Kategorie: Allgemein

„Ihr werdet mich wahrscheinlich hassen für dieses Buch über Liebe“ – ein Interview mit Beatrice Frasl

Kaum etwas wird mehr romantisiert als romantische Liebe … kaum etwas hat diese Romantisierung weniger verdient!

Die Liebe – sie wird seit Jahrhunderten leidenschaftlich in Liedern besungen, in der Literatur wird ihr gelobhudelt, und in Filmen wird sie selbst in ihren toxischsten Ausformungen glorifiziert. Wir haben die romantische Liebe trotz ihrer Volatilität und meist relativ kurzen Dauer zu einem zentralen gesellschaftlichen Organisationsmodell gemacht. Romantische Liebe ist das, was uns pausenlos und von klein auf als unerlässlicher Bestandteil von Lebensglück und Erfüllung ins Hirn gehämmert wird. Dabei ist ihre Realität alles andere als romantisch – und das vor allem für Frauen. Heteroromantische Beziehungen bilden den Rahmen dafür, dass Frauen zwei Drittel der unbezahlten Arbeit übernehmen, weniger verdienen und in Abhängigkeiten rutschen. Unverheiratete Frauen ohne Kinder sind dagegen die glücklichste und gesündeste Bevölkerungsgruppe. Sie haben eine höhere Lebenserwartung als verheiratete, während verheiratete Männer länger leben als unverheiratete. Romantische Beziehungen mit Männern schaden Frauen: gesundheitlich, emotional und wirtschaftlich.

„Ihr werdet mich wahrscheinlich hassen für dieses Buch über Liebe”, sagt die Autorin über ihr neues Buch „Entromantisiert euch!“. Warum wir es trotzdem lesen sollen? Wir haben mit Beatrice Frasl darüber gesprochen.

Liebe Beatrice, wie würdest du selbst dein Buch beschreiben?

„Entromantisiert euch!” ist ein Buch, das sich kritisch mit der romantischen Liebe auseinandersetzt und sich ebenso kritisch ansieht, welche Rolle die romantische Liebe in kapitalistischen, aber vor allem auch in patriarchalen Verhältnissen spielt.

Der Titel deines Buches ist sehr prägnant, eine ganz klare Aufforderung. Warum sollen wir uns alle entromantisieren?

Ich glaube, wir sollten uns alle kritisch mit der eigenen Beziehungspraxis auseinandersetzen und uns vielleicht auch überlegen, inwiefern sie uns schadet. Wir sollten Normen im Bezug auf Liebe hinterfragen und die romantische Liebe als zentralen Ordnungspunkt unseres Lebens vom Thron stoßen. Gleichzeitig sollten wir anderen Formen von Liebe mehr Raum geben und kritisch darüber nachdenken, was uns eigentlich als romantische Liebe verkauft wird. Insbesondere müssen wir auch reflektieren, welche sehr toxischen, schwierigen oder schädlichen Ideen von Liebe uns als romantisch nahegelegt werden, es aber vielleicht gar nicht sind.

Beim Lesen deines Buches wird schnell deutlich: Viele Menschen profitieren nicht von der romantischen Liebe. Wer kann einen Nutzen aus der romantischen Liebe ziehen und warum?

Von der heteroromantischen Liebe profitieren vor allem Männer. Studien belegen, dass Männer, die mit Frauen verheiratet sind, länger leben, glücklicher sind und dass sie auch gesünder sind. Bei Frauen ist es umgekehrt, sie leben circa um ein Jahr kürzer und weniger gesund. Die Lebenserwartung sinkt, wenn sie mit Männern zusammen sind. Sie sind statistisch auch weniger glücklich als Männer, aber auch als Frauen, die keinen Partner haben. Männer profitieren insbesondere von der heteroromantischen Liebe, von der romantischen Liebe an sich profitiert in besonders großem Ausmaß auch der Kapitalismus. Es gibt ganze Wirtschaftszweige, die ohne romantische Liebe nicht funktionieren würden. Damit sind nicht Valentinstagsgeschenke, Candlelight-Dinner oder Wellnessurlaube zu zweit gemeint, sondern auch Dating Apps, Paarcoaches bis hin zu Scheidungsanwält*innen. Auch die Schönheitsindustrie profitiert davon, weil vor allem Frauen von klein auf beigebracht bekommen, dass sie sich auf einen männlichen Blick zurichten müssen und diesen männlichen Blick dann auch sehr internalisieren. Deshalb würde es die Schönheitsindustrie in ihrer derzeitigen Form wahrscheinlich ohne das Ideal der romantischen Liebe und ohne das Romantikprimat nicht geben.

Freund*innen werden oft an zweite Stelle gesetzt, wenn jemand in einer romantischen Paarbeziehung ist, obwohl Freund*innenschaften oft länger halten als eine romantische Paarbeziehung. Warum sind Freund*innenschaften gerade heute so wichtig, warum sollen wir sie pflegen?

Immer mehr Menschen leben als sogenannte Singles, vor allem Frauen. Die Scheidungsrate steigt, die Verheiratungsrate sinkt, die heterosexuelle Paarbeziehung und die Paarbeziehung an und für sich verliert gesellschaftlich immer mehr an Stellung oder Bedeutung. In der nächsten Zeit wird es notwendig sein, dass wir uns über die Bedeutung von Familie jenseits der Paarbeziehung und der Kleinfamilie Gedanken machen. Wir müssen versuchen, neue Formen von Familie und von Liebe zu etablieren und möglicherweise auch rechtlich abzusichern.

Oft wird die romantische Paarbeziehung als ein Heilmittel gegen eine Pandemie der Einsamkeit gesehen. Warum geht diese Gleichung nicht auf?

Die romantische Paarbeziehung ist die Beziehung, an die wir denken, wenn wir das Wort „Beziehung“ hören. Die romantische Beziehung hat alles an unserem Sprechen über Liebe vereinnahmt. Wenn wir über Liebe, über Beziehung, über Partnerschaft sprechen, sprechen wir über die romantische Paarbeziehung. Das ist sozusagen der Inbegriff für eine Beziehung überhaupt und wird ganz oft als Gegenteil der Einsamkeit verstanden: „Alle, die single sind, sind einsam, alle, die in einer Beziehung sind, sind nicht einsam.“ Wenn man allerdings einen Blick auf Studien wirft, sieht man, dass gerade Menschen, die nicht in romantischen Paarbeziehungen sind, eigentlich sozial viel besser eingebunden sind. Sie haben ein sehr enges Netzwerk an tragenden Bindungen, ganz oft sehr enge Freund*innen, und sie sind auch in der Gemeinschaft engagierter, indem sie beispielsweise ehrenamtlich arbeiten. Das bringt also allen etwas! Dieses Klischee, dass es gerade die romantische Paarbeziehung ist, die gegen Einsamkeit hilft, stimmt so nicht. Eigentlich ist es so, dass viele Menschen, die in romantischen Paarbeziehungen sind, von einer ganz besonderen Art der Einsamkeit sprechen, weil die romantische Paarbeziehung oft damit einhergeht, dass Menschen sich in kleine Beziehungsinseln zu zweit vereinzeln. Alles außenherum wird dann oft vergessen, vor allem auch andere Beziehungen und Bindungen. In der Freundschaftsforschung sehen wir, dass pro romantischer Paarbeziehung statistisch sogar zwei enge Freund*innen verloren gehen. Das heißt, dass die romantische Paarbeziehung eigentlich eine Beziehung ist, die uns aus anderen wichtigen Beziehungen herausreißt und uns viel einsamer macht, als wie wir es ohne sie wären. Dieser Sog der Isolation, der uns in diese Beziehungsinsel hineinbringt, der uns hineinvereinzelt mit einer anderen Person, wird von außen und von innen oft als etwas Normales betrachtet, weil wir davon ausgehen, dass die romantische Paarbeziehung die wichtigste aller Beziehungen ist, die es auch verdient hat, dass wir uns nur auf sie konzentrieren. Das kann im schlimmsten Fall auch gefährlich werden, etwa wenn man mit jemanden zusammen ist, der beispielsweise gewalttätig ist.

Die romantische „Liebesheirat“ ist ein gut eingeführter Evergreen unserer Kulturgeschichte. Wie kommst du auf die Idee, ein Konzept zu hinterfragen, das viele wohl als „naturgegebenen“ Lauf der Dinge voraussetzen?

Tatsächlich ist die Liebesehe, wie wir sie heute vielleicht je nach ideologischer Ausrichtung als „naturgegeben“ oder „gottgegeben“ empfinden, ein historisch sehr neues Phänomen, das erst im Laufe des 19. Jahrhunderts dominant wurde. Davor haben Menschen aus anderen Gründen geheiratet: Der Adel hat geheiratet, um Frieden zu sichern oder das Reich zu erweitern, das Bürgertum hat geheiratet, um Besitztümer zu sichern oder zu erweitern. Gundula Windmüller beschreibt das sehr lustig mit „Mein Acker, dein Acker, mehr Acker.“ Die Gründe, weswegen geheiratet wurde, waren sehr pragmatisch und ökonomisch. Sie hatten weniger damit zu tun, dass man die Person, die man heiratete, tatsächlich mehr mochte. Ein weiterer Grund war die Reproduktion, der aber auch nicht unbedingt mit dem Mögen des/der Reproduktionspartner*in verknüpft war. Liebe war nicht im Zentrum der Ehe. Enge, emotionale Bindungen hatte man eher zu anderen Menschen, wie beispielsweise in Freund*innenschaften. Im Laufe des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter der Industrialisierung, wurde diese Idee der Liebesehe sehr dominant. Im Zuge der Industrialisierung gab es eine Trennung von privat und öffentlich. Plötzlich haben sich diese Sphären nicht mehr vermischt. Man hat zum Beispiel nicht mehr zuhause den Acker bearbeitet, während die Kinder nebenan waren, man sie versorgt hat und sie vielleicht auch mitgeholfen haben. Viel eher ging man jetzt außer Haus zu seinem Unternehmen, zur Fabrik, um dort Lohnarbeit zu verrichten. Dinge wie Haushalt oder Kinder mussten zuhause versorgt werden. So entstand eine Trennung zwischen privat und öffentlich, wobei die private Sphäre der unbezahlten und unsichtbaren Arbeit stark weiblich und die öffentliche Sphäre der Lohnarbeit stark männlich konnotiert waren. Im Zuge dieser Trennung wurde die Idee von Liebe auch immer relevanter, denn die Liebe war die Ideologie, die dazu geführt hat, dass Frauen dann diese unbezahlte und unsichtbare Arbeit auch gemacht haben. Durch die fehlende Bezahlung und die Existenz im Unsichtbaren zuhause waren sie in einer untergeordneten Position, einer Form der Unterdrückung. Es brauchte einen guten Grund dafür, warum Frauen das alles machen, obwohl sie nicht dafür bezahlt wurden. Der Grund war dann eben Liebe. Es war nicht nur so, dass diese unbezahlte und unsichtbare Arbeit dann als die „natürliche Aufgabe“ von Frauen angesehen wurde, sondern es wurde plötzlich auch erwartet, dass sie es gern und „aus Liebe“ machen, weil sie natürlich nur dann gute Ehefrauen und Mütter sind. So wurde diese Idee von Liebe, die mit der privaten Sphäre verknüpft war, im Zuge der Industrialisierung ganz besonders wichtig. Die Vorstellung der Liebesehe und auch Liebe als Ideologie sind sehr eng mit dem Anspruch an Frauen verknüpft, gratis als Arbeiterinnen im Privaten zur Verfügung zu stehen.

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Eine provokante Wutschrift aus feministischer Perspektive


In diesem großartigen Essay arbeitet Beatrice Frasl diese Ungerechtigkeiten auf und plädiert für ein Umdenken. Denn: Romantische Liebe ist eine patriarchale Indoktrinationskampagne, deren Narrativ sich seit Jahrhunderten durchsetzt. Wie gut, dass wir sie nicht brauchen. Dass wir selbstbestimmt entscheiden können, was Liebe für uns bedeutet.

Online und überall erhältlich, wo es Bücher gibt.

„Man könnte sagen, ich schreibe meine inneren Bilder ab“ – Interview mit Isabella Feimer

Isabella Feimers Lyrik spiegelt die Bewegung der Zeit wider – manchmal fließend, manchmal staccato –, sie fängt die Schönheit des Vergänglichen ein. Sie wirft Blicke auf Details; die Sprache in ihrer Zartheit und ihrem mitunter Minimalismus rahmt sie: den Wolkenausschnitt, den Zuckerguss, die Wintervögel und die Frühlingsknospen, den Saum des Nachthemds und den Balanceakt zwischen einem Ich und einem Du. Sie verfasst Poesie, die verborgene Gefühle an die Oberfläche trägt und uns die Zerbrechlichkeit und Stärke der menschlichen Existenz spüren lässt. Wir haben uns mit ihr über ihren neuen Lyrikband, den Einfluss der visuellen Künste auf ihr Schreiben und über Reisen unterhalten: 

 

Dein neuer Lyrikband „Versuch einer Verpuppung“ entstand auch inspiriert von mehreren Reisen, unter anderem spielt die abgelegene Insel Achill Island eine große Rolle – was hat dich an diesem abgelegenen Ort besonders berührt oder beeinflusst, und wie spiegelt sich das in deinen Texten wider?

Das Reisen ist der Flow, in dem für mich die meiste und auch intensivste Inspiration zu finden ist; es gibt so wundersame Orte, die ich bereisen durfte, da passiert das Schreiben fast von selbst. Achill Island war einer dieser Orte. Abgeschieden, karg und eine immense Weite innehabend. Weite ist ein guter Nährboden für Poesie; je weiter und einsamer ein Ort, desto aufdringlicher will es aus mir schreiben. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass sich der Blick ändert, wenn er in Karges und aus der Fülle genommen wird. Der Blick fokussiert dann auf das Kleine und Zarte, und manchmal auf ein Nichts, in dem man nicht anders kann, als zu fühlen. Aber auch aus der überfordernden Fülle können meine Texte entstehen, dann, wenn ich mich nach Einsamkeit und Weite sehne.

Als Regisseurin und jemand mit einem starken Bezug zur Fotografie – inwiefern beeinflusst das Visuelle, das Bildhafte, deine lyrische Sprache? Gibt es Bilder oder Filmszenen, die als Auslöser für Gedichte dienen?

