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„Das Akzeptieren der Endlichkeit unseres Lebens gibt uns jeden Tag von Neuem die Chance, unser Leben bewusst und hoffnungsvoll zu gestalten.“ – Ein Gespräch mit der Vorsitzenden der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft Marina Baldauf

Nichts im Leben ist so sicher wie der Tod. – Uns mit dieser Tatsache nicht auseinanderzusetzen, uns vom Altern und von Krankheit möglichst fernzuhalten, darin sind wir Menschen sehr geschickt. Aber was, wenn wir uns nicht mehr davor drücken können? Weil eine*r unserer Liebsten betroffen ist oder gar wir selbst? Die Konfrontation mit unserer Endlichkeit schmerzt. Dennoch kann eine offene Auseinandersetzung lohnend sein – bereichernd, sogar beglückend! Klingt auf den ersten Blick seltsam. Aber der Einblick, den uns Marina Baldauf in ihre Erfahrungswelt im Hospiz gibt, zeigt: Dort, wo der Tod allgegenwärtig ist, offenbart das Leben seine intensivsten und menschlichsten Momente. Nina Gruber hat sich mit der Vorsitzenden der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft über den Alltag im Hospiz, über Abschied und das Schöne im Traurigen unterhalten.

Als Außenstehende haben wir oft keine richtige Vorstellung davon, was ein Hospiz oder eine Hospiz-Betreuung eigentlich genau sind. Welche Idee steckt dahinter?

„Nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben geben.“ – Das ist das Motto der Hospizbewegung. Hospize nannte man im Mittelalter jene Herbergen, die den Pilgern auf ihrer Reise Unterkunft, Rast und Pflege boten. Das hat auch heute noch Gültigkeit. Seit fast 30 Jahren ist die Tiroler Hospiz-Gemeinschaft bemüht, Menschen mit einer fortgeschrittenen Erkrankung sowie deren Angehörige zu begleiten. Auch wenn eine Heilung der Krankheit nicht mehr möglich ist, kann viel getan werden, um die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien zu erhalten und zu verbessern.

Wie läuft eine Betreuung ab? Ist sie immer an einen bestimmen Ort, eine Station oder ein Heim gebunden? Welche Menschen arbeiten mit?

Ein multiprofessionelles Team von diplomierten Pflegekräften, Ärzt*innen, Seelsorger*innen und Sozialarbeiter*innen unterstützt zu Hause, in Heimen, auf unserer Palliativstation und im Tageshospiz schwer kranke Menschen und deren Angehörige. Dazu braucht es viel fachliche Kompetenz und eine menschliche, hospizliche Haltung, um in vielen Gesprächen und im täglichen Ablauf auf die verschiedenen Wünsche und Bedürfnisse eingehen zu können. Um mit Fürsorge und Achtsamkeit Menschen auf ihrer „letzten großen Reise“ beizustehen, sind auch viele ehrenamtliche Hospizteams in ganz Tirol tätig. Sie schenken Zeit und Zuwendung und tragen wesentlich zu einer Hospizkultur bei. In Zeiten der Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen versuchen wir beratend zu helfen. Das erforderliche Fachwissen und viel Information bieten wir über unsere Bildungsakademie an. All unsere Angebote finden sich unter dem Dach unseres Hospiz-Hauses in Hall.

In einem Hospiz kommen die unterschiedlichsten Menschen zusammen, sie eint das Bewusstsein des bevorstehenden Todes. Welche Art des Zusammenlebens findet dort statt? Viele Menschen haben, wenn sie an ein Hospiz denken, das Bild eines traurigen, stummen Ortes vor sich. Ist das wirklich so?

Um die Kraft zu haben, sich jeden Tag auf das Leiden, die Hinfälligkeit und die eigene Endlichkeit des Lebens einzulassen, brauchen unsere Mitarbeiter*innen viel tägliche Kommunikation, Informationsaustausch und gelebte Rituale. Und der Humor kommt bei uns nicht zu kurz. In unserem Hospiz-Cafe, und auch mit unseren Gästen finden oft berührende, fröhliche Gespräche statt über Erlebtes und vergangene Zeiten. Unser Haus ist ein Ort der Lebendigkeit und der Begegnung auch in Zeiten des Abschieds.
Eine Sozialarbeiterin hat uns einmal diese schöne Geschichte erzählt: „Als Frau A. zu uns auf die Hospiz- und Palliativstation kam, war sie in großer Not. Schmerzen plagten sie und beeinträchtigten ihre Lebensqualität. Sie war Zeit ihres Lebens eine Kämpferin gewesen. Sie war eine kluge, faszinierende Persönlichkeit. Charakterstark, aber unaufdringlich nahm sie bei uns ihren Platz ein und stellte sich den neuen Herausforderungen. – Dass sie bald sterben würde, hatte sie schon lange erkannt. Als sie uns von ihrem Garten erzählte, reifte in uns der Plan, ihn zusammen mit Frau A. zu besuchen. An einem strahlend schönen Nachmittag fuhr sie im Kreise ihrer Familie in ihren Wohnort, um ein paar Mitarbeiter*innen der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft in ihrem Garten zu empfangen. Wir bestaunten den Magnolienbaum und die knorrigen Apfelbäume – angestrahlt von Frau A. wurde uns bewusst, wie schön das Leben sein kann. Fasziniert erlebten wir mit, wie sie im Garten, umgeben von ihren Lieben, noch einmal so richtig aufblühte. – Vier Wochen später starb Frau A. Was blieb, ist eine kostbare Erinnerung.“

Der Tod bzw. die Auseinandersetzung damit steht in einem Hospiz an der Tagesordnung. Ganz anders als im Alltag, wo wir uns meist vor einem bewussten Umgang mit dem Tod und dem Sterben drücken. Oft sprechen wir nur darüber, wenn wir beruflich oder persönlich davon betroffen sind. Welche Fragen trauen sich die Menschen – die Patient*innen, aber auch die Angehörigen – erst euch zu stellen?

Ich selbst habe meinen Mann in den letzten Lebensjahren betreut. Vor vier Jahren ist er verstorben. Dank der Erfahrungen, die ich in der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft sammeln durfte, hatten wir den Mut, uns auf den letzten gemeinsamen Lebensabschnitt bewusst einzulassen. Trotzdem war es nicht immer einfach. Kein Tag glich dem anderen und beide wussten wir nicht, wann der letzte große Abschied da sein würde. Wir wussten nur, dass er sich unaufhaltsam näherte. In der Auseinandersetzung mit dem Tod müssen wir lernen, uns gegenseitig immer wieder zuzumuten – gesund, alt, krank oder sterbend. Auf Hinfälligkeit und Kontrollverlust versuchen wir in der Hospiz-Gemeinschaft mit einem Angebot an Schutz und Geborgenheit zu antworten. Dass uneingeschränkte Autonomie am Lebensende schwer möglich ist, lässt sich auch an verschiedenen Fragen erkennen, die immer wieder ganz individuell gestellt werden:
Wer hilft mir bei Schmerzen und Angst?
Wer begleitet mich?
Wer hilft meinen Angehörigen in derartig einschneidenden, angstbesetzten Lebenssituationen?
Wie kann ich meine Würde bewahren?

Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Leben. Inwieweit hat das Engagement deine Sicht auf das Leben verändert? Gibt es vielleicht etwas, dass du uns an Anregung mitgeben möchtest?

Immer wieder braucht es das ganz persönliche Gespräch. Nicht wegzuschauen und eigene Grenzen und Unzulänglichkeiten anzuerkennen, benötigt Selbstreflexion, Einfühlungsvermögen und Menschlichkeit. Mir ist in den letzten Jahren bewusst geworden, dass diese Haltung nicht nur am Lebensende Gültigkeit hat, sondern uns täglich fordert. Eigene Ängste und Nöte, die uns immer wieder begleiten, lassen sich nicht verhindern. Aber das gemeinsame Ringen im Sinne einer gewissenhaften Hospiz- und Palliativbetreuung schweißt zusammen und ermöglicht oft im Leid unvorhersehbare und auch beglückende Lebenssituationen für alle. Das Akzeptieren der Endlichkeit unseres Lebens gibt uns jeden Tag von Neuem die Chance, unser Leben bewusst und hoffnungsvoll zu gestalten, auch in schwierigen Zeiten. Hilfe und Unterstützung anbieten und annehmen schafft Vertrauen und Nähe, auch wenn nicht immer alles möglich ist.

Im Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens kann es nur heißen: Feiere das Leben! Reite diese Welle mit all ihren schönen, traurigen, beglückenden, komplizierten, überraschenden Momenten. Nimm die Menschen um dich herum wahr, die Natur, sei offen für Neues, sei achtsam für deine Gefühle, schreib deine eigene Geschichte und lass dich von anderen inspirieren.

Marina Baldauf war am Aufbau der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft beteiligt, hatte von 2001 bis 2011 den Vorsitz inne. Diese Funktion erfüllt sie seit 2019 wieder ehrenamtlich.

Kitsch, Kommerz, kulturpolitische Waffe: Wem gehört die Tracht?

Man schmückt sich mit ihr auf Volksfesten, Hochzeiten und Empfängen. Patriotische Modelabels haben sie für sich entdeckt. Trachtenvereine pflegen sie in ihren regionalen Ausformungen, die Designer der Haute Couture bringen sie neu interpretiert auf die Laufstege der Welt. Politiker*innen verschiedenster Lager tragen sie, andere verweigern sich ihr. Die einen hassen, die anderen lieben sie: die Tracht. Egal, in welchen Farben und in welchem Kontext sie getragen wird – eines ist sie immer: ein Statement. Aber wofür? Ist sie für dich ein farbenfrohes Zeichen regionaler Tradition und Zugehörigkeit? Oder nationalistische Gesinnungskleidung? Symbol einer „Leitkultur“? Oder doch einfach nur ein schönes Stück Stoff?

Elsbeth Wallnöfer macht sich in „TRACHT MACHT POLITIK” auf die Spur eines heiß umfehdet, wild umstrittenen Kleidungsstücks. Einen Vorgeschmack dazu gibt es in unserer Leseprobe: 

Illustrationen von Marie Vermont geben Einblick in die Geschichte der Tracht

Eben weil Tracht und Dirndl derart diffus ahistorisch überfrachtet sind, weil sie entlang eines kulturellen Wertegesetzes rauf- und runterdekliniert wurden und werden, kommt es neuerdings zu so was wie Urheberrechtsdebatten. Die Exegeten aller Genres bringen sich in Stellung, weil sie die Idee der schöpferischen Urheberschaft des Volkes in diesem Kleidungstück verdichtet sehen. Derlei Absurditäten fanden jüngst Ausdruck in der Auseinandersetzung zwischen einer rumänischen Region und dem Haus Dior in Paris. Gegenstand des Anwurfes war ein besticktes Schaffell-Gilet. Als Dior Anleihe bei einer nordrumänischen Felljacke nahm, war der Aufschrei groß, man sah die kulturelle Identität auf dem Jahrmarkt veräußert. Von Diebstahl an der Kultur anderer war die Rede. Gar eine Initiative wurde gegründet, die sich bemühte, sich als die Hüterin originärer Kultur darzustellen. Die darin gebündelten Kräfte riefen dazu auf, die von Dior angepriesenen Stücke wären bei den Frauen in Rumänien günstiger zu bekommen und darüber hinaus noch in einer besseren Qualität und überhaupt hätte das Haus Dior nicht einen Cent an die Frauen gespendet. Nun, vielleicht mag es stimmen, dass die Qualität der bestickten Schaffelljacke bei den Rumäninnen besser ist. Dennoch könnte sie auch schlechter sein. Zudem muss man wissen, dass sich bis zum Zeitpunkt dieser Erregung kein Mensch auch nur annähernd für derlei Exotismen außerhalb dieser Gebiete interessierte. Die zusätzliche Schwierigkeit, welcher Kultur in welchem Gebiet Dior nun Geld löhnen sollte, ist ohnehin nicht zu klären, denn die Entlehnung berührt die nordrumänische und bukowinische (heute Ukraine) Kultur gleichermaßen.

Eine Urheberrechtsdebatte erübrigt sich aufgrund historischer Bedingungen, denn folgten die Identitätsprediger ihren eigenen Spuren, würden sie entdecken, dass so genannte Volkskunst keinem personal gestalteten Kollektiv entspringt, ein alleiniger kollektiv geformter Urheber unmöglich ausfindig gemacht werden kann. Dem Prinzip der Mode entsprechend versuchte auch hier ein Mensch oder mehrere, aus den zur Verfügung stehenden Rohstoffen (was man halt so hatte) sich zu behübschen. Begehrlichkeiten führten dazu, dass sich die Nachbarinnen untereinander kopierten. Tracht, Dirndl u. ä. fielen, wären sie identitätsstiftender Bestandteil eines Kollektivs, bei Verletzung desselben unter das Völkerrecht. Was dies verhieße, mag man sich gar nicht ausmalen.

Die bisherige Maßregelung der Gesinnungsfolkloristen, Volkskunst, Tracht und Dirndl seien Wesensmerkmale einer in sich verbundenen Gemeinschaft und sollten unverändert an die folgenden Generationen weitergegeben werden, sollte als das deklariert werden, was es ist: eine Erzählung, die von einigen Wenigen in Umlauf gebracht wurde und die ein politisches Ziel verfolgt. Nämlich Kultur und Wesenszüge zum Zwecke eines idealisierten Gestaltungswillens einer Nation ursächlich miteinander zu verbinden.

Nicht selten wird in Zusammenhang mit dem Thema auch die Frage nach dem Geschmack gestellt. Steht ein Dirndl jeder? Darf es sexy sein? Wie viel Dekor verträgt ein Dirndl? Wie kurz darf, wie lang muss es sein? Kann man Nagellack dazu tragen, oder eine Uhr? In welchem Verhältnis und Abstand sollen Schürze und Rock zueinander getragen werden und so weiter und so fort. Darauf gibt es keine abschließend richtige Antwort, denn es ist nur ein Kleidungsstück, das allein der eigenen, individuellen Behübschung dienen sollte. Die Demokratisierung ermöglicht uns, frei zu wählen, wie und was wir tragen möchten. Dass das gute Kleidungsstück als Arme-Leute-Gwand, als bäuerliches Gwand, eine steile Karriere als sommerlich modisches Stück genommen hat, es aber auch bei jenen, die keine Wahl hatten, als antimodisches Stück so schnell wie möglich abgelegt werden wollte, beweist einmal mehr, dass es nichts weniger ist als ein Ergebnis menschlicher Kreativität. Jene, die glauben, Tracht und Dirndl seien der Inbegriff deutschkultureller Tradition und hätten somit normativ unabänderlich gleich zu bleiben, denen sei gesagt, alle Kulturen hatten zu irgendeiner Zeit eine für sie typische Kleidung. Wir wissen inzwischen, dass dies mit den Ressourcen und Rangordnungen zu tun hat, genauso wie mit politischen, modischen Strömungen und dem Begehren einzelner Individuen, die sich zu Experten aufgeschwungen haben. Die Vorstellung dessen, was schön ist, verläuft in etwa im Zyklus der Jahreszeiten, man denke an die Haute-Couture-Schauen und deren Frühjahrskollektionen, Herbstkollektionen usf.

Jenen religiösen Eiferern, die glauben, man sei mit einem von den Verbänden regulierten Dirndl oder einer Tracht stets gut angezogen, sei entgegnet, dass auch nicht jede Figur in eine Leggins passt. Selbst eine Jeans steht nicht allen. Rufen wir uns noch mal den Römer Ovid in Erinnerung, der in der Antike bereits Styling-Tipps gab. Warum sollte das hier behandelte Kleidungsstück eine Ausnahme bilden? Gerade, weil Menschen ihre Kleidung in erster Linie nicht erfunden haben, um patriotische Phantasien zu befriedigen, sondern um erstens gekleidet zu sein, und zweitens um sich zu behübschen, nimmt es nicht wunder, wenn wir Tracht, Dirndl oder Lederhose in allerlei Abbildungsformen begegnen.

Elsbeth Wallnöfer, geboren in Südtirol, ist Volkskundlerin und Philosophin und lebt in Wien. Sie beschäftigt sich seit Jahren mit der Tracht. Unermüdlich kritisiert sie den unreflektierten Umgang mit Althergebrachtem. Foto: Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Die barbiehafte Behübschung der Society-Moderatorinnen im deutschen Fernsehen zur Münchner Wiesnzeit, die Fußballerfrauen im Dirndl, der Besuch von berühmten Sternchen wie der Hotelerbin Paris Hilton sind nichts als gespiegelte Realität gängiger Praxis des Schönheitsputzes im Alltag. Gleiches gilt für die lederhosenbewehrten Männer, die, wie ein österreichischer Verhaltensforscher mal meinte, durchaus einer naturgegebenen Konstante von männlichem Imponiergehabe folgen und dies mit dem Imponiergehabe von Primaten verglich. Vielleicht ist der Mensch nichts als ein Aff’ in Trachten-, Dirndl-, und Lederhosenkleidung.
Damit erübrigte sich beinahe, die andere Seite der soziologischen Trachtenwirklichkeit zu erwähnen, den ausgeprägten Distinktionskapitalismus, der in der Tracht steckt und sich bei lokalpatriotischen Bällen geballt zeigt. Im kollektiven Rausch wird ein Lob auf die Tradition ausgerufen, Märsche werden gespielt und selbst bei inoffiziellen Hymnen wird (speziell bei den Tirolern) aufgestanden, mitgesungen, die Hand aufs Herz gelegt und am Ende salutiert.

Frauen in einfachem Ballkleid, die selten genug vorkommen, oder junge Frauen in Dirndln vom Discounter werden auf Trachtenbällen schief angesehen und schmallippig begrüßt. Es kommt schon vor, dass sie von den Ballfotografen, die beim Einlass stehen und sich wie Experten gerieren, erst gar nicht abgelichtet werden. Die Ballsaison birgt die Chance zur rituellen kollektiven Selbstzelebration. Sie dient, auch wenn es einige nicht wahrhaben wollen oder verharmlosen, der Selbstaufrichtung einer ganz bestimmten kollektiven Identität. So gut wie nie findet man im Landhausstil gekleidete Menschen auf solchen Bällen. Werner Kogler, seit 2020 grüner Vizekanzler und Steirer, wurde dafür kritisiert, dass er bei der Angelobung keine Krawatte trug, auch war er nicht dafür bekannt, Trachtenjanker zu tragen. Das hat man ihm schnell abgewöhnt. Der auf die Ballsaison fallende Regierungsbeginn ließ ihn recht schnell in einem grün-grau-steirischen Trachtenfrack auf dem Steirerball erscheinen, zusammen mit Umweltministerin Leonore Gewessler, die sich in einem von einem Salzburger Trachtendesigner moderat zitierten Outfit zeigte und das auf Erzherzog Johann (1782–1859), einen Habsburger, der seiner Liebe zum Landleben bis hin zu einer morganatischen Verbindung mit einem Landmädchen nachging, verwies.
Die politische Vergangenheit des Trachtenjankers hatte die politische Gegenwart eingeholt.

Und du? Hast du jetzt Lust bekommen, Omas Dirndl aus dem Keller zu holen? Oder doch eher, deines in den Altkleidersack zu packen? So oder so: Dieses Buch wird dich fesseln! Elsbeth Wallnöfer erzählt von Menschen, Moden und Mythen und legt frei, was vom Dirndl übrigbleibt, wenn Landromantik, politisches Korsett und die hartnäckigsten Irrtümer abgetragen sind. Ein hervorragend recherchierter, ebenso pointierter wie leidenschaftlicher Text – und ein beherzter Aufruf, sich das Dirndl zurückzuerobern! Mit zahlreichen farbigen Illustrationen und einem kunstvoll gestalteten Plakat. Hier geht es zum Buch!

„Mein Bauch gehört mir!“ – Ist das so? Selbstbestimmung auf dem Prüfstand.

Im Leben eines jeden Menschen werden Kinderwunsch (oder eben keiner) und Schwangerschaft irgendwann einmal Thema. Ob als hypothetische Frage an sich selbst bei einem verspäteten Eintreten der Regelblutung, als Frage zur Familienplanung in einer Partner*innenschaft, als gesellschaftliche Erwartung von außen an uns herangetragen – oder als ganz konkrete Situation: als positiver Schwangerschaftstest. Für einige wird ein positiver Test die Erfüllung eines langgehegten Traumes sein. Für andere hingegen ein großer Schock. Ob als Frau, weiblich gelesene Person oder Partner*in. Jede*r wird für sich abwägen: Wie geht es mir damit? Wie geht es uns damit? Können wir einem (weiteren) Kind ein gutes Leben bieten? Und: Möchten wir das überhaupt, schwanger sein und ein Kind bekommen? Wenn wir uns dagegen entscheiden: Wie lange ist ein Schwangerschaftsabbruch möglich? Wo kann ich ihn vornehmen lassen und wo finde ich Unterstützung? Nina Gruber hat mit Dr.in Bettina Zehetner von der Beratungsstelle Frauen* beraten Frauen* und mit der Klinischen Psychologin und Gesundheitspsychologin Mag.a Petra Schweiger darüber gesprochen, welchen Zugang Frauen zu Schwangerschaftsabbrüchen haben und vor welchen Herausforderungen sie stehen, haben sie sich einmal für einen Abbruch entschieden.

Dr.in Bettina Zehetner ist Philosophin und Lehrbeauftragte an der Universität Wien, wo sie u. a. zu feministischen Themen mit Schwerpunkt auf psychosozialer Beratung lehrt, forscht und publiziert. Seit 2003 ist sie außerdem in der Konzeption und Leitung von Seminaren, Workshops und Trainings für den psychosozialen Beratungsbereich tätig. Sie berät Frauen in Krisensituationen, u. a. in der Beratungsstelle der Wiener Frauenhäuser und bei Frauen* beraten Frauen*. Für ihre Arbeit und ihr Engagement wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem C&A-Inspiring-Women-Award (2017/2018) und dem Preis der Dr.-Maria-Schaumayer-Stiftung (2011). (Foto: Stockhammer)

Liebe Bettina, an euren Verein wenden sich immer wieder Ratsuchende zum Thema Schwangerschaftskonflikt. Oft sind Initiativen wie eure die erste Anlaufstelle außerhalb des Familien- und Freundschaftskreises sowie der Partner*innenschaft der Frauen, wenn Unsicherheit darin besteht, wie mit der Schwangerschaft umgegangen werden soll. Mit welchen Fragen und Sorgen wenden sich die Frauen an euch?

Die Fragen und Sorgen der Ratsuchenden, die sich im Zusammenhang mit dem Thema Schwangerschaftskonflikt an uns wenden, sind vor allem folgende: Entscheidungskonflikt – das Kind bekommen oder einen Abbruch durchführen lassen? Potenzielle Schuldgefühle beim Gedanken an einen Abbruch: die Angst, nicht damit leben zu können, immer daran denken zu müssen, ein Leben beendet zu haben. Sehr religiös sozialisierte Frauen dürfen sich oft gar nicht den Gedanken an diese Option zugestehen. Gleichzeitig Sorgen und Ängste, das Leben mit Kind nicht gut zu bewältigen, ihm kein gutes Leben bieten zu können, keine ausreichenden finanziellen Mittel zu haben. Angst, die eigene Freiheit aufgeben zu müssen, den Berufseinstieg oder die eigene berufliche Laufbahn abbrechen zu müssen, die nächsten Jahre keinen Tag frei zu haben, keine Nacht durchschlafen zu können.
Auch die rechtliche Situation mit dem Kindesvater ist oft ein schmerzhaftes Thema: Manche der potenziellen Väter wollen die Frauen zur Abtreibung überreden oder zwingen. Sie drohen entweder mit völligem Kontaktabbruch und damit, keine Alimente zu zahlen oder das Sorgerecht für das Kind zu erstreiten und der Mutter das Leben schwer zu machen.

Wenn schon vor und während der Schwangerschaft das Kontrollverhalten des Kindesvaters ein Problem ist, wird dieses mit einem Kind noch quälender, oft aufgrund der schlechten finanziellen Situation bzw. Abhängigkeit der Frau oder aufgrund von destruktiven Machtdemonstrationen bezüglich Kontaktrecht nach einer Trennung.
Viele Frauen sind auch schwer enttäuscht über die fehlende Bereitschaft der potenziellen Väter zur partnerschaftlichen Teilung der Sorgearbeit, etwa wenn er das Gespräch darüber völlig verweigert („Das wird sich dann schon ergeben.“) oder deutlich macht, dass er „sicher nicht“ in Karenz gehen, Teilzeit arbeiten oder regelmäßig die Betreuung übernehmen wird, um die Mutter zu entlasten.

Die Frage danach, ob man ein Kind austrägt oder die Schwangerschaft abbricht, ist also in einen größeren Zusammenhang gebettet, der auch die Frage einer gleichberechtigten Partner*innenschaft betrifft. Spiegelt sich dieses Gefühl des Alleingelassen-Seins bei der Schwangerschaft und der Kinderbetreuung auch in der Abwicklung eines Schwangerschaftsabbruchs wieder? Gibt es eine Form der psychologischen Nachbetreuung für Frauen, die in einem Konflikt mit sich standen, aber schlussendlich einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen haben lassen?

Ja, dieses Gefühl des Unterstützt-Werdens bzw. Alleingelassen-Seins spiegelt sich auch im Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch wider. Frauen, die auf die Unterstützung durch ihre*n Partner*in zählen können, fällt die Verarbeitung meiner Erfahrung nach deutlich leichter. Die Entscheidung und die Trauer – auch die Erleichterung – gemeinsam zu tragen, hilft sehr beim guten Verabschieden-Können dieser Lebensmöglichkeit. Umgekehrt kann fehlende Unterstützung die Verarbeitung und den Trauerprozess erschweren. Fehlende gemeinsame Trauerarbeit führt oft zu Trennungen.
Wir bestärken die Ratsuchenden, sich auch nach einem erfolgten Abbruch wieder zu melden, und stehen gerne für die Nachbetreuung, Reflexion, Trauerarbeit und alles, was damit zusammenhängt, zur Verfügung. Ebenso wie für die partner*innenschaftliche Aufteilung der Sorgearbeit, wenn die Frau sich für das Kind entschieden hat – Stichwort mental load.

Liebe Petra, wohl jede Frau hat sich in ihrem Leben – rein hypothetisch oder ganz konkret – mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch schon einmal auseinandergesetzt. Große Fragen tun sich da auf, wie etwa ab wann man das, was da im Bauch wächst, „Leben“ nennt.

