wurde. Duygu Kerimoğlu saß 9 Monate in Untersuchungshaft, bevor sie am ersten Verhandlungstag freigesprochen wurde.

Der Soziologe Erol Özkoray wurde 2014 wegen Präsidentenbeleidigung zu 11 Monaten Haft verurteilt. Er hatte ein Buch über die Gezi-Prostete geschrieben und darin Graffiti zitiert.

Bekannt geworden in Deutschland ist aber 2016 der Journalist Can Dündar, der auch den Präsidenten beleidigt und zudem Staatgeheimnisse veröffenlicht haben soll. Im Gegensatz zu den anderen durfte er dann ohne ein Wort Deutsch Sendungen im deutschen Fernsehen co-moderieren.

Dieser Tage fordern viele die Freilassung von Deniz Yücel. Auf Twitter einzusehen unter #freedeniz.

Deniz heißt übrigens Meer.

4

Seit wann gibt es in der Türkei keinen Rechtsstaat und keine Meinungsfreiheit mehr? Ist der Esel, den wir Demokratie nennen, schon längst verhungert oder könnten wir ihn noch aufpäppeln? Wann hätten wir einschreiten müssen? Hätten wir einschreiten müssen? Wer ist wir? Und was heißt eigentlich Demokratie?

5

Als 2008 in der Türkei die Entmachtung des Militärs im sogenannten Ergenekon-Prozess begann, wurde das in Deutschland als ein Schritt zur Demokratisierung betrachtet.

Hat sich der Kurs seitdem geändert oder nur unsere Perspektive? Haben wir damals die Entwicklungen falsch eingeschätzt? Gibt es ein deutsches Interesse, die Situation auf die eine oder andere Weise zu deuten?

In der Türkei gab es schon damals zahlreiche Stimmen, die darauf hingewiesen haben, welcher Regierungsform hier der Weg geebnet wird. Keine davon fand Gehör in Deutschland.

6

Auf dem 1992 erschienen Album The Future von Leonard Cohen gibt es ein Stück mit dem Titel Democracy, in dem es heißt: Democracy is coming to the USA.

Es ist kein ironisches Lied. Es ist ein Lied voll tiefer Anteilnahme und eine Bejahung des Experiments der Demokratie in diesem Land. Hier entfaltet sich das Experiment. Hier sind die Rassen miteinander konfrontiert, die Klassen, die Geschlechter, die sexuellen Orientierungen. Das ist das Versuchslabor der Demokratie, sagte Cohen dazu.

Möglicherweise gibt die derzeitige Situation in der Versuchsanstalt Auskunft über den Zustand der Demokratie im Allgemeinen.

7

Nach dem Demokratieindex von 2014 leben etwa 12,5 Prozent der Weltbevölkerung in einer vollständigen Demokratie.

8

Für einen großen Teil dieser 12,5 Prozent scheint die Demokratie ein Fetisch zu sein.

Jede andere Regierungsform erscheint ihnen minderwertig, inakzeptabel oder unvorstellbar. Oder bestenfalls verbesserungsbedürftig.

Man darf keinen anderen Fetisch haben neben der Demokratie.

Ein Merkmal eines Fetischs ist, dass man ihn nicht frei wählt.

9

Die Idee der Demokratie geht davon aus, dass die Menschen gleichwertig sind, akzeptiert also alle auf Augenhöhe. Keiner ist prinzipiell besser oder schlechter. Die Unterschiede zwischen reich und arm, Mann und Frau, heller und dunkler Hautfarbe, zwischen Gläubigen, Agnostiker und Atheisten haben keinerlei Aussagekraft hinsichtlich des Wertes eines Menschen und werden angesichts des Esels, den wir Demokratie nennen, vollständig nivelliert.

10

Die Idee der Nation geht davon aus, dass die Menschen nicht gleichwertig sind. Besitz von Identität und Pass bedeuten erhebliche Unterschiede hinsichtlich Selbstverständnis und Privilegien, von denen die Reisefreiheit das offensichtlichste ist.

11

Die Demokratie scheint ähnlich viel Glauben zu verlangen wie eine Religion. Man möchte an Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit glauben, die gemeinsam auf dem Rücken des Esels sitzen, doch der Esel bekommt nicht genug Futter, um alle tragen zu können.

12

Wer möchte denn wirklich, dass es im Grunde keinen Unterschied macht, ob man Manager bei VW ist oder Hartz IV bezieht? Wer möchte denn sein Essen, seine Kleidung, seine Wohnung, seine Glauben und seine Liebe mit Fremden teilen? Wer möchte denn, dass Bettler sich in Restaurants einfach zu uns setzen dürfen? Wer möchte denn, dass da niemand mehr ist, über den man sich erheben kann? Oder wer möchte mir nochmal hinterherrufen, dass ich mit dem Fahrrad in der falschen Richtung durch die Einbahnstraße fahre?

13

Baudrillard sagt, dass Disneyland nur erbaut wurde, um zu verbergen, dass unsere gesamte Welt auf Fiktionen beruht. Jede Stadt, jede Fabrik, jede Straße, jeder Schienenweg ist ebenso ein Produkt der Phantasie wie ein Vergnügungspark. So ähnlich zeigt man vielleicht mit dem Finger auf ein anderes Land, um zu verbergen, dass man selbst die Idee der Demokratie auch noch nicht verwirklicht hat.

Der Hungern des fast toten Esels lenkt davon ab, dass die, die besser im Futter stehen, auch nicht satt werden.

14

Den Fehler immer beim anderen zu suchen, führt in einer Beziehung zu allen möglichen Dingen, aber nicht zu einem gemeinsamen Wachstum. Oder auch nur zu eigenem.

15

Kein Psychiater, Psychotherapeut, Beziehungs-, Seelen-, Business- oder anderer Coach versucht in seiner Arbeit mit Menschen, die Reaktionen der Umwelt zu ändern, sondern immer nur das Verhalten des Klienten.

16

Pressefreiheit und Meinungsfreiheit gehören zum Esel wie die Ohren und das Maul, sie können weder beschnitten noch verboten werden.

17

Wie Fake News da reinpassen, ist schwer zu erklären. Vielleicht so: Das Problem sind nicht unbedingt die falschen Nachrichten. Das Problem sind eher die Menschen, die nicht nach Fakten und Zusammenhängen Ausschau halten, sondern nach einer Bestätigung ihrer eigenen Meinung.

18

Die Sache wird komplizierter, wenn die eigene Meinung von der Meinungsfreiheit überzeugt ist.

19

Das Gefühl der moralischen oder auch demokratischen Überlegenheit ist eine Droge. Es berauscht, führt zu Größenwahn und mangelnder Empathie. Es verleitet dazu, die eigene Position nicht in Frage zu stellen.
Der Besitz eines halbwegs genährten Esels ist also so etwas wie Kokain. Tunnelblick und enormer Nachlegedrang, den man stillen kann, indem man sich am Anblick knochiger Esel berauscht.