Das Visuelle hat für mich im Schreiben eine vorrangige Rolle. Als Erstes gibt es immer dieses innere Bild, eine Art emotionale Fotografie oder eine Art Filmstill, das vor allem anderen da ist, und dieses Bild begleitet mich dann eine Weile, manchmal Sekunden, manchmal Tage trage ich es in meinen Gedanken, bevor daraus dann die Worte entstehen und das Bild formen und transparent machen. Man könnte sagen, ich schreibe meine inneren Bilder ab. Bilder, Filme, Fotografien folgen mir und führen mich durchs Sein – schon immer, und ja, meine Sprache formt sich aus Visuellen, und ja, sie finden sich dann auch in meinen Texten wieder … so ist, zum Beispiel, ein Gedicht dem Bild „Die Riesin“ von Leonora Carrington gewidmet, und Bilder wie dieses oder auch einzelne Filmmomente, wie es einer in dem Film „A Crack in the World“ gewesen ist, bringen dann meine eigenen Geschichten ans Licht.

© Manfred Poor

Isabella Feimer, geboren 1976 in Niederösterreich, studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft und arbeitet seit 1999 als freie Regisseurin und Schriftstellerin in Wien. 2008/2009 Besuch der Leondinger Akademie für Literatur und 2011 Teilnehmerin des Mentoringprojekts des Bmukk. Sie schreibt Prosa, Essays, Lyrik und Theatertexte und veröffentlichte seit 2009 in diversen Literaturzeitschriften und Anthologien. Sie erhielt zahlreiche Stipendien und Preise. Zu ihren Inspirationsquellen zählen ihre Reisen, die sie gepaart mit Wanderlust und Wissensdrang auf alle fünf Kontinente führten, und die intensive Beschäftigung mit Bildender Kunst, Fotografie und Film.

Der Titel deines Bands ist „Versuch einer Verpuppung“ – ein Übergang, eine Transformation. Wie verstehst du diesen Begriff im Kontext deiner Arbeit zwischen Literatur, Film und Bildender Kunst? Ist das Schreiben für dich auch eine Form des Häutens oder Sich-Verwandelns?

Ja, der Prozess des Schreibens ist eine Häutung, ist eine Transformation, der man sich erst dann bewusst ist, wenn ein Text oder ein Band abgeschlossen ist. Für mich ist es so, dass ich das Gefühl habe, mit jedem Buch ein Stück weiterzukommen, mit mir, mit der Welt. Das Häuten geht Hand in Hand mit der Beschäftigung mit der Welt und den inneren – sagen wir mal – Abläufen. Und jetzt – da du fragst – merke ich erst, was in dem Titel steht, nämlich: der Versuch. Der Versuch, sich zurückzuziehen, sich auf das Innere zu besinnen, sich dem Inneren zu stellen und sich in dieser Konfrontation zu verwandeln. Auch glaube ich, dass es immer diesen ersten Schritt nach innen geben muss, um mit der Kunst, die man macht, nach außen gehen zu können.

Der verpuppte Kokon kennzeichnet auch ein Zwischenstadium zweier Erscheinungsformen, er steht symbolisch für einen Übergang und kann auch sinnbildlich für die Dichotomie zwischen Innen und Außen stehen. „Dazwischensein“, die Opposition zwischen Innenwelt und Außensicht, nicht zuletzt auch ein formales Changieren hin zu erzählerischeren Gedichten in den letzten Zyklen – glaubst du, dass dieses Dazwischensein einen gemeinsamen Nenner deiner hier versammelten Lyrik darstellt?

Ich möchte in meiner künstlerischen Arbeit dem Dazwischen so viel Raum wie nur möglich geben. Ich möchte ausprobieren, in den Inhalten und im Formalen. Gerade was Form betrifft, möchte ich mich nicht einschränken. Der freie Vers kann, so glaube ich, auch gern ein bisschen ins Erzählerische gehen – oder weiter ins Fragmentarische oder überhaupt in die Auslassung an sich. Und auch ein Erzählen darf lyrisch sein und voll der Poesie. Vielleicht ist das Dazwischen auch die Chance, die Innenwelt und die Außenansicht einander anzunähern, vielleicht löst sich im Dazwischen der Widerspruch auf und Innen und Außen schieben sich übereinander. Ergeben dieses Andere, dieses Etwas, das in den Zeilen vibriert.

Gibt es eine Frage, die du selbst gerne zu deinem Lyrikband gefragt werden würdest oder die du dir selbst stellst?

Vielleicht würde ich mich fragen wollen, warum es Liebesgedichte in „Versuch einer Verpuppung“ sind … vermutlich würde ich diese Frage aber nicht beantworten wollen.


Lyrik, die die Komplexität von Liebe, Verlust und Sehnsucht auf eindringliche Weise einfängt

Die Seele findet ihre eigene Sprache und erzählt: von inneren Kämpfen, stiller Freude und den ungesagten Worten, die tief in uns verborgen liegen. In drei Zyklen schreibt sich Isabella Feimer durch Orte, Zeiten, endlose Weiten und winzige Feinheiten.

 

 


Haymon Her Story – Wiederentdeckte Literatur von Frauen

Editorial von Verlagsleiterin Katharina Schaller

Vor einigen Jahren – es muss in der Zeit der Pandemie gewesen sein – nahm ich an einer Online-Veranstaltung eines großen deutschen Mediums teil, bei der eine Journalistin und ein Journalist aus dem Feuilleton über Literatur sprachen. Und wie so häufig auch über das Geschlechterverhältnis in den  Programmen der Verlage, das Verhältnis zwischen Autorinnen und Autoren. Der Journalist sagte damals, dass sich das Verhältnis stark verändert hätte, hin zu mehr Frauen in den Programmen, da Frauen ab Ende der 80er-Jahre auch gelernt hätten zu schreiben.

Nach der Teilnahme an der Veranstaltung war ich wütend, vor allem deshalb, weil ich dachte: Das alles wird sich nie ändern. Die Perspektive wird sich nie ändern. Zum Glück habe ich mich geirrt, zumindest teilweise. Ja, Verlage müssen sich gefallen lassen, dass ihre Programme auf Geschlechterverhältnisse gezählt werden (und das ist nur ein Parameter). Das ist gut so. Denn die Aussage, dass dieses Verhältnis nicht beeinflussbar sei oder auf Qualitätskriterien basiere, ist schlicht falsch.

Frauen haben schon immer geschrieben, Frauen waren schon immer Autoren, aber sie wurden in ihrer Arbeit behindert, durften zu oft nur im Hintergrund, für ihre Schriftsteller-Männer, schreiben, wurden häufig nicht gefördert. Wenn es Veröffentlichungen gab, setzte alsbald das Vergessen, das aktive  Verdrängen ein. Haymon Her Story – Wiederentdeckte Literatur von Frauen, die neue Reihe im Haymon Verlag, herausgegeben von der Autorin Bettina Balàka, widmet sich solch vergessen geglaubten  deutschsprachigen Romanen.

Als Literaturverlag, der sich als feministisch begreift, fühlt sich diese Reihe auch nach Ankommen an. Denn
neben den Ansätzen in der Gegenwart, neben den Veränderungen, die wir uns für die Zukunft wünschen, bedeutet eine solche Reihe, dass wir die Geschichte des weiblichen Schreibens ein Stückweit zugänglicher machen dürfen, dass wir erkennen, wie und in welch unterschiedlichen Formen und worüber Frauen  geschrieben haben.

Jeder Roman, der in der Reihe erscheint, wird gerahmt von einem Beitrag Bettina Balàkas zur literarischen Einordnung und einem Beitrag von der Historikerin Katharina Prager zur biografischen Einordnung. Den  Auftakt der Reihe macht Doris Brehm mit „Eine Frau zwischen gestern und morgen“, ein Roman über  Widerstand im Krieg, über die Widerständigkeit von Frauen. Es gäbe keinen besseren, keinen treffenderen Start für diese Reihe.


Zwei Frauen im Widerstand: Wie viel sind sie bereit zu riskieren?

Zwischen bitterem Verrat, unmöglicher Liebe und eiserner Entschlossenheit

  • Der Roman von Doris Brehm aus den 1950er-Jahren erzählt von Widerstand, Menschlichkeit und Mut, von der Emanzipation einer Frau während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit.
  • Eine Buchhandlung in Wien: Versteckt hinter Büchern, die nicht mehr existieren dürfen, rettet Gerda mehr als nur Worte, schafft einen sicheren Ort, grenzt die Zerstörung aus.

 

 


© Bildarchiv der KPÖ

Doris Brehm (1908–1991): Schriftstellerin, Bibliothekarin und Widerstandskämpferin. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete Brehm im kommunistischen Widerstand als „U-Boot-Referentin“, deren Aufgabe es war, geheime Unterkünfte für Jüdinnen und Juden sowie Deserteure zu organisieren. Im April 1945 wurde sie Mitglied der KPÖ, war in der Redaktion der von den drei demokratischen Parteien (ÖVP, SPÖ, KPÖ) herausgegebenen Tageszeitung „Neues Österreich“ tätig und begann ihre Arbeit als Lektorin, Übersetzerin und Autorin. Der Roman „Eine Frau zwischen gestern und morgen“ erschien 1955 und ist von den Erfahrungen Brehms geprägt.

© Christopher Mavrič

Bettina Balàka wurde 1966 in Salzburg geboren und lebt als freie Schriftstellerin in Wien.
Zahlreiche Auszeichnungen und Erscheinungen. Bei Haymon zuletzt
erschienen: der historische Roman „Der Zauberer vom Cobenzl“ (2023),
der Gedichtband „Die glücklichen Kinder der Gegenwart“ und der Essayband „Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen“ (beide 2024).


INTO THE DARK – über die, die nachts wach sind

Mit der Dunkelheit verbinden wir vieles: Angst, Bedrohung und Gefahr, aber auch Geborgenheit, Frieden und Ruhe. Wir assoziieren Dunkelheit mit Nacht, mit Schlaf, mit Sternen. Dunkelheit fasziniert uns und Dunkelheit ist vielfältig, ambivalent.

Aber wie ist es, dann zu arbeiten, wenn es dunkel ist und alles schläft –  zu arbeiten, wenn die Welt pausiert? 

Mit Dunkelheit und der Nachtarbeit setzt sich auch Lisa-Viktoria Niederberger in ihrem neuen Essayband „Dunkelheit“ auseinander: 

„Schicht- und Nachtarbeit, also Arbeit außerhalb der üblichen Tagesarbeitszeit, ist gängig, und zwar überall, insbesondere seit der industriellen Revolution, während der Fabrikarbeiter*innen schon gerne mal im Namen der Produktivität und des Wettbewerbs und unterstützt durch das Kunstlicht 80 bis 100 Stunden Wochenarbeitszeit zugemutet wurden, bis die Arbeiter*innenbewegung dem einen Strich durch die Rechnung machte.
Auch in der Gegenwart ist Nacht- und Schichtarbeit in vielen Bereichen nötig für das Fortbestehen der Gesellschaft, in anderen vielleicht nicht dringend überlebenswichtig, aber kulturstiftend und wichtig für das soziale Gefüge.” (Dunkelheit, 2025. S.163)

 

Wir haben mit verschiedenen Menschen gesprochen, die sowohl in system- als auch sozialrelevanten Bereichen nachts arbeiten oder gearbeitet haben. Eine Paketverteilerin, ein Barkeeper, ein Nachtportier, ein Arzt, eine Pflegefachkraft und eine Sanitäterin erzählen: über Schwierigkeiten und Vorteile der Nachtarbeit und über die Bedeutung von Licht.

Klappe die untenstehenden Blöcke aus, um die detaillierten Antworten lesen zu können.

© Zoe Goldstein

Lisa-Viktoria Niederberger, geboren 1988, lebt als Schriftstellerin und Kulturwissenschaftlerin in Linz. Ihr Schreiben geht oft Zusammenhängen, feinen Verbindungen und feministischen Fragestellungen nach und scheut sich nicht, nach Schönheit auch an den allerdunkelsten Orten zu suchen. Ihre Prosa wurde u. a. mit dem Kunstförderpreis der Stadt Linz, dem Theodor-Körner-Förderpreis und dem Exil-Literaturpreis ausgezeichnet.

Der natürliche Tagesablauf von hell und dunkel steht deinem Tagesablauf gegenüber: Wenn es hell ist, schläfst du, wenn es dunkel ist, musst du produktiv sein und arbeiten. Wie beeinflusst das dich mental und körperlich?

🚑

Sanitäterin: Wenn der Funkmeldeempfänger geklingelt hat, dann hat es eine gewisse Alarmbereitschaft und Fokus in einem ausgelöst. Ganz unabhängig von Tag oder Nacht, konnte man sich somit auf die anstehende Arbeit konzentrieren und auf der Rückfahrt aus dem Krankenhaus konnte der Stress meist auch wieder abfallen, sodass ich selten länger als 15 Minuten gebraucht habe, um wieder einzuschlafen. Ich denke nicht, dass Einsätze in der Nacht mich mental oder körperlich mehr herausgefordert hätten, außer sie fanden direkt draußen in der Dunkelheit statt, dann war sich einen Überblick verschaffen definitiv erschwert, aber andere Probleme fielen auch weg, wie zum Beispiel Schaulustige.

📦

Paketverteilerin: Da es nur eine „halbe“ Nacht war, habe ich versucht, am Tag davor früh ins Bett zu gehen, dann aufzustehen für die Arbeit und die halbe Nacht mit einem Mittagsschlaf oder frühen Zubettgehen am selben Tag auszugleichen. Ich habe aber nach einem Monat bereits gemerkt, dass das nicht so ging, wie ich mir das zuvor vorgestellt hatte. Ich habe oft zwei Tage gebraucht, um wieder in meinen Tagesrhythmus zu finden und das war meistens das Intervall, in dem ich den zweiten Arbeitstag der Woche machen musste.

🩺

Arzt: Mit dem Rhythmus als Arzt hat mich das weniger tangiert. Das heißt, ich war immer im Tag/Nacht-Rhythmus, allerdings oft übermüdet und oft hatte ich auch Schlafstörungen.

🛎️

Nachtportier: Probleme hatte ich eigentlich nur beim Umstellen des Rhythmus. Die Müdigkeit kam erst in der zweiten oder dritten Nacht, insbesondere die erste Nacht war immer wieder aufs Neue getragen von dem Gefühl des bewussten und ein bisschen faszinierten Erlebens der Zeit. Die Nacht kam mir vor wie ein riesiges Zeitreservoir, das ich dann – manchmal hatte ich Zeit dazu – mit Lesen füllte, vielleicht habe ich da auch größere Teile meiner Diplomarbeit geschrieben. Auch wenn es grundsätzlich sogar erlaubt gewesen wäre, mich kurz hinzulegen, wollte ich nichts von dieser gewonnenen Tageszeit abgeben und habe mich ehrlich gesagt auch nie getraut. Einzelne Nächte oder Wochenend-Vertretungen gingen dann allerdings an die Substanz, weil man den mangelnden Schlaf nicht „aufholen“ kann.

👩‍⚕️

Pflegefachkraft: Die zweite Nacht ist für mich die schwerste, da ich nach Nacht 1 häufig nicht gut einschlafen kann. Mein Körper ist dann auch nach 9 Stunden Arbeit noch wach, ich komme nicht zur Ruhe und schlafe dann schlecht. Ich bin dann müde, ich friere stark, und fühle mich, als würde ich krank werden. Ich merke nicht nur die Nachtschicht, sondern vor allem die Schichtwechsel. Ich kann mich nie an einen Rhythmus gewöhnen, wenn ich innerhalb von einer Woche alle drei verschiedenen Schichten gearbeitet habe, ist das Normalität. Nach 4 Tagen Spätdienst, wo man um 02:00 Uhr schlafen geht nur einen Tag später dann um 04:00 aufzustehen ist schwierig. Ebenso zählt die Nacht, aus der man kommt und theoretisch schon 7 Stunden gearbeitet hat, als freier Tag. Der wird bei uns Ausschlaftag genannt. So kann es vorkommen, dass man nur 24 Stunden später, wenn man aus der Nacht kommend morgens um 06:00 Uhr Übergabe an den Frühdienst macht, nur 24 Stunden später selbst als Frühdienst dasitzt. Mit der Zeit gewöhnt man sich an die Nachtarbeit. Schlafmasken, Ohrstöpsel und eine gute Planung sind essenziell. Nach einer Nachtschicht brauche ich Regeln für mich selbst. Gerade im Sommer muss es ordentlich dunkel sein, ansonsten liege ich hellwach im Bett, egal wie anstrengend der Dienst war. Meine Regeln sind: kein Koffein nach 02:00 Uhr, egal wie müde ich bin, nach Möglichkeit keine Aktivitäten vor 12:00 Uhr planen, um wenigstens ein bisschen zu schlafen, nicht mehr ans Handy gehen nach 08:00, egal was gerade los ist.

🍸

Barkeeper: Es ist ganz wild. Teilweise bin ich einfach sehr ausgelaugt und habe selbst in meiner Freizeit kaum Energie für Dinge, die mir eigentlich Freude bereiten. Durch zum Teil chronischen Schlafmangel – da sich ja das Leben eben nicht in der Nacht abspielt – bin ich schon oft gereizt und/oder körperlich einfach nicht in Topform.

Licht und Lichtverschmutzung, insbesondere in der Nacht, sind viel diskutierte Themen. Wie siehst du das, gerade im Kontext deiner Arbeit? Fühlst du dich durch mehr Licht nachts sicherer und beruhigter bei der Arbeit? Oder bringt dir die Dunkelheit auch Vorteile?

🚑

Sanitäterin: Es gab keine Momente, in denen ich mich unwohl gefühlt hätte wegen der Dunkelheit. Das war mit Sicherheit auch dem zu verdanken, dass wir immer als Team unterwegs waren. Die meisten Einsätze erfolgten auch nachts in Wohnungen. Aber im Allgemeinen war der Vorteil sicher, mit weniger Schaulustigen zu tun zu haben.

📦

Paketverteilerin: Wegen eines Mangels an anderen öffentlichen Transportmöglichkeiten bin ich von Innsbruck nach Hall mit dem Auto in die Arbeit gefahren. Hier habe ich mich nicht unsicher gefühlt und es hätte auch keine Beleuchtung direkt gebraucht. Auf dem Firmenparkplatz habe ich mich durchaus wohler gefühlt, weil es beleuchtet war. In der Halle habe ich mich nie unwohl gefühlt und wir brauchten auch das Licht, um die Versandschriften lesen zu können.

🩺

Arzt: Naja, in den Räumlichkeiten, in denen man arbeitet, ist es ja auch nachts immer hell. Man ist eigentlich nur mit der Dunkelheit draußen konfrontiert und mit der ganzen Nachtatmosphäre. In ruhigen Stunden bringt diese einen zum Nachdenken, ab und an auch zu kreativem und besinnlichem Nachdenken.

🛎️

Nachtportier: Es war ambivalent. Ich habe ehrlich gesagt ein kindliches Vergnügen daraus gezogen, durch das nächtliche Hotel zu streifen, reinzuhören in den Körper, der durch die Situation einfach alerter ist, zum Beispiel Geräusche viel intensiver wahrnimmt, die nicht in die gewohnte Kulisse passen. Das an sich zu beobachten, seinen unwillkürlichen Angstreflexen und Instinkten nachzuspüren, und natürlich deren Überwindung war irgendwie faszinierend. Andererseits war es nicht immer angenehm, zu wissen, dass man in der beleuchteten Rezeption hinter der Glasschiebetür in der Auslage steht, während man kaum sieht, was auf der anderen Seite geschieht. Die Auslagesituation wirkte an starken Ausgehtagen an Wochenenden zudem gewissermaßen als Einladung für illuminierte Nachtschwärmer, die – manchmal auch in Gruppen – Einlass begehrten. Oft auch nur, weil der Abend ihren Bedarf an Kommunikation, Diskussion oder Konfrontation nicht gedeckt hatte und jemand in einem halböffentlichen Raum offensichtlich als Adressat zur Verfügung stand. Das waren mitunter schon herausfordernde Situationen. Dies hat weniger mit der Beleuchtungssituation an sich, als mit der Passantenfrequenz des „Nachtlebens“ zu tun.

👩‍⚕️

Pflegefachkraft: Im Krankenhaus ist es nie richtig dunkel. Die Lichter im Flur sind bei uns gedimmt, aber brennen weiter. In jedem Zimmer, in das man geht, um medizinische oder pflegerische Handlungen zu machen, wird ein kleines Nachtlicht angemacht, um beispielsweise eine Infusion anzuhängen. Wenn es dunkel ist, werde ich bei einer Nachtschicht schnell müde. Ich lasse deswegen im Stationszimmer meistens das große helle Tageslicht brennen. Die Dunkelheit, in Verbindung mit der Stille, fühlt sich manchmal seltsam an. Gerade, wenn es irgendwo klappert oder eine Tür aufgeht. Das kann die Anästhesistin aus dem Bereitschaftszimmer sein, die in den Kreißsaal rennt, oder ein eventueller Sturz. Man muss dann schauen gehen durch alle Zimmer, wenn man kein gutes Gefühl hat. Patient*innen, die weder zu Situation, Zeit noch Ort orientiert sind und eine starke Hinlauftendenz haben, haben manchmal die ganze Nacht das Licht brennen, um das Sturzrisiko zu senken. Ich grusle mich nachts nicht, doch manchmal kommt ein mulmiges Gefühl in einem auf.

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Barkeeper: Bei meiner Arbeit selbst fällt mir Lichtverschmutzung bzw. durchgehende Beleuchtung meines Lebensraums nicht auf, da ich drinnen arbeite – anders als jetzt zum Beispiel Straßenarbeitern oder Busfahrern – allerdings kann ich sagen, dass sich mein Heimweg durch durchgehende Helligkeit schon immer sehr sicher anfühlt. Mir fällt Dunkelheit in dem Sinne auf, dass ich quasi nie mit ihr konfrontiert werde, und sollte es dann einmal doch der Fall sein fühlt sie sich beinahe unnatürlich an. Natürlich könnte sich Dunkelheit nach der Reizüberflutung einer Bar (viele Menschen, laute Musik, Licht etc.) fast wie Erholung anfühlen, das kann ich in meinem Fall allerdings nicht beobachten.

Wenn alle schlafen, passieren seltsame Dinge – stimmt das? Was ist die skurrilste, schlimmste, denkwürdigste Erfahrung, die du in deiner Arbeit nachts erlebt hast?

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Sanitäterin: Ich denke, als Sanitäter*in gerät man allgemein in viele seltsame Situationen. Aber das war unabhängig, ob die Arbeit am Tag oder in der Nacht stattfand. Selten werden Situationen noch skurriler um 3 Uhr in der Nacht, aber da fällt mir eine ein: Wir wurden gerufen, weil das Auge seit einer Woche wehtut und auf Nachfrage, ob sich das um 3 Uhr in der Nacht gerade verschlimmert hätte, wurde mit einem „Nein“ geantwortet. Daraufhin haben wir gefragt, warum die Rettung gerufen wurde, und die Antwort war, dass sie nicht mehr schlafen konnte. Auf eine weitere Nachfrage, warum es nicht möglich war, dass der Partner sie ins Krankenhaus bringt, antwortete sie, dass sie im Krankenhaus nicht warten, sondern direkt behandelt werden wollte. Daraufhin haben wir natürlich erklärt, dass im Krankenhaus nochmal neu eingestuft wird und dass der Transport mit dem Rettungswaagen kein Kriterium für eine direkte Behandlung ist, sondern der Allgemeinzustand des Patienten.

🩺

Arzt: In der Nacht kamen immer die heftigsten Fälle auf Station. Einmal brachten mir Polizisten einen Mann in die Psychiatrie, der seine Frau geschlagen hatte. Ich habe gefragt, warum sie ihn zu mir bringen und ihn nicht verhaften. Darauf kam die Gegenfrage: „Ist es normal, seine Frau zu schlagen?“

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Nachtportier: Man erlebt viele skurrile Dinge, richtig schlimme sind mir zum Glück erspart geblieben. Es gab Feueralarme, medizinische Notfälle, Polizei, sehr unangenehme Gäste und unangenehmen Besuch, mit dem man alleine zurechtkommen muss, und einiges mehr. Vieles davon ist untrennbar mit der nächtlichen Arbeitszeit verbunden. Es gab wirklich sehr seltsame nächtliche Zimmerservice-Bestellungen, Musiker, deren „Substanzen“ plötzlich unauffindbar waren, Überbuchungen und Komplikationen.

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Barkeeper: Ich habe eigentlich schon ziemlich alles gesehen. Von Drogendeals über Heiratsanträge mit Live Musik bis zu masturbierenden Obdachlosen, es gibt nichts was es nicht gibt.

Wieso hast du dich für diesen Beruf entschieden und möchtest du in diesem Bereich bleiben?

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Barkeeper: Meine zwei Lieblingsdinge im Leben: Menschen und Geld. Und durch meine Arbeit in der Nacht ist es mir möglich zu studieren, wenn natürlich auch nur mit sehr viel Koffein. Die nächsten Jahre auf jeden Fall, solange mein Körper noch mitmacht.

Es zeigt sich: Unabhängig davon, in welchem Bereich und auch in welchem Ausmaß die Nachtarbeit stattfindet, muss bei jeder Person erst ein Umgang damit gefunden werden. Die Nachtarbeit bedeutet in jedem Fall eine Umstellung, egal ob sozial, körperlich oder mental und lässt alle Menschen, die daran beteiligt sind, gesundheitliche Nachteile oder Herausforderungen erfahren.

In ihrem neuen Buch berichtet Lisa-Viktoria Niederberger übrigens auch über ihre eigenen Erfahrungen in der Nachtarbeit. Und über all die Ambivalenzen, Kontinuitäten und Gleichzeitigkeiten, die in der Dunkelheit zu entdecken sind.


Möchtest du weiter in die Dunkelheit eintauchen?

Lisa-Viktoria Niederberger beschäftigt sich in ihrem Essayband mit der Bedeutung von Dunkelheit, dem Zusammenhang zwischen Dunkelheit und Machtverhältnissen, mit verborgenen Klassenunterschieden, Patriarchatskritik, mit dem Himmel und den Sternen als Kulturgut, mit Naturschutz, Arbeitsschutz, feministischen und politischen Fragestellungen.

Sie fragt sich: Wie kann ein Leben aussehen, in dem wir der Dunkelheit wieder mehr Raum erlauben?

Dunkelheit“ ist eine literarische Spurensuche nach Ambivalenzen und Kontinuitäten rund um das Dunkle.

Überall erhältlich, wo es Bücher gibt! 


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Warum wir uns mit dem eigenen Sterben nicht gerne beschäftigen wollen, es aber trotzdem unbedingt tun sollen! – ein Interview mit Fabian Neidhardt

David und Katha kennen sich schon immer, sind gemeinsam erwachsen geworden und haben jung geheiratet. Als Katha plötzlich bei einem Autounfall ums Leben kommt, steht Davids Welt still. Tag für Tag schleppt er sich an den Friedhof und fragt sich: Wie geht Trauern eigentlich? Er trifft dort auf Marie, die Tochter des Totengräbers, die nur zu gut weiß, dass niemand zu viel Zeit hier verbringen sollte. Wo endet Trauern, wo beginnt loslassen? Wir haben mit Fabian Neidhardt über seinen neuen Roman „Endlosschleifentage“  gesprochen und warum es so wichtig ist, dass wir uns auch mit dem Ende des Lebens beschäftigen: 

Bereits zum zweiten Mal hast du ein wunderschönes Buch geschrieben, das sich mit den Themen „Trauer“ und „Abschied“ beschäftigt. Gibt es einen Grund, warum dich diese Themen so bewegen?

Themen wie Trauer, Tod und Sterben, das sind Themen, die uns alle einmal betreffen. Nach aktuellem Stand der Wissenschaft ist es nun mal so, dass wir alle einmal sterben werden. Und wir lernen in unserem Leben mehr als genug Menschen lieben und  kennen, die halt auch alle einmal sterben. Trotzdem gehört das Sterben zu den Themen, über die wir viel zu wenig reden und ich wünsche mir, dass wir es Menschen einfacher machen können in ihrer Trauer, in ihrem Umgang mit Krebs, mit dem Tod, mit Krankheit. Ich merke, dass mich diese Themen selbst ganz stark interessieren und beschäftigen, und ich erzähle deshalb Geschichten, die sich damit eben auseinandersetzen. Wenn ich mit Menschen darüber spreche, merke ich, dass ich damit ganz offensichtlich nicht allein bin.

Kannst du etwas zur Entstehungsgeschichte dieses Buches sagen, wie bist du zum Thema dieses Buches gekommen?

2010 ist meine Oma gestorben. Sie war sehr viele Jahrzehnte mit meinem Opa zusammen und relativ kurz nach dem Tod meiner Oma ist mein Opa mit einer neuen Frau zusammengekommen. Für ganz viele Leute in meiner Familie war das ganz komisch. Es gab Leute, die haben sich darüber gefreut, dass er, als damals Mitte/Ende 70-jähriger, nicht allein seinen Lebensabend verbringen muss, und andererseits gab es Leute, die enttäuscht und  verletzt waren und auch an der Liebe meines Großvaters zu meiner Großmutter gezweifelt haben. Ich fand das unglaublich spannend, wie unterschiedlich Menschen darauf reagieren und auch wie offensichtlich so ein unausgesprochenes Regelwerk von „Wie trauert man richtig?“ und „Was bedeutet Trauern?” zu existieren scheint. Ab da ging es los, dass ich mich gefragt habe: Muss das so sein und schränkt das nicht auch ganz viele Leute in ihrer Trauer ein, wenn es ganz viel gefühlten Zwang gibt und Regeln und wie könnten wir vielleicht Trauer auch anders sehen und irgendwie anders öffnen und dann habe ich mich damit auseinandergesetzt über viele Jahre mittlerweile, habe zwei andere Bücher geschrieben und jetzt auch das, hab ein Praktikum in einem Bestattungsinstitut gemacht und ganz viel darüber gelernt und habe hoffentlich ganz viel davon in dieses Buch fließen lassen.

Spricht man übers Sterben, sind die meisten Menschen erstmal betroffen und möchten sich gar nicht so wirklich damit auseinandersetzen. Glaubst du, ist es die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit, die diese Hemmung verursacht und warum ist die Auseinandersetzung damit dennoch wichtig?

Ich glaube diese letzte Deadline, dieses „der eigene Tod“, das macht natürlich etwas mit uns. Das fühlt sich erstmal absolut an, ganz egal, ob jemand daran glaubt, wie oder ob es danach weitergeht. Es ist ein krasser Einschnitt im Leben, wortwörtlich der letzte große Einschnitt. Ich kann total verstehen, dass das unangenehm ist, gleichzeitig glaube ich aber, dass es total sinnvoll ist sich damit auseinander zu setzen, vor allem mit dem eigenen Sterben. Nicht im Sinne davon, dass man das glorifizieren muss, aber uns ist ja allen klar, dass dies passieren wird, und vielleicht gibt es aber Dinge, die vorher passieren sollen. Wie bei jeder Deadline haben Menschen die Tendenzen, Dinge vor sich herzuschieben, aber ich behaupte, diese letzte Deadline, von der wir alle nicht wissen, wann sie kommt, eröffnet Fragen: Was möchtest du noch Leuten gesagt haben? Wie möchtest du den Leuten in Erinnerung bleiben? Aber auch, wie möchtest du, dass mit dir umgegangen wird, wenn du gestorben bist? Wie möchtest du beerdigt werden? Möchtest du verbrannt werden? Wie bunt dürfen die Klamotten sein, die auf deiner Beerdigung getragen werden? Für all diese Sachen sollten wir dann doch am besten den Mut finden, dass wir sie vorher besprechen.

David hat nach dem Tod von Katha manchmal das Gefühl, dass er es nur falsch machen kann: sowohl das Weiterleben im Hier & Jetzt, als auch das Trauern, das sich wie Stillstand anfühlt. Was ihm hilft, ist die Musik. Hast auch du Lieder, die dich bewegen und berühren? Welche sind das?

Ich selbst spiele tatsächlich kein Instrument. Aber klar gibt es Musik, die mich regelmäßig neu berührt, die mich tröstet und die mich auch in ganz unterschiedliche Stimmungen bringt. Eines der Lieder, das mich auf jeden Fall einen großen Teil meines Lebens schon begleitet ist „first day of my life“ von Bright Eyes. Diesen Song hat mir meine Cousine vor mehr als zwanzig Jahren gezeigt. Ein großartiges Lied, das mich jedes Mal wieder aufs Neue sehr berührt. Oder „proof“ von I am Kloot. Aber es gibt fast jährlich einen Song, den ich irgendwo zufällig höre und von dem ich merke, boah krass, auf irgendeine Art berührt er mich, tröstet, erfreut mich oder bringt mich in irgendeine Stimmung, die ich gerade brauche. Es gibt zum Buch auch eine Playlist auf Spotify mit Songs aus dem Roman, aber auch mit Songs, die vorkommen könnten, wenn das Buch ein Film wäre oder ein Film in euren Köpfen ist. Das heißt, es ist nicht nur die Musik aus dem Buch, sondern auch darüber hinaus.

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„Endlosschleifentage“: Du verlierst die Liebe deines Lebens – und jetzt? David und Katha kennen sich schon immer, sind gemeinsam groß geworden und haben jung geheiratet. Doch dann kommt Katha bei einem Autounfall ums Leben, und Davids Welt steht still. Sie war jedes seiner ersten Male, ist in jeder seiner Erinnerungen. Er schleppt sich Tag für Tag auf den Friedhof und fragt sich: Wie geht Trauern eigentlich? Dort trifft er Marie, die Tochter des Totengräbers, die nur zu gut weiß, dass niemand zu viel  zeit hier verbringen sollte. Wo endet Trauern, wo beginnt Loslassen? David kann weder das eine noch das andere. Alles fühlt sich falsch an. Nur die Musik, die er macht, klingt richtig.

 

Dichte Poesie und feiner Humor: Angelika Rainer erhält den Preis für künstlerisches Schaffen der Stadt Innsbruck

Vor 30 Jahren stellte die große Friederike Mayröcker – in wenigen Tagen werden ja Mayröcker-Festspiele einsetzen, anlässlich der einhundertsten Wiederkehr des Geburtstages dieser Poetin, die übrigens ihren mutmaßlich letzten langen Lese-Auftritt, wenn auch digital, bei einem Tiroler Literaturfestival hatte – vor 30 Jahren also stellte Friederike Mayröcker in einem Gedicht, das den Titel „was brauchst du“ trägt, die Frage: „was brauchst du?

Die Antwort folgte stante pede:

„was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch“.

Und einige Zeilen später hieß es da:
„du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus“.

Und vom Baume abbrechend, natürlich unter gesittet försterlicher Aufsicht, braucht man den „Kunst – Zweig Literatur“. Und dazu, wie Frau Mayröcker meinte, ein Haus. Denn, wie es in Frau Rainers „See’len“ an einer Stelle heißt:

„In den pelagischen Regionen des Auges tritt die Welt auf –
ein Baum, ein Haus, ein Vogel, ein Mensch.“

Statt eines Hauses kann es aber auch ein Zweckbau sein.

Portrait: © A. Darmann

Angelika Rainer, die Trägerin des Preises für künstlerisches Schaffen 2024 in der Sparte Literatur, mit (v.l.) Vizebürgermeister Georg Willi, Kulturamtsleiterin Isabelle Brandauer und Alexander Kluy (Jury).
 

Angelika Rainer gebührt der heute verliehene Preis aber nicht nur für ihren Band „Zweckbau für Ziegen“. Sondern mit gleichermaßen egalitärer Berechtigung und ob schriftstellerischer Verve und für poetischen Furor gebührt er ihr für ihr Gesamt-Werk. Davon ist „Zweckbau für Ziegen“ der letzte, der neueste Band.

Der Titel schon irritiert. Und er irisiert.

Zweckbau, wird da gleich im Auftakt erläutert, geht zurück auf Gion Caminada, einen Schweizer Architekten – oder wäre nicht: Baumeister treffender? –, der aus dem Dorfe Vrin stammt, das zur Gemeinde Lumnezia gehört und das im Kanton Graubünden liegt.

„Vrin“„Lumnezia“ – Worte und Namen, die die Poesie kaum besser und kaum schöner erfinden kann.

Das Werk Caminadas, des inzwischen Mittend-Sechzigers, weist neben Erwartbarem, einem Hotelumbau, einer Gemeindehalle und einigen Wohnhäusern, auch einen Käserei-Neubau auf, eine Telefonkabine und mit der Stiva da morts tatsächlich eine: Totenstube – sowie in Puzzatsch, einem Weiler nahe Vrin, das zur namenstraum-verlorenen Gemeinde Lumnezia gehört, – einen Geissenstall. Der in zwei Baukörper aufgeteilte Entwurf schmiegt sich riegelig an den Hang. Aus Holz und Stein errichtet, mutet er einerseits traditionell an. Und ist es andererseits auf der Stelle, auf seiner Stelle nicht. Ein Weg führt daran vorbei. Auf jüngeren Fotografien mutet das Ganze an, als stünde das ställerne Gebäude schon seit Generationen dort, wo es steht und vor dem knollig jäh ansteigenden Berghang schützt.

Gleich-Ähnliches gilt für „Zweckbau für Ziegen“.

Der Band, von dem man inzwischen meint, es habe ihn schon immer gegeben, schmiegt sich riegelig in die knollig ansteigende Handinnenseite einer und eines jeden, der das schön gestaltete Buch in die Hand nimmt und aufschlägt. Und sich festliest.

Über den so fein wie feinsinnig alliterierend tänzerischen Titel „Zweckbau für Ziegen“ meditierten nicht wenige Kritikerinnen und Kritiker.

Ist dieser Zweckbau nun – eine Heimstatt?

Steht es für – Zuflucht? Signalisiert es – Gemeinschaft? (Und sei es auch nur die mengenmäßig überschaubare Gemeinschaft von Lyrik-Lesenden …)

Oder ist es nicht einfacher – weil man schon auf der ersten Seite nur lesen muss. Da steht es:
ein Nutzbau, ein Gebäude für eine begrenzte Zeit, er schützt wie die Hecke, der Baum, der Schirm“ – jedoch wovor?

Vor, Überraschung: „dem fremden, dem neugierigen, dem beschämenden Blick.“

Zu „Ziegen“ übrigens bietet dieses Haus, die Stadtbibliothek, 54 Medien-Einträge, von der Ziegen-Haltung bis zum – und das ist etwas irritierend – „Schaf-Thriller“, in dem die Ziegen kaum mehr als Nebendarsteller sind. Bei Angelika Rainer sind solcherart Überraschungen wortreich treffend beseelt.

„Wer ist zuständig für die Beseelung der Dinge?“ hieß es in Angelika Rainers Zweitling „Odradek“, der schon im Titel eine Verbeugung Richtung Prag vollzog. Es war ein Verweis auf Anker. Auf Verankerndes und auf ihren Ort, ihren eigenen Ort, findende Bilder und Sprach-Bilder. Und auf stets und stetig Banges.

Es werden Ereignisse in verschiedenen Größen, Farben, Formen gesammelt.
Liest man da. Und: Nichts ist zu gering, alles ist gleich gültig, um ein schützendes Dach über dem Kopf zu schaffen.

Formal ist das außerordentlich ausgepicht. Und mit leichter Hand konstruiert. Wobei der Verlag gerne mitspielt. Entfernen Sie beispielsweise den Schutzumschlag des Bandes, den eine weißlineare Konstruktionszeichnung auf himmelblauem Grunde schmückt, dann entdecken Sie darunter – Sterne auf Nachtdunkelblau.

Daher, daher?, steht geschrieben in Numero 12:

Dass das Weltall wächst
habe ich staunend vernommen
bestand es doch bisher vornehmlich
aus erloschenen, nachglühenden Sternen
wie die Erinnerung.

Tief in die eigene Erinnerung, ins Lesegedächtnis prägen sich die Gedichte Angelika Rainers ein. Sie glühen zwischen Emotionen und der Evidenz von Vergänglichkeit.

Es geht bei ihr um: Sammeln, Ordnen und Aufbewahren – die drei Urformen der Literatur seit Anbeginn – und um stille Existenz, um die Stille der Existenz und um in der Tiefe, auch der eigenen Tiefe, lauernde Ängste und Unsicherheiten.

Portrait: © Julia Stix

Angelika Rainer wurde 1971 in Lienz/Osttirol geboren, heute lebt sie in Wien und ist neben ihrer Tätigkeit als Autorin auch Musikerin bei der Musicbanda Franui (franui.at). Mit „Luciferin“ war sie zum Europäischen Festival des Debütromans in Kiel eingeladen und erhielt die Autorenprämie des BMUKK. Außerdem bekam sie für ihre Arbeit das Große Literaturstipendium des Landes Tirol und das Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck. 2017 war sie Teilnehmerin bei „Poems in the City“ in Warschau. Bei Haymon erschienen „Luciferin“ (2008), „Odradek“ (2012) und „See’len“ (2018). Im August 2023 folgte mit „Zweckbau für Ziegen“ ein neuer Lyrikband der Autorin.

Kunstvoll kommt das daher, manchmal balladesk, dann wieder austariert lakonisch. Hier erscheint es erzählerisch additiv – der Auftakt von „Luciferin“ etwa mit den vielen, vielen Anaphern –:

Sie kommt zur Welt
Sie wirft einen großen Schatten
Sie rächt sich für alles.
Sie hat nichts zu geben.

Dort ist es aphoristisch: Schlafgedanken halten sich nicht im Licht.

Vor allem ist es alles andere als so einfach, wie es klingt und so unverstellt frisch klingen mag – denn, so zwei Zeilen in „Odradek“:
Warum soll nicht auch ich Umgang haben dürfen mit großen Gedanken?
Ich will die Hilfe von Vordenkern annehmen.

Angelika Rainer nimmt solche Hilfe an, von Poeten, von Ovid über Trakl zu John Berger und – welch Zufall! Friederike Mayröcker –, sie nimmt aber auch die Hilfe und Klang-Unterstützung von speziellem Wissen an, sei es botanischer Art oder physikalischer Natur.

Es ist das Geflüsterte, in Klammern Gedachte“, was sie an- und umtreibt und wortmalerisch bewegt.

Es sind die verwilderten Hecken und die Apokalypse, der Nasenzwicker und die Aniskekse, es sind Torf und Vierkant-Ruine, es sind Nod, ein Land in der Bibel, und der Jennesey-Strom in Sibirien, es sind Betrachtungen, psychogrammatische Rekonstruktionen und diaphanes Dunkel, durch das hier und da etwas Helles mit zitternd zithernder Stimme aufzirpt, während eine Selbstgedrehte zur „Musik der kleinen Planeten“ aufgeraucht wird.

Harfe, Zither, Stimme. Das ist, was Angelika Rainer musikalisch zu Franui beisteuert. Joseph Roth und Thomas Bernhard, Mahler-Lieder, Schubert-Lieder und Georg Kreisler-Lieder. Schnitzler als Prosa-Puppenspieler und Nikolaus Habjan als echter Puppenspieler, das waren und sind Programme dieser Musicbanda. Auch eines, das – sehr beruhigend in heutigen Zeiten – „Alles wieder gut“ hieß. Und ein anderes war das „Ständchen der Dinge“.

Bei Angelika Rainer ist ein solches Ständchen fragil, erträumt, hochartistisch, all und das All memorierend:

„Die genaue Seele vergisst
[…] Nichts wird verloren gegangen sein
Nur ich mir selber ein wenig im Schlaf“

liest man in „Luciferin“.

Portrait: © Filippo Cirri

Alexander Kluy, geboren 1966, Studium der Germanistik und Amerikanistik. Autor, Journalist und Herausgeber erfolgreicher Anthologien und der Reihe „Wiener Literaturen“. Zahlreiche Veröffentlichungen in deutschen, österreichischen und schweizer Zeitungen und Zeitschriften.

Angelika Rainer macht uns zu Staunenden in Sachen Welt-Wunder. Und zu Staunenden in Sachen Welt-Verwunderung. Auch darüber, was Zeit ist. Und besser als in ihre Bücher lässt sich die eigene Lese-Zeit kaum investieren.
Auch Angelika Rainer lässt sich Zeit. Zwischen dem Debüt „Luciferin“ und dem Zweitling „Odradek“ lagen vier, zwischen „Odradek“ und „See’len“ sechs, zwischen „See’len“ und „Zweckbau für Ziegen“ fünf Jahre. Dies virtuose Warten kommentierte Lucy einst im Erstling schon treffend, mit diesen ihr von Angelika Rainer in den Mund gelegten Worten:

„Meine Geschichte zu erzählen braucht die Zeit, die ich bei den Lebenden war.“

Für ihre große, für ihre bezwingende, für ihre durchsichtige und verspielte Lyrik, für ihre verständlichen und verstehenswerten Gedichte, die sich ganz konkret, dabei gebildet durch Segmente des Sinns hindurch schlängeln und durch alle 26 Buchstaben des Alphabets sich hindurchmusizieren, gebührt Angelika Rainer der Preis.

Ganz am Ende von „Zweckbau für Ziegen“, in der finalen, der Nummer 60 der 60 Nummern heißt es: „Alle Bilder habe ich umsonst gemacht.“

Dies zu Ihrem Glück und für unsere Lese-Fortüne stimmt denn doch nicht am heutigen Abend und für das künstlerische Schaffen von Angelika Rainer.


Weitere Infos zum Preis und die vollständige Begründung der Jury bestehend aus Elisabeth R. Hager (Schriftstellerin und Klangkünstlerin), Roland Sila (Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum) und Alexander Kluy (Schriftsteller, Kritiker) findet ihr hier.

Über zwei Menschen, die einander Halt geben, in einer Zeit, die haltlos ist – Leseprobe aus „Es sind nur wir“ und Auszug aus dem „Wörterbuch der Verluste“ von Martin Peichl

Er ist ehemaliger Informatiklehrer, arbeitet an der Entwicklung von Computerspielen und schreibt; schreibt an seinem „Wörterbuch der Verluste“, in dem er festhält, was im Laufe der Zeit verloren gehen kann; schreibt von den Haaren, der Stimme, dem Verstand. Er taumelt durch eine Welt, die immer kurz vor der nächsten Katastrophe steht, verdrängt, womit er sich nicht beschäftigen will. Doch dann trifft er auf die Prepperin Mascha. Gemeinsam ziehen sie sich mehr und mehr zurück, in Maschas Haus auf dem Land … Martin Peichl vermag es, in poetischer, dichter Sprache von einem Alltag zu erzählen, der weit entfernt und doch so unglaublich nah scheint, vom Zustand unseres Planeten, von ständigen Krisen und einem Zurechtfinden der Menschen und Tiere in dieser Umgebung. Eindrücklich schreibt er über Trauer und Trost, Liebe und Freundschaft – und über ein Dasein, das gelebt werden will, gelebt werden muss, trotz aller Widerstände.

/01/ irreversible physikalische Prozesse

Wir beobachten tagtäglich irreversible physikalische Prozesse. In meiner Wohnung häuten sich Spinnen. Ihre Netze wirken verlassen, aufgegeben. Sie sammeln Staub, manchmal zittern sie gespenstisch im Luftzug. Gespenstisch auch das Licht, das durchs Fenster in die Wohnung sickert und sich in die Pfandflaschen hineinzwängt, wo langsam ein paar Tropfen Bier aufgewärmt werden, die zusammen vielleicht noch für einen letzten Schluck gereicht hätten.

Der Probealarm erinnert mich daran, dass ich meine Pflanzen gießen sollte. Zum An- und Abschwellen der Sirenen fülle ich die Gießkanne mit Wasser, bewege mich von Raum zu Raum, denke, wie unwahrscheinlich grausam es wäre, wenn sich tatsächlich eine Katastrophe ereignet hätte, und der Probealarm legt sich über den echten Alarm, weil irgendwo ein Atomkraftwerk explodiert oder der Krieg unerwartet ein paar hundert Kilometer näher gerückt ist, und die Menschen gießen Blumen, hängen Wäsche auf, skippen zum nächsten Song in der Playlist, während der Wind die Strahlung vor sich hertreibt, während Raketen starten, während Raketen einschlagen.

Mein Blick fällt auf die gebrochenen Sonnenstrahlen in den leeren Bierflaschen, ich drücke zwei Schmerztabletten aus der Blisterpackung, denke: Selfcare. Mein Handydisplay leuchtet auf, Sophia schreibt, dass sie mich liebt, ich dich auch, antworte ich und zünde mir eine Zigarette an. Die Tage sind zum Verwechseln ähnlich, seit ich nicht mehr in die Schule muss, die Tage sind austauschbar, aber ich weiß nicht, was ich lieber hätte stattdessen.

Die Schulleiterin war sichtlich erleichtert, als ich mit dem ausgefüllten Antrag auf Dienstfreistellung in ihr Büro gekommen bin, kaum Platz genommen, hatte ich auch schon ihre Unterschrift. Alles Gute für Ihr Projekt, hat sie gesagt und mir die Hand geschüttelt, ich musste fest zugreifen, um nicht abzurutschen.

Alles Gute für dein Buch, hat Sandra dann später zu mir gesagt, mich lange umarmt, und komm unbedingt zur Weihnachtsfeier. Nicht, wenn ich es verhindern kann, antworte ich. Sandra lacht, sie weiß, worauf ich anspiele. Unsere Weihnachtsfeiern sind eine Ausrede für schlechte Musik, für zu viel Alkohol und einmal zu eng mit dem jungen Kollegen tanzen, sich einmal zu oft von der älteren Kollegin mit nach Hause nehmen lassen. Die Kollegin mit der Puppensammlung. Ob sie zuschauen dürfen, habe ich sie gefragt, als sie mich an den in einer Vitrine ausgeleuchteten Puppen vorbei zu ihrem Bett geführt hat. Es ist nicht bei diesem einen Mal geblieben, wir brauchen schon lange keine Weihnachtsfeier mehr, um Sex zu haben.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich das Unterrichten vermisse. Aber nur das Läuten der Schulglocke am Stundenende fehlt mir, ein akustisches Signal, dass man etwas geschafft hat. Dass es okay ist, zusammenzupacken und zu gehen. Es war nie leicht für mich, über meinen Beruf zu sprechen. Die wenigsten Menschen haben eine konkrete Vorstellung davon, was im Informatikunterricht passiert. Also hatte ich mir eine Standardantwort zurechtgelegt: Die Kunst ist, die Nullen und die Einsen zu verstecken.

Auf meinem Schreibtisch liegt das Kuvert mit dem Befund. Ich habe den Brief wieder zusammengefaltet und in den Umschlag gesteckt. Am liebsten würde ich ihn zurück in den Briefkasten legen. Wie geht es dir heute, schreibt Sophia, wie geht es deinem Wörterbuch? Mein Wörterbuch ist in Wahrheit ein Zettelkasten. Auf Karteikarten sammle ich Geschichten über das Verlieren und habe in den letzten Jahren immer wieder die Idee geäußert, daraus ein Buch machen zu wollen, ein Wörterbuch der Verluste, habe in zu kurzer Zeit zu vielen verschiedenen Menschen von meinem Vorhaben erzählt, jetzt denken sie, ich würde tatsächlich daran arbeiten. Manchmal, an Tagen mit Sirenenalarm zum Beispiel, überkommt mich das Bedürfnis, die Karteikarten zumindest zu sortieren. Mir ein Ordnungssystem zu überlegen, das nicht nur für mich Sinn ergibt.

Ich ziehe ein paar Karten heraus, es fällt mir schwer, meine eigene Handschrift zu entziffern, nicht alle Einträge habe ich nüchtern verfasst, ich stecke sie wieder zurück und setze mich an den Computer, um nachzusehen, was heute im Workflow auf mich wartet. Seit ich nicht mehr unterrichte, arbeite ich ein paar Stunden in der Woche für ein Entwicklerstudio, das gerade sein erstes Videospiel veröffentlicht hat. Zu meinen Aufgaben gehört es, die neuesten Patch-Notes zu kommunizieren, auf unserer Website und in diversen Foren. Die anderen im Team sind gut darin, Bugs und Glitches zu beseitigen, ich muss nur die richtigen Worte dafür finden. Sie haben mir eine Liste geschickt mit allen Änderungen, ab morgen soll die neue Version zum Download angeboten werden. Ich beschließe, mich später darum zu kümmern.

Ich stelle fest, dass ich nur die Hälfte meiner Pflanzen gegossen habe. An manchen Tagen bin ich mir nicht sicher, ob ich eine Aufmerksamkeitsstörung habe oder mich einfach nicht einlassen will. Auf diese Welt, dieses Leben. Ich zünde mir eine Zigarette an, rauche zum Fenster hinaus, in einem der Innenhofbäume haben Vögel ihr Nest gebaut. Vögel, hat mir einer der Programmierer gesagt, findet er am schwierigsten. Er kennt kein Videospiel, das sie auch nur ansatzweise überzeugend darstellt. An diesen Satz denke ich oft. Und dem Rauch von der ausgedämpften Zigarette wachsen Federn.


Aus dem „Wörterbuch der Verluste“

den Faden verlieren
Ich weiß noch nicht, wo dieser Text hinführt. Womöglich in ein Labyrinth. Was gäbe ich für einen Ariadnefaden, für einen klaren Anfang, ein eindeutiges Ende.
Stell dir eine Datingshow vor: Zehn Männer werben um eine Frau, müssen aber vorher durch ein Labyrinth gehen, dort etwas umbringen für sie, anschließend wieder rausfinden. Je nachdem, wie sympathisch und attraktiv sie die Männer findet, gibt sie ihnen mehr oder weniger Meter Faden mit auf den Weg. Und wenn sie es richtig anstellt, wenn sie sich nicht verrechnet hat, überlebt ihr Favorit. Oder zumindest einer, der ihr halbwegs gefällt.
Eine besondere Form des Irrgartens ist das Spiegelkabinett. Aber nicht die nach innen oder außen gewölbten Spiegel mit ihren Verzerrungen machen uns zu schaffen. Es sind die ebenen Flächen, die wir kaum aushalten, wo jeder auftreffende Lichtstrahl den Spiegel im selben Winkel auch wieder verlässt und wir uns eingestehen müssen: Ja, das sind wir.

 

den Verstand verlieren
Es sind nicht die Windmühlen, gegen die Don Quijote anreitet, seine Riesen, die sich bei mir eingebrannt haben, sondern sein Kampf gegen die Weinschläuche über seinem Bett, sein nächtliches Fuchteln und Schlitzen, die Rotweinspritzer, die er für Blut hält. Zurück bleiben ein überschwemmtes Gästezimmer und Don Quijotes vorübergehender Triumph über die Monster, die er überallhin mitnimmt.
Wir nennen Menschen verrückt, die nicht an dem Platz bleiben wollen, den wir ihnen zugewiesen haben. Wie ein Gegenstand, den man verlegt hat, den man nicht wiederfindet, nicht mehr braucht.
Wenn ich Wein trinke, merke ich, wie die Welt mit jedem Schluck weniger schief wird, bis zu einem bestimmten Punkt, dann kippt sie wieder, jetzt in die andere Richtung. Die Kunst ist: die Balance zu finden, zwischen zu viel und zu wenig Alkohol, zwischen zu vielen Riesen und zu wenigen Windmühlen.

 

Final Girl
Die letzte Überlebende in Horrorfilmen. Ihre Rolle ist es, bis zum Showdown durchzuhalten, bis zur letzten Konfrontation mit dem Killer, der nach und nach ihre Freundinnen und Freunde umgebracht hat.
Das Final Girl ist intelligent und trickreich, am Schluss ist sie die Einzige, die von den Ereignissen berichten kann, eine durch das erlebte Trauma nur eingeschränkt verlässliche Erzählerin. Bei mehrteiligen Filmreihen ist sie außerdem das Bindeglied zum Sequel. Es gibt aber keine Garantie, dass sie auch einen zweiten, einen dritten Film überlebt.
Ich frage mich, wie viele letzte Überlebende es geben kann, was passiert, wenn für denselben Film versehentlich zwei Final Girls gecastet werden.

 

sich verrechnen
Die Existenz einer Hälfte suggeriert die Existenz einer zweiten. Warum sie getrennt wurden, ist nicht immer klar. Ebenso wenig, ob sie zusammengeführt wieder ein Ganzes ergeben. Umgangssprachlich nehmen wir es nicht so genau, da gibt es auch Hälften, die nicht gleich groß sein müssen. Oder wir reden von einer besseren Hälfte. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass es auch schlechtere geben muss.
Eine mathematische Anwendung, die ich mir von Julian abgeschaut habe, ist das sogenannte Bisektionsverfahren. Es erleichtert die Lösung eines Problems, indem man es in zwei etwa gleich große Teilprobleme zerlegt, die wiederum zerteilt werden können. Bis man vor lauter kleinen und kleinsten Problemen steht und vergessen hat, was man ursprünglich lösen wollte. Vielleicht habe ich das Prinzip aber auch falsch verstanden.

 

aus den Augen, aus dem Sinn
Als 1982 das Videospiel E.T. the Extra-Terrestrial floppt, nachdem das Entwicklungsteam nur fünf Wochen Zeit hatte, um das Spiel rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft fertigzubekommen, bleibt Hersteller Atari auf 3,5 Millionen unverkauften Modulen sitzen. Um vom kommerziellen Misserfolg abzulenken und Lagerkosten zu sparen, werden diese ein Jahr später großteils geschreddert, der Rest bei einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf einer Deponie vergraben.
2014 werden ein paar Hundert Stück ausgegraben und im Internet versteigert. Der höchste bei der Auktion erzielte Preis für eines der Spiele ist 1 535 Dollar, ein Vierzigfaches von dem, was es zum Erscheinungstermin gekostet hat. Falls mich jemand fragt, was ich mir zu Weihnachten, was ich mir zum Geburtstag wünsche.

 



Schon mal eine Wortarbeiterin kennengelernt? Today is the day! – Take-over & Buchempfehlungen von Stefanie Jaksch

Liebe*r Leser*in,

ich dürfe schreiben, worüber ich wolle, hieß es, und ich nutze den Raum, um mit dir über das Schreiben nachzudenken. Warum? Weil ich schreibe, seit ich es in der Schule gelernt habe. Weil ich mein Leben beruflich wie privat wohl auch deswegen so optimistisch meistere, weil ich dieses Werkzeug im wahrsten Sinne des Wortes „zur Hand“ habe. Vieles macht für mich erst Sinn, wenn ich Fragen oder Gedanken niedergeschrieben habe.

Wie schreibst du am liebsten? Bei einer Tasse Tee oder Kaffee, ganz analog in ein Notizbuch? Wo du gehst und stehst, deinem Smartphone etwas diktierend? Konzentriert am Schreibtisch, in die Tasten deines Computers hackend, eine Deadline jagend? Zeichenzahl-begrenzte Nachrichten in die kleinen Fenster von Social-Media-Plattformen oder Messenger-Dienste tippend? Es interessiert mich wirklich.
 
Wir entkommen dem Schreiben nicht, wir alle schreiben, und egal, wie wir es drehen, es ist eine Art, wie wir uns die Welt erklären. Etwas aufzuschreiben, aufzuzeichnen, der Nachwelt zu hinterlassen, ist neben der Oral History einer der ältesten Wege der Wissensvermittlung, die wir haben. Und führt man sich vor Augen, dass die ältesten Höhlenmalereien zigtausende Jahre alt sind und erste Keilschriften vor ca. 5.000 Jahren entstanden, komme ich mir mit meinem Schreiben seltsamerweise wie eine Anfängerin vor.  
 
Ich bezeichne mich als „Wortarbeiterin“, ein Begriff, der oft Stirnrunzeln hervorruft. Was daran Arbeit ist, dass ich Texte schreibe, redigiere, über sie rede, werde ich ab und an gefragt. Ich verdiene mein Geld mit Worten, ist inzwischen meine Antwort darauf. Dass das so ist, empfinde ich als ein großes Geschenk, aber es ist dennoch Arbeit; Arbeit, die mir manchmal den Atem raubt, die mich ab und an verzweifeln lässt, aber mich auch beflügelt, mir Welten eröffnet, mich fordert und fördert.
 
Über das Helle“ zu schreiben, war schwieriger als gedacht. Ich habe jede Menge Texte hinter mir, unter mir, in mir, und ich dachte wirklich, ich könne alles, was sich in mir gesammelt hat, leicht hintupfen, entspannt niederschreiben. Natürlich kam es anders: Mich dem Hellen, dem Optimismus, der Zukunft anzunähern, führte mich in mehr Niederungen, als ich voraussehen hätte können. Das Dunkle will eben doch immer und überall nach uns greifen.
 
Darüber hinaus ist es eine ständige Selbstbefragung geworden: Selten begegnet man sich selbst so schonungslos und mit so vielen Fragezeichen wie beim Schreiben; denn auch wenn viele Menschen an einem Text und seiner Buchwerdung beteiligt sind, es bleibt ein sehr einsamer Prozess. Wahrscheinlich ist mir deshalb die Form des Essays so wichtig und so nah: Dem Französischen entlehnt, ist diese Form ein Versuch. Ein Versuch, mir selbst, den Menschen um mich und der Welt auf die Schliche zu kommen.
 
Ich freue mich darauf, wenn du diesen Versuch mit mir gemeinsam wagst.
 
Auf ein Kennenlernen.
 
Mit herzlichen Grüßen
Stefanie Jaksch

Stefanie Jaksch
© Haymon Verlag / Fotowerk Aichner
Über das Helle

Stefanie Jaksch, geboren im fränkischen Erlangen, glaubt seit ihrer Kindheit, dass Bücher Nahrungsmittel sind. Sie war als Dramaturgin, Buchhändlerin und Verlagsleiterin für Kremayr & Scheriau tätig. Seit 2024 ist Jaksch als freischaffende Moderatorin, Kuratorin und Autorin unterwegs und hat das Büro für Literatur- und Kulturarbeit „In Worten“ gegründet. „Über das Helle“ ist ihr erstes Buch.

Die Renaissance des Optimismus beginnt jetzt!
Wir alle brauchen positive Zugänge zu großen Herausforderungen. Stefanie Jaksch begibt sich auf die Suche danach. Was sie dabei findet: Menschen, die, wie sie selbst, das Dunkle nicht gewinnen lassen wollen und: Hoffnung. „Über das Helle“ ist ein Buch, das den Widerstand in uns erweckt.


Bücher, die Halt, Hoffnung oder die Idee einer Zukunft geben – die Leseempfehlungen von Stefanie Jaksch: 

 

Zwischen Beatles-Frisuren, Flower-Power und der Sehnsucht nach der großen Welt: Mach dich bereit für eine Zeitreise in die 70er! Herbert Dutzlers Roman „Wenn die Welt nach Sommer riecht“ in 5 Songs + Leseprobe

Siegfried ist 13 – ein Alter, in dem Abenteuerromane und das Spielen draußen auf den Feldern in den Hintergrund rücken, etwas anderes dafür immer interessanter wird: Mädchen. Was zuerst lästiges Geschnatter war, hört sich plötzlich an wie engelsgleicher Gesang. Außerdem locken der erste Schluck Alkohol, der erste Zug an der Zigarette – die Kindheit ist vorbei, die Ära der Pubertät ist eingeläutet! Herbert Dutzler verwebt meisterhaft Siegfrieds persönliche Erlebnisse mit den gesellschaftlichen Umwälzungen der 1970er-Jahre. Ein Buch, das uns mit auf eine fesselnde Reise nimmt – in eine Zeit, in der sich für Sigi alles nach Sommer anfühlt, in eine Zeit voller erster Male.

1 Zimmer mit Fließwasser, warm und kalt

(…)
„Morgen kommen die Engländer!“, seufzt Tante Hermi und nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. „Hoffentlich geht das gut. Ich meine, mein Englisch … ich hab ja nur zwei Jahre gelernt, und das ist lang her.“ „Aber ich kann Englisch! Ich hab im Zeugnis einen Einser, einen lupenreinen! Ich kann ja mit denen reden!“ Die Tante zieht die Stirn in Falten. „How do you do mit die Gummischuh!“, schmettert Onkel Fredi fröhlich, geht zum Fernseher hin und dreht am Einschaltknopf. „Hau i di a mit die Goisara!“ Das ist ein beliebter Scherz, den er sehr oft anbringt. Onkel Fredi wartet auf die „Zeit im Bild“, die Nachrichtensendung um halb acht, und ich wende mich wieder meinem Buch zu.
„Ja, du! How do you do! Du hast ja nicht einmal eine Ahnung, was das bedeutet!“, sagt Tante Hermi. „Natürlich!“, erwidert Onkel Fredi. „So grüßt man sich in Amerika!“ Ich klappe mein Buch zu, denn nun muss ich mich einmischen. „Also, wir haben gelernt, dass man bis Mittag ‚Good morning‘ sagt. Danach ‚Good afternoon‘ und am Abend ‚Good evening‘. Wenn man ganz höflich ist, sagt man noch ‚Pleased to meet you‘.“
Die Tante verzieht ihr Gesicht zu einer verzweifelten Grimasse. „Sigi, das war mir jetzt schon zu viel. Wie war das noch einmal? Das muss ich mir aufschreiben!“ Sie läuft zu ihrem Schreibtisch und greift nach einem Notizblock. Ich sage ihr die Grußformeln noch einmal an. „Ich schreib mir’s einfach so auf, wie es sich anhört!“, sagt sie. „Weil wenn ich’s englisch aufschreibe, weiß ich dann nicht mehr, wie man’s ausspricht!“ „Es ist doch ganz einfach!“, prahle ich. „Das lernt man schon in der ersten Klasse! Sogar die Uschi kann das!“ „How do you do mit die Gummischuh, hau i di a mit die Goisara!“, wiederholt Onkel Fredi grölend. Er hat nicht zugehört und schon reichlich Bier getrunken. Gott sei Dank wird er dann immer zuerst lustig und dann schläfrig, während mein Papa gern zu fluchen und zu schimpfen anfängt, wenn er zu viel getrunken hat.
„Habt ihr denn noch nie Gäste aus England gehabt?“, frage ich die Tante. Sie schüttelt den Kopf, während Uschi den Kopf zur Tür hereinsteckt. „England?“, fragt sie. „Was ist mit England?“ Die Tante erklärt es ihr. „Ich muss aber nicht mit denen reden, oder?“, fragt sie. Uschi ist nämlich ein wenig schüchtern und hat überhaupt nicht gern mit fremden Leuten zu tun. Sie mag nicht einmal einkaufen gehen, hier in St. Edelgund, weil sie da die Leute im Geschäft nicht kennt.
„Natürlich nicht“, beruhigt sie die Tante. „Der Sigi wird dolmetschen. Hat er versprochen!“ Es klopft an der Wohnzimmertür, und die Tante öffnet. Draußen steht der Herr, der mit seiner Frau im zweiten Kinderzimmer wohnt. „Hätten Se wohl noch ’n Bierchen für uns, liebe Frau Wirtin?“ Er ist ein Deutscher, die sprechen so. Natürlich hat Tante Hermi, obwohl sie eigentlich keine Gastgewerbekonzession hat und kein Bier verkaufen darf. Im Geschäft kostet eine Flasche Bier zwei Schilling, und die Tante verkauft sie für vier Schilling weiter. „Das deckt mir grad die Schlepperei ab!“, sagt sie. „Ich muss ja schließlich auch die leeren Flaschen wieder zurückbringen. Und billiger als im Gasthaus ist es bei mir immer noch.“

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„Wie bist du denn überhaupt zu den Engländern gekommen?“, frage ich Tante Hermi. „Die Kurverwaltung hat sie mir vermittelt“, sagt sie. „Seit neuestem heißt unser Fremdenverkehrsbüro so. Wir sind nämlich jetzt ein Kurort. Wegen dem Wasser.“ „Das so stinkt!“, mischt sich Uschi ein. „Das würd ich nie trinken! Bäh!“ Sie streckt die Zunge heraus. „Wenn du so Kreuzweh hast wie ich“, ächzt der Onkel Fredi und hievt seine Füße auf den Couchtisch, „dann würdest alles trinken, wenn sie dir nur versprechen, dass es besser wird!“ „Ja, aber von den Füßen auf dem Tisch wird’s sicher nicht besser!“, schimpft Tante Hermi. „Was bist denn du für ein Vorbild für die Kinder! Runter mit den Flossen!“ Stöhnend gehorcht der Onkel. Es ist mir schon aufgefallen, dass hier im Haus die Tante den Ton angibt, noch mehr als bei uns zu Hause, wo Papa wenigstens meistens aufbegehrt, wenn Mama irgendwas entscheidet, ohne ihn zu fragen.
„Und die haben mich halt gefragt“, fährt die Tante fort, „ob ich auch Engländer nehmen täte, ob ich mir das zutraue. Und mit den Franzosen, da ist es ja auch gut gegangen, da haben wir uns halt mit Händen und Füßen …“ „Franzosen waren auch schon da?“, staune ich. „Wie sind denn die hierhergekommen?“ Die Tante zuckt mit den Schultern. „Genauso wie die Engländer, nehme ich an. Mit dem Auto halt.“

Ich bin verblüfft. Dass man so weite Reisen mit dem Auto unternehmen kann! Wir haben zwar seit ein paar Jahren einen VW Käfer, den Papa günstig von einer Nachbarin gekauft hat, deren Mann an Lungenkrebs gestorben ist. Der VW steht aber meistens im Heustadel und Papa muss ständig daran herumschrauben oder -schweißen. Mama schimpft dann immer und erinnert Papa daran, dass sie lieber noch ein wenig gespart und dann einen Ford Cortina gekauft hätte. Weil der hätte wenigstens einen ordentlichen Kofferraum, und außerdem hat der Mann von einer ihrer Freundinnen einen Ford Cortina, und da ist nie etwas kaputt. Ich kenne die Streitereien meiner Eltern praktisch auswendig, weil sie sich immer um die gleichen Dinge drehen und immer gleich ablaufen. Enden tun sie meistens damit, dass Papa die Tür hinter sich zuschlägt, zum Kirchenwirt geht und spät nachts die Stiege hinaufpoltert.

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Ich hab schon den ganzen Tag gebettelt, dass ich heute Abend die Sondersendung über Apollo 15 sehen darf. Diesmal haben die Astronauten ein Mondauto mit an Bord gehabt und sind auf dem Mond herumgefahren. Sie sind zwar gestern schon wieder zurück zur Erde gestartet, aber heute soll es eben eine Sondersendung geben, mit Filmmaterial, das bisher noch nicht gesendet worden ist. Leider bin ich der Einzige, den die Mondlandungen noch interessieren, sie sind inzwischen zum Alltag geworden und bei weitem keine Sensationen mehr. Mit 15 km/h sind die da oben herumgefahren, und auf manchen Aufnahmen kann man sehen, dass das Mondauto richtig über die Hügel hüpft. Es ist ja auch viel leichter, als es auf der Erde wäre. Auf dem Rückflug wird es noch einen spannenden Moment geben, denn der Kommandant der Kapsel muss aussteigen, um Datenkassetten einzusammeln. Es wird der erste Raumspaziergang in Mondnähe sein. Ich erkläre das alles der Tante und dem Onkel, aber die gähnen leider nur. Es ist eine Tragödie, dass sich so wenige Leute bei uns für den Fortschritt in der Wissenschaft interessieren. In zehn Jahren, das versprechen die Wissenschaftler, wird es eine ständig bewohnte Mondbasis geben, und in 20 Jahren wird man als Tourist dorthin fliegen und dabei zuschauen können, wie die Marsrakete auf dem Mond zusammengeschraubt wird.

Später im Bett lese ich noch in meinem Thor Heyerdahl und staune über so viel Mut. Mit einem aus Schilfstengeln zusammengebundenen Boot nach Amerika zu fahren, das ist eine ganz unglaubliche Geschichte. Amerika, das ist überhaupt ein Zauberwort für mich. Die ganzen Wildwestgeschichten von Karl May spielen dort, und die Raketen zum Mond, die starten auch in Amerika. Ob ich einmal auf dem höchsten Wolkenkratzer der Welt, auf dem Empire State Building, stehen werde? Das wird wohl ein Traum bleiben, fürchte ich. Denn gegen Ende der Ferien fahren wir wieder nach Caorle, mit dem Bus, weil unser Käfer für eine so weite Reise nicht taugt, sagt Mama. Weiter bin ich in meinem Leben bisher nicht gekommen.
Den nächsten Tag verbringe ich in großer Anspannung, denn wir erwarten die Engländer. Ich halte mich meist auf der Terrasse auf, damit ich sie nicht übersehe. Leider vertreibt mich zu Mittag der Regen, und ich muss mit meinem Buch unter dem Balkon Schutz suchen. Aber ich will trotzdem der Erste sein, der sie begrüßt.

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Endlich, gegen halb vier am Nachmittag, taucht ein seltsames Auto in unserer Einfahrt auf. Es ist ziemlich groß, grün und von einer Marke, die ich nicht kenne. Das Kennzeichen hat viel dickere Buchstaben als unsere und endet mit einem „G“. Ein österreichisches Auto kann es also nicht sein. „Tante Hermi!“, schreie ich und stürme durch die Terrassentür in die Küche. „Sie sind da! Die Engländer sind da!“ „Mein Gott!“ Die Tante springt auf und streicht ihre Schürze glatt. „Hoffentlich geht das alles gut!“ „Welches Zimmer kriegen sie denn?“, frage ich. „Die Nummer drei! Das mit dem Eckbalkon!“ Die Tante rennt zur Haustür, ich in ihrem Schlepptau. Die Engländer stehen hinter dem geöffneten Kofferraumdeckel und haben Schirme aufgespannt. „Sag ‚Good afternoon‘“, flüstere ich Tante Hermi noch zu. Sie schüttelt schon Hände. „Good afternoon, Missis Langdon!“, sagt sie. Und „Good afternoon, Mister Langdon!“. Es werden Hände geschüttelt, die Ankömmlinge lächeln. Er hat rötliches Haar und einen ebenso rötlichen Vollbart, während die Frau dunkelhaarig ist und in einem recht eleganten grünen Kleid steckt, das ungefähr dieselbe Farbe wie das Auto hat.
„I am Sigi!“, dränge ich mich vor, weil die Tante vergessen hat, mich vorzustellen. „And I can speak English!“ Die beiden lachen. „Wonderful!“, sagt Mrs. Langdon. Ich hab mir natürlich schon zurechtgelegt, was ich sagen werde. „May I carry your suitcase?“, frage ich und greife nacheinem Koffer, der schon auf dem Boden steht. Er ist auch grün, genauso wie Auto und Kleid. Damit er nicht nass wird, schnappe ich ihn gleich, um ihn aufs Zimmer zu tragen. Mrs. Langdon duftet auch ganz wunderbar, was mich erstaunt, weil sie doch sicher stundenlang im Auto unterwegs waren.
Mr. Langdon wuchtet einen noch größeren braunen Koffer aus dem Auto. Hinten auf dem Auto steht „Rover P6“, und es ist auch ein internationales Kennzeichen angebracht, auf dem „GB“ steht. „You have room number three!“, erkläre ich und gehe voran. Den Engländern scheint das Zimmer zu gefallen, sie loben die Aussicht auf den Zwölferkogel und hinunter ins Dorf bis zur Kirche. „Marvellous!“, zwitschert Mrs. Langdon und schiebt den Vorhang zur Seite. Mr. Langdon kramt in seiner Hosentasche und drückt mir schließlich einen Zehner in die Hand. Zehn Schilling! Dafür muss ich normal Tante Hermi zehnmal beim Abtrocknen helfen! So viel Trinkgeld habe ich noch nie bekommen! „Aber das wäre doch gar nicht nötig!“, beeilt sich Tante Hermi, die ein bisschen rot geworden ist, weil sie außer Nicken und Mit-den-Händen-Deuten noch nichts gesagt hat, nachdem sie die Langdons begrüßt hat.

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„And now“, sagt Mrs. Langdon, „I’d like to take a bath. After that long drive.“ Ich verstehe jedes Wort, sie spricht sehr deutlich und fast genauso wie unser Englischlehrer. Oje, denke ich mir, da wird die Tante nicht so erfreut sein. Denn wenn zwei Leute baden, dann wird bei uns das warme Wasser knapp, und weil der Boiler bloß mit Nachtstrom aufheizt, der viel billiger ist, haben dann die anderen Gäste möglicherweise kein warmes Wasser mehr für ihre Waschbecken. „Sie möchte baden!“, erkläre ich der Tante. „Selbstverständlich!“, nickt sie. „I show you the bath!“ Leider sagt sie „Bass“, ohne das „th“. Aber immerhin hat sie sich getraut. Sie geht auf den Gang hinaus und zeigt Mrs. Langdon den Weg.
„Oje“, seufzt die Tante, als wir wieder unten in der Küche sind. „Wenn die womöglich jeden Tag baden wollen, dann gute Nacht!“ „Vielleicht können wir ihnen das mit dem Boiler erklären?“, schlage ich vor. Die Tante schüttelt den Kopf. „Jetzt schauen wir einmal. Man darf die Gäste schließlich nicht vergrämen. Vielleicht geht es sich ja eh aus mit dem Warmwasser. Müssen wir halt sparen, ich mach mir zum Abwaschen was auf dem Herd heiß.“ „Schließlich“, erinnere ich sie, „steht auf dem Schild auch ‚Warmwasser‘.“ Die Tante verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. „Schilder sind geduldig!“, sagt sie. „Die müssen Geld haben wie Heu!“, fügt sie hinzu. „Das Kleid, das Auto, zehn Schilling Trinkgeld … warum die nicht in ein Hotel gegangen sind?“, fragt sie mehr sich selbst als mich. „Vielleicht, weil’s ihnen mit Familienanschluss besser gefällt!“ Die Tante wiegt zweifelnd den Kopf.
Familienanschluss bedeutet, dass sich manche Gäste am Abend zu uns ins Wohnzimmer setzen und mit der Tante und dem Onkel Wein und Bier trinken. Manchmal spielt Onkel Fredi dann auf der Ziehharmonika und alle singen dazu. Der Fernseher bleibt natürlich ausgeschaltet. Ich selber halte nicht so viel vom Familienanschluss, ich lese lieber.
Ich schleiche mich noch einmal in die Pension hinüber. Vielleicht brauchen die Engländer ja was, und ich bekomme noch einmal ein Trinkgeld. Im ersten Stock höre ich es dann kichern und platschen. Anscheinend hat Mrs. Langdon schon ihr Bad einlaufen lassen. Aber hört man da nicht zwei Stimmen aus dem Bad? Natürlich! Ein gekichertes „No, Jim!“ verstehe ich, und dann höre ich auch Mr. Langdon grummeln. Sind die beiden miteinander in die Badewanne gestiegen? Davon habe ich überhaupt noch nie gehört, dass ein Mann und eine Frau sich eine Badewanne teilen. Und wahrscheinlich ist es sogar ein bisschen unanständig. Andererseits wird es die Tante freuen, wenn ich es ihr erzähle, denn so sparen die beiden wenigstens warmes Wasser. Ich verziehe mich, bevor mich noch jemand sieht und womöglich denkt, dass ich an der Badezimmertür lausche.
Weil es noch immer regnet, gehe ich in unser Zimmer, wo Uschi gerade damit beschäftigt ist, ihrer Puppe die Haare zu kämmen. „Ich hab schon Englisch geredet!“, prahle ich. „Und die beiden Engländer, die sitzen gerade miteinander in der Badewanne!“ Uschi klappt die Kinnlade hinunter. „In der Badewanne? Miteinander?“ Ich nicke. „Wahrscheinlich seifen sie sich gegenseitig ein.“ Meine Fantasie spielt mir gerade wilde Streiche. Mrs. Langdon ist eine sehr hübsche Frau. „Aber … darf man denn das?“, fragt Uschi. Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht macht man das in England so. Und vielleicht haben sie ja auch eine Badehose an, und einen Badeanzug.“ „Aber das … der Mitzi-Oma darfst du das nicht erzählen!“, flüstert Uschi. „Die schmeißt die zwei dann nämlich gleich hinaus!“

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Zum Weiterhören: Sigis Hitparade

Danyel Gérard Butterfly
Michael Nesmith Silver Moon
John Lennon / Plastic Ono Band Power to the People
Georgie Fame & Alan Price Rosetta
T. Rex Get It On
Giorgio Son of my Father
Wolfgang Ambros Da Hofa
Rod Stewart Maggie May
Slade Coz I Luv You
The Cats One Way Wind
Can Spoon
The Beatles Lady Madonna
The Beatles All You Need Is Love
The Beatles Penny Lane
The Beatles Lucy in the Sky with Diamonds

 


»Wenn die Welt gefährlich ist, dann darf die Literatur nicht harmlos sein!« – Interview mit der Literaturkritikerin Sieglinde Geisel

Brennende Wälder, schmelzende Polkappen, Extremwetterereignisse, Kriege und soziale Verteilungskämpfe: Die multiplen Bedrohungen unserer Lebensweisen, Gesellschaften und der uns umgebenden Umwelt spielen selbstverständlich auch in den Büchern, Filmen und Computerspielen unserer Gegenwart eine wichtige Rolle. Gerade die weitreichenden Folgen des Klimawandels werfen die Frage auf, ob die Kunst unserer Zeit auch wirklich im Bewusstsein einer planetaren Katastrophe entsteht und dieses (naturwissenschaftlich breit artikulierte) Bewusstsein zum Teil unseres Lebensgefühls, unseres Zeitgeists, unserer Alltagsgespräche macht. Kann sie das? Soll sie das überhaupt? Wir haben uns mit der Autorin, Literaturkritikerin und Kuratorin Sieglinde Geisel über diese Frage unterhalten. Über die ästhetischen Herausforderungen, gute Erzählungen zwischen Dystopie und Utopie zu schreiben. Und über Climate Fiction. Unter dieser Bezeichnung werden erzählerische Werke unterschiedlicher Genres, Ausdrucksformen und Gattungen versammelt, die sich genau dieser Herausforderung widmen: künstlerische Antworten auf die globalen ökologischen Krisen finden. Sieglinde Geisel war Mitkuratorin des Climate Fiction Festivals 2020 – dem weltweit ersten Literaturfestival mit dem Schwerpunkt Klimakrise und Literatur. Was sich seitdem aus ihrer Sicht in der öffentlichen Wahrnehmung, in unserer Popkultur und in den Köpfen verändert hat, kannst du in diesem Interview nachlesen:

Sie waren im Jahr 2020 Mitinitiatorin des ersten Climate Fiction Festivals in Berlin. Wie kam es, dass Sie sich zu dieser Initiative entschlossen haben?

Das war ein Zufall. Ich trug mich schon länger mit dem Gedanken, etwas über die fehlenden Narrative des Klimawandels zu schreiben. Da lernte ich bei einer Weiterbildungsveranstaltung des Deutschlandfunk Kultur für freie Mitarbeiter Martin Zähringer und Jane Tversted kennen. Sie hatten schon einige Features zum Thema Climate Fiction gemacht, und beim Mittagessen erzählten sie mir, dass sie ein Festival mit Climate Fiction planten und noch jemanden zur Verstärkung suchen. Spontan entschloss ich mich, mitzumachen, obwohl wir uns noch gar nicht kannten.

Es ist interessant, dass ein Thema, das die mediale Berichterstattung der vergangenen Jahre mitprägt, in den Kulturressorts im deutschsprachigen Raum wenig präsent war (wie etwa Mitinitiator Martin Zähringer in diesem Interview befindet). Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Das ist mir ein absolutes Rätsel. Wenn ich etwa beim Deutschlandfunk Kultur einen Kommentar zur Klimakrise anbiete, heißt es manchmal: „Ach gut, dass Sie wieder einmal etwas dazu machen!“ Als würde sich sonst niemand darum kümmern. Letztlich sind die Kulturressorts dann eben doch kein Korrektiv, sondern ein Teil der Gesellschaft, man hat Anteil an der Verdrängung. Womit die Medien ihre Verantwortung nicht wahrnehmen: Die Klimakrise ist nicht nur ein Politik-, sondern auch ein Medienversagen.

Climate Fiction: 

Climate Fiction oder Cli Fi ist eine neue Strömung in der internationalen Literatur, die die Klimakrise ernst nimmt. Krimi, Thriller, Science Fiction, Lyrik, Gesellschaftsroman und erzählendes Sachbuch – Cli Fi ist Literatur mit Haltung und ein offener Zugang zur wichtigsten Herausforderung unserer Zeit.

Auf der Seite des Cli Fi Festivals findest du eine ausführliche Zusammenfassung.

Climate Fiction Festival Mitkuratorin Sieglinde Geisel. Porträt: © Niklaus Bächli

Sieglinde Geisel arbeitet als freie Literaturkritikerin, Moderatorin und Schreibcoach in Berlin. Sie war Kulturkorrespondentin der NZZ in New York (1994–1998) und Berlin (1999–2016) und ist Gründerin von tell, einem Onlinemagazin für Literaturkritik und Zeitgenossenschaft. Als Literaturkritikerin war Sieglinde Geisel regelmäßig Studiogast bei SRF Kultur in der Sendung „Literatur im Gespräch“ sowie im Deutschlandfunk Kultur. Dort äußert sie sich in Kommentaren zu Klimadebatten, und sie rezensiert Bücher, die sich mit der Klimakrise beschäftigen. Für das Climate Fiction Festival arbeitet sie als Kuratorin und Moderatorin.

Foto: © Niklaus Bächli

Man bekommt immer häufiger den Eindruck, dass die diffuse Krisenhaftigkeit der Gegenwart insgesamt zu einer Art Hintergrundgeräusch unserer Zeit geworden ist. Bemerken Sie – als Literaturkritikerin – seit 2020 eine Änderung innerhalb der Literatur in dieser Hinsicht? 

Seltsamerweise eben gerade nicht. Ich wundere mich vielmehr darüber, dass sich die Themen nicht geändert haben: Man schreibt immer noch über seine Kindheit, die zerrüttete Ehe oder den Nazi-Opa, als wäre alles ganz normal.
Eine Reaktion auf die Zustände der Gegenwart fällt mir bei einem ganz anderen Thema auf, und das ist kein bisschen diffus: Es geht um die Katastrophe namens Russland. Diese ist allerdings nur in Büchern osteuropäischer Autor*innen präsent, dort aber umso erschütternder: Autoren wie Sergej Lebedew, Alhierd Bacharevič, Szczepan Twardoch läuten hier die Alarmglocken, und zwar auf höchstem literarischem Niveau.

Glauben Sie, dass Kunst an den sozialen, politischen Bedingungen, aus denen sie entsteht, etwas ändern kann?

„Poetry makes nothing happen“, sagt W. H. Auden. Das stimmt allerdings nur für die Politik im großen Maßstab, auf der Ebene der individuellen Leser*innen setzt Poesie durchaus Dinge in Gang. Mein Denken und Fühlen ändert sich ständig durch die Kunst, die ich in mein Leben hineinlasse. Durch Kunst „lernt“ man nichts, sondern man macht Erfahrungen, daher lassen sich die Änderungen nicht leicht dingfest machen.
Hans Magnus Enzensberger sagt: „Schriftsteller erfinden Gefühle.“ Das ist vielleicht der Hebel, an dem Kunst ansetzt. Sie bringt Dinge in unser Bewusstsein. Dass die Kunst kaum etwas dazu beiträgt, uns die Klimakatastrophe zu vergegenwärtigen, ist fatal.

Engagierte Literatur vs. literarischer Aktivismus: Wo liegen für Sie als Kritikerin die ästhetischen Herausforderungen, gute Texte über drängende Probleme zu schreiben?

Wenn Literatur politisch eingreifen will, ist sie oft ästhetisch unbefriedigend (Stichwort Thesenroman). Literatur jedoch, die ästhetisch keine Wirkung entfaltet – bei der wir eben keine unmittelbare Erfahrung machen –, wird auch politisch nichts erreichen. Ein frühes Beispiel engagierter Climate Fiction ist Ilija Trojanows „Eistau“ (2011). Der Roman wurde durchgehend verrissen, er wirkt konstruiert. Man spürt die Absicht und ist verstimmt …
Was ich in der gegenwärtigen Literatur vermisse, sind nicht diese typischen Cli-fi-Romane (Zukunftsszenario, Klimawissenschaftler als Protagonist, der den Leuten die Klimakrise erklärt etc.), sondern Literatur, die im Bewusstsein geschrieben ist, dass mit uns möglicherweise die Geschichte der Menschheit oder zumindest der Zivilisation endet. Das müsste uns erschüttern, und wenn Autor*innen in diesem Bewusstsein schreiben würden, kämen dabei andere Bücher heraus. Es ginge etwa um solche Fragen: Wie verändert das mein Lebensgefühl bzw. das Lebensgefühl einer Figur? Hat sie Angst vor dem Sommer, vor der unentrinnbaren Hitze? Wovon träumt diese Figur dann? Was hat noch Sinn, was nicht mehr?
Aber man kann Autor*innen nicht vorschreiben, was und wie sie schreiben. Auch sie sind Teil der Gesellschaft, in der sie leben. In diesem Sinn hat eine Gesellschaft auch immer die Literatur, die sie verdient.


Climate Fiction Festival Mitkuratorin Sieglinde Geisel. Porträt: © Niklaus Bächli

Mein Denken und Fühlen ändert sich ständig durch die Kunst, die ich in mein Leben hineinlasse. Durch Kunst „lernt“ man nichts, sondern man macht Erfahrungen, daher lassen sich die Änderungen nicht leicht dingfest machen.

– Sieglinde Geisel

Ihr Fokus richtet sich ja besonders auch auf die Literatur des afrikanischen Kontinents und zuletzt auf die gegenwärtige Exilliteratur, etwa aus Russland, Belarus, Iran, der Türkei. Hier begegnet man ja etwa am politischen Feld ganz ähnlichen Fragestellungen. Können uns literarische Werke näher an eine empfundene Wirklichkeit heranführen als journalistische Beiträge?

Die osteuropäische Literatur habe ich oben bereits erwähnt. Was ich an den nicht-westlichen Literaturen spannend finde, ist das Verhältnis zur Politik. Bei Autor*innen aus Nigeria, Indien oder dem Iran stößt man mit der Frage, ob sie sich als politische Autor*innen verstehen, oft auf Unverständnis: „Als was denn sonst?“ Ein unpolitisches Schreiben ist für viele undenkbar. Ich scheue mich vor allgemeinen Zuschreibungen, aber mir scheint, diese Literatur entstehe aus einer anderen Dringlichkeit. Der Rückzug ins Private, in die autofiktionale Selbstbespiegelung ist hier ein Luxus, den man sich nicht leisten kann. Im Weiteren jedoch sind die Individuen in nicht-westlichen Gesellschaften viel stärker mit der Gemeinschaft verbunden, in der sie leben (was wiederum Fluch und Segen sein kann). „Der Dichter begleitet sein Volk in dem, was es durchmacht.“ Diesen Satz habe ich vor Jahren auf einer Buchmesse aufgeschnappt, es war ein Autor aus dem arabischen Raum, und er antwortete damit auf die Frage nach der Aufgabe des Schriftstellers. In der westlichen Wohlstandsgesellschaft ergibt dieser Satz kaum einen Sinn. Überall sonst auf der Welt ist er selbstverständlich.
In Diktaturen jedoch wird die Literatur entpolitisiert. Sergej Lebedew beschreibt das sehr genau für Russland: Innerhalb Russlands gibt es keine literarische Auseinandersetzung mit Themen wie Tschernobyl, den Tschetschenienkriegen, geschweige denn mit dem Krieg gegen die Ukraine. Deshalb hat Lebedew mit seinem Werken auch das Anliegen einer Re-Politisierung der russischen Literatur.


Climate Fiction Festival Mitkuratorin Sieglinde Geisel. Porträt: © Niklaus Bächli

Was ich in der gegenwärtigen Literatur vermisse, (…) Literatur, die im Bewusstsein geschrieben ist, dass mit uns möglicherweise die Geschichte der Menschheit oder zumindest der Zivilisation endet.

– Sieglinde Geisel

Alle Fakten liegen – so scheint es – auf dem Tisch, trotz einer sehr weitreichenden rationalen Anerkennung der drohenden Klimakatastrophe scheinen unsere Gesellschaften unentschlossen, träge und passiv auf die Herausforderungen zu reagieren. Erleben wir in Wahrheit eine Krise der Kommunikation und ist dies aus Ihrer Sicht ein spezifisches Symptom unserer Zeit?

Einerseits ist es eine Krise der Kommunikation. Der Klimawandel bietet etwa Greenpeace wenig Material für Kampagnen: Es gibt keinen klar identifizierbaren Feind, er bietet keine Gelegenheit für öffentlichkeitswirksame Aktionen wie das Anbringen eines Transparents auf dem Kühlturm eines AKWs. Die fehlenden Bilder (zumindest bis vor kurzem) sind für die Medien ein Problem. Angesichts der fortschreitenden Medienkrise sind Zeitungen und Funkmedien stärker als früher auf hohe Zugriffszahlen angewiesen (auch der ÖRR, der wiederum durch die Rechten in eine künstliche Legitimationskrise getrieben wird). Doch Klimawandel ist nicht sexy, damit holt man sich keine Klicks. Zum Kommunikationsproblem gehört im Weiteren die politische Agitation von rechts, die den Klimadiskurs durch Fake News und Halbwahrheiten verzerrt.

Andererseits hat man es mit einem tieferen Problem zu tun: dem Kassandra-Syndrom. Kassandra wurde mit dem Fluch belegt, dass ihre Prophezeiungen immer eintreffen, doch niemand ihr glaubt. Genau das ist die Situation der Klimawissenschaft. Dieses Nicht-Glauben hat auch eine psychologische Komponente: Probleme, für die wir keine Lösung haben, verdrängen wir. Die Klimakommunikation ist von einem klischeehaften Bemühen gezeichnet, trotz allem eine positive Stimmung zu verbreiten, jedes Interview hört mit der Frage auf: „Gibt es noch Hoffnung?“. Hans Joachim Schellnhuber, der sich als Klimawissenschaftler seit Jahren für die Klima-Kommunikation einsetzt, sagt: „Gute Geschichten sind Geschichten, in denen Menschen vorkommen möchten.“


Climate Fiction Festival Mitkuratorin Sieglinde Geisel. Porträt: © Niklaus Bächli

In unserer Lebenswelt gibt es nichts, das nicht von der Erderwärmung betroffen wird. Literatur, die auf diese Veränderung reagiert, kann sich daher in jede Richtung bewegen.

– Sieglinde Geisel

Nature Writing als einer der großen Trends der letzten Jahre zeugt von einem gesteigerten Interesse der Menschen an ihrer Umwelt. Das Schreiben über die Natur und über die Beziehung des Menschen zu ihr ist so alt wie das Schreiben selbst. Liegt in der Hinwendung zur Zukunft und zum Überleben der Menschheit als Kollektiv die eigentliche Sprengkraft von Climate Fiction?

Ich würde Nature Writing klar von Climate Fiction unterscheiden. Nature Writing feiert die Natur auf eine Weise, die ich zwiespältig finde: Im Moment des Verlusts erkennen wir, wie wunderbar die Natur doch ist. Das hat etwas seltsam Apolitisches, Eskapistisches, ein wenig im Sinn von: „Genießen wir sie, solange wir sie noch haben.“

Was die Hinwendung zur Zukunft angeht, ist sie bei der Climate Fiction meist kein politisches Programm, sondern dem Gegenstand geschuldet: Solange die Erderwärmung noch nicht auf dramatische Weise zu spüren ist, kann ein Roman nur dann davon erzählen, wenn er das Geschehen in die Zukunft verlegt. Je mehr diese Zukunft Gegenwart wird, desto weniger muss die Climate Fiction auf die Zukunft ausweichen.

Bedeutet das Ihrer Meinung nach – jenseits der verhandelten Inhalte – auch formal neue Zugänge, einen anderen Fokus? Einen erzählerischen Paradigmenwechsel gar?

Der indische Schriftsteller Amitav Ghosh kritisierte in „Die Verblendung“ den Roman als bürgerliche Gattung, die sich stark auf das Abenteuer von Individuen bezieht. Oft befinden diese Romanhelden sich im Konflikt mit der Gesellschaft. Bei der Bekämpfung der Klimakrise brauche es aber nicht so sehr imposante Heldenfiguren, sondern Kollektive, die zusammenarbeiten, so Goshs Kritik.
Es ist schwer vorherzusagen, welcher erzählerische Paradigmenwechsel daraus hervorgehen könnte. In unserer Lebenswelt gibt es nichts, das nicht von der Erderwärmung betroffen wird. Literatur, die auf diese Veränderung reagiert, kann sich daher in jede Richtung bewegen.

Lohnt vielleicht auch in Sachen Cli Fi der Blick auf außereuropäische, vielleicht postkoloniale, nicht-hegemoniale Erzähltraditionen? 

Es gibt in der Tat neue Denkrichtungen des Posthumanismus, die aus der nicht-westlichen Welt kommen: die Idee des Pluriversums etwa oder der neue Materialismus. Es sind Visionen einer Welt, in der alle Akteure  miteinander verbunden sind: menschliche und nicht-menschliche, belebte und nicht-belebte. Der Band „All We Can Save: Truth, Courage, and Solutions for the Climate Crisis“ (2020, herausgegeben von Ayana Elizabeth Johnson und Katharine K. Wilkinson) versammelt Texte ausschließlich von Frauen, mit einem Fokus auf indigene und postkoloniale Stimmen.
Doch das sind Randerscheinungen, der Mainstream nimmt von solchen Bewegungen keine Notiz.

 

Gibt es Werke, die Sie in letzter Zeit besonders beeindruckt oder überrascht haben?

Es gibt wenig Klima-Literatur, die mich literarisch überzeugt. Der beste Klima-Roman, den ich kenne, ist bereits 1987 erschienen und stammt von dem australischen Autor George Turner: „The Sea and Summer“. Ansonsten haben mich die Romane der drei bereits genannten Exilautoren überrascht: „Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit“ von Sergej Lebedew, „Europas Hunde“ von Alhierd Bacharevič und „Kälte“ von Sczcepan Twardoch.

Lesetipp: 

Wenn dich dieses Interview interessiert hat und du auf der Suche nach weiteren Artikeln, Büchern, Autor*innen bist, die sich mit Literatur und Klimakrise beschäftigen, dann schau doch bei unserem Schwesternverlag Löwenzahn vorbei – die Bücher von Rob Hopkins, Katharina Mau und Sara Fromm könnten genau das Richtige für dich sein!