Es ist nicht möglich, den Augenblick genau festzulegen, von wo an menschliches Leben beginnt, denn Leben ist ein Prozess. Es beginnt nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern wird von Generation zu Generation weiter gegeben. Jede reife menschliche Ei- bzw. Samenzelle ist „lebendig“ und enthält je die Hälfte der Erbanlagen eines eventuell daraus entstehenden Embryos. Klar definiert ist, dass ein Fötus bzw. Embryo keinen Rechtsstatus als „Person“ hat. Dieser tritt erst nach der Geburt ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgehalten, dass der Ausdruck „jeder Mensch“ den Fötus nicht einschließt. Im gleichen Sinn haben die Verfassungsgerichte in Österreich, Frankreich und Holland entschieden. Insofern ist der heranwachsende Fötus in der Gebärmutter zwar etwas Eigenständiges, gleichzeitig jedoch auch ein Teil des Körpers der Frau und in seiner Entwicklung vollkommen davon abhängig. Der Embryo in der Gebärmutter hat demnach sein eigenes genetisches Entwicklungspotential – jedoch als Teil des Körpers der Frau bestimmt sie über dessen weitere Entwicklung. Der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft ist – aus dieser Perspektive betrachtet – das geplante Beenden einer Entwicklungsmöglichkeit.

Ein Teil des Körpers – eigenständig und doch abhängig. Auf einmal ist man nicht mehr allein in seinem Körper. Gehören Körper – allen voran der Bauch – wirklich noch der Frau alleine? Oder hört diese Selbstbestimmung nach der Befruchtung etwa auf – nicht nur im Hinblick auf das, was da wächst, sondern auch vor dem Gesetz, in den Augen der Gesellschaft?

Mag.a Petra Schweiger ist Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin. Sie ist an der Gynmed Salzburg, einem Ambulatorium für Schwangerschaftsabbruch und Familienplanung tätig. Dort berät sie Frauen, die sich für einen Abbruch entschieden haben. (Foto: Thom Eichinger)

Mit dem Slogan „Mein Bauch gehört mir!“ machten politisch engagierte Frauen in den 70er-Jahren öffentlich, dass niemand anderer über die weibliche Fruchtbarkeit bestimmen kann, als die betroffene Frau selbst. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass das Private immer auch politisch ist und insbesondere Entscheidungen zu Beginn und am Ende des Lebens häufig heftige gesellschaftliche und religiöse Debatten auslösen. Trotz der mittlerweile fast selbstverständlich gewordenen Botschaft des Slogans gilt es, wachsam und politisch aktiv zu bleiben, denn immer wieder bringen konservative Parteien und Bürger*inneninitiativen das Thema Schwangerschaftsabbruch aufs Tapet, mit dem Ziel, die geltenden liberalen rechtlichen Bestimmungen durch Zugangsbeschränkungen zu verschlechtern (z. B. „Zwangsberatungen“, „verpflichtende Bedenkzeit“, „Verbot von Spätabbrüchen“ etc.).
Die Selbstbestimmung der Frau endet nicht nach dem Eintreten einer (ungewollten) Schwangerschaft, aber sie kann unter restriktiven gesellschaftlichen Rahmenbedingungen deutlich eingeschränkt werden.

Deshalb ist es nach wie vor politisch relevant, dass Frauen (und auch Männer!) sich ihrer sexuellen Rechte bewusst sind und diese auch einfordern. Es gilt immer wieder zu verdeutlichen, dass die Selbstbestimmung als ein sexuelles Recht ein Menschenrecht ist – genauso wie das Recht auf sexuelle Gesundheit, sexuelle Freiheit sowie der Schutz vor Diskriminierung, sexueller Gewalt, Zwangsheirat und Genitalverstümmelung. Die International Planned Parenthood Federation (IPPF) verabschiedete eine Charta der Sexuellen und Reproduktiven Rechte. Artikel 9 der Erklärung beschreibt das Recht auf freie Entscheidung für oder gegen die Ehe und für oder gegen die Planung einer Familie sowie das Recht zu entscheiden, ob, wann und wie viele Kinder geboren werden sollen.

Die Themen Schwangerschaft und Kinderkriegen bewegen uns. Zum Thema Schwangerschaft wird viel berichtet, es gibt zahlreiche Beratungsangebote, Kurse, Austauschmöglichkeiten, (medizinische) Versorgungsmöglichkeiten. Anders sieht es aus, wenn es um die Entscheidung geht, die Schwangerschaft zu beenden. Das Thema bewegt, gleichzeitig wird es verschwiegen, kocht nur manchmal hoch. Was macht dieses Tabu mit Betroffenen: mit Frauen, die einen Abbruch vornehmen lassen haben; mit Frauen, die sich dafür entscheiden?

Wir leben im digitalen Zeitalter und ich denke, Abtreibung bzw. der Schwangerschaftsabbruch sind nicht mehr „tabu“. Google gibt uns auf Knopfdruck zu beiden Begriffen fast 5 Millionen Informationen und der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft ist weltweit mit jährlich 73 Millionen Eingriffen eine durchaus häufige gynäkologische Behandlung. In Anbetracht dieser Fakten ist jedoch die Qualität der Informationen näher zu betrachten. Nicht ein vermeintliches „Tabu“ macht die Situation für Frauen schwierig, sondern dass es nach wie vor so viele falsche Informationen und Mythen über den Abbruch gibt und viele dieser Informationen von persönlich nicht Betroffenen und beruflich mit dem Thema Unerfahrenen kommen. Deshalb ist es auch in den Beratungsgesprächen vor einem Abbruch wichtig, allfällige Falschinformationen und Mythen richtig zu stellen und betroffene Frauen darin zu stärken mit ihrer Entscheidung gut zu leben. Wichtig sind also: gute Informationen und eine selbstbestimmte Entscheidung.
Der Wertkonflikt, in dem sich Frauen befinden, die zum Abbruch entschieden sind, ist ein interpersonaler Konflikt zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und den gesellschaftlichen Interessen. Wertschätzung erfahren diejenigen, die sich für die Mutterschaft entscheiden, und Ablehnung diejenigen, die einen Abbruch durchführen lassen. Viele Frauen erleben im Zusammenhang mit ihrer ungewollten Schwangerschaft auch Informationskonflikte (falsche oder ungenügende Informationen zum Abbruch) oder Machtkonflikte (gesetzlich verordnete Pflichtberatungen und Wartefristen), die sie als nicht hilfreich in der Bewältigung der aktuellen Situation erleben.

Vor welchen psychologischen Herausforderungen stehen Frauen, die sich für einen Abbruch entschieden haben?

Für viele Frauen bedeutet ein Abbruch, dass sie ihr bisheriges Leben fortsetzen und ihrer Verantwortung sich selbst, ihren Familien und der Gesellschaft gegenüber weiter gerecht werden können. Die Gefühle nach einem Abbruch schwanken zwischen Schuldgefühlen und Traurigkeit über den Verzicht auf eine Lebensmöglichkeit und Erleichterung. Für viele Frauen wird die Zeit bis zum Termin des Abbruchs wesentlich belastender erlebt, als der Eingriff selbst oder die Zeit danach. Sehr wenige Frauen haben nach einem Schwangerschaftsabbruch anhaltende psychische Probleme, sofern sie vorher gut informiert wurden, die Entscheidung selbstbestimmt getroffen haben, eine wohlwollende, soziale Akzeptanz ihrer Entscheidung in ihrem persönlichen Umfeld vorhanden ist und in einer angenehmen Atmosphäre optimal medizinisch und menschlich betreut wurden.
Dennoch ist ein Schwangerschaftsabbruch nichts, worüber betroffene Frauen gerne sprechen, und wenn, dann meist nur mit wenigen vertrauten Personen. Die Mehrheit der Frauen, die mit ihrer Entscheidung gut lebt, äußert dies nicht in der Öffentlichkeit, und das gibt Raum für vereinzelte dramatische Fallgeschichten und Propaganda religiöser Fanatiker*innen. Ein „Post Abortion Syndrom“ wurde von „Anti-Choice“- Anhänger*innen mit der Absicht konstruiert, dass das psychische Gesundheitsargument Frauen noch stärker verunsichert als das moralische Argument. Es existiert in keinem Diagnosemanual und wirkt dennoch in vielen Köpfen, obwohl die internationale Studienlage bestens belegt, dass es kein nachhaltiges Risiko für die psychische Gesundheit von Frauen in Folge eines freiwilligen Abbruchs einer Schwangerschaft im ersten Trimenon gibt.
Im Wesentlichen hat das vorbestehende psychische Befinden den größten Einfluss darauf, wie sich Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch fühlen. Besondere Aufmerksamkeit brauchen Frauen* mit psychischen Vorerkrankungen, Frauen mit starken Ambivalenzen bei der Entscheidung, Frauen*, die eine ursprünglich gewünschte Schwangerschaft abbrechen, und Frauen, die mit niemandem über ihre Entscheidung sprechen konnten. Als Gesellschaft können wir viel dafür tun, dass es Frauen damit gut geht: die Akzeptanz der Selbstbestimmung ist wesentlich, eine kostengünstige, wohnortnahe medizinische Versorgung in einer angenehmen Atmosphäre stärkt und unterstützt.

„Mein Bauch gehört mir!“ – Die Gespräche mit Dr.in Bettina Zehetner und Mag.a Petra Schweiger haben gezeigt, wie wichtig es ist, dieses Thema immer wieder in den Raum zu stellen. Denn die Frage danach, ob das in der Praxis tatsächlich so ist, steht in einem größeren Kontext: Wer entscheidet über den Körper der Frauen? Wer macht die Gesetze, die ihren Handlungsspielraum bestimmen? Welchen kulturellen, wirtschaftlichen und medizinischen Zugang gibt es zu Verhütungsmitteln? Und welchen Zugang zu medizinischer und psychologischer Beratung und Behandlung haben Frauen?* Es geht auch darum, wie Familien- und Erziehungsarbeit aufgeteilt werden, wie gleichberechtigt wir tatsächlich leben. Und welchen Weg wir als Partner*innen, Familie, Gesellschaft und Staat noch vor uns haben, um Menschen ein tatsächlich selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

* Wie lange ist ein Schwangerschaftsabbruch möglich? Kurz zusammengefasst ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz der Schwangerschaftsabbruch bis zu einer bestimmten Frist straffrei möglich (in der Schweiz bis zur zwölften, in Deutschland bis zur vierzehnten und in Österreich bis zur sechzehnten Schwangerschaftswoche). In Österreich stellt eine vorherige Beratung keine Zwangsmaßnahme dar. Ebenso gibt es keine vorgeschriebene Wartezeit zwischen erster Beratung und Abbruch. Anders als in Deutschland, wo eine Verpflichtung zum Nachweis einer Beratung durch eine zugelassene Stelle herrscht und drei volle Tage zwischen Beratung und Abbruch liegen müssen. Ein strafloser Schwangerschaftsabbruch ist auch in der Schweiz möglich – vorausgesetzt die Frau macht schriftlich geltend, dass sie sich „in einer Notlage“ befindet. Die Betroffenen müssen ein eingehendes Gespräch mit den Ärzt*innen führen, von denen ihnen ein Leitfaden mit einem Verzeichnis von Beratungs- und Hilfsstellen ausgehändigt werden muss. Die geltenden Regeln zu Schwangerschaftsabbrüchen gehen in Österreich auf Kaiserin Maria Theresia zurück, in Deutschland auf Kaiser Wilhelm I. Außerhalb großer Städte ist es für Frauen schwer, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. In Deutschland war es Ärzt*innen, die selbst Abbrüche durchführen, bis vor kurzem verboten, über die Möglichkeit zu informieren – dieses Recht oblag nur Ärzt*innen und Krankenhäusern, die selbst keine Abbrüche durchführen. 2022 wurde die Abschaffung dieses in §219a verankerten Werbeverbot vom Deutschen Bundestag beschlossen. Unter besonderen Umständen besteht für Frauen* auch nach Ablauf der Wochen-Fristen die Möglichkeit eines straffreien Abbruchs.

„Sicher war, dass ich niemals so werden wollte wie die Erwachsenen.“ – Gespräche übers Großwerden

Pubertät ist, wenn die Eltern schwierig werden, diesen Spruch hast du vielleicht auch schon gehört. Doch wenn wir uns zurückerinnern an die Jahre des Erwachsenwerdens, gibt es ganz andere Fragen, die sich in dieser Zeit gestellt haben: Wer will ich eigentlich sein? Welche Spuren will ich auf der Welt hinterlassen? Was ist mein Weg? Drei Leser*innen haben uns erzählt, was für sie besonders große Herausforderungen waren, was geholfen hat – und welche Werte der Eltern sie trotz aller jugendlichen Kämpfe bis heute im Herzen tragen.

Parnia Kavakebi ist zwar in Österreich geboren, verbrachte dann aber ihre ersten vier Lebensjahre dort, wo ihre Familie herstammt: im Iran. Mit vier Jahren floh sie mit ihren Eltern und Geschwistern vor dem Krieg und kehrte zurück nach Österreich. Heute studiert sie Architektur, engagiert sich in feministischen Projekten und genießt nach einem Umzug von Innsbruck nach Wien das Großstadtleben. Foto: privat

Parnia

Würdest du sagen, dass du erwachsen bist? Welche Schritte in deinem Leben waren besonders große in Richtung Selbständigkeit? Und inwiefern haben sie bedeutet, dich von der Familie und ihren Werten zu lösen und dir eigene zu erkämpfen?

Ich würde mich als bedingt erwachsen bezeichnen, denn der jugendliche Idealismus kommt noch ganz schön oft durch. Der größte Teil meiner frühen Selbständigkeit kommt wohl daher, dass ich schon als kleines Schulkind viel alleine zuhause war, da meine Eltern sozusagen rund um die Uhr gearbeitet haben, arbeiten mussten. Außerdem musste ich mich auch schon früh immer wieder gegen rassistische Anfeindungen oder gegen „Andersbehandlung“ von Seiten der Erwachsenen verteidigen. Ich glaube, dass auch das zu einer frühen Selbständigkeit führen kann.

Von manchen Werten in meiner Familie habe ich mich bis heute noch nicht gelöst und trage sie mit mir. Nicht, weil ich mich nicht lösen kann, sondern weil ich mit zwei Kulturen aufgewachsen bin – mein Vater stammt aus dem Iran und meine Mutter aus dem Zillertal. Ich finde es schön, mir aus beiden Kulturen positive „Dinge“ rauszupicken.

Das persische Neujahrsfest findet im März statt, der Frühlingsbeginn ist somit eine spezielle Feierlichkeit für mich – und in meinem Denken ganz verwandt mit dem hiesigen Fasching. Ich liebe die persische Gastfreundschaft ebenso wie die österreichische Satire. Und während ich in Wien das Sudern feiere, mag ich an der persischen Kultur „Taroof“ – eine Form von höflichem Zeremoniell – besonders.

Deine Familie stammt aus dem Iran, denkst du, dass daraus, als du Teenagerin warst, andere Reibungsflächen entstanden sind als mit Eltern, die hier aufgewachsen sind? Wenn ja, welche waren das?

Als Teenagerin war das manchmal schon eine harte Nummer, ich wollte angepasst sein wie nie zuvor oder danach in meinem Leben, auf keinen Fall anders sein. Trotzdem war das „Ausländerinsein“ fast schon ein Alleinstellungsmerkmal, da es in meinem Freundeskreis sonst keine „Migrantenkinder“ gab, und in der gesamten Schule vielleicht vier Kinder mit Migrationshintergrund. Die Reibungsflächen mit meinen Eltern waren nicht mühsamer als die meiner Freund*innen. Das zusätzliche Aufbegehren gegen die Schubladen, in die mich meine Umgebung drücken wollte, war anders. Meine Rebellion fand vor allem dadurch statt, dass ich das Gefühl hatte, ich müsste mich entscheiden zwischen zwei Kulturen. In dieser Zeit habe ich zum Beispiel aufgehört, Farsi zu sprechen, wollte keine persische Jause mehr in die Schule mitnehmen und ging nicht in die Sonne, um nicht braun zu werden. Ich schämte mich dafür, eine „fremde“ Sprache zu sprechen. Ich dachte, ich müsste alles wissen, um möglichst klug und nicht das „dumme Ausländerkind“ zu sein, für das mich erwachsene Österreicher*innen gerne hielten. Struktureller Rassismus von Lehrer*innen hat mir die Schulzeit erschwert und mir das Gefühl vermittelt, ich müsste dreimal mehr für gute Noten arbeiten. Gegen meine Eltern musste ich nicht viel rebellieren, ich musste mich eher sehr anstrengen, mich in der Gesellschaft zu assimilieren um die Eltern meiner Freund*innen nicht zu verärgern, so hat es sich zumindest für mich angefühlt. Auch wenn meine Eltern Ausgehzeiten streng hielten und das Komasaufen nicht so locker nahmen, bleibt mir eher die Ablehnung der anderen Erwachsenen aufgrund meiner Herkunft in Erinnerung.

Gibt es etwas, das dir deine Eltern vermittelt haben, das für dich als Jugendliche besonders wichtig war – und das du auch Jugendlichen von heute wünschen würdest?

Meine Eltern haben mir immer das Gefühl gegeben, ich wäre sehr schlau, und dass sie mir zutrauen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sie haben mir sehr früh verständlich gemacht, was Rassismus ist, und daher konnte ich den Antrieb gewisser Menschen verstehen, ohne an meiner Person zu zweifeln, ohne gebrochen zu werden. So konnte ich stabil wachsen. Solidarität war ein wichtiges Thema für meine Eltern, Mitgefühl, nicht nachtragend zu sein und Geduld. Ich wünsche Jugendlichen mit ähnlichem Herkunftshintergrund, dass sie die Vorzüge mehrerer Kulturen annehmen und genießen können und sich gleichzeitig nicht unterkriegen lassen, ihre Identität bewusst finden und wahren können. Und dass sie trotzdem das Gefühl haben, vollständige, wertvolle Mitglieder der österreichischen Gesellschaft zu sein. Ich glaube immer noch, dass Multikulti funktioniert, und ich wünsche vor allem den jungen Mädchen mit Migrationshintergrund viel Energie und Leidenschaft.

Heinrich

Heinrich Breidenbach war 1971 siebzehn Jahre alt. Seit Beginn seines Berufslebens ist er engagiert und macht den Mund auf: als Sozialarbeiter, Öffentlichkeitsarbeiter, Journalist und Autor, privat ist er liebender Papa und Opa. Besonders wohl fühlt er sich auf dem Wasser – als Skipper auf Segelyachten oder im Kajak. Er ist Mitbegründer von genusspaddeln.at. Foto: privat

Was hat Erwachsenwerden für dich bedeutet? Wann ist es passiert – gibt es rückblickend einschneidende Erlebnisse, etwa Reibungen mit den Eltern, Studienabschluss, erstes eigenes Geld, die du damit verbindest?

Eine sehr unbewusste Sache war dieses „Erwachsenwerden“ bei mir. Mir ist kein Wunsch, keine Absicht oder Plan erinnerlich, erwachsen werden zu wollen. Heute würde ich sagen, Erwachsensein hat mit Stabilität, Souveränität, Großzügigkeit, Denk-, Liebes- und Arbeitsfähigkeit zu tun. Ich kann mich aber nicht erinnern, diesen Begriff als Jugendlicher jemals für mich positiv reflektiert zu haben. Sicher war, dass ich niemals so werden wollte, wie die „Erwachsenen“. Mehr oder weniger bewusst war das ein negativ besetzter Begriff. „Erwachsene“ waren spießig, fad, nervös, reaktionär, von den Schrecken des 20. Jahrhunderts traumatisiert, in konservativen und religiösen Konventionen gefangen und überhaupt nicht sexy. Ich steuerte ein Antiprogramm dazu an.
Reibungen und ernsthafte Konflikte mit den Eltern gab es jede Menge. Kleidung. Haare. Umgang. Freundin. Musik. Politik. Religion. Lebensstil.
Nachträglich finde ich immer noch beglückend, dass dadurch die persönliche Wertschätzung der Eltern und auch meine Liebe zu ihnen nicht grundsätzlich gestört wurden. Die verbindende familiäre Klammer war immer stärker. Das ist schön.

Es kam überhaupt alles anders. Mit 22 eröffnete mir meine damalige Freundin und jetzige Frau, schwanger zu sein. Ich war Student, sie Studentin. Es wird mein familiär geprägtes Über-Ich gewesen sein; jedenfalls war das Gefühl groß, mich der Verantwortung für mein Kind stellen zu müssen, und die Entscheidung daher eindeutig. Trotz aller Ambivalenzen. Das bedeutete auch, einen großen, unerwarteten und ungeplanten Schritt in das „Erwachsenwerden“ tun zu müssen, zumindest in Teile davon.

Was für Regeln waren deinen Eltern besonders wichtig, als du Kind und Jugendlicher warst, die dir beim Erziehen deiner eigenen Kinder vielleicht weniger wichtig waren oder die du und deine Frau für euch neu gestaltet habt? Und wie ist das jetzt als Opa?

Was die äußeren Regeln und Konventionen betrifft, haben wir vieles anders gemacht. Aber die Prägung bleibt. Meine Eltern waren liebevoll, absolut korrekt, immer verlässlich, sorgend und gutmeinend. Sie kannten wenig Neid und wenig Hass. Sie waren freundlich, rücksichtsvoll, hilfsbereit und verantwortlich. Bestimmt war die Substanz meiner Erziehung auch prägend für meine Rolle als Vater. Sicher wollte ich diese Substanz weitergeben, wenn auch in anderen Formen.
Als Opa dominieren andere Gefühle. Die Liebe ist bedingungsloser und weniger fordernd. Man fühlt sich nicht so als Erzieher, der etwas erwartet oder erreichen will. Man fühlt sich mehr als Geber. Den großen Unterschied macht die Wahrnehmung der äußeren Umstände aus. Seit meine Enkelin auf der Welt ist, machen mir diese mehr und auf eine viel persönlichere Art Sorgen. Als junger linker Revolutionär hatte ich eine positive Zukunftssicht. Es wird alles besser. Es kann gar nicht anders. Das ist der Lauf der Geschichte. Ich habe mir um die Zukunft der Welt, in der meine Kinder leben werden, keine wirklichen Sorgen gemacht. Jetzt ist das anders. Jetzt macht mir der Wahnsinn der Welt, die soziale und ökologische Verantwortungslosigkeit der Mehrheiten, persönliche Sorgen. Und zwar direkt mit Blick auf meine bezaubernde Enkelin. Ich bin ängstlicher. Ich bin zorniger. Letzte Woche habe ich einen Porsche, der laut röhrend durch unsere Wohngegend gerast ist, gestoppt und den Fahrer mehrere Minuten lang angeschrien. Nicht gut. Dabei hatte ich meine Enkelin im Kopf. Ansonsten und im direkten Umgang mit Enkelkindern ist man ruhiger, gelassener und einfach glücklich.

Was glaubst du, waren große Herausforderungen für die Heranwachsenden deiner Generation, und was glaubst du, vor welchen stehen Kinder und Jugendliche heute?

Meine Generation in den westlichen Industriestaaten ist mit Wohlstand, Demokratie, Sicherheit und Frieden die privilegierteste Generation, die jemals auf diesem Planeten gelebt hat. Wir hatten nicht mehr die schwierige Aufgabe des „Wiederaufbaus“. Wir leben gut und auch unsere Kinder und Enkelkinder leben meistens gut. Bisher. Wir hätten die Aufgabe gehabt, und haben diese immer noch, unsere Privilegien zu globalisieren, sie sozial und ökologisch nachhaltig für die Zukunft zu sichern. Das wollte und will diese privilegierte Generation mehrheitlich nicht angehen. Die heutigen Kinder und Jugendlichen werden mit diesem Versagen umzugehen haben.

Kerstin

Kerstin verließ als Teenagerin ihre Heimat nahe Berlin, um sich in den Bergen ein eigenes Leben aufzubauen. Heute ist sie in der Kinder- und Jugendhilfe in der Krisenunterbringung tätig und hilft Kindern und angehenden Erwachsenen, ihren Platz in der Welt zu finden. Foto: privat

Du warst sehr jung, als du dich auf eigene Füße gestellt hast. Wie hat sich das damals angefühlt – und bist du froh dich so entschieden zu haben?

Damals war das eine riesengroße Herausforderung und eine große Umstellung, das Schlimmste war anfangs die Sprachbarriere. Die ersten zwei Wochen in Tirol habe ich kein Wort verstanden, in der Mittagspause mit den Kolleg*innen in meinem damaligen Lehrbetrieb in der Gastronomie habe ich einfach mit den anderen mitgelacht, ohne zu wissen, worum es geht. Der viele Schnee hat mich ebenfalls überrascht, und die Umstellung von der Schule auf einen Vollzeit-Lehrberuf war am Anfang für mich ebenfalls nicht einfach.
Rückblickend war es aber die beste Entscheidung meines Lebens. Ich habe dort, in der Nähe von Berlin, keine Zukunftsperspektive für mich gesehen und hatte – auch familiär – nicht das Gefühl, unterstützt zu sein und mich entfalten zu können. Daher war es besser, mich aus diesem Kontext zu lösen und einen Neubeginn zu machen.

Erwachsen werden heißt, eigene Entscheidungen zu treffen – herauszufinden, wer man sein will, wen man liebt, und mit wem man sich umgeben möchte. Hat es in dem Zusammenhang besonders wichtige Momente für dich gegeben?

Ein damaliger Arbeitskollege hat mich in ein Szenelokal mitgenommen, wo mir zum ersten Mal eine Frau begegnet ist, die für mich zum Verlieben war. Ich glaube nicht, dass ich zuhause, in meinem engstirnigen Umfeld, den Mut gefunden hätte, diese Liebe auszuleben. Das Umfeld an meinem neuen Wohnort habe ich mir selbst ausgesucht, entsprechend aufgeschlossen war es auch. Insofern: Ja, das „Abnabeln“ hat bei mir sehr viel dazu beigetragen, dass ich zu mir selbst gefunden habe.

2014 war auch ein wichtiges Jahr für mich: Ich musste aus gesundheitlichen Gründen meinen Beruf in der Gastronomie hinter mir lassen und einen neuen Weg einschlagen: die Schule für Sozialbetreuungsberufe. Sie hat mich in die Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung geführt, in der ich heute tätig bin. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist für mich bereichernd, abwechslungsreich, herausfordernd und ist ein wichtiger Teil meines Lebens.

Die Kinder und Jugendlichen, mit denen du arbeitest, haben schwierige Erfahrungen machen müssen. Wie kannst du sie darin unterstützen, bestmöglich in ein zufriedenes Leben zu starten?

Mir ist besonders wichtig, die Kinder in ihrer Autonomie zu bestärken. Die Unterstützung, die ich zuhause vermisst habe, versuche ich jetzt, den Kindern mit auf den Weg zu geben, und somit aus einer für mich als Kind negativen Situation für die Kinder jetzt etwas Positives zu machen, weil ich mich aus meiner eigenen Erfahrung heraus sehr gut einfühlen kann. Wenn sie zu uns in die Einrichtung kommen, weil sie in ihrer Familie nicht entsprechend betreut werden können, vermissen sie natürlich ihre Eltern und Bezugspersonen. Daher bemühe ich mich, ihr Leben so familiär wie möglich zu gestalten. Und ich bemühe mich, ihnen zu vermitteln, dass sie an ihren Zielen, Wünschen und Träumen festhalten sollen, weil sie sie tatsächlich verwirklichen können. Kinder, die viel Negatives erlebt haben, muss man umso öfter daran erinnern, dass ihnen alle Möglichkeiten offenstehen, der Mensch zu werden, der sie gerne sein möchten. Beispiele, die zeigen, dass das wirklich möglich ist, sehen wir regelmäßig.

Stell dir vor, es ist Krieg – und du warst dort: über Erinnerungen mit zerstörerischer Kraft

In vielen unserer Bücher begibst du dich mit den Protagonist*innen in seelische Ausnahmesituationen – zum Beispiel in einem Kriegsgebiet. Wahrscheinlich hast du – ebenso wie wir – eine Vorstellung davon, wie sich einschneidende Erlebnisse auf die Seele auswirken und dass sie Spuren hinterlassen können, das „Leben danach“ völlig verändern. Doch was genau ist eigentlich ein Trauma? Was macht es mit einem betroffenen Menschen? Stimmt es, dass ein Trauma „erblich“ sein kann?

Oswald Klingler ist Klinischer Psychologe, Gesundheitspsychologe und Psychotherapeut. Er interessiert sich ganz besonders für jene Verwundungen, die durch schlimme Erfahrungen in unserer Seele entstehen können, und dafür, wie man diesen Wunden beim Heilen hilft. Fürs österreichische Bundesheer hat er das Zentrum für Psychotraumatologie und Stressmanagement aufgebaut – und mit uns hat er sich über seine Arbeit unterhalten.

Oswald Klingler hat mit uns über Verwundungen der Seele gesprochen. © privat

Was ist ein Trauma überhaupt? Was passiert bei einer Traumatisierung mit unserer Seele?

Ein Trauma ist eine Verwundung. Manchmal wird auch das Ereignis selbst, das zur Verwundung geführt hat, als Trauma bezeichnet. Anders als bei körperlichen Verwundungen sind solche, die das Seelische betreffen, zumeist nicht so deutlich sichtbar. Doch auch seelische Verwundungen verursachen zunächst einmal Schmerz und oft noch weitere Beeinträchtigungen. Die Erfahrung von Grausamkeit oder drohendem Tod, egal ob bei einem selbst oder bei anderen Menschen, kann ein Trauma sein, aber auch ein Verlust, eine Niederlage oder eine Demütigung. Das Kriterium wäre, dass der Schmerz oder die Beeinträchtigungen länger andauern als das eigentlich auslösende Ereignis. Und wie körperliche Verletzungen können auch seelische rasch und ohne große Folgeschäden verheilen. Gar nicht selten führen sie aber zu anhaltend schmerzhaften Narben oder einer schleichenden Sepsis, welche die Gesundheit des gesamten Organismus bedroht.

Warum ist es so wichtig, dass man sich bei einer Traumatisierung besonders schnell Hilfe sucht? Kann auch eine „seelische Wunde“ besser heilen, wenn man sie entsprechend behandelt?

Im Mittelpunkt steht bei Trauma-Folgeschäden die Schmerzlichkeit der Erinnerung, die man nicht loswerden kann. Es kommt zu einem unerwünschten Wiederauftreten dieser Erinnerungen, zum Beispiel Albträumen oder Flashbacks. Und man möchte die Erinnerungen vermeiden und daher auch nicht darüber sprechen. Und so kann es sein, dass man beginnt, bestimmte Gesprächsinhalte und Kontakte zu vermeiden, vielleicht auch bestimmte Orte oder Situationen. Und man gerät in Angst und Einsamkeit und Flucht oder Abhängigkeiten. Leider nicht so selten führt der Weg dann von der Traumatisierung zur Depression und/oder in eine Sucht, manchmal auch zu Selbstverletzung und Suizidgedanken. Mit einer geeigneten Psychotherapie bestehen aber recht realistische Chancen, eine solche Entwicklung zu verhindern. Vor allem aber ist es schade um jeden Tag, den man dem Leiden unnötig ausgesetzt bleibt.

Worin unterscheidet sich ein Kriegstrauma von einem anderen, was ist besonders daran?

Es gibt kaum objektive Kriterien für die Schwere eines Traumas. Was dem einen eine vernichtende Katastrophe ist, berührt jemand anderen vielleicht viel weniger. Doch ein Krieg stellt eine besonders grausame Realität dar. Viele Soldat*innen und oft auch unschuldige Zivilist*innen werden von einer Hölle zur nächsten getrieben, erleben eigene Entbehrungen, Schmerzen und Verstümmelungen, aber auch das Leiden und den Tod von Kamerad*innen und „Feind*innen“ und anhaltende und wiederkehrende Todesangst. Das nicht nur über Wochen oder Monate, sondern an manchen Kriegsschauplätzen auch über Jahre. Ähnliche anhaltende oder wiederholte Extrembelastungen sind auch von den Überlebenden von Konzentrationslagern, bei anderweitig Inhaftierten, Folteropfern oder Geflüchteten bekannt. Die Folgen werden heute oft als komplexe Posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet und fordern naturgemäß eine sehr intensive Behandlung. Sogenannte Monotraumata, als „einzelne“ traumatische Erlebnisse, können ebenfalls sehr schwerwiegend sein, gelten insgesamt aber als leichter behandelbar.

Wie du sagst, sind ja auch Geflüchtete häufig traumatisiert vom Kriegsgeschehen, vor dem sie geflohen sind. Inwiefern ist die Erfahrung, die man als Zivilist*in macht anders als das, was man als Soldat*in erlebt?

Tatsächlich sind leider auch Geflüchtete sehr häufig Mehrfachtraumatisierungen unterworfen. Und sind daran zumeist völlig schuldlos. Sie können allerdings vielleicht Soldat*innen oder deren Auftraggeber*innen zu den Schuldigen machen, die für ihr Elend verantwortlich sind. Ein Soldat oder eine Soldatin aber muss auch damit fertig werden, an dem Elend, das ihm oder ihr nie ganz verborgen bleiben kann, eine Mitschuld zu tragen. Berechtigte oder unberechtigte Schuldgefühle sind fast immer auch ein Bestandteil von belastenden Traumafolgen.

Wie unterscheiden sich Traumatisierungen der Soldat*innen vor hundert Jahren von denen der Soldat*innen heute – falls sie das überhaupt tun?

Ein österreichischer oder deutscher Soldat, der im Ersten Weltkrieg Panikattacken, Weinkrämpfe oder Zitteranfälle bekommen hat, musste damit rechnen, dass er als Feigling, Simulant oder Psychopath angesehen wird. Die Traumafolgen wurden häufig auch als „hysterisch“ bezeichnet, nach dem damaligen Verständnis für einen männlichen Soldaten eine besondere Demütigung. Die Behandlungen sollten die Geschädigten zurück an die Front zwingen, nach dem Prinzip, dass die Behandlung schlimmer als die Front sein müsse. Die häufige Behandlung mit Elektroschocks führte auch zu Todesfällen und natürlich gab es zahlreiche Suizide. Heute erfahren alle österreichischen Soldat*innen im Rahmen ihrer Ausbildung – zur Selbst- und Kamerad*innenhilfe – dass Traumatisierungen normale Reaktionen auf abnorme Situation und als solche gut behandelbar sind. Dass die im Ersten Weltkrieg so häufigen Symptome der Bewegungsstörungen bei den sogenannten Kriegszitterern heute kaum mehr beobachtbar sind, kann kaum zweifelsfrei erklärt werden. Es hat vielleicht mit den im Ersten Weltkrieg so verbreiteten Stellungskriegen zu tun, in denen jede Bewegung gefährlich war, vielleicht aber auch damit, dass andere Störungen weniger zugegeben oder dokumentiert wurden.

Man hört ja gelegentlich von „erblichen“ Traumata. Tragen wir Spuren von dem in uns, was unsere Großeltern im Zweiten Weltkrieg erlebt haben?

Traumata können sich auf zwei Wegen auf die nachfolgenden Generationen auswirken: zum einen über das Verhalten und zum anderen auf dem Weg der Epigenetik. Eine Vermittlung über das Verhalten des Traumatisierten und dessen Wahrnehmung durch seine Nachkommen könnte man sich zum Beispiel so vorstellen: Ein Vater ist zu keinem Interesse gegenüber seinen Kindern in der Lage und neigt zu unkontrollierten Wutausbrüchen. Oder er berichtet immer wieder in höchst ungeordneter und damit vielleicht unverständlicher Form über seine Erlebnisse. Und Epigene, also Anhängsel an der Ribonukleinsäure, durch welche spezifische Genaktivitäten ein- oder ausgeschaltet werden, können durch Traumata verändert werden und dann eine erhöhte Stressempfindlichkeit an nachfolgende Generationen übertragen. Wichtig zu beachten ist, dass das vermutlich – nach ersten vorliegenden Ergebnissen – durch eine geeignete Psychotherapie auch wieder rückgängig gemacht werden kann.

Und am Ende: Gibt es einen Fall aus deiner Arbeit, der dich besonders betroffen gemacht hat? Wie schützt du dich selbst?

Jeder Fall macht betroffen. Und ein wenig wütend hat mich das Folgende gemacht: Ein nicht mehr ganz junger Unteroffizier der Miliz (als solcher kein Berufssoldat, sondern in einem Zivilberuf und nur für Übungen oder Einsätze beim Bundesheer tätig) hat sich für einen UNO-Einsatz in Syrien gemeldet. Natürlich auch wegen der gebotenen Verdienstmöglichkeiten. Und wie alle Auslandssoldat*innen beim österreichischen Bundesheer wurde er vor dem Einsatz einer umfassenden Eignungsüberprüfung unterzogen, mit einer fast 24-stündigen psychologischen Untersuchung, welche eine uneingeschränkte Einsatzeignung ergeben hat.
Im Einsatzraum fand er sich dann, vorbereitet und ausgerüstet für Beobachtungsaufgaben und verantwortlich für eine Gruppe junger Kameraden, mitten in einem umkämpften Bürgerkriegsgebiet. Er ist mehrmals unter Beschuss geraten und sehr mutig und unter Lebensgefahr für die Erfüllung seines Auftrages und für seine Kameraden eingetreten. Wieder daheim: nächtliches Aufschrecken, quälende Erinnerungen und Albträume über den Einsatz, zunehmende soziale Ängste, Kontaktvermeidung und Depression. Damit war die Arbeitsfähigkeit sehr stark eingeschränkt. Eine Anerkennung seiner Probleme als Einsatzschädigung ist auch vor dem Verwaltungsgerichtshof abgelehnt worden, mit der Begründung, er habe schon vor dem Einsatz Probleme gehabt: Verluste von Angehörigen, eine Pleite, eine Scheidung. Hätte keine Vorschädigung bestanden, dann hätte er auch die Belastungen des Einsatzes besser verkraftet.

Naturgemäß ist es belastend, die in der Behandlung unverzichtbare Auseinandersetzung mit den Traumainhalten zu leisten, mit den Klient*innen in die traumatisierende Situation zurückzukehren. Zu versuchen, seine Gefühle zu dämpfen und zu kontrollieren, scheint nur begrenzt sinnvoll und aussichtsreich. Sehr viel hilfreicher für Betroffene wie für Therapeut*innen ist es, konsequent den Blick immer wieder weg vom Leiden und auf die Möglichkeiten seiner Bewältigung zu lenken.

Danke für das spannende Gespräch, lieber Oswald!

 

Dem Kampf, der im Inneren des Menschen toben kann, spürt auch Tanja Paar in ihrem Roman „Die zitternde Welt” nach. Die Kinder des österreichischen Paares Maria und Wilhelm wachsen an der Wende zum 20. Jahrhundert als Bürger des Osmanischen Reiches auf. Anatolien ist ihr Zuhause, Türkisch ihre Muttersprache – nicht Deutsch. Die alte Heimat der Eltern haben sie nie kennengelernt, sie existiert nur als fahle Erinnerung aus deren Erzählungen. – Bis der Erste Weltkrieg ausbricht. Geburtsort, politische Grenzen und Allianzen gewinnen plötzlich an entscheidender Relevanz: Was bedeutet der Krieg für die beiden Söhne im wehrpflichtigen Alter? Was bedeutet er für Maria, für die ein Leben außerhalb von Anatolien fernab jeglicher Vorstellungskraft liegt?

Lydia Mischkulnig im Leserinnengespräch zu ihrem neuen Roman „Die Richterin“

Du hörst davon in den Medien, kennst vielleicht jemanden, der persönlich davon betroffen ist, oder bist es sogar selbst: In unseren Gerichtssälen wird darüber entschieden, ob Menschen im Land, in dem sie Zuflucht und Schutz suchen, bleiben dürfen – oder ob sie es verlassen müssen. Doch wie kommen diese Urteile zustande? Dieser Frage geht Lydia Mischkulnig mit psychologischem Tiefgang in ihrem neuen Roman „Die Richterin“ nach: Mit ihr tauchen wir in das Leben von Gabrielle ein, einer Asylrichterin – und damit in einen Berufsalltag, der uns sonst verschlossen bleibt.

Lydia Mischkulnig ist eine sprachmächtige Beobachterin. – Foto: Margit Marnul

Im Gespräch mit ihrer Leserin Heidi erzählt die Autorin von der Recherche für den Roman, von langen Stunden im Gerichtssaal, von ihren Gesprächen mit Betroffenen, von Afghanistan und blinden Flecken.

Mich würde sehr interessieren, wie Sie für diesen Roman recherchiert haben.

Das Thema Asyl, Flucht und Exil begleitet mich literarisch schon seit der Lektüre von Primo Levis „Ist das ein Mensch?“ und von Jean Amérys „Jenseits von Schuld und Sühne“, dann seit den frühen Neunzigerjahren und seit Ceauşescus Hinrichtung, als nach dem Regimewechsel rumänische Kinder zu Gast in der Schule waren, die meine Mutter damals führte. Dann folgten schon die Sezessionskriege in Jugoslawien und der Völkermord in Ruanda und im Iran, die Irakkriege und der afghanische Krieg, als die UdSSR eingriff, und schließlich die USA den Angriff auf das World Trade Center und den neoliberalistischen Brutalkapitalismus rächten. Irgendwann war mir klar: Das hört nicht auf – Flucht ist immer. Und nun gibt es auch vermehrt Fluchtgründe wegen des Klimawandels. So geriet ich mehr und mehr in die Thematik und schrieb Portraits, Aufsätze oder sogar Gedichte zur Existenz unter diesen grauenhaften Aussetzungen.
Das ist sozusagen Recherche, die man als LeserIn und StaatsbürgerIn des Alltags betreibt, ohne dass ich es richtig plane. Hinzu kommt dann das Interesse für Recht und die Sprache der Rechtsprechung und die philosophische Frage nach der Gerechtigkeit. Was bedeuten innerer Friede und Friede? Wie hängen die Begriffe zusammen?

Als dann 2015 die Flüchtlinge aus Syrien nach Europa kamen, war mir klar: Ich möchte auch wissen, was es heißt, im Asylwesen mitgestalten zu können. Wer sind all die AkteurInnen? Und schließlich interessierte mich der Gerichtssaal mit seiner interessierten Öffentlichkeit. Und diese Öffentlichkeit war ich selbst, in diese Rolle konnte ich mich begeben. Ich saß viele Monate dort und konnte Gespräche führen, sowohl mit HelferInnen und RechtsberaterInnen als auch mit den RichterInnen, ReferentInnen und Betroffenen.
Ich wechselte meine Perspektiven und irgendwann war mir klar, wie kompliziert die Lage ist und wie menschlich. Jeder Mensch hat das Recht auf ein Bleiben in Sicherheit. Aber was geschieht mit denen, die Sicherheit nicht einmal begreifen, sondern bedrohen? Jeder Fall ist speziell. Das erfuhr ich auf nationaler und internationaler Ebene. Es geht immer um das Individuum – und damit geht es um die Gesellschaft in ihrer Rechtskultur. Und immer ist dies zu diskutieren. Das verstehe ich unter einem demokratischen Prozess: Er ist nie zu Ende.

Wie erging es Ihnen mit juristischen Dokumenten, z. B. mit Ablehnungsbescheiden? Meines Wissens sind die ja sehr umfassend.

Ich habe mich vor allem durch die Länderdokumentationen durchgearbeitet. Bescheide, Erkenntnisse gelesen, Protokolle studiert und vieles, sehr vieles ist öffentlich zugänglich und man findet sogar Material im Internet. Es gibt auch Rechtsliteratur zum Fachlichen, diese habe ich in vielen Gesprächen erörtert und kundige ExpertInnen in Diskussionen befragt. Es war mir total wichtig, zu verstehen, was diese nüchterne, distanzierte Sprache bedeutet. Und das geht nur über das Gespräch und die Einbeziehung von Befindlichkeit und Einstellung zum Thema, zu einem Gesetzestext. Ich habe gelernt, dass Recht gelebt werden muss. Und die Frage ist: Wie? Deshalb kann keine Maschine je eine menschlich-richterliche Instanz ersetzen. Es ist ungeheuerlich, einen negativen Bescheid zu lesen. Es ist auch ungeheuerlich, einen positiven zu lesen. Das Bewusstsein darüber, dass es sich immer um ein menschliches Schicksal handelt, macht einen gewaltigen Druck auf Geist und Psyche.

Inwieweit kennen Sie Kabul selbst?

Ich war nie dort. Ich werde aber eines Tages dort sein. Ich weiß von dieser Stadt seit 1979, seit dem Einmarsch der Sowjets. Und ich kenne die Fotos davon. Unerlässlich sind die anderen Blicke, die ich zum Beispiel von einem der angesagtesten PhilosophInnen und befreundeten Zeitgenossen Fahim Amir einholen durfte. Er stammt aus Kabul und hat dort auch Familie. Auch er hat mir diese kriegsgebeutelte Stadt in vielen Gesprächen näherbringen können. Und ich kenne Leute des Internationalen Roten Kreuzes, die dort vor Ort gelebt haben. Sie berichteten mir von ihren Eindrücken und Kenntnissen. Ich kenne es nur aus Erzählungen, und meine Frage für den Roman war daher: Wie stellen sich eigentlich AsylrichterInnen die Stadt Kabul vor? Sie hören ja dauernd davon. Und wie stelle ich sie mir vor?

Die Beziehung von Gabrielle zu ihrem Bruder hat mich beim Lesen überrascht: Sein Verhalten hat Gabrielles Leben oft nachhaltig negativ beeinflusst. Welche Rolle spielt er für Gabrielle?

Der Bruder ist eine Herausforderung für die Heldin, für ihre Einschätzungsfähigkeit. Ist er so gewesen, wie sie sich an ihn erinnert? Oder färbt sich ihr Bild aufgrund ihrer Ressentiments und gestaltet einen Sündenbock? Nach allem, was mit ihm geschah und durch ihn geschah, fragt sie sich nie, wieso sie ein Manuskript zu seiner Dissertation findet. Es taucht wie nebenbei auf und ist aber doch das Indiz auf eine Lebenslinie, die sie ihrem Bruder nicht im Geringsten zumessen konnte. Was hat es damit auf sich? Sie übersieht ein wesentliches Detail! Diese Frage stellt sich Gabrielle nicht. Man fragt sich für sie: Wieso? Was bedeutet dieses „Übersehen“ für die Einschätzung der Richterin? Welchen Charakter hat sie? Und letztlich stellt sich uns die Frage, was sollen wir von dieser Richterin und unserem eigenen Einschätzungsvermögen halten? Details entgehen immer jeder Beobachtung, niemand ist unfehlbar und verfügt über ein Gesamtbild. Das erscheint mir wichtig: Ambiguitätstoleranz zu fördern.

 

Richterin über das Schicksal: Über den Taumel einer Asylrichterin zwischen Macht und Ohnmacht, über die Tragweite ihrer Entscheidungen und den Weg dort hin erzählt Lydia Mischkulnig in „Die Richterin“. Schonungslos spürt sie die Sprünge auf, die unseren fragilen, vermeintlich klaren Blick auf die Welt durchziehen. Ein feinnerviger und sprachmächtiger Roman mit unterschwelligem Sog. – Hier geht’s zum Buch.

Alt werden ist nichts für Feiglinge! „Leichte Böden“ von David Fuchs (Leseprobe)

Ungeschminkt und liebevoll, absurd und doch so lebensnah fängt David Fuchs in „Leichte Böden“ die Essenz zwischenmenschlicher Beziehungen ein und stellt eine substanzielle Frage unserer Zeit: Wie kann man verantwortungsvoll Hilfe anbieten, ohne Menschen im Alter die Autonomie zu rauben?

Lesen Sie hier rein – eine einzigartige Geschichte erwartet Sie, alltäglich und augenöffnend, zugleich aufrüttelnd und versöhnlich.

David Fuchs, geboren 1981 in Linz, ist Autor, aber auch Arzt. Als Onkologe und Palliativmediziner arbeitet er in Linz, als Autor hat er die Leondinger Akademie für Literatur absolviert. 2018 erschien mit „Bevor wir verschwinden“ sein Debüt-Roman, der mehrfach ausgezeichnet wurde: 2016 mit dem FM4-Wortlaut für einen Auszug, 2018 stand er auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis Debüt und errang den 2. Platz des Bloggerpreises „Das Debüt“. Darüber hinaus erhielt David Fuchs 2018 den Feldkircher Lyrikpreis sowie den Alois Vogel Literaturpreis. 2020 folgte sein neuer Roman „Leichte Böden“.

Ich drehe mich um. Der Polizist ist ausgestiegen, aber ich kann ihn wegen der Scheinwerfer kaum erkennen. Er kommt auf mich zu.

„Huhu“, sagt er mit hoher Stimme. Jetzt wird er auch noch frech. „Huhu“, sage ich. Den Polizisten schüttelt es vor Lachen. „Kobi, du solltest dein Gesicht sehen“, sagt er. Sagt sie. Eine Frauenstimme. Es ist kein Polizist, es ist eine Polizistin, es ist Maria, meine Nintendo-Mary, Maria von früher. Was soll ich jetzt sagen? Ich habe keine Ahnung. „Hallo Mary“, sage ich. Sie lacht noch einmal. „Nicht lustig“, sage ich.
„Das ist eine Verwaltungsübertretung.“
„Das ist eine Frechheit.“
„Eine ziemlich lustige Verwaltungsübertretung. Bist du fertig?“
„Mit was?“
„Vergiss es, steig ein.“
Ich bin noch nie vorne in einem Polizeiauto gesessen. Ich bin überhaupt noch nie in einem Polizeiauto gesessen. „Schnall dich an, sonst kommt die Polizei.“ Maria legt den Gang ein und wir fahren los. Ich mag es nicht, wenn man sich Witze auf meine Kosten erlaubt, aber ich kann nichts sagen, immerhin holt Maria mich vom Bahnhof ab, und es wäre unhöflich, sie anzuschnauzen, auch wenn sie es verdient hätte.
Ich glaube, ich habe Maria zuletzt vor sechzehn Jahren gesehen, bei Opa Kobiceks Begräbnis, da war sie noch in Ausbildung. Und jetzt fährt sie schon alleine nachts herum und erschreckt Pinkler am Bahnhof.

Opa Kobicek war Tante Klaras Bruder. Als ich noch ein Kind war, waren wir oft zu Besuch bei ihr, weil sie ein Haus am Land hatte und nicht so eine kleine Stadtwohnung wie Opa. Ich habe damals fast jedes Wochenende und die Ferien mit Maria verbracht, aber wir haben uns aus den Augen verloren, weil mich als Teenager die viele Besuche bei Tante Klara nicht mehr interessiert haben.

„Entschuldige“, sagt Maria, „ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Holst du deine Freunde immer mit dem Polizeiauto ab?“
„Nur, wenn meine Freunde zu spät ankommen und meine Schicht schon begonnen hat.“
„Entschuldige.“
„Du hättest anrufen können.“
„Habe ich versucht, aber die Nummer war nicht mehr aktuell.“

Sie blinkt und biegt auf die Bundesstraße ab. „Warum besuchst du Klara?“
„Wegen dem Auto. Ich will den Porsche holen.“
„Das ist wirklich dein Porsche in der Garage?“
„Woher weißt du davon?“
„Ich wohne wieder neben Klara, im alten Haus. Aber wie kannst du dir einen Porsche leisten? Was arbeitest du?“
„Ich arbeite gerade nicht.“

Den Porsche habe ich mir gekauft, damals, in der Frankfurter Zeit. Ich habe ihn dann bei Tante Klara eingestellt, weil sie eine Garage hat, die sie nicht benutzt. Ich war seit Jahren nicht dort, weil ich zu viel Stress und keine Lust hatte. Tante Klara hat sich nicht beschwert.

„Wie, du arbeitest gar nicht?“
„Ich habe ein Jahr frei.“
„Aha. Und warum hast du so lange frei?“
„Einfach so, ein Sabbatical.“
„Ein was?“
„Sabbatical. Man bekommt fünf Jahre lang nur achtzig Prozent Gehalt und das fünfte Jahr ist frei.“
„Cool.“
„Na ja.“
„Und was willst du in deinem Sabbatical machen?“
„Erstmal den Porsche holen und dann irgendwo hinfahren.“
„Wohin?“
„Weiß nicht, Frankreich vielleicht oder Italien, aber ich weiß es eigentlich nicht.“
„Und was machst du, wenn du nicht gerade ein Jahr frei hast?“
„Ich bin Biologe.“
„Cool. So richtig, im Labor?“
„Ich unterrichte an einer Schule.“
Sie lacht. „Also Biolehrer?“
„Biologe.“

 

Was passiert mit uns, wenn wir alt werden?
Wie kann man verantwortungsvoll Hilfe anbieten, ohne Menschen im Alter die Autonomie zu rauben?
Wo verläuft der Grat zwischen einfühlsamer Unterstützung und überbordender, geltungssüchtiger Einmischung? 

In David Fuchs’ Roman „Leichte Böden“ werden leichtfüßig substanzielle Fragen unserer Zeit verhandelt, die uns alle im Innersten betreffen. Das Bedürfnis zu unterstützen, Selbstzweifel, die Konfrontation mit körperlichem Verfall: David Fuchs nähert sich einem emotionalen Drahtseilakt mutig ironisch, dabei stets behutsam an. In präziser Sprache und feinen Beobachtungen bringt er uns in absurden Momenten zum Lachen, in tragischen zum Innehalten, und fängt die belebende Magie einer jungen Liebe ein.

Familiengeschichte, die auch Weltgeschichte ist – Wolfgang Paterno im Interview

Lange vor der Geburt seines Enkels Wolfgang wurde Hugo Paterno umgebracht. Der Zollbeamte aus Vorarlberg und strenggläubige Katholik wurde Opfer der im Nationalsozialismus so alltäglichen wie folgenschweren und erbarmungslosen Praxis der Denunziation. In „So ich noch lebe … Meine Annäherung an den Großvater. Eine Geschichte von Mut und Denunziation“ erzählt Wolfgang Paterno vom Schicksal seines Großvaters – und von der Spurensuche in Briefen, Familienfotos, Protokollen und Prozessakten.

Wie ist es ihm dabei ergangen? Wie steht es um die Aufarbeitung ähnlicher Fälle in Wissenschaft und Gesellschaft? Und ist er seinem Großvater durch die Arbeit am Buch nähergekommen? – Zu diesen Themen stand der Autor uns Rede und Antwort.

Das Schicksal Ihres Großvaters ist ein individuelles, gleichzeitig steht es exemplarisch für die Zeit: Die Denunziation war ein Massenphänomen des Nationalsozialismus. Warum?

Der NS-Staat war auf Verleumdung, Verfolgung und Vernichtung aufgebaut. Das niederträchtige Instrument der Denunziation war das entsprechende Hilfsmittel. Zwischen 1938 und 1945 stand auch in Österreich die Verleumdung von Freunden, Vorgesetzten, Nachbarn, Familienmitgliedern und Arbeitskollegen an der Tagesordnung. Im Gegensatz zu anderen Regimen, wie etwa der DDR-Diktatur, war der NS-Staat kaum auf bezahlte Spitzel angewiesen. Insbesondere der Tatbestand der „Wehrkraftzersetzung“ wurde dazu instrumentalisiert, jede kritische Äußerung und jedweden Pessimismus zu kriminalisieren. Menschen wurden zum Tode verurteilt, weil sie beim „Fremdhören“ ausländischer Radiosender ertappt wurden. Die Bregenzerin Karoline Redler wurde verleumdet, weil sie sich einer Arztpraxis gegenüber zwei parteitreuen Patientinnen aus Lustenau vermeintlich abfällig über das Hitler-Regime geäußert hatte. Anfang November 1944 wurde sie in Wien hingerichtet.

Wie steht es um die wissenschaftliche und gesellschaftliche Aufarbeitung dieser Fälle?

Wolfgang Paterno – Enkel von Hugo Paterno und Autor von „So ich noch lebe … Meine Annäherung an den Großvater. Eine Geschichte von Mut und Denunziation“. Wolfgang Paterno ist Redakteur des Nachrichtenmagazins profil, er veröffentlichte zahlreiche Artikel sowie Bücher zu historischen und literarischen Themen.

In Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein tragbarer Wissenschaftszweig zum Phänomen Denunziation entwickelt. In Österreich wird das Thema bis heute nahezu totgeschwiegen – wissenschaftlich und gesellschaftlich. Selbst der schnelle Blick in die historischen Archive des Nachbarlands offenbart umfangreiche Bibliografien zu dem Thema. Die Nachforschung „Denunziert“ der Politikwissenschaftlerin Nina Scholz und des Historikers Herbert Dohmen mit Schwerpunkt auf der Verleumdung jüdischer Personen in Wien ab März 1938 war zum Zeitpunkt ihres Erscheinens 2003 hierzulande eine der ersten Untersuchungen, die sich dezidiert mit der systematischen Verhetzung und Anzeige von Freund und Feind im „angeschlossenen“ Österreich auseinandersetzte. Seitdem ist auf dem Feld mit Ausnahme der Studie „,Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant‘“ (2007) des Grazer Historikers Heimo Halbrainer, für die 1.230 Grazer Denunziationsfälle herangezogen wurden, nicht allzu viel passiert.

Wie hat sich die Recherche zu Leben und Schicksal Ihres Großvaters dargestellt?

Früh konturierte sich folgende Faustregel bei der Recherche: Je weiter die Archive geografisch von Hugos ehemaligem Lebensmittelpunkt entfernt lagen, desto leichter fiel die Nachforschung. In Vorarlberg herrschte anfangs bockige Verweigerung, die Berliner Archive wickelten sämtliche Nachfragen so nüchtern wie empathisch ab. Am Ende waren es zahllose Telefonate, über 500 E-Mails an Bibliotheken und Archive sowie zahlreiche Recherchereisen, die den Weg – und die vielen Umwege – zum Großvater ebneten. Und immer wieder diese kleinen großen Momente: Im Posteingang trifft eine E-Mail vom Deutschen Bundesarchiv ein, die vermeldet, man habe über 100 Seiten Dokumente zum Fall Hugo Paterno gefunden. Luftsprünge jedes Mal

Blieb Ihnen bei all diesem historischen Kontext und dem vom Nationalsozialismus überschatteten Schicksal noch die Kraft, zu Ihrem Großvater durchzudringen – zum Menschen Hugo Paterno?

Am Ende bleibt der wohl beste Beweggrund für die Aufarbeitung von Geschichte. Es war reine Neugier auf ein mir völlig unbekanntes Leben, dem ich letztlich ja mein eigenes Dasein verdanke. Zu einem irgendwie gearteten Fazit fühle ich mich im Fall meines Großvaters nach wie vor außerstande. Hugo bleibt das Familiengespenst, auch wenn es inzwischen weitaus weniger herumspukt.

Wer war Hugo Paterno? Welche Menschen, welche politischen und gesellschaftlichen Mechanismen haben ihn auf dem Gewissen? Wie gehen die Hinterbliebenen mit diesem Schicksal um – die Nachkommen der Opfer, aber auch der Täter? Diesen Fragen widmet sich Wolfgang Paterno in seinem Buch, einer eindrücklichen, zutiefst persönlichen und hervorragend recherchierten Dokumentation eines menschlichen Schicksals in der Maschinerie der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz.

Hier geht’s zum Buch.

„Vielleicht ist das ganze Leben ja auch dazu da, die Sprachlosigkeit zwischen denen, die man liebt, und einem selbst zu überbrücken“ – Andreas Neeser im Interview

In seinem neuen Roman „Wie wir gehen“ erzählt Andreas Neeser davon, was Söhne und Töchter mit ihren Vätern verbindet – und was sie voneinander trennt. Dabei spürt er dem widersprüchlichen Streben nach echter Zugehörigkeit nach. Wie kann man sich näherkommen, ohne einander zu erdrücken, wie unabhängig sein, ohne sich völlig zu distanzieren?

Über familiäre Mechanismen, Generationenkonflikte und die Vielgestalt der Sprachlosigkeit haben wir ihn in unserem Interview befragt.

Es beginnt mit einem Diktiergerät: Mona möchte die Leere überwinden, die zwischen ihr und ihrem 83-jährigen, kranken Vater Johannes zeit ihres Lebens bestand. Kann Sprache die Leere zwischen zwei Menschen überwinden?

Andreas Neeser, geboren 1964, lebt in Suhr bei Aarau. Studium der Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 freier Schriftsteller. Zahlreiche Buchveröffentlichungen im Bereich Lyrik und Prosa. Für seine vielfältigen literarischen Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2012 mit Atelierstipendien im Künstlerhaus Edenkoben und im Schriftstellerhaus Stuttgart sowie 2014 mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia. www.andreasneeser.ch Foto: Ayse Yavas

Ich glaube, dass die Sprache dazu beitragen kann, doch zuerst braucht es den Impetus des Menschen. Der Mensch muss auf den anderen zugehen. Also muss sich zuerst einmal das Herz öffnen, dann kann Sprache solche Distanzen überwinden, durchaus. Aber Sprache allein schafft das im richtigen Leben nicht. In der Literatur schon.

Mit den heutigen technischen Hilfsmitteln ist Kommunikation oberflächlich gesehen allgegenwärtig und schneller denn je. Ist die Sprachlosigkeit dadurch geringer geworden?

Die modernen Medien haben die Sprachlosigkeit verändert. Es ist eine andere Sprachlosigkeit als früher, weil es heute viel mehr Möglichkeiten gibt zu reden. Wenn man es dann nicht tut, ist die Sprachlosigkeit eine andere.

In „Wie wir gehen“ hat die Sprachlosigkeit ja sehr viele Gesichter…

Ja, ich glaube, es gibt eine Form der Sprachlosigkeit, die in gewissem Sinne überdeckt ist von Sprache. Man kann natürlich ganz viel reden – wenn man dann nicht über das Eigentliche spricht, entsteht ja in einem gewissen Sinn Sprachlosigkeit, weil thematisch ausgespart wird, was eigentlich gesagt sein sollte. Und auch das ist eine Form von Sprachlosigkeit, die man allerdings nicht hört.

Man kann sich ja um Kopf und Kragen reden, ohne wirklich etwas zu sagen. Und das passiert auch gewissen Figuren, die in diesem Buch vorkommen. Da wird zwar auch ganz viel geredet, ein Leben lang. Aber da ist dann doch diese Aussparung, diese Lücke, und eben dann letzten Endes die Sprachlosigkeit. Und vielleicht ist das ganze Leben ja auch dazu da, die Sprachlosigkeit zwischen denen, die man liebt und einem selbst zu überbrücken.

Ist die Suche nach Sprache – nach Benennung und Beziehung – eine Allegorie für unser Leben?

Ja! Ich glaube, im Leben geht es immer auch ums Benennen. Und wenn man so weit kommt, dass man etwas benennen kann, dann hat das eine gewisse Relevanz im eigenen Leben, dann gewinnt es an Bedeutung für das eigene Leben – und das seines Gegenübers.

Die Sprachlosigkeit (im wörtlichen Sinn) zwischen Söhnen und Töchtern und ihren Vätern zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Johannes wird in einem beklemmenden Haushalt des Schweigens groß. Seine Tochter Mona und er umarmen sich an seinem 83. Geburtstag zum ersten Mal und finden keinen Draht zueinander. Noelle, Monas Tochter und Johannes Enkelin‘, bricht die Beziehung zu ihrem Vater ab. Ist die Suche nach einer gemeinsamen Sprache, das Überwinden des Schweigens eine Aufgabe, der sich jede Generation neu stellen muss?

Ich glaube, es ist eine Art zur Sprache kommen – das Erwachsenwerden zum Beispiel, überhaupt auch das Zurechtfinden im eigenen Leben ist ein Prozess, den man so bezeichnen könnte: „zur Sprache kommen, zur Sprache finden“. Das alles hat auch ganz viel mit Emanzipation zu tun. Die Erlebnisse bei der Arbeit an meinem Buch haben mir nahegelegt, dass es früher sehr viel schwieriger war. Und auch nicht.

Schwieriger insofern, als früher ganz vieles einfach sehr klar war. Der eigene Weg für einen jungen Menschen war erstmal nicht vorgesehen, es war vielmehr einer vorgegeben – von den Eltern, von der Familie, und insofern war es eben auch kein eigener. Und über die Generationen hat es dann zusehends auch immer mehr Möglichkeiten gegeben für junge Menschen, sich eben doch irgendwo in einer Nische auf den eigenen Weg zu machen.

Für Johannes ist dies in seiner Zeit undenkbar, er wird im Buch als sogenannter Verdingbub eingesetzt. Was sind Verdingkinder?

Unter Verdingkindern versteht man Kinder, die weggegeben wurden von ihren Eltern, die zum Teil auch weggeholt wurden, und zwar einfach weil ihre Familie nicht genug Geld hatte, diese Kinder zu ernähren. Das war der häufigste Grund. Verdingt wurden sie dann insofern, als sie an einem fremden Ort arbeiten mussten. Das waren ganz billige Arbeitskräfte. Kinder, die man missbraucht hat, oft auch physisch. Dies ist ein ganz, ganz trauriges Kapitel.

Speziell in der Schweiz ist man seit einigen Jahren dabei, das aufzuarbeiten. Da gibt es wirklich Unglaubliches, das lange Zeit verdeckt, von der Gesellschaft auch nicht gehört wurde, denn diese Verdingkinder hatten keine Stimme, auch später als Erwachsene nicht. Sie wurden nicht gehört, und das hat sich glücklicherweise jetzt geändert. Das hilft zwar nicht, irgendetwas wiedergutzumachen, das ihnen widerfahren ist. Aber allein eine Stimme zu haben, ist für diese Menschen, die heute alle sehr betagt sind, sehr wichtig.

Steht der Verdingbub – soziologisch gesprochen – auch für eine bestimmte Haltung, für die Perspektive einer Generation ihren Kindern gegenüber?

Ich habe die ganze Geschichte bewusst nicht geografisch verortet, zeitlich weiß man natürlich, wir reden vom 20. Jahrhundert und die Geschichte erstreckt sich ins 21. Jahrhundert. Aber geografisch ist das nicht so genau lokalisiert, um eben zu zeigen: Es sind Mechanismen, die hier am Werk sind, familiäre Mechanismen, die im Grunde genommen nichts mit Geografie zu tun haben. Dieser Prozess „wie wir gehen“ betrifft jeden. Den Weg ins eigene Leben finden, durch das eigene Leben hindurch und letztlich – das betrifft besonders eine der Figuren – wie man dann auch aus dem Leben wieder hinausgeht.

Es geht um Emanzipation, auch und gerade um Emanzipation von den Vätern. Johannes hatte nie eine Chance. Er wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, zu überlegen, ob er denn nicht eine Chance hätte. Seine Tochter Mona hat dann eben doch ihren Weg gefunden. Das war nicht einfach, das geschah auch um den Preis der Beziehung zu ihrem Vater. Der konnte einfach nicht mithalten mit ihren Ambitionen, ihrem Studium. Er konnte sie da nicht mehr begleiten, also hat sie den Weg alleine in Angriff genommen.

Noelle, die Kleinste, stellt sich dann einfach da hin und sagt „mein Vater ist ein Arschloch, der ist tot für mich“. Ohne mit der Wimper zu zucken. Mit so einer Selbstverständlichkeit.

Und wenn man sich vor Augen führt, dass da ja nicht einmal 100 Jahre dazwischenliegen, hat mich das sehr fasziniert, diese Emanzipationsbewegung der Kinder gegenüber ihren Vätern.

Ist das auch eine Emanzipationsbewegung, die mit dem Finden der richtigen Worte einhergeht?

Ja, und die Figuren, die sich immer auch verhaken ineinander, gerade auch über die Sprache, die sich immer wieder zuschütten mit Mitleid, versinken im Selbstmitleid – das ist ja eine ganz traurige Spirale.

Mir war es aber gleichzeitig ganz wichtig, diesen Johannes trotz allem letztendlich auch als ganz witzigen Typen zu zeichnen. Der entpuppt sich ja am Ende als geradezu humorvolle, originelle Gestalt. Um zu zeigen: Das Leben hat ihn nicht von Anfang an vollständig zerstört, er hat sich da irgendwie auch rausgezogen aus diesem Verdingkindersumpf. Das habe ich ihm so gegönnt!

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Eine Suche nach gemeinsamer Sprache, nach einem Mittel, die Leere und das Missverstandensein zu überwinden, eine feinsinnige und poetische Erzählung von Zugehörigkeit, Unabhängigkeit und echter Verbundenheit  – das erwartet Sie in Andreas Neesers berührendem Familienroman. Lesen Sie jetzt rein!

Hier geht’s zum Buch.

Unerschrocken und wach, von leuchtend-punkiger Poesie: Aufzeichnungen aus dem Haus der Unglaublichkeiten (Leseprobe)

In diesem Haus tanzen alle aus der Reihe.
Ein brütend heißer Juli im ostukrainischen Makijiwka – und ein Haus, das es in sich hat: Im Erdgeschoss feiern die durchgeknallte Lebefrau Vira und ihre mit Schrotflinten und Wodka bewaffneten Bodyguards apokalyptische Feten. Ein paar Türen weiter schmieden zwei expansionswütige Business-Profis Pläne, um den Obst- und Gemüsemarkt der Region an sich zu reißen. Zwei Stockwerke höher leben Olga, die sich für eine Nachfahrin des französischen Königshauses hält, und Firman, der sämtliche Lenin-Denkmäler der Stadt zu Fall bringen will. Dann ist da noch der junge Mann aus der berüchtigten Spezialeinheit Berkut, der sich bei einem Einsatz in eine Demonstrantin verliebt. Und was hat es eigentlich mit der Gruselwohnung auf sich, in der es spuken soll?

Leseprobe zu: Märchen aus meinem Luftschutzkeller

Wohnung 14
Gerhard Freis Jugendjahre
Wer Gerhard Frei war, weiß heute niemand mehr. Vor über sechzig Jahren war der Name hier in der Stadt in aller Munde.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches kam Frei wie Tausende andere Deutsche als Kriegsgefangener hierher zu uns und musste auf dem Bau arbeiten. Er war kurz vor Berlin gefangengenommen worden. Erst als er von der Kapitulation erfuhr, streckte er die Waffen, und seit er in Gefangenschaft war, verhielt er sich still und fügsam.
Äußerlich wirkte er nicht älter als fünfunddreißig und sah gut aus, deswegen hatte die Frau, die die Gefangenen registrierte und ihnen die Arbeiten zuteilte, ein besonderes Auge auf ihn. Gerhard Frei saß aufrecht vor ihr und wippte leicht mit dem Stuhl. Ein großer, schlanker Blondschopf. Er lächelte freundlich und schwieg. Nur seine grauen, müden Augen schauten kühl durch die Brille. Die Frau sah ihn an, kurz blieb ihr Blick an dem kindlich blonden Strubbelkopf hängen. Sie musste an Wassyl denken, ihren Mann, der 1941 eingezogen und bei der Befreiung von Kiew als Kanonenfutter geopfert worden war, und seufzte. Ende November hatte man ihr die Gefallenenmeldung überstellt und ihr – pünktlich zum Jahrestag der Oktoberrevolution – zur Einnahme Kiews gratuliert. Für sie war das kein Trost, sie begriff die Symbolkraft und die historische Bedeutung dieser militärischen Operation nicht, vielleicht weil Wassyl wirklich ein Teil von ihr gewesen war, der obere Teil, um genau zu sein. Wassyl hatte sie immer angehalten, Kopf und Herz gleichermaßen zu gebrauchen. Jetzt war Wassyl tot, ein MG-Schütze hatte ihn in den kalten Dnipro befördert, und seitdem fühlte sie sich wie amputiert, als wäre sie nur ein halber Mensch, als fehlte ihr die obere Hälfte. Sie konnte keine Lust mehr empfinden außer auf Essen und auf einen Mann.
„Sag mal, …“ – sie stockte, weil sie den deutschen Namen des Gefangenen nicht so schnell herausbrachte – „Gerhard, warst du vielleicht gerade in Kiew, als unsere Armee die Stadt befreit hat?“ Frei schaute sie noch konzentrierter an. Er konnte kein Ukrainisch, außer „Kiew“ und seinem Namen hatte er nichts verstanden. Er schwieg und überlegte, was sie wohl von ihm wollte. Vorsichtshalber schüttelte er den Kopf. ‚War er also nicht‘, dachte sie und seufzte noch einmal. Dann vertiefte sie sich in seine Papiere. Die nächsten Minuten vergingen unter dem gleichmäßigen Ticken der Wanduhr und dem Rascheln der Seiten. Plötzlich stutzte die Frau. Als sie den seltsamen Vermerk sah, runzelte sie die Stirn, rieb sie. Zog die Augenbrauen hoch. Blätterte ein paar Seiten zurück, las etwas nach, sprang zum Ende der Unterlagen, dann wieder zum Anfang, presste ihre Finger gegen die pulsierenden Schläfen und las alles noch einmal ganz aufmerksam durch. Das Ergebnis missfiel ihr, sie schaute Frei verunsichert an. Der Gefangene saß immer noch aufrecht und wippte leicht mit dem Stuhl, um seinen Mund spielte ein feines Lächeln.

Oleksij Tschupa (Autor)

„Walera!“ – die Frau nahm das Glöckchen, das neben ihr auf dem Tisch stand – „Walera, kannst du mal kurz kommen?“ Im Nebenraum polterten Schritte, einige Sekunden später wurde die Tür aufgerissen, und Walera, der Übersetzer, kam herein. „Was gibt‘s, Genossin Mykytenko?“, ratterte er nur halb korrekt, aber in aufrechter Haltung. „Komm mal her und sieh dir das an“, rief sie und winkte ihn mit einer Hand heran, während sie mit der anderen auf den Stapel Dokumente wies, der vor ihr lag. Walera beugte sich über den Tisch und starrte auf die Stelle, auf die die Frau getippt hatte. Dann durchforstete er, wie Mykytenko eben, den gesamten Ordner und schaute sie verwirrt an: „Völlig verrückt. Sicher ein Irrtum oder ein Witz.“ „Jetzt frag ihn doch, Walera, na, mach schon!“ Walera richtete sich auf, und während er vor dem Stuhl, auf dem der Gefangene saß, auf und ab lief, bediente er sich der deutschen Sprache. Allerdings sprach er Frei nicht direkt an, sondern schleuderte die Wörter und Sätze einfach in den Raum: „Wie heißen Sie?“ „Gerhard Frei.“ „Geburtsort?“ „Köln.“ „Geburtsjahr?“ „1611“, antwortete Frei gelassen und lächelte bissig.

„Bringen Sie da auch nichts durcheinander?“, hakte Walera nach. „1611“, wiederholte der Gefangene laut und deutlich und räkelte sich, dass seine Gelenke knackten.

„Wissen Sie, welches Jahr wir jetzt haben?“ „Ja, natürlich“, sagte der Deutsche und lächelte weiter. Walera drehte sich zu seiner Chefin um und sagte: „Der Deutsche hier behauptet, fast 350 Jahre alt zu sein. Angeblich wurde er Anfang des 17. Jahrhunderts geboren.“ Um seine Worte zu bekräftigen, tippte Walera mit dem Finger auf das Datum, das Genossin Mykytenko stutzig gemacht hatte. „Aber das kann doch nicht sein, das verstehst du doch.“ „Ja.“ Walera drehte sich noch einmal zu Frei um. „Sie wollen also über 300 Jahre alt sein?“ „Ja.“ „Wurden Sie bei Ihrer Gefangennahme nach Ihrem Geburtsdatum gefragt?“ „Ja.“ „Und alle haben das so hingenommen?“ „Ja“, antwortete der Deutsche zum dritten Mal. Walera fragte sich, wie es allen Verantwortlichen in der Armee entgangen sein konnte, dass der Gefangene über 300 Jahre alt sei, und konnte es nicht fassen. „Na gut, vielleicht haben sie das einfach so hingeschrieben, ohne groß nachzudenken“, sagte er unwirsch. „Aber wir müssen der Sache nachgehen.“ „Tun Sie das!“ Frei lächelte überheblich. „Still!“, mischte sich Genossin Mykytenko ein, die dem Gespräch nicht folgen konnte, aus dem Lächeln des Deutschen allerdings schloss, dass er überlegen war. Walera machte eine beschwichtigende Handbewegung, die Frau setzte sich, Frei schwieg. „Wie haben Sie die 300 Jahre denn geschafft?“ „Ganz einfach.“ „Ich kenne niemand anderen, der so alt ist.“ „Ich auch nicht.“ „Und wie haben Sie das bewerkstelligt? Und noch dazu in einer, wenn ich so sagen darf, mehr als ansprechenden Aufmachung?“ Er spielte auf Freis jugendliches Aussehen an. „Sie glauben mir ja sowieso nicht.“ „Erklären Sie es mir, ich gebe mir Mühe.“ Mit einem süßlichen Geheimdienstler-Lächeln ging er auf den Gefangenen zu.

Gerhard Frei schaute ihn an und erzählte seine Geschichte: „Wenn du Deutscher wärst und in Köln leben würdest, könntest du mit dem Namen Frei was anfangen. Wir sind eine Dynastie von Zauberern. Mein Großvater konnte Kunststücke, gegen die eine Lebensverlängerung von dreihundert Jahren ein Klacks ist. Er kam auf den Scheiterhaufen, weil er verdächtigt wurde, mit dem Teufel im Bund zu stehen, was, mit Verlaub gesagt, auch stimmte. Leider bin ich nicht so mächtig, mein Großvater hat es nicht geschafft, mir alles beizubringen, aber fremde Seelen zu holen und den Körper jugendlich zu halten, dafür reicht es gerade noch. Wenn du mir nicht glaubst, können wir uns gern in hundert Jahren noch mal verabreden und das Thema wieder aufgreifen.“ „Na, ganz sicher. Soll das heißen, du bist unsterblich?“ „Na klar, du Trottel. Ich lebe das 336. Jahr, da liegt das doch auf der Hand, oder?“ „Nun gut. Dann treffen wir uns in 100 Jahren wieder.“ Er wandte sich von Frei ab, setzte sich neben seine Chefin, blätterte in den Unterlagen und fragte sie: „Ist der eigentlich mal beim Psychiater gewesen?“ „Ja, hier ist die Bescheinigung.“ Sie zeigte ihm ein Dokument. „Perfekt. Hier steht, er ist gesund.“ „Wieso?“ „Er hat mir gerade erzählt, er sei ein Zauberer und damit unsterblich. Wenn Sie mich fragen – der will sich einfach vor der schweren Arbeit drücken. Also …“ „Also“, griff Genossin Mykytenko seinen Gedanken auf, „geben wir ihm die schwerste Arbeit. Oder?“ „Genau. Wir schicken ihn zum Haus Nummer 166. Dort sind sie gerade beim Fundament und brauchen Leute für ganz verschiedene Arbeiten: Ziegel formen und schleppen, Zement mischen, Erde ausheben, tragen und so weiter. Da hat er einen Platz zum Zaubern.“ Zügig stellte die Frau den Zuweisungsschein aus, setzte einen Stempel drunter, rief zwei Wachleute, und schon fünf Minuten später wurde der gehässig lächelnde Frei zu dem Platz eskortiert, wo sieben Jahre Zwangsarbeit auf ihn warteten. Der Buschfunk trug die Geschichte durch die ganze Stadt, und eine Zeit lang war der Fall in aller Munde, irgendwann ließ das Interesse nach, und die Sache geriet in Vergessenheit. Niemand sprach mehr über den Deutschen. Und wenn es Walera und der Genossin Mykytenko nicht egal gewesen wäre, was aus Frei geworden war, hätten sie, als sie über drei Ecken davon hörten, dass jemand auf einer Baustelle einen Aufruhr angezettelt hatte, um das Dritte Reich hochleben zu lassen, darauf kommen können, dass es nur Frei gewesen sein konnte. An einem Herbstmorgen gab Frei das Zeichen, zu den Waffen zu greifen, aber im Nu hatten ihn die Schüsse mehrerer Wachleute niedergestreckt. Gerhard Frei sackte zusammen, fiel in die Grube, die für das Fundament ausgehoben worden war, eine schlecht fixierte Platte kippte um und zerquetschte ihn. Die anderen Gefangenen hatten es noch nicht einmal geschafft sich zu erheben, um die Wachleute zu überwältigen, da war ihr Anführer schon tot. Die Geschichte wurde allerdings vertuscht. Frei, von der Platte zerquetscht, wurde eine halbe Stunde später mit Erde zugeschüttet, und damit verschwanden auch alle Erinnerungen an ihn im Fundament des Hauses Nummer 166. Heute weiß niemand mehr, wer Gerhard Frei war. (…)

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?
Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Oleksij Tschupa haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Maria Matios, Natalka Sniadanko, Kateryna Babkina, Jurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!

 

 

Trubel, Tumult und Tohuwabohu: ein kühner Roman aus der Ukraine
Exzentrische Hedonisten und Kleinganoven, einsame Existenzen und widerspenstige Underdogs – Oleksij Tschupa versammelt in seinem Roman eine anarchische Hausgemeinschaft, deren Schicksale fesseln und aufwühlen. Mit farbenprächtiger und virtuoser Sprache und feinem Gespür für das Tragikomische und die Absurditäten des menschlichen Daseins schafft der junge ukrainische Schriftsteller eine elektrisierende Atmosphäre, in der alles möglich zu sein scheint. Hier geht’s zum Buch!