20

Die deutsche Beschäftigung mit der Türkei und den Türken ist obsessiv und oberflächlich zugleich.

Das Obsessive mag mit der geopolitischen Lage zu tun haben, mit der Geschichte der beiden Länder, mit der Tatsache, dass türkeistämmige Menschen in Deutschland die größte Minderheit darstellen.

Eine Minderheit, die zu 60 Prozent aus Erdogan-Wählern besteht, wenn man den Schlagzeilen glauben möchte: „Deutsche Türken wählen konservativ“ (Süddeutsche Zeitung), „Überproportional viele Türken in Deutschland wählten AKP“ (FAZ), „Türken in Deutschland wählten Erdogan-Partei“ (Spiegel Online)

Die türkeistämmige Minderheit in Deutschland besteht aus ca. 3 Millionen Menschen, von denen 1,4 Millionen aufgrund von Pass und Alter in der Türkei wahlberechtigt sind. Von diesen 1,4 Millionen haben 34 Prozent 2015 von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, also etwa 480.000 Menschen. Von ihnen haben tatsächlich 59,7 Prozent Erdogan gewählt. Macht ungefähr 285.000. Also nicht mal 10 Prozent von 3 Millionen, doch das ist ausreichend, um sich ein Bild vom Türken in Deutschland zu machen.

Das bedeutet nicht, dass es diese 10 Prozent nicht gibt. Das bedeutet nicht, dass man ihre Wahlentscheidung nicht problematisch finden kann. Es bedeutet nur, dass sie nicht die übrigen 90 Prozent repräsentieren können.

Siehe nochmal 16 und 17.

21

Wenn ich mit meinen Kindern auf dem Spielplatz, in der Bäckerei, im Schuhgeschäft, im Eiscafé, im Supermarkt bin, bekomme ich regelmäßig die Frage gestellt: Was für eine Sprache ist das, die Sie mit den Kindern sprechen? Auf die Antwort Türkisch bekomme ich nahezu immer zu hören: Das hört sich aber gar nicht so an.

Und jedes zweite Mal fügen die Leute hinzu: Dabei weiß man ja, wie sich das anhört, wenn man in Köln wohnt.

Ich sage nie: Offensichtlich nicht.

Ich sage nie: 100 Prozent der Leute, die fragen, was das für eine Sprache ist, wissen nicht, wie Türkisch klingt.

Ich sage nie: Vielleicht haben Sie sich von meinem Aussehen zu einer bestimmten Erwartungshaltung verleiten lassen.

Ich sage nie: Vielleicht ist es auch kein Türkisch, aber alle, die Türkisch können, haben mich jahrzehntelang in dem Glauben gewogen, sie würden mich verstehen.

Wenn ich Türkisch geantwortet habe, höre ich von meinem Gegenüber aber auch nie: Das war mir nicht bewusst, dass ich Türkisch nicht am Klang erkennen kann.

Der Glaube an die eigenen Fähigkeiten ist tiefer verwurzelt als meine Sprachkenntnisse.

22

Diese Metaphern und Allegorien und Symbole von lebendigen, hungernden oder toten Eseln sollten ein Ende haben.

Es geht um diese Vision der Demokratie.

Eine erstrebenswerte Vision, wenn man mich fragt.

Visionen muss der verwirklichen, der sie hat. Und darauf vertrauen, dass sie den anderen als leuchtende Beispiele dienen.

***

Im Juli 2017 erschien Selim Özdogans neuer Roman „Wo noch Licht brennt”. Alle Informationen dazu findest du hier.

Veza-Canetti-Preis 2017: Lydia Mischkulnig ausgezeichnet

Wir gratulieren Lydia Mischkulnig ganz herzlich zum Veza-Canetti-Preis 2017! Im Bild v.l.n.r. Journalistin Brigitte Schwens-Harrant, Lydia Mischkulnig und die Literaturreferentin der Stadt Wien Julia Danielczyk

Lydia Mischkulnig  wurde am 4. Oktober der Veza-Canetti-Preis verliehen. Sie wurde damit für ihr präzises, entlarvendes, feinnerviges und subtiles Werk ausgezeichnet, das in unnachahmlicher Sprache auf verborgene Machtverhältnisse hinweist und pointiert die kleinen und großen Abgründe von Psyche und Gesellschaft aufnimmt. 

„Die Autorin schafft in einer präzisen, eigenen Sprache eine vielschichtige Literatur und zeigt eine weibliche Perspektive auf die gegenwärtige Gesellschaft und deren Machtverhältnisse”, so die Fachjury der alljährlich verliehenen Auszeichnung für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Literatur.

Der Preis ist nach der Wiener Schriftstellerin Veza Canetti (1897 bis 1963) benannt, da sie eine Vielzahl literarisch wirkender Frauen repräsentiert, die (und somit auch deren Werk) in der literaturwissenschaftlichen Kanonbildung vernachlässigt sind.

In ihrer Dankesrede nahm Lydia Mischkulnig Bezug auf die Namenspatronin der Auszeichnung:

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Dankesworte zum Veza Canetti Preis

von Lydia Mischkulnig

Wien, Oktober 2017

Sie war der Nagel, der aus dem Brett herausragte und eingeschlagen werden musste. Veza Canetti hat nicht applaudiert. Sie konnte es nicht. Ihr hat ein Arm gefehlt. Dennoch wurde sie Handlangerin des Nobelpreisträgers. Ihre Rolle ist wie jede Rolle eine Zuweisung, die dann zur Zumutung gerät. Sie wusste Bescheid und folgte trotzdem männlicher Selbstermächtigung bis zur Selbstauflösung ihrer Autorenschaft.

Die Rollen, die ich zuweise, reflektieren diesen Zwang ein Genie hervorzubringen. – Worauf würde Veza Canetti heute ihren Blick richten? Auf Minderheiten, die vor Buddhisten flüchten? Auf die Psychopathologie von Geltungsssucht? Auf den Tod der Wahrheit? Auf Größenwahn, Kleingeistigkeit, Verschleierung – Variationen des feministischen Affirmationsverhaltens? Auf die Autoren und Autorinnen in den Gefängnissen der Autokratien?

Was passiert mit einer Frau, die aufgibt- oder aufzugeben scheint, weil sie ja aufgegeben ist?

Dagegen schreibe ich an. Erkunde die Unentrinnbarkeit meiner Figuren,  um sie auf den Punkt zu bringen und darin aufzuwirbeln. Das Ungefähre, in das ich mich wage, bringt ein Zittern im Sprachgitter aus Ungewissheit und Zweifel zum Vorschein, das sich auf die Zuweiserin wirft. Diesen Fängen entwische ich heute durch den Veza-Canetti-Preis, den der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti nie hätte bekommen können.  Mein Schreiben gegen das Zittern durchzusetzen ist die Devise, und so fängt es immer wieder von vorne an.

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Lydia Mischkulnig. Foto: Margit Marnul.

Lydia Mischkulnig

Lydia Mischkulnig, geboren 1963 in Klagenfurt, lebt und arbeitet in Wien. Mehrfach ausgezeichnet, u.a. Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1996), Manuskripte-Preis (2002), Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien (2007), Österreichischer Förderpreis für Literatur (2009), Joseph-Roth-Stipendium (2010), Veza-Canetti-Preis und Johann-Beer-Literaturpreis (beide 2017), zuletzt Würdigungspreis des Landes Kärnten für Literatur (2020). Bei Haymon erschienen: „Hollywood im Winter”. Roman (1996, HAYMONtb 2012), „Macht euch keine Sorgen”. Neun Heimsuchungen (2009), „Schwestern der Angst”. Roman (2010, HAYMONtb 2018), „Vom Gebrauch der Wünsche”. Roman (2014) und „Die Paradiesmaschine”. Erzählungen (2016). 2020 erschien Lydia Mischkulnigs neuer Roman „Die Richterin”. http://www.lydiamischkulnig.net

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Ein Blick hinter die Mauer – Juri Andruchowytsch über »Pralinen vom roten Stern« von Oleksandr Irwanez

»Hat Oleksandr Irwanez tatsächlich in die Zukunft geblickt? Ist der Platz dieser Quasi-Antiutopie tatsächlich auf dem gleichen Bücherregal, auf dem sich die warnenden Werke von Orwell, Huxley oder Lem befinden?« 

Wieso sich Pralinen vom roten Stern  wie eine Vorwegnahme der heutigen Konflikte liest, und was uns Schlojma Ezirwans Erlebnisse über unsere Gegenwart erzählen können, erfahren Sie hier aus berufenem Munde: Juri Andruchowytschs Vorwort zu diesem einzigartigen Roman macht Lust darauf, mehr zu erfahren, über die beschriebene Quasi-Dystopie, mit der Oleksandr Irwanez die Provinzstadt Riwne auf die literarische Landkarte setzt. Irgendwo zwischen Prophezeiung und Rückschau navigiert uns Irwanez durch eine kurios zeitenlose Ukraine, die uns fern ist, aber gleichzeitig so nah:

 

Ein Blick hinter die Mauer – Aus dem Vorwort zu Pralinen vom roten Stern von Juri Andruchowytsch

 

Fans von James Joyce haben ihren Bloomsday, und zwar am 16. Juni. Fans von Oleksandr Irwanez könnten – im Falle eines Falles – ihren Schlojma-Tag immer am 17. September haben. So wie der Bloomsday jedes Jahr in Dublin stürmisch gefeiert wird, so könnte der Schlojma-Tag zweifellos in Riwne zelebriert werden. Nun hat die Stadt Riwne für die Ukraine bei weitem nicht die Bedeutung von Dublin für Irland, doch der Schriftsteller Oleksandr Irwanez verlieh der Stadt mit seinem Roman eine beachtliche, zumindest literarische Bedeutung.

Die Gemeinsamkeit beider Romane ist offensichtlich, denn es geht sowohl im Roman von Joyce als auch in dem von Irwanez um einen Tag mit einem konkreten Datum.
Der Unterschied liegt freilich darin, dass Joyce das Jahr genau bestimmte: 1904. Irwanez gibt keine genaue Jahreszahl. Die Handlung des Romans spielt nicht wie bei Joyce in der Vergangenheit, sondern „quasi“ in naher Zukunft.

(…)

Der Roman von Irwanez, der ja im Vorfeld der Orangen Revolution mit ihrem kategorischen Sein oder Nichtsein geschrieben worden war, konnte durchaus als Antiutopie verstanden werden oder, auch solche Genres gibt es, als eine Roman-Prophezeiung.

Die Vorgeschichte des Romans verweist auf eine nicht näher genannte politische Katastrophe, wegen der die Ukraine in zwei Teile gespalten wurde: in eine prorussische SRU (Sozialistische Republik Ukraine), die einen beträchtlichen Teil des ehemaligen ukrainischen Territoriums einnimmt, sowie die prowestliche Westukrainische Republik. Die Spaltung der Ukraine verläuft auch quer durch die Heimatstadt des Autors und des Romanhelden.

Aus einer Stadt werden zwei Städte: das zum Westen gehörende Riwne und sein Gegenpart, das sozialistische Rowno. Die einst zusammengehörende Welt wird nach dem bekannten Berliner Muster aus den Jahren 1961–1989 durch eine Mauer geteilt.

Das Romansujet erzählt einen Tag aus dem Leben des Schlojma Ezirwan, eines Schriftstellers und Bewohner des Westsektors, den er freilich im Ostsektor verbringen muss, da er seine Verwandten besuchen will.

*

Lässt sich aus heutiger Perspektive, besonders im Zusammenhang mit der militärischen Auseinandersetzung mit Russland und ihren Marionetten in den östlichen Landesteilen der Ukraine, der Roman „Riwne-Rowno“ tatsächlich als Roman-Prophezeiung bezeichnen? Auf den ersten Blick schon. Seit dem Frühjahr 2014 (12 Jahre nach dem ersten Erscheinen des Romans) kann man in der Ukraine eine territoriale Spaltung beobachten. Natürlich kann man einwenden, dass die territoriale Verteilung genau umgekehrt wie im Roman ist. Das heißt, „unsere SRU“ ist ziemlich klein und „unsere Westukrainische Republik“ gleicht der Westukrainischen Republik im Roman ganz und gar nicht, da sie etwa 90 Prozent des ehemaligen Territoriums mit den südlichen, zentralen und östlichen Gebieten mit der Hauptstadt Kiew und deren wichtigsten Metropolen (Dnipro, Odessa, Charkiw) umfasst und nicht nur, wie im Roman, einige westukrainische Gebiete.

Das bedeutet, die Prophezeiung hat sich, wenn überhaupt, nur teilweise erfüllt, und zwar vor allem in einem Sinn: Tatsächlich wird ein kleines Gebiet nicht mehr von Kiew kontrolliert. Allerdings entgegen der Prophezeiung nicht aus westlicher Sicht, sondern aus der östlichen.

Und dass es überhaupt existiert, hat nur die unmittelbare militärische Intervention Russlands ermöglicht und auch dessen weitere Existenz wird nur vom russischen Militär gesichert. Übrigens genauso wie im Roman die Existenz des demokratischen und freien Riwne durch die Anwesenheit eines begrenzten Kontingents von NATO-Soldaten (einem polnischen Bataillon) gesichert wurde.

Und an dieser Stelle ist es nun höchste Zeit, das Allerwichtigste zu erwähnen: Hat Oleksandr Irwanez tatsächlich in die Zukunft geblickt? Ist der Platz dieser Quasi-Antiutopie tatsächlich auf dem gleichen Bücherregal, auf dem sich die warnenden Werke von Orwell, Huxley oder Lem befinden?

Irwanez’ Roman handelt von der Vergangenheit. Das heißt, die Reise des Helden auf die andere Seite der Mauer erscheint nicht nur als Bewegung durch den Raum, sondern vielmehr und in größerem Maß durch die Zeit.

Es ist eine Rückkehr in die Vergangenheit – in eine böse, komische, absurde, primitive, totalitäre, sozrealistische parodiehafte Vergangenheit. Die Zeit, das wird deutlich, scheint manchmal „quasi“ stehenzubleiben oder rückwärts zu laufen.

Als Ergebnis haben wir die karikierte SRU und ihre abscheuliche Stadt Rowno – eine fast schon zeitlose Verdichtung alles Sowjetischen, Anachronistischen und Abgestorbenen.

Und doch handelt es sich auch um ein Territorium der Nostalgie, Erinnerung, Sentimentalität, um eine Zone der verlorenen Zeit, die man unerwartet wiederfindet, einen Raum der Rekonstruktion von Träumen, die man, wie es schien, damals, in der Kindheit, ein für alle Mal ausgeträumt hatte – so wie der Autor des Romans und der Autor dieser Zeilen.

Und auch sonst haben der Autor und ich ein gemeinsames Land, nämlich eines, in dem nicht nur böse Träume von Zeit zu Zeit wiederkehren können.

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Oleksandr Irwanez: Pralinen vom roten Stern

 

 

Schauplatz Ukraine: der zerbrochene Osten Europas
Eine im Nordwesten des Landes gelegene Stadt wird durch eine Mauer in zwei Zonen geteilt – in das zur Westukrainischen Republik gehörende Riwne und in Rowno. Rowno ist Teil der Sozialistischen Ukrainischen Republik, in der man nicht nur politisch, sondern auch sprachlich in die sowjetische Vergangenheit zurückgekehrt ist. Verbunden werden die beiden Teile nur durch einen schmalen Korridor. Reine Fiktion? Oder ein mögliches Zukunftsszenario?

„Für eine Gesellschaft ist der Blick in die eigene Geschichte unerlässlich” – Wilfried Steiner im Interview

Autor Wilfried Steiner im Gespräch. Foto: Andrea Peller

Die Füße im Lavasand, der Kopf im Sternenhimmel: Adrian Rauch hat einen Traum. Auf La Palma das weltgrößte Spiegelteleskop sehen, einmal aus der geregelten Bahn ausbrechen, alles vergessen und in Gedanken mit dem Kosmos verschmelzen.

Doch vor Ort gestaltet sich alles anders als geplant. Vor der beeindruckenden Kulisse der Kanareninsel wird Adrian nach und nach in eine Geschichte verwickelt, aus der es kein Entrinnen gibt. Während sich seine Frau Karin die Zeit bei Surfstunden vertreibt, gerät der Hobbyastronom mehr und mehr in den Bann von Sara, die ihm ihr dramatisches Schicksal anvertraut. Und von diesem Augenblick an wird Adrian vom Strudel ihrer Erzählung mitgerissen. Statt in die Weiten des Orionnebels blickt er in einen tiefen Abgrund, von dem er sich unmöglich abwenden kann.

Der Sog des bildgewaltigen Romans von Wilfried Steiner ist unwiderstehlich, in „Der Trost der Rache” führt er uns über schwarze Lavastrände, den gewaltige Roque de los Muchachos, zwischen Blüten in allen erdenklichen Farben durch ein packendes Abenteuer, das philosophische Fragen von großer Tragweite aufwirft.

Wir haben uns mit dem Autor über die Hintergründe und Schauplätze seines neuen Romans unterhalten:

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Das Gran Telescopio Canarias, Wilhelm Reich, eine Ornithologin, die auf Rache sinnt, Pinochet – ist es der Zufall, der diese außergewöhnliche Konstellation zustande bringt oder gibt es einen verborgenen roten Faden, der unvermeidlich zu diesem kuriosen Zusammentreffen führt?

Die Ausgangsidee war, zwei gegensätzliche Charaktere aus weit entfernten Regionen auf dem Gipfel des Roque de los Muchachos zusammenzuführen. Sara und Adrian haben ganz unterschiedliche Beweggründe und Schicksale; was sie vereint, ist der Wunsch, zum Gran Telescopio Canarias zu gelangen. Das hatte für mich eine gewisse strukturelle Symmetrie, die über bloßen Zufall hinausging.

Glauben Sie im echten Leben an den Zufall?

In einem naturwissenschaftlichen Sinn schon. Ohne das Prinzip des Zufalls wäre ja auch die Quantentheorie nicht denkbar. Die berühmte Kopenhagener Deutung spricht sogar von „objektivem Zufall”.

Gran Telescopio Canarias

Die Astronomie begeistert Adrian, den Protagonisten. In einem Spiegelteleskop, wie dem Gran Telescopio, das im Roman eine große Rolle spielt, wird – vereinfacht gesprochen – das Licht des Himmelskörpers über gekrümmte Spiegel reflektiert und gebündelt, sodass der Beobachter im Okular einen knappen Auszug der Wirklichkeit erhält. Sehen Sie Parallelen zum Schreiben?

Im Prinzip ein schönes Bild – wenn man davon absieht, dass bei großen Spiegelteleskopen heute niemand mehr durch ein Okular schaut. Die Astronomen sitzen vor Bildschirmen und studieren Computerdateien. Das hat vielleicht auch Parallelen zum Schreiben, nur leider nicht so romantische …

Der Blick in die Sterne ist ja zwangsläufig immer ein Blick in die Vergangenheit. Einer, der uns weiterbringen kann?

Das kann man auf mehreren Ebenen beantworten. Für eine Gesellschaft ist der Blick in die eigene Geschichte unerlässlich, wenn sie sich weiterentwickeln will. Wozu es führt, wenn ein Staat seine eigene Historie beschönigt, konnte man gerade in Österreich gut beobachten.

Dem einzelnen Menschen schadet es auch nicht, sich mit seinen Anfängen zu beschäftigen, wenn er wissen will, was ihn so umtreibt. Jede körperliche Verkrampfung, sagt Reich, „enthält die Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung”.

Astronomisch ist dabei ein Paradoxon interessant: Wenn ich mit immer besseren Teleskopen immer tiefer in die Frühzeit des Universums schauen kann, warum sehe ich am Ende nicht den Urknall selbst? Die undurchdringliche Wand, die das verhindert, ist 300.000 Jahre nach dem Beginn des Kosmos entstanden. Wenn die Wissenschaftler weiter zurückblicken wollen, müssen sie anders vorgehen: In riesigen Teilchenbeschleunigern wie dem LHC werden Protonen mit annähernder Lichtgeschwindigkeit aufeinander geschossen. Das ultraheiße Plasma, das dabei entsteht, kommt dem Ursprung der Welt näher als jedes noch so hochgerüstete Weltraumteleskop. Dieses Phänomen wird eine wichtige Rolle in meinem nächsten Roman spielen …

Lavafelder auf La Palma

In Ihrem Roman geht es in letzter Instanz um eine weitreichende moralische Frage: Gibt es Umstände, die Rache als Handlungsmotiv legitimieren?

Die erste Antwort muss natürlich sein: Ich bin gegen Selbstjustiz. Denn darauf läuft die Frage ja hinaus. Aber was genau bedeutet in diesem Zusammenhang „legitimieren”? Das Spannende (und Schwierige) ist ja gerade, dass es Einzelfälle gibt, die die Striktheit der allgemeinen Antwort ins Wanken bringen. Wenn ich einem Mann gegenüberstehe, der meine halbe Familie ausgerottet hat, und ich besitze eine Waffe – was würde ich tun? Oder anders: Würde ich jemanden, der in einer solchen Situation den Täter ermordet, als schuldig empfinden? Und weiter: Selbst wenn ich persönlich die Motive verstehen könnte, müsste ich nicht trotzdem dafür plädieren, dass ein Gericht über diesen Fall urteilt?

Kann Vergeltung jemals für Gerechtigkeit sorgen?

Wahrscheinlich nicht. Doch die haarsträubenden Ungerechtigkeiten, die in der Geschichte immer wieder auftreten, etwa die völlige Straffreiheit von Massenmördern und Folterern, erzeugen eine Form von Empörung, die es nachvollziehbar erscheinen lässt, wenn ein Opfer zur Tat schreitet.

Menschenrechtsverletzungen, Konzentrationslager, zehntausende Ermordete, unzählige Verschwundene – die Gräueltaten des Pinochet-Regimes liegen noch nicht sehr lange zurück und sind doch erstaunlich wenig präsent in unserer Wahrnehmung. Woran liegt das?

Es wäre zu leicht, das mit den üblichen Verdrängungsprozessen allein zu erklären. Auch Aspekte der Geschichtsfälschung bzw. die Art der Aufarbeitung haben dazu beigetragen. Zugespitzt könnte man sagen: In einer Welt, in der Menschen wie Henry Kissinger als Helden verehrt und mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden, stimmt irgendetwas mit dem Informationsfluss nicht. Und die Vorstellung, bestimmte völkerrechtliche Verbrechen tangierten uns nicht, weil sie in weit entfernten Ländern stattfänden, ist trügerisch.

Sind uns Chile und Pinochet letztlich doch näher als wir glauben?

Ein beispielloser Vorgang: Im Jahr 1973 wurde die demokratisch gewählte Regierung Chiles unter Salvador Allende mit Unterstützung der CIA gestürzt. Es folgten Jahrzehnte des Terrors unter Pinochet. Foto: © Biblioteca del Congreso Nacional de Chile

Sie sollten uns näher sein. Denn der Vorgang war einzigartig: Eine demokratisch gewählte Regierung wurde mithilfe der CIA einfach weggeputscht, weil sie den finanziellen Interessen der kapitalistischen Staaten im Weg war. Als die Generäle und die DINA mit den Folterungen und den Morden begannen, zuckten die USA mit keiner Wimper. Im Gegenteil: Das Feld wurde bereitet, um die Chicago Boys ohne Belästigung durch Gewerkschaften ihre ökonomischen Experimente durchführen zu lassen. Heute beobachten wir ähnliche Prozesse: Für Profit wird über Leichen gegangen, und das oft unter dem Deckmantel der Friedensstiftung. Und dass auch in einem europäischen Land rasch diktatorische Strukturen entstehen können, sehen wir jeden Tag.

Das gilt auch für den spannenden Fall Wilhelm Reich, der in Ihrem Roman vorkommt. Hat der Wissenschaftler Wilhelm Reich Antworten für die heutige Zeit?

In manchen Bereichen durchaus! Nicht umsonst war Reich ein Held der Studentenbewegung. Seine Arbeiten über Sexualität und die Funktion des Orgasmus, verschiedene Ansätze der Charakteranalyse und der Vegetotherapie sind immer noch aktuell. Reichs Einsatz für „proletarische” Sexualberatungsstellen in Wien und Berlin finde ich bewundernswert. Und „Die Massenpsychologie des Faschismus”, schon 1933 verfasst, ist immer noch mehr als lesenswert und hat auch ganz zentrale spätere Arbeiten zu diesem Thema inspiriert, etwa Klaus Theweleits „Männerphantasien”.

Und der Esoteriker?

Der schleichende Übergang vom marxistischen Psychoanalytiker zu jemandem, der Wolken mit Orgon-Energie beschießt, um es regnen zu lassen, wirkt von außen betrachtet verblüffend und bestürzend. Die Faszination liegt aber darin, die psychische Entwicklung Reichs anhand seiner eigenen Theorien zu studieren, gewissermaßen den Esoteriker mit der Brille des Analytikers zu betrachten. Darüber hinaus hege ich durchaus Sympathien für den „verrückten” Reich, auch wenn der Orgonakkumulator wohl nicht wirklich funktioniert …

Das tragische Schicksal, das Reich widerfährt, ist bemerkenswert. Innerhalb kurzer Zeit wird in den USA eine Kampagne gegen ihn lanciert, sein Lebenswerk zerstört, er stirbt im Gefängnis unter ungeklärten Umständen. Was war so gefährlich an seinen späten, streitbaren Theorien, dass er so unerbittlich verfolgt wurde?

Begonnen hat es mit dem Artikel „The Strange Case of Wilhelm Reich” in der New Republic vom 26.Mai 1947. Darin behauptet Mildred Brady (selbstverständlich fälschlicherweise), Reich verspreche jedem, der den Orgonakkumulator bei ihm gegen Bezahlung ausleihe, orgastische Potenz. Daraufhin begann die Food and Drug Administration  ihre Kampagne gegen Reich. Dahinter standen mächtige Interessen der Pharma- und der Atomindustrie. In die Ermittlungen investierte der Staat zwei Millionen Dollar. Dass der „riesige Jude mit deutschem Akzent, der Bolschewist gewesen war und nun nackte Menschen in Schränken zum Orgasmus kommen ließ” (Harry Mulisch) im Amerika der Vierziger- und Fünfzigerjahre zu einem Feindbild avancieren musste, ist leicht vorstellbar.

Wilfried Steiner: Der Trost der Rache

 

 

„Es ist ein Herzensbuch. Gescheit, politisch aufklärend, obendrein ein hochspannender Krimi.”
Neues Volksblatt, Christian Pichler

„Die Schönheit lässt sich nur an ihren Brüchen erkennen. Der Tod des Vaters setzt die Geschichte des Adrian Rauch in Bewegung. Er verlässt seine geregelten Bahnen, um den Blick ins All zu richten. Seine Leidenschaft führt ihn von universaler Wahrheit auf den Boden der Wirklichkeit, in knallharte Verdichtung. Und das in einer sorgfältigen, aufmerksamen und klugen Sprache.”
Jurybegründung des Floriana Literaturpreises 2016

Lies jetzt rein!

„Heimat sind für mich Menschen, Literatur und Musik” – ein Gespräch mit Selim Özdogan

Selim Özdogan. Foto: Tim Bruening

Nach den Romanerfolgen Die Tochter des Schmieds und Heimstraße 52 erzählt Selim Özdoğan die Geschichte seiner Protagonistin Gül weiter, mit der er bereits einen großen Leserkreis in seinen Bann gezogen hat. Eine einfache Frau mit wenig Bildung, aber mit einem guten und weisen Herzen, voller Lebenserfahrung. Sie erfährt, was es bedeutet, Heimat zu verlieren und neue Heimat zu finden – nicht nur durch die Migrationserfahrung, auch durch die Entfremdung von der Familie und von der Welt der Kindheit. Mit der Zeit jedoch lernt sie umzugehen mit den Schmerzen, die einem das Leben zufügt. Denn da ist das Licht, das immer noch brennt, nämlich im eigenen Herzen.

Wir haben mit Selim Özdogan über Zerrissenheit, Identität und über Sprache gesprochen. Kann ein Buch die öffentliche Wahrnehmung einer Bevölkerungsgruppe beeinflussen? Kann ein Roman die Art und Weise verändern, wie wir über Themen wie Heimat sprechen? Oder sind Geschichten in erster Linie Geschichten und sollten nicht für politische Erklärungen vereinnahmt werden?

Sehen Sie selbst – ein aufschlussreiches Interview zu einem lesenswerten Buch:

„Es gibt zwei große Fehler, die man in seinem Leben machen kann: Der erste ist, die Heimat zu verlassen, der zweite ist zurückzukehren.“


Yılmaz spricht in „Wo noch Licht brennt“ ein universelles Dilemma an, das den allermeisten bekannt sein dürfte, die ihr Zuhause zurückließen und in der Ferne von der alten Heimat träumen. Es ist kein einfaches Verhältnis, das man zu seinem „Vaterland“ und zur „neuen Heimat“ unterhält, oder?

Das ist eine Aussage, die erstmal gut klingt, aber in dem Roman ja ein paar Sätze später wieder gebrochen wird, weil Yılmaz selbst merkt, dass er da romantisiert.

Da ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, weiß ich nicht aus eigener Erfahrung, wie sich dieses Spannungsfeld von alter und neuer Heimat anfühlt, aber ich glaube, die Sehnsucht nach Geborgenheit und Zugehörigkeit ist eine menschliche Konstante, die sich mal mehr und mal weniger bemerkbar macht, abhängig von den eigenen Veranlagungen und der eigenen Biographie.

Reichen die ständig wiederkehrenden Schlagworte wie Integration, Inklusion oder das vielzitierte „Zwischen-den-Kulturen-Sein“, um die komplexen Gefühle zu beschreiben, die auch die Figuren in deinem Roman umtreiben?

Ich empfinde Wo noch Licht brennt nicht als einen Roman, der sich mit kulturellen Unterschieden und den daraus resultierenden Problemen und Möglichkeiten beschäftigt, sondern als ein Buch, das einfach nur versucht, möglichst nah bei seiner Hauptfigur zu bleiben.

Brauchen wir eine neue Sprache, neue Narrative, um das zu beschreiben, begreifbar zu machen?

Ich glaube nicht, dass es eine neue Sprache braucht. Sprachgebrauch hat sich im Laufe der Jahrzehnte geändert. Aus Gastarbeitern sind Ausländer geworden, aus Ausländern Migranten, aus Migranten Menschen mit Migrationshintergrund. Wenn wir heute ein Wort wie Parallelgesellschaft benutzen ist klar, dass wir damit nicht die Welt des Literaturbetriebs mit seinen eigenen Gesetzen und Regeln meinen. Mir scheint, man findet schneller eher neutral klingende Wort, als sich das Bewusstsein für bestimmte Dinge ändert.

Das, was wir neuerdings gerne Narrativ nennen, also eine Geschichte, die wir auf die Wirklichkeit legen, um Ursachen und Folgen sichtbar zu machen, bleibt immer das: eine Geschichte. Ich glaube, es würde helfen, wenn diese Geschichte sich verschiebt, weg davon kulturelle Unterschiede zur Abgrenzung heranzuziehen, hin dazu menschliche Gemeinsamkeiten greifbarer zu machen.

Fuat scheint im Roman immer unzufrieden zu sein: In Deutschland stört er sich an der Mentalität seiner Umgebung, in der Türkei sehnt er sich nach deutscher Gründlichkeit:

„Gibt es denn kein Maßband und keinen Zollstock in diesem Land? Kann es sein, dass mir ein erwachsener Mann erzählt, bei einer Treppe könnten halt nicht alle Stufen gleich hoch sein, die letzte würde nie hinkommen? Ich bin von Idioten umgeben, seitdem wir dieses Haus renovieren, bin ich nur von Idioten umgeben“.

Fuat ist ein Mensch, der gerne zetert. Seine Unzufriedenheit betrachte ich nicht als in erster Linie von einem Mangel geprägt, den er empfindet, sondern von dem Wunsch sich selber als klüger, besser, geschickter, gerechter zu sehen.

Kann ein Roman die Probleme, Gedanken, Erlebnisse von Menschen wie Gül oder Fuat von einer anderen Seite beleuchten, als dies in der tagtäglichen medialen Repräsentation geschieht?

Ja, einerseits kann ein Roman schon aufgrund seiner Länge ganz anders arbeiten, genauer, differenzierter darstellen, andererseits darf man sich aber nichts vormachen. In der Regel prägt selbst ein Bestseller das öffentliche Bewusstsein weniger als die allgegenwärtige Medienlandschaft.

Kann uns ein Roman in Zeiten der wachsenden politischen Spannungen zwischen Ankara und Berlin Erklärungen liefern? Vielen Menschen war es zum Beispiel angesichts der Volksabstimmung über Erdoğans Präsidialsystem vollkommen unerklärlich, wie so viele ExiltürkInnen entschieden haben.

Ein großes interkulturelles Missverständnis?

In erster Linie gibt es Verkürzungen und Dekontextualisierungen. So sind es in Deutschland, wenn wir uns die  Zahlen genauer anschauen, etwas mehr als 10% der Türkeistämmigen, die für das Präsidialsystem gestimmt haben, denn die Wahlbeteiligung war eher gering. Diese Menschen sind in den Schlagzeilen und werden als „die Türken in Deutschland“ betitelt. Als Zahl wird 60% genannt. Was stimmt, es geht um 60% der abgegebenen Stimmen, aber das ist halt nicht respräsentativ für „den Türken”. Man kann diese Wahlentscheidung nicht nachvollziehbar finden und problematisch, aber darum geht es in der Berichterstattung meistens nicht. Es haben auch Menschen in Frankreich und in den USA in den letzten Monaten so gewählt, dass man das problematisch finden kann. Und auch dort wird nach Antworten gesucht, aber ich habe das Gefühl, dass es nicht darum geht, diese Menschen wirklich zu verstehen, sondern darum klug klingende Theorien zum Warum zu haben.

Der Roman scheint mir nicht der richtige Ort, um diese Art von Fragen und Problematiken zu behandeln, aber wenn jemand etwas anderes behauptet, würde ich auch nicht widersprechen. Literatur lebt von Vielfalt.

„Medien bilden den Teil der Realität ab, der Leser/Klickzahlen bringt. Menschen wie Gül gehören nicht dazu.”

Bei der Lektüre von Wo noch Licht brennt wird einem vor Augen geführt, dass die kopftuchtragenden türkischen Mütterchen, die uns tagtäglich in den Öffis über den Weg laufen, die wir im Supermarkt, im Kindergarten oder im Park treffen, selbstverständlich handelnde, selbstbestimmte Menschen mit Überzeugungen sind, die über ihr Schicksal verfügen, die Entscheidungen treffen, die erzählenswerte, spannende Sachen erleben usw.

Warum treten Frauen wie Gül, die uns in unserem Alltag ständig begegnen, so selten in unserer medialen Wahrnehmung in Erscheinung?

Sie fallen nicht negativ auf. Sie bringen niemanden um, sie hinterziehen keine Steuern, sie prollen nicht herum, sie werden nicht geschlagen, sie wählen möglicherweise nicht mal Erdoğan. Medien bilden den Teil der Realität ab, der Leser/Klickzahlen bringt. Menschen wie Gül gehören nicht dazu.

Sprachen eröffnen neue Welten, hinter Sprachen verbergen sich Denksysteme mit jeweils ganz eigenen Selbstverständlichkeiten, eigenen Regeln. Kann eine Sprache auch Heimat bedeuten?

Ja, Sprache kann auf jeden Fall auch Heimat sein. Die Figur Suzan verbringt in dem Buch die meiste Zeit ihres Lebens in Italien ohne die Türkei zu vermissen. Doch dann sehnt sie sich im hohen Alter zurück nach der Sprache.

Deine Kinder wachsen mehrsprachig auf, oder? Was bedeutet das in Hinblick auf das Thema „Heimat“?

Ich bin zweisprachig aufgewachsen und habe das immer als Gewinn empfunden. Ein Gewinn, den ich versuche an meine Kinder weiterzugeben, indem ich konsequent türkisch mit ihnen spreche, obwohl sie in einer fast ausschließlich deutschsprachigen Umgebung aufwachsen. Ich weiß nicht, ob und wie meine Kinder den Heimatbegriff eines Tages für sich selbst füllen werden. Heimat sind für mich Menschen, Literatur und Musik. Aber das ist nur etwas, was ich für mich gefunden habe, und nicht etwas, das ich bewusst meinen Kindern vermitteln möchte. Sprache aber schon.

Ein türkisches Sprichwort besagt: „Eine Sprache, ein Mensch. Zwei Sprachen, zwei Menschen.” – („Bir lisan, bir insan. Iki lisan, iki insan.”). Inwiefern trifft das auch auf dich zu?

Es ist ein Sprichwort das zu leicht im Themenfeld von Zerissenheit gedeutet werden kann, zusammen mit den kulturellen Differenzen, dem Zwischen-Seiten-Stehen usw.

Eine Sprache ist eine Perspektive auf die Welt, und je mehr Perspektiven man einnehmen kann, desto größer wird das eigene Verständnis. Aber die Fähigkeit, Perspektiven zu verstehen, ist nicht allein auf Sprachkenntnisse beschränkt.

Gibt es Dinge, die man etwa in türkischer Sprache treffender ausdrücken kann als auf Deutsch?

Ich glaube, man kann sich in jeder Sprache etwa gleich gut bestimmten Dingen annähern. Mal schneller, mal langsamer. Ich empfinde Türkisch als die emotional präzisere Sprache. Es gibt drei verschiedene Worte für Herz, abhängig davon, ob wir das Organ meinen, ob wir eher einen Gemütszustand meinen oder eine emotionale Bewegung Richtung Angst oder Mut. Das heißt aber nicht, dass man diese Dinge auf Deutsch nicht ausdrücken kann, man braucht aber halt mehr als ein Wort, man muss einen Kontext schaffen oder man muss den Kontext nehmen, der schon vorgefertigt ist. Bei „mir ist ganz schwer ums Herz“ meint man etwas anderes als bei „sich ein Herz nehmen“. Im Türkischen würde man zwei verschiedene Worte gebrauchen. Einerseits sind die Wörter genauer, andererseits geht es eben auch ohne diese Unterscheidung.

Was dennoch verloren geht ist eine Art von Haltung dem Leben gegenüber, die zu dieser Unterscheidung geführt hat. Das kann aber  Sprache nicht allein transportieren, dafür braucht man auch den kulturellen Kontext, der sich wiederum nie ganz von der Sprache trennen lässt.

 

 

Werfen Sie hier einen Blick in Selim Özdogans einfühlsamen Roman über Heimat, kulturelle Identität und das Leben zwischen zwei Welten.

„Özdoğan (…) hat mit diesem Roman ein wichtiges Buch geschrieben, denn es erzählt uns vom Innenleben einer fremden Lebenswelt. Von Heimat und Fremde und Zukunft auch. Ohne Sentiment und ohne Schwafelei. Einfach gelungen!“

Buchkultur, Horst Steinfelt

Fabelhaft, verrückt und ungeschminkt: „Fütter mich” von Cornelia Travnicek – Leseprobe

Literatur geht durch den Magen. Im Erzählband „Fütter mich” von Cornelia Travnicek ist der Titel Programm, es geht ums Fressen und Gefressenwerden – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Travnicek serviert dem Leser elf berührend-skurrile Erzählungen, die der Realität gefährlich nahe kommen. Sie erzählt von Menschen, die getrieben sind vom Hunger nach den essentiellen Dingen des Lebens: Liebe, Anerkennung und Zuneigung.

Das folgende Appetithäppchen stammt aus der Erzählung „Ouroboros“.

Foto: Volkskultur NOE Lackinger

Was der Mensch alles von sich frisst, murmelte er und man konnte ihn dabei nicht richtig verstehen, der Lärm der Straßenbahn, die Leute. Was der Mensch alles von sich frisst, sagte er wieder, wenn er in der Nase bohrt, in seinen Ohren, wenn er sich am Kopf kratzt und dann an den Nägeln kaut, sagte der Mann etwas lauter, und alle taten, als würden sie nicht so genau hinhören, sie saßen ganz still. Wenn der Mensch sich die Hände nicht wäscht nach dem Urinieren, nach dem er sein Geschlecht anfasst, was er da alles von sich frisst, ging es weiter, was an den Fingern hängenbleibt, was für ein Grind sich unter seinen Fingernägeln ansammelt, wie er mit der Nahrung in den Mund geschoben wird, der Grind, was er alles von sich frisst der Mensch, Hautfetzen von seinen Fingern kaut, und so weiter. Autokannibalismus, sagte der Mann, Autokannibalismus, sagte er noch einmal etwas lauter, und niemand brauchte mehr so zu tun, als würde er nicht zuhören, sich selbst auffressen und wieder nachwachsen, fügte er hinzu, wie die Gesellschaft, schrie er hinaus und alle konnten es hören.

Ein Mädchen sah den Mann etwas seltsam an, nicht aus den Augenwinkeln, ganz unverhohlen sah es ihn an, vom wirren Haar bis zu den alten Schuhen, einmal von oben nach unten und wieder zurück sah es ihn an, dann stieg es aus.

Der Mann zog den Schleim in seiner Nase hoch, lauter als der Straßenlärm, Autokannibalismus sagte er ein letztes Mal, diesmal ganz leise, sodass niemand es hörte, sondern nur von seinen trockenen Lippen las und auf einmal sah man alles an ihm, die spröde Lippenhaut, die er mit den Zähnen in den Mund zog, das Fett in seinem glänzenden Gesicht, den Talg, der aus den Poren quoll, die Haare in seiner Nase, den Rand unter den Nägeln, den Grind, den Menschen, den Mensch in seiner ganzen Hässlichkeit. Jedes Jahr dasselbe, sagte der Mensch, der Mann, alle Jahre wieder, schnäuzte er sich, im Herbst fängt es an und hört bis Ostern nicht mehr auf, die Nase läuft, und jedem war, als hätte er ihn dabei angesehen, als er das sagte, und jeder tat wieder so, als hätte er nie zugehört, wendete sich ab.

 

Draußen war noch Nachmittag, außerhalb der Straßenbahn, trotzdem war der Mann bereits am Weg in sein Lieblingslokal, er hatte nicht viel zu tun, er würde einen Tee trinken, wegen der Nase, einen Tee mit Rum, wegen der inneren Wärme. Wenn ihn jemand fragte, wie es ihm ging, dann sagte er immer, dass seine Nase so schnell liefe, dass er sie bald nicht mehr einholen würde, aber keiner lachte, dann bestellte er noch einen Tee und diesmal mit mehr Rum, wegen der inneren Wärme.

Er saß in seinem Lokal, denn wenn es nach dem Recht gegangen wäre, wäre es sein Lokal, er hätte es ersessen, in jahrelanger Sitzarbeit, in vielen Nachmittagen und Abenden. Er saß also in seinem Lokal und sah in den Tee, die Nase lief ihm und er zog den Schleim hoch, er war der einzige Gast um diese Uhrzeit zwischen Mittag und Abend, eine Zeit, in der andere Kaffee trinken, aber das hier, das war kein Kaffeehaus, er war alleine. Der Wirt war in die Küche verschwunden, schon länger, das geschah öfters und störte nicht, weil ja keine Gäste da waren, außer ihm, und er konnte sich auch selbst bedienen, wenn er wollte, wenn der Wirt gerade nicht da war. Da schwang die Türe auf und ein weiterer Mann kam herein, etwas jünger als er, etwas größer als er, und er setzte sich an den Tisch neben ihm. Der Mann senkte seine Nase Richtung Teetasse, der andere klopfte auf den Tisch, er rief nach Bedienung und der Wirt kam, der Wirt kam sogar erstaunlich schnell, was den Mann mit der Nase knapp über seiner Teetasse ärgerte, denn zu ihm kam der Wirt nie sofort und schon gar nicht so schnell, und so bestellte er gleich mit, aber diesmal keinen Tee, sondern auch ein Bier bitte, ein kaltes, ja. Scheiß auf die Nase, dachte er bei sich, wie er da so saß, hinüberäugend auf das Glas und den vollen Teller des Jüngeren am Nebentisch, der dort schweigend eine Zeitung ausbreitete, deren Format eher an eine Tischdecke erinnerte. Das Bier war wirklich kalt und die Nase begann wieder zu laufen, also holte er sein altes Taschentuch heraus, eines aus Stoff, blau-weiß kariert, ein richtiges Stofftaschentuch, leicht verkrustet, und da schnäuzte er sich hinein und das Geräusch war lauter als alles im Lokal, sodass der Jüngere aufsah und ihm einen Seitenblick zuwarf, anders als das Mädchen vorher, nur kurz und abschätzend, doch der Mann griff nach diesem Seitenblick wie nach einem Anker und wollte ein Gespräch daran vertäuen.

Im Herbst fängt es an, stellte er laut fest, damit der andere nicht so tun könnte, als hätte er nicht zugehört, und es hört bis Ostern nicht mehr auf, erzählte er weiter. Der Jüngere schien nicht zu reagieren, aber ein angedeutetes Nicken konnte leicht übersehen werden, er fuhr also fort mit seinem Gespräch, seinem Monolog, der ein Dialog werden sollte. Meine Nase läuft so schnell, die läuft mir bald davon, stieß er hervor und tatsächlich kam hinter der Zeitung ein Lachen hervor, die Zeitung senkte sich und der Jüngere kam dahinter hervor, das Unmögliche fand in diesem Moment statt, das Wunder seines Lebens, ein weiteres, so wie damals die eine Frau, die das Bett mit ihm teilen wollte, den Frühstückstisch, sie war schön gewesen, blond und kühl, eine Eisprinzessin, aber alle Wunder finden ihr Ende, also beeilte er sich, dieses am Leben zu halten, suchte verzweifelt nach einem weiteren Satz, aber über den hatte er noch nie nachgedacht, ein weiterer Satz war noch nie erforderlich gewesen, darum hob er nur sein Bierglas zu einer verbrüdernden Geste und der andere tat es ihm gleich.

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