Autor: Linda

Die Wiederholung der Urszene: eine Psychoanalyse des Krimis

Gastbeitrag von Edith Kneifl

Ist „Ödipus Rex“ von Sophokles eine Detektivgeschichte? Nein, und doch haben beide viel gemein. Die Krimi­nalliteratur beschäftigt sich mit ähnli­chen Themen wie die klassische Psycho­analyse: mit dem ödipalen Verbrechen, seiner Aufdeckung und der damit ver­bundenen Entdeckung der Schuld und der Angst. „Kriminalschriftsteller sind die Psychoanalytiker der menschlichen Schattenseiten“ formulierte Janwillem van de Wetering.
Auch Sigmund Freud machte in einer Vorlesung für Jura-Stu­denten auf die Analogie zwischen dem Verbrecher und dem Analysierten auf­merksam: „Bei beiden handelt es sich um ein Geheimnis, um etwas Verborgenes. Aber beim Verbrecher handelt es sich um ein Geheimnis, das er weiß und verbirgt, beim Analysierten um ein Geheimnis, das auch er selbst nicht weiß. Die Aufgabe des Therapeuten ist aber die nämliche wie die des Untersuchungsrichters. Wir sollen das verborgene Psychische aufdecken und haben zu diesem Zwecke eine Reihe von Detektivkünsten erfunden, von denen uns also jetzt die Herren Juristen einige nach­ahmen werden.“
Aber nicht nur die Arbeit des Detektivs erinnert an die Arbeit des Psychoanalyti­kers. Jede Detektivgeschichte läuft ähn­lich einer Psychoanalyse ab. Krimis bau­en Ängste auf, die dann am Höhepunkt der Spannung aufgelöst werden, was dem Leser Entspannung und Erleichterung verschafft. Durch die Identifikation mit dem Täter, Opfer oder Detektiv kann der Leser seinen eigenen Impulsen nachge­ben, seinem Voyeurismus freien Lauf las­sen und seine infantile Neugier befriedi­gen.
Sollte sich der Leser mit dem Detektiv identifizieren, winkt ihm als Belohnung ein mächtiges und untadeliges Über-Ich. Durch die Identifikation mit dem Opfer lebt er seine masochistischen Tendenzen zumindest in der Phantasie aus. Manchmal wird ihm dabei sogar das seltene Vergnügen gewährt, seinem eigenen Be­gräbnis beizuwohnen. In der Rolle des Opfers wird er, je nach Plot, die alten Ängste wieder durchmachen. Als verfolg­ter Täter hingegen ist es ihm erlaubt, seine aggressiven und sadistischen Gelü­ste wenigstens in der Phantasie auszule­ben.
Aber alles dies erklärt nicht hinrei­chend die Leidenschaft für Krimis. Der wesentliche Aspekt der Kriminalge­schichte ist ein anderer: Es wird eine intensive Neugier erweckt. Die menschli­che Fähigkeit zur Neugierde erreicht laut Sigmund Freud ihren ersten und inten­sivsten Ausdruck anläßlich der „Urszene“, der Beobachtung sexueller Szenen zwi­schen Erwachsenen durch das Kind. Hier also findet sich das wichtigste Element der Detektivgeschichte wieder: das gehei­me Verbrechen!

Edith Kneifl ist die Grande Dame der österreichischen Krimiszene und prägt diese seit Jahrzehnten entscheidend mit.

Durch die aktive Wiederholung der realen oder phantasierten gefährlichen Situation, die das Kind einst passiv und sehr schmerzhaft erduldet hat, versucht es, diese zu bewältigen, das ursprünglich traumatische Erlebnis unter seine Kontrolle zu bringen, seine Neugier und die in der Wiederholung erneut ausgelöste Erre­gung dieses Mal zu befriedigen. Die unbe­wußt arrangierte Wiederholung der Ur­szene kann auch in sublimierter Form erfolgen, zum Beispiel im leidenschaftlichen Lesen von Kriminalliteratur. Auch der Liebhaber von Kriminalgeschichten versucht aktiv, erlit­tene Erfahrungen wiederzubeleben und sie dadurch zu meistern.
Bei kreati­ven Menschen findet dieser Wunsch oft Ausdruck in subli­mierter Form, also in Form von künstleri­scher Produktion. Marie Bonaparte wies in ihrer dreibän­digen psychoanalyti­schen Studie über Edgar Allan Poe und seine Arbeit den enormen Einfluß des Urszenen-Traumas bei der Entstehung seiner Geschichten nach.

Der Detektiv befin­det sich in der glei­chen Lage wie das ödipale Kind. Er fie­bert vor Neugier und projiziert seine eige­ne Erregung und sei­ne Schuldgefühle auf das Objekt seiner Nachforschungen. Es ist kein Zufall, daß die großen Detektive dieses Genres, Sher­lock Holmes, C. Au­guste Dupin, Hercule Poirot und Lord Pe­ter Wimsey unverhei­ratet sind. Selbst Miss Marple war eine alte Jungfer. Sie alle sind nichts anderes als fiktive Repräsentan­ten des ödipalen Kin­des. Deshalb kann der Detektiv auch nicht als Familienoberhaupt dargestellt werden oder gar die herrschende Moral verkörpern. Das ödi­pale Kind ist nicht wirklich moralisch. Es ist nur clever. So clever wie eben ein Kind ist, bevor die Latenzzeit seine Neu­gier und seinen Wis­sensdrang dämpft.
In der inzwischen klassisch gewordenen Kriminallitera­tur gibt es zwei ver­schiedene Arten von Detektiven. Die amerikanischen Kollegen S. F. Bauer, L. Balter und W. Hunt unterscheiden in „die Eu­ropäer“ und „die Amerikaner“. In den zwanziger und drei­ßiger Jahren ent­stand in den Verei­nigten Staaten eine Version der Detektivgeschichte, die der europäischen, was Plot und Atmosphäre betrifft, durchaus ähnlich ist, auch wenn sie sozial enga­gierter und politisch korrekt sein mag. Daß sie einen wirkli­chen Neubeginn dar­stellte, liegt eher an der Figur des private-eye, der in die­sen sogenannten „hard-boiled“ Krimis nicht nur zum zen­tralen Charakter wird, sondern auch für den Leser von enormer emotionaler Bedeutung ist. Mit Hammetts Sam Spa­de und Chandlers Philipp Marlowe be­trat die USA das Par­kett der Kriminalliteratur, auch wenn Poe in Boston geboren wurde.
Die europäischen Detektive sind eher asexuell. Sie verhal­ten sich schwer neu­rotisch. Holmes und Poirot sind nicht nur narzißtisch gestört, sondern sicherlich auch Zwangsneuroti­ker. Die amerikani­schen Detektive, zum Beispiel die beiden, die Humphrey Bo­gart darstellte, sind dagegen sexuell aktiv oder zumindest sehr phallisch und vor al­lem für Frauen at­traktiv. Außerdem neigen sie zu Brutali­tät und Gewalt, wis­sen, ihre Fäuste und – wenn nötig – auch ihre Schußwaffen zu gebrauchen. Tatsäch­lich besitzen sie eine gewisse Ähnlichkeit mit den Kriminellen, denen ihre eher intel­lektuellen europäi­schen Kollegen auf der Spur sind. Der amerikani­sche Detektiv bewegt sich selbst am Rande der Kriminalität und ist vielleicht gerade auch deswegen so faszinierend.
Die Krimi-Sucht der Europäer hat ihren Ursprung wohl eher in der Sucht nach Aufklärung. Im klassischen euro­päischen Kriminalroman steht immer das Rätsel und seine Lösung im Mittelpunkt – also das geheime Verbrechen.
Ebenso wie der europäische repräsen­tiert aber auch der amerikanische Detek­tiv das ödipale Kind. Da er seine Sexuali­tät jedoch nicht sublimiert wie sein euro­päischer Kollege, befindet er sich in viel größerer Gefahr als dieser, zum Kompli­zen des Täters zu werden. Doch gerade diese Triebhaftigkeit macht die amerikanische Detektivgeschichte emotional erre­gender als die europäische. Auch der amerikanische Detektiv wird nicht wirk­lich zum Verbrecher. Würde er tatsächlich am ödipalen Verbrechen teilhaben, dann wäre die Geschichte nicht länger eine Detektivgeschichte, sondern eine Art „Ödipus Rex“.
Die Urszene ist die dramatische Quint­essenz aller Ängste. Wie traumatisch sie erlebt wird, hängt davon ab, wie sie erfah­ren wurde: von der psychischen Entwick­lung des Kindes zu dieser Zeit, von der Beziehung zwischen den Eltern und von der Beziehung zwischen Eltern und Kind.
Aber egal, wie die Reaktion des Kindes aussieht: Sie hat immer Angst zur Folge. Ob es die Urszene verleugnet, akzeptiert oder teilnahmslos reagiert – die verdräng­te Erinnerung wird auf jeden Fall bis zu einem gewissen Grad mit einem schmerzvollen Effekt behaftet sein.
In der Kriminalliteratur wird dem Le­ser durch die graduelle Enthüllung der Indizien ein wesentliches Detail nach dem anderen dargeboten. Und schließlich wird das Verbrechen rekonstruiert, das Ge­heimnis gelüftet, das heißt: Die Urszene wird entlarvt. In einer Orgie von Nachfor­schungen kann das Kind im Leser, perso­nifiziert durch den großen Detektiv, schauen, erinnern und zusammenfügen – ohne Furcht und ohne Schande, im Ge­gensatz zu dem erschrockenen Kind, das Zeuge der Urszene war.
Die Kriminalgeschichte versucht also vom Standpunkt des Unbewußten aus, weniger schmerzvolle Urszenen zu inszenieren. Diese fiktive Urszene befriedigt vor allem die „Voyeure“. Aber der Voyeur wird durch sein Zuschauen nie vollkom­men zufriedengestellt. Er muß immer wieder hinsehen, so wie der Leser von Kriminalgeschichten unermüdlich diesel­be grundlegende mythische Erzählung von Mord, Schuld und Rache ohne Lange­weile liest, um Befriedigung zu erfahren. Wirkliche Befriedigung erlangen dabei weder Schriftsteller noch Leser oder Voyeur. Der Schriftsteller besitzt zwar we­nigstens die Kontrolle über das Gesche­hen, aber ebenso wie der Leser bleibt auch er immer nur Zuseher und nicht Teilneh­mer an diesem spannenden Ereignis.

Dieser Beitrag ist erschienen in Die Furche Nr. 26, Rubrik: Dossier, 26.6.2003.


Als ausgebildete Psychoanalytikerin begleitet uns Edith Kneifl in ihrem neuesten Werk in die Wiener Seele und bringt Licht in deren dunkle, verborgene und auch beunruhigende Ecken. Wir versumpfen in gemütlichen Absteigen, lachen laut auf, wo es in der guten Gesellschaft verpönt ist, und halten die Luft an, wenn sich die Ereignisse überschlagen. Was auch nicht zu kurz kommt: Liebesgeschichten, Intrigen, Skandale, kurzum: alles, was man an dunklen Herbstabenden braucht. „Der Wolf auf meiner Couch“ ist ab dem 19. September 2024 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich.

 


„Ich begreife Sprache als etwas zutiefst Körperliches und versuche, meinen Körper und seine Verwandlungen sprachlich zu erfassen.“ – Interview mit Maë Schwinghammer

Zunächst sind die Worte ganz, ergeben Sinn, doch sobald sie Michaels Mund verlassen, fallen sie zu Boden und zerbrechen, noch bevor sie fremde Ohren erreichen, wie kleine Porzellantassen vor den Augen. Seine Mama übersetzt zwischen ihm und der Welt. Sie versteht ihn als Einzige. „Brabbeln“ sagt die Pädagogin in der Spielgruppe dazu. „Wahrnehmungsstörung“ nennen es die Ärzt*innen. Einige Jahre später hat die Welt andere Worte für Michael: Computerköpfchen, Pussy, Schwinghomo, Bärli. Namen, doch kein einziger, der diesem Ich gehört.
Eindrucksvoll und poetisch schreibt Maë Schwinghammer von einer Suche nach Verständnis, an deren Ende ein gefundenes Ich steht. Wir haben uns mit Maë über deren Debütroman „Alles dazwischen, darüber hinaus“ unterhalten.

Maë, wie würdest du selbst deinen Roman beschreiben?
„Alles dazwischen, darüber hinaus“ begleitet die Suche eines Kindes ohne Sprache bis ins Erwachsenenalter, die Suche nach der richtigen Sprache, den richtigen Wörtern für den eigenen Körper, die eigene Identität, das Geschlecht. Der Roman erzählt vom Wunsch, von anderen verstanden zu werden, und davon, sich in dieser Welt, die oft nicht zuhört, verstanden zu wissen.

Hast du selbst beim Schreiben nach etwas gesucht?
Ja, nach einem Weg und einer Sprache, die es ermöglichen, meine Lebensgeschichte mit poetischen Tönen zu erzählen und dabei auch noch zugänglich zu bleiben. Weil ich ein Buch schreiben wollte, das ich jeder Person aus meiner Familie ohne schlechtes Gewissen in die Hände drücken kann.

Apropos Familie: „Alles dazwischen, darüber hinaus“ erzählt auch von einem Weg zurück zur eigenen Familie, von einer Versöhnung mit der eigenen Herkunft. Wie würdest du selbst diese Entwicklung in deinem Roman beschreiben?
Ich glaube, das Grundthema hier ist: Angst. Die Angst der Eltern, das eigene Kind zu verlieren, weil es einen Klassenaufstieg erfährt, weil es den Namen ablegt, weil es kein Junge mehr ist und nie einer war. Gleichzeitig ist da auch die Angst der Hauptfigur, für die eigene Herkunft verurteilt und gehänselt zu werden, dieselben Wege zu beschreiten, die schon die Eltern beschritten haben. Das führt in beide Richtungen zu Abgrenzungen, schafft eine Distanz, die sich vergrößert, bis mit genügend Abstand der Sprung gewagt wird, sich wieder anzunähern. Das Gemeinsame zu suchen, anstatt das Trennende hervorzuheben.

In deinem Buch schreibst du an einer Stelle: „Vielleicht sind Probleme der Sprache immer ein Problem der anderen, der Nichtbetroffenen. Denn die Nichtbetroffenen sprechen über Betroffene und wählen dafür Worte, die Betroffene selbst nie wählen würden.“ Die Unzulänglichkeit von Sprache, ihre Grenzen, die wir Menschen immer wieder – oft schmerzhaft – spüren, nimmt in deinem Buch viel Raum ein. Welche Bedeutung hat Sprache, hat das Übertreten ihrer Grenzen für dich?
Sprache hat die größte Bedeutung in meinem Leben, meinem Schreiben und damit auch im Roman. Es geht mir weniger darum, Grenzen zu übertreten, mein Anliegen würde ich eher so beschreiben, dass ich die gedachten Grenzen verschwimmen lassen möchte. Sie sollen so undeutlich sein, dass neue Sprachen und Wörter für alle zukünftigen Identitäten und Körper möglich werden, ohne dass es Grenzübertritte benötigt, weil die Grenzen nicht länger existieren.

Teile deines Romans – wie beispielsweise der sehr eindrucksvolle Beginn – erzählen aus der Perspektive eines Kindes. Wie war es für dich, in diese Figur hineinzuschlüpfen, und welche Herausforderungen oder auch Glücksmomente hast du beim Schreiben dieser Passagen erfahren?
Es war tatsächlich sehr leicht, in diesen Ton zu wechseln, da ich lange nur Lyrik geschrieben habe und ich die Perspektive eines Kindes für überaus poetisch halte. Wörter werden vor allem als Kleinkind noch sehr frei aneinandergereiht, ohne jedes Bewusstsein für Logik oder Konsistenz. Das ermöglicht sprachliche Bilder, die sich erwachsene Menschen oder Autor*innen nicht erlauben würden, was allerdings meiner Meinung nach sehr schade ist. Die Herausforderung bei diesen Szenen war, in der Sprache konsistent zu bleiben und die kindliche nicht mit erwachsen-nüchternen Stimmen zu überlagern.

 

Maë Schwinghammer, geboren 1993, aufgewachsen in Wien-Simmering, studiert Sprachkunst, schreibt außerdem Lyrik, Theaterstücke und Essays. „Alles dazwischen, darüber hinaus“ ist Maë Schwinghammers Debütroman.

Körperlichkeit spielt in „Alles dazwischen, darüber hinaus“ eine wichtige Rolle. Die Hauptfigur durchlebt im Kindesalter eine (kurzfristige) Fazialisparese, also eine Gesichtslähmung, später werden exzessiver Sport und Muskelaufbau als Ausdrucksmittel und Identitätsmarker genutzt. Auch Sexualität und der offene Umgang mit ihr spielen im Verlauf eine immer wichtigere Rolle. Parallel dazu besteht und wächst das Gefühl der Sprachlosigkeit, des Nicht-Verstandenseins, der Fremdheit. An einer Stelle heißt es: „Du hast immer durch deine Augen gesprochen.“ Inwiefern gehören die beiden Aspekte – Körperlichkeit und Sprache – für dich in Hinblick auf deinen Roman zusammen?
Sie gehören untrennbar zusammen. Ich begreife Sprache als etwas zutiefst Körperliches und versuche, meinen Körper und seine Verwandlungen sprachlich zu erfassen. Der Roman beginnt mit einem Zitat der Mutter: „Er kann nicht sprechen lernen, wenn er seinen Körper nicht kennt.“ Das war zwar sicher nicht so gemeint, aber ich glaube, die Aussage stimmt: Das Finden zu einer Sprache ist mit dem Kennenlernen des eigenen Körpers verbunden. Ich erfahre meinen Körper, betrachte ihn, befühle ihn und versuche, ihn mit den Wörtern zu beschreiben, die mir die Sprache zur Verfügung stellt, reichen die Wörter nicht aus, versuche ich, zu neuen Wörtern zu gelangen, die dies fassen können.

„Als Kind habe ich mich bereits als Mädchen geträumt“ – diese Stelle beschreibt sehr eindrücklich und berührend wie die Hauptfigur im Erwachsenenalter (noch immer) empfindet. Der Wunsch nach einer Hormonersatztherapie wird von einer Therapeutin begleitet. Einer völlig fremden Person. Doch: „Meiner Therapeutin muss ich nichts beweisen, sie zweifelt niemals an meiner Identität. Beweisen muss ich es dem Gesundheitssystem, und dieses besteht darauf, dass abgesehen von meiner Therapeutin auch noch ein*e klinische*r Psycholog*in und ein*e Psychiater*in bezeugen, dass ›ich‹ ›ich‹ bin. Die Beweisführung meiner Existenz.“ Das Negieren eines Selbst und der damit oftmals verbundene Hass auf marginalisierte Menschen ist traurigerweise fest in unserer Gesellschaft verankert. Was wären in deinen Augen Stellschrauben, an denen wir gemeinsam drehen müssten, um die Lebensrealität von Betroffenen zu verbessern?
Die Abschaffung der Notwendigkeit von Diagnosen für medizinische Behandlungen wäre ein immens großer Fortschritt, aber eigentlich lässt sich an allen Stellschrauben etwas drehen. Der gesellschaftlich-politische Zugang sollte nicht sein, marginalisierten Gruppen den Zugang zu Ressourcen, Behandlungen, Dokumenten etc. von oben zu erschweren, sondern umgekehrt, aus der Perspektive dieser Gruppen gedacht, die Voraussetzungen zu schaffen, dass der Zugang möglichst einfach ist.

Von der Vorstellungsrunde in der Schule, bis zum Vergleich von Statussymbolen: Die Hauptfigur erfährt sehr früh „die feinen Unterschiede“ in unserer klassistischen Gesellschaft. Der kindliche Stolz auf die Herkunftsfamilie, auf die Arbeitsuniformen der Eltern weicht im Verlauf des Heranwachsens immer mehr einem Gefühl der Scham. Ein weiteres sehr einprägsames Beispiel für Klassenkritik im Roman ist die aufgebürdete Solidarität und die Stigmatisierung durch „Hilfsangebote“. So kümmert sich die Hauptfigur beispielsweise in der Schulzeit heimlich selbst um Förderansuchen für Klassenreisen, um die Mutter vor Schuldgefühlen zu bewahren und um der Stigmatisierung in der Klasse bestmöglich zu entgehen. Wie würde sich deiner Einschätzung nach der Roman unterscheiden, würde er nicht in der Arbeiter*innenklasse spielen?
Es würden einige Aspekte fehlen und die Hauptfigur hätte abgesehen vom Riesenprivileg, weiß zu sein, noch ein paar mehr Privilegien, die möglicherweise, aber nicht zwingend, die Entwicklungsprozesse der Hauptfigur beschleunigen könnten. Auch die Sprache und die Sicht der Hauptfigur auf die Welt wären andere, am Ende wäre es wohl ein ganz anderer Roman.

 


Alles dazwischen, darüber hinaus“ erzählt vom Aufwachsen in der Arbeiter*innenklasse, von Wurzeln in Österreich und Serbien, von der Fluidität der Geschlechter, von Sexualität, Liebe und Freund*innenschaft, von Autismus und der Annäherung an gewählte und ungewählte Familien. Ein schmerzhafter und zugleich heilsamer Roman. Ein Debüt, das beides ist: das Einfangen von Stille. Oder auch: das Weglassen von ebendieser. Überall erhältlich, wo es Bücher gibt!

Über zwei Menschen, die einander Halt geben, in einer Zeit, die haltlos ist – Leseprobe aus „Es sind nur wir“ und Auszug aus dem „Wörterbuch der Verluste“ von Martin Peichl

Er ist ehemaliger Informatiklehrer, arbeitet an der Entwicklung von Computerspielen und schreibt; schreibt an seinem „Wörterbuch der Verluste“, in dem er festhält, was im Laufe der Zeit verloren gehen kann; schreibt von den Haaren, der Stimme, dem Verstand. Er taumelt durch eine Welt, die immer kurz vor der nächsten Katastrophe steht, verdrängt, womit er sich nicht beschäftigen will. Doch dann trifft er auf die Prepperin Mascha. Gemeinsam ziehen sie sich mehr und mehr zurück, in Maschas Haus auf dem Land … Martin Peichl vermag es, in poetischer, dichter Sprache von einem Alltag zu erzählen, der weit entfernt und doch so unglaublich nah scheint, vom Zustand unseres Planeten, von ständigen Krisen und einem Zurechtfinden der Menschen und Tiere in dieser Umgebung. Eindrücklich schreibt er über Trauer und Trost, Liebe und Freundschaft – und über ein Dasein, das gelebt werden will, gelebt werden muss, trotz aller Widerstände.

/01/ irreversible physikalische Prozesse

Wir beobachten tagtäglich irreversible physikalische Prozesse. In meiner Wohnung häuten sich Spinnen. Ihre Netze wirken verlassen, aufgegeben. Sie sammeln Staub, manchmal zittern sie gespenstisch im Luftzug. Gespenstisch auch das Licht, das durchs Fenster in die Wohnung sickert und sich in die Pfandflaschen hineinzwängt, wo langsam ein paar Tropfen Bier aufgewärmt werden, die zusammen vielleicht noch für einen letzten Schluck gereicht hätten.

Der Probealarm erinnert mich daran, dass ich meine Pflanzen gießen sollte. Zum An- und Abschwellen der Sirenen fülle ich die Gießkanne mit Wasser, bewege mich von Raum zu Raum, denke, wie unwahrscheinlich grausam es wäre, wenn sich tatsächlich eine Katastrophe ereignet hätte, und der Probealarm legt sich über den echten Alarm, weil irgendwo ein Atomkraftwerk explodiert oder der Krieg unerwartet ein paar hundert Kilometer näher gerückt ist, und die Menschen gießen Blumen, hängen Wäsche auf, skippen zum nächsten Song in der Playlist, während der Wind die Strahlung vor sich hertreibt, während Raketen starten, während Raketen einschlagen.

Mein Blick fällt auf die gebrochenen Sonnenstrahlen in den leeren Bierflaschen, ich drücke zwei Schmerztabletten aus der Blisterpackung, denke: Selfcare. Mein Handydisplay leuchtet auf, Sophia schreibt, dass sie mich liebt, ich dich auch, antworte ich und zünde mir eine Zigarette an. Die Tage sind zum Verwechseln ähnlich, seit ich nicht mehr in die Schule muss, die Tage sind austauschbar, aber ich weiß nicht, was ich lieber hätte stattdessen.

Die Schulleiterin war sichtlich erleichtert, als ich mit dem ausgefüllten Antrag auf Dienstfreistellung in ihr Büro gekommen bin, kaum Platz genommen, hatte ich auch schon ihre Unterschrift. Alles Gute für Ihr Projekt, hat sie gesagt und mir die Hand geschüttelt, ich musste fest zugreifen, um nicht abzurutschen.

Alles Gute für dein Buch, hat Sandra dann später zu mir gesagt, mich lange umarmt, und komm unbedingt zur Weihnachtsfeier. Nicht, wenn ich es verhindern kann, antworte ich. Sandra lacht, sie weiß, worauf ich anspiele. Unsere Weihnachtsfeiern sind eine Ausrede für schlechte Musik, für zu viel Alkohol und einmal zu eng mit dem jungen Kollegen tanzen, sich einmal zu oft von der älteren Kollegin mit nach Hause nehmen lassen. Die Kollegin mit der Puppensammlung. Ob sie zuschauen dürfen, habe ich sie gefragt, als sie mich an den in einer Vitrine ausgeleuchteten Puppen vorbei zu ihrem Bett geführt hat. Es ist nicht bei diesem einen Mal geblieben, wir brauchen schon lange keine Weihnachtsfeier mehr, um Sex zu haben.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich das Unterrichten vermisse. Aber nur das Läuten der Schulglocke am Stundenende fehlt mir, ein akustisches Signal, dass man etwas geschafft hat. Dass es okay ist, zusammenzupacken und zu gehen. Es war nie leicht für mich, über meinen Beruf zu sprechen. Die wenigsten Menschen haben eine konkrete Vorstellung davon, was im Informatikunterricht passiert. Also hatte ich mir eine Standardantwort zurechtgelegt: Die Kunst ist, die Nullen und die Einsen zu verstecken.

Auf meinem Schreibtisch liegt das Kuvert mit dem Befund. Ich habe den Brief wieder zusammengefaltet und in den Umschlag gesteckt. Am liebsten würde ich ihn zurück in den Briefkasten legen. Wie geht es dir heute, schreibt Sophia, wie geht es deinem Wörterbuch? Mein Wörterbuch ist in Wahrheit ein Zettelkasten. Auf Karteikarten sammle ich Geschichten über das Verlieren und habe in den letzten Jahren immer wieder die Idee geäußert, daraus ein Buch machen zu wollen, ein Wörterbuch der Verluste, habe in zu kurzer Zeit zu vielen verschiedenen Menschen von meinem Vorhaben erzählt, jetzt denken sie, ich würde tatsächlich daran arbeiten. Manchmal, an Tagen mit Sirenenalarm zum Beispiel, überkommt mich das Bedürfnis, die Karteikarten zumindest zu sortieren. Mir ein Ordnungssystem zu überlegen, das nicht nur für mich Sinn ergibt.

Ich ziehe ein paar Karten heraus, es fällt mir schwer, meine eigene Handschrift zu entziffern, nicht alle Einträge habe ich nüchtern verfasst, ich stecke sie wieder zurück und setze mich an den Computer, um nachzusehen, was heute im Workflow auf mich wartet. Seit ich nicht mehr unterrichte, arbeite ich ein paar Stunden in der Woche für ein Entwicklerstudio, das gerade sein erstes Videospiel veröffentlicht hat. Zu meinen Aufgaben gehört es, die neuesten Patch-Notes zu kommunizieren, auf unserer Website und in diversen Foren. Die anderen im Team sind gut darin, Bugs und Glitches zu beseitigen, ich muss nur die richtigen Worte dafür finden. Sie haben mir eine Liste geschickt mit allen Änderungen, ab morgen soll die neue Version zum Download angeboten werden. Ich beschließe, mich später darum zu kümmern.

Ich stelle fest, dass ich nur die Hälfte meiner Pflanzen gegossen habe. An manchen Tagen bin ich mir nicht sicher, ob ich eine Aufmerksamkeitsstörung habe oder mich einfach nicht einlassen will. Auf diese Welt, dieses Leben. Ich zünde mir eine Zigarette an, rauche zum Fenster hinaus, in einem der Innenhofbäume haben Vögel ihr Nest gebaut. Vögel, hat mir einer der Programmierer gesagt, findet er am schwierigsten. Er kennt kein Videospiel, das sie auch nur ansatzweise überzeugend darstellt. An diesen Satz denke ich oft. Und dem Rauch von der ausgedämpften Zigarette wachsen Federn.


Aus dem „Wörterbuch der Verluste“

den Faden verlieren
Ich weiß noch nicht, wo dieser Text hinführt. Womöglich in ein Labyrinth. Was gäbe ich für einen Ariadnefaden, für einen klaren Anfang, ein eindeutiges Ende.
Stell dir eine Datingshow vor: Zehn Männer werben um eine Frau, müssen aber vorher durch ein Labyrinth gehen, dort etwas umbringen für sie, anschließend wieder rausfinden. Je nachdem, wie sympathisch und attraktiv sie die Männer findet, gibt sie ihnen mehr oder weniger Meter Faden mit auf den Weg. Und wenn sie es richtig anstellt, wenn sie sich nicht verrechnet hat, überlebt ihr Favorit. Oder zumindest einer, der ihr halbwegs gefällt.
Eine besondere Form des Irrgartens ist das Spiegelkabinett. Aber nicht die nach innen oder außen gewölbten Spiegel mit ihren Verzerrungen machen uns zu schaffen. Es sind die ebenen Flächen, die wir kaum aushalten, wo jeder auftreffende Lichtstrahl den Spiegel im selben Winkel auch wieder verlässt und wir uns eingestehen müssen: Ja, das sind wir.

 

den Verstand verlieren
Es sind nicht die Windmühlen, gegen die Don Quijote anreitet, seine Riesen, die sich bei mir eingebrannt haben, sondern sein Kampf gegen die Weinschläuche über seinem Bett, sein nächtliches Fuchteln und Schlitzen, die Rotweinspritzer, die er für Blut hält. Zurück bleiben ein überschwemmtes Gästezimmer und Don Quijotes vorübergehender Triumph über die Monster, die er überallhin mitnimmt.
Wir nennen Menschen verrückt, die nicht an dem Platz bleiben wollen, den wir ihnen zugewiesen haben. Wie ein Gegenstand, den man verlegt hat, den man nicht wiederfindet, nicht mehr braucht.
Wenn ich Wein trinke, merke ich, wie die Welt mit jedem Schluck weniger schief wird, bis zu einem bestimmten Punkt, dann kippt sie wieder, jetzt in die andere Richtung. Die Kunst ist: die Balance zu finden, zwischen zu viel und zu wenig Alkohol, zwischen zu vielen Riesen und zu wenigen Windmühlen.

 

Final Girl
Die letzte Überlebende in Horrorfilmen. Ihre Rolle ist es, bis zum Showdown durchzuhalten, bis zur letzten Konfrontation mit dem Killer, der nach und nach ihre Freundinnen und Freunde umgebracht hat.
Das Final Girl ist intelligent und trickreich, am Schluss ist sie die Einzige, die von den Ereignissen berichten kann, eine durch das erlebte Trauma nur eingeschränkt verlässliche Erzählerin. Bei mehrteiligen Filmreihen ist sie außerdem das Bindeglied zum Sequel. Es gibt aber keine Garantie, dass sie auch einen zweiten, einen dritten Film überlebt.
Ich frage mich, wie viele letzte Überlebende es geben kann, was passiert, wenn für denselben Film versehentlich zwei Final Girls gecastet werden.

 

sich verrechnen
Die Existenz einer Hälfte suggeriert die Existenz einer zweiten. Warum sie getrennt wurden, ist nicht immer klar. Ebenso wenig, ob sie zusammengeführt wieder ein Ganzes ergeben. Umgangssprachlich nehmen wir es nicht so genau, da gibt es auch Hälften, die nicht gleich groß sein müssen. Oder wir reden von einer besseren Hälfte. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass es auch schlechtere geben muss.
Eine mathematische Anwendung, die ich mir von Julian abgeschaut habe, ist das sogenannte Bisektionsverfahren. Es erleichtert die Lösung eines Problems, indem man es in zwei etwa gleich große Teilprobleme zerlegt, die wiederum zerteilt werden können. Bis man vor lauter kleinen und kleinsten Problemen steht und vergessen hat, was man ursprünglich lösen wollte. Vielleicht habe ich das Prinzip aber auch falsch verstanden.

 

aus den Augen, aus dem Sinn
Als 1982 das Videospiel E.T. the Extra-Terrestrial floppt, nachdem das Entwicklungsteam nur fünf Wochen Zeit hatte, um das Spiel rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft fertigzubekommen, bleibt Hersteller Atari auf 3,5 Millionen unverkauften Modulen sitzen. Um vom kommerziellen Misserfolg abzulenken und Lagerkosten zu sparen, werden diese ein Jahr später großteils geschreddert, der Rest bei einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf einer Deponie vergraben.
2014 werden ein paar Hundert Stück ausgegraben und im Internet versteigert. Der höchste bei der Auktion erzielte Preis für eines der Spiele ist 1 535 Dollar, ein Vierzigfaches von dem, was es zum Erscheinungstermin gekostet hat. Falls mich jemand fragt, was ich mir zu Weihnachten, was ich mir zum Geburtstag wünsche.

 



Schon mal eine Wortarbeiterin kennengelernt? Today is the day! – Take-over & Buchempfehlungen von Stefanie Jaksch

Liebe*r Leser*in,

ich dürfe schreiben, worüber ich wolle, hieß es, und ich nutze den Raum, um mit dir über das Schreiben nachzudenken. Warum? Weil ich schreibe, seit ich es in der Schule gelernt habe. Weil ich mein Leben beruflich wie privat wohl auch deswegen so optimistisch meistere, weil ich dieses Werkzeug im wahrsten Sinne des Wortes „zur Hand“ habe. Vieles macht für mich erst Sinn, wenn ich Fragen oder Gedanken niedergeschrieben habe.

Wie schreibst du am liebsten? Bei einer Tasse Tee oder Kaffee, ganz analog in ein Notizbuch? Wo du gehst und stehst, deinem Smartphone etwas diktierend? Konzentriert am Schreibtisch, in die Tasten deines Computers hackend, eine Deadline jagend? Zeichenzahl-begrenzte Nachrichten in die kleinen Fenster von Social-Media-Plattformen oder Messenger-Dienste tippend? Es interessiert mich wirklich.
 
Wir entkommen dem Schreiben nicht, wir alle schreiben, und egal, wie wir es drehen, es ist eine Art, wie wir uns die Welt erklären. Etwas aufzuschreiben, aufzuzeichnen, der Nachwelt zu hinterlassen, ist neben der Oral History einer der ältesten Wege der Wissensvermittlung, die wir haben. Und führt man sich vor Augen, dass die ältesten Höhlenmalereien zigtausende Jahre alt sind und erste Keilschriften vor ca. 5.000 Jahren entstanden, komme ich mir mit meinem Schreiben seltsamerweise wie eine Anfängerin vor.  
 
Ich bezeichne mich als „Wortarbeiterin“, ein Begriff, der oft Stirnrunzeln hervorruft. Was daran Arbeit ist, dass ich Texte schreibe, redigiere, über sie rede, werde ich ab und an gefragt. Ich verdiene mein Geld mit Worten, ist inzwischen meine Antwort darauf. Dass das so ist, empfinde ich als ein großes Geschenk, aber es ist dennoch Arbeit; Arbeit, die mir manchmal den Atem raubt, die mich ab und an verzweifeln lässt, aber mich auch beflügelt, mir Welten eröffnet, mich fordert und fördert.
 
Über das Helle“ zu schreiben, war schwieriger als gedacht. Ich habe jede Menge Texte hinter mir, unter mir, in mir, und ich dachte wirklich, ich könne alles, was sich in mir gesammelt hat, leicht hintupfen, entspannt niederschreiben. Natürlich kam es anders: Mich dem Hellen, dem Optimismus, der Zukunft anzunähern, führte mich in mehr Niederungen, als ich voraussehen hätte können. Das Dunkle will eben doch immer und überall nach uns greifen.
 
Darüber hinaus ist es eine ständige Selbstbefragung geworden: Selten begegnet man sich selbst so schonungslos und mit so vielen Fragezeichen wie beim Schreiben; denn auch wenn viele Menschen an einem Text und seiner Buchwerdung beteiligt sind, es bleibt ein sehr einsamer Prozess. Wahrscheinlich ist mir deshalb die Form des Essays so wichtig und so nah: Dem Französischen entlehnt, ist diese Form ein Versuch. Ein Versuch, mir selbst, den Menschen um mich und der Welt auf die Schliche zu kommen.
 
Ich freue mich darauf, wenn du diesen Versuch mit mir gemeinsam wagst.
 
Auf ein Kennenlernen.
 
Mit herzlichen Grüßen
Stefanie Jaksch

Stefanie Jaksch
© Haymon Verlag / Fotowerk Aichner
Über das Helle

Stefanie Jaksch, geboren im fränkischen Erlangen, glaubt seit ihrer Kindheit, dass Bücher Nahrungsmittel sind. Sie war als Dramaturgin, Buchhändlerin und Verlagsleiterin für Kremayr & Scheriau tätig. Seit 2024 ist Jaksch als freischaffende Moderatorin, Kuratorin und Autorin unterwegs und hat das Büro für Literatur- und Kulturarbeit „In Worten“ gegründet. „Über das Helle“ ist ihr erstes Buch.

Die Renaissance des Optimismus beginnt jetzt!
Wir alle brauchen positive Zugänge zu großen Herausforderungen. Stefanie Jaksch begibt sich auf die Suche danach. Was sie dabei findet: Menschen, die, wie sie selbst, das Dunkle nicht gewinnen lassen wollen und: Hoffnung. „Über das Helle“ ist ein Buch, das den Widerstand in uns erweckt.


Bücher, die Halt, Hoffnung oder die Idee einer Zukunft geben – die Leseempfehlungen von Stefanie Jaksch: 

 

Zwischen Beatles-Frisuren, Flower-Power und der Sehnsucht nach der großen Welt: Mach dich bereit für eine Zeitreise in die 70er! Herbert Dutzlers Roman „Wenn die Welt nach Sommer riecht“ in 5 Songs + Leseprobe

Siegfried ist 13 – ein Alter, in dem Abenteuerromane und das Spielen draußen auf den Feldern in den Hintergrund rücken, etwas anderes dafür immer interessanter wird: Mädchen. Was zuerst lästiges Geschnatter war, hört sich plötzlich an wie engelsgleicher Gesang. Außerdem locken der erste Schluck Alkohol, der erste Zug an der Zigarette – die Kindheit ist vorbei, die Ära der Pubertät ist eingeläutet! Herbert Dutzler verwebt meisterhaft Siegfrieds persönliche Erlebnisse mit den gesellschaftlichen Umwälzungen der 1970er-Jahre. Ein Buch, das uns mit auf eine fesselnde Reise nimmt – in eine Zeit, in der sich für Sigi alles nach Sommer anfühlt, in eine Zeit voller erster Male.

1 Zimmer mit Fließwasser, warm und kalt

(…)
„Morgen kommen die Engländer!“, seufzt Tante Hermi und nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. „Hoffentlich geht das gut. Ich meine, mein Englisch … ich hab ja nur zwei Jahre gelernt, und das ist lang her.“ „Aber ich kann Englisch! Ich hab im Zeugnis einen Einser, einen lupenreinen! Ich kann ja mit denen reden!“ Die Tante zieht die Stirn in Falten. „How do you do mit die Gummischuh!“, schmettert Onkel Fredi fröhlich, geht zum Fernseher hin und dreht am Einschaltknopf. „Hau i di a mit die Goisara!“ Das ist ein beliebter Scherz, den er sehr oft anbringt. Onkel Fredi wartet auf die „Zeit im Bild“, die Nachrichtensendung um halb acht, und ich wende mich wieder meinem Buch zu.
„Ja, du! How do you do! Du hast ja nicht einmal eine Ahnung, was das bedeutet!“, sagt Tante Hermi. „Natürlich!“, erwidert Onkel Fredi. „So grüßt man sich in Amerika!“ Ich klappe mein Buch zu, denn nun muss ich mich einmischen. „Also, wir haben gelernt, dass man bis Mittag ‚Good morning‘ sagt. Danach ‚Good afternoon‘ und am Abend ‚Good evening‘. Wenn man ganz höflich ist, sagt man noch ‚Pleased to meet you‘.“
Die Tante verzieht ihr Gesicht zu einer verzweifelten Grimasse. „Sigi, das war mir jetzt schon zu viel. Wie war das noch einmal? Das muss ich mir aufschreiben!“ Sie läuft zu ihrem Schreibtisch und greift nach einem Notizblock. Ich sage ihr die Grußformeln noch einmal an. „Ich schreib mir’s einfach so auf, wie es sich anhört!“, sagt sie. „Weil wenn ich’s englisch aufschreibe, weiß ich dann nicht mehr, wie man’s ausspricht!“ „Es ist doch ganz einfach!“, prahle ich. „Das lernt man schon in der ersten Klasse! Sogar die Uschi kann das!“ „How do you do mit die Gummischuh, hau i di a mit die Goisara!“, wiederholt Onkel Fredi grölend. Er hat nicht zugehört und schon reichlich Bier getrunken. Gott sei Dank wird er dann immer zuerst lustig und dann schläfrig, während mein Papa gern zu fluchen und zu schimpfen anfängt, wenn er zu viel getrunken hat.
„Habt ihr denn noch nie Gäste aus England gehabt?“, frage ich die Tante. Sie schüttelt den Kopf, während Uschi den Kopf zur Tür hereinsteckt. „England?“, fragt sie. „Was ist mit England?“ Die Tante erklärt es ihr. „Ich muss aber nicht mit denen reden, oder?“, fragt sie. Uschi ist nämlich ein wenig schüchtern und hat überhaupt nicht gern mit fremden Leuten zu tun. Sie mag nicht einmal einkaufen gehen, hier in St. Edelgund, weil sie da die Leute im Geschäft nicht kennt.
„Natürlich nicht“, beruhigt sie die Tante. „Der Sigi wird dolmetschen. Hat er versprochen!“ Es klopft an der Wohnzimmertür, und die Tante öffnet. Draußen steht der Herr, der mit seiner Frau im zweiten Kinderzimmer wohnt. „Hätten Se wohl noch ’n Bierchen für uns, liebe Frau Wirtin?“ Er ist ein Deutscher, die sprechen so. Natürlich hat Tante Hermi, obwohl sie eigentlich keine Gastgewerbekonzession hat und kein Bier verkaufen darf. Im Geschäft kostet eine Flasche Bier zwei Schilling, und die Tante verkauft sie für vier Schilling weiter. „Das deckt mir grad die Schlepperei ab!“, sagt sie. „Ich muss ja schließlich auch die leeren Flaschen wieder zurückbringen. Und billiger als im Gasthaus ist es bei mir immer noch.“

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„Wie bist du denn überhaupt zu den Engländern gekommen?“, frage ich Tante Hermi. „Die Kurverwaltung hat sie mir vermittelt“, sagt sie. „Seit neuestem heißt unser Fremdenverkehrsbüro so. Wir sind nämlich jetzt ein Kurort. Wegen dem Wasser.“ „Das so stinkt!“, mischt sich Uschi ein. „Das würd ich nie trinken! Bäh!“ Sie streckt die Zunge heraus. „Wenn du so Kreuzweh hast wie ich“, ächzt der Onkel Fredi und hievt seine Füße auf den Couchtisch, „dann würdest alles trinken, wenn sie dir nur versprechen, dass es besser wird!“ „Ja, aber von den Füßen auf dem Tisch wird’s sicher nicht besser!“, schimpft Tante Hermi. „Was bist denn du für ein Vorbild für die Kinder! Runter mit den Flossen!“ Stöhnend gehorcht der Onkel. Es ist mir schon aufgefallen, dass hier im Haus die Tante den Ton angibt, noch mehr als bei uns zu Hause, wo Papa wenigstens meistens aufbegehrt, wenn Mama irgendwas entscheidet, ohne ihn zu fragen.
„Und die haben mich halt gefragt“, fährt die Tante fort, „ob ich auch Engländer nehmen täte, ob ich mir das zutraue. Und mit den Franzosen, da ist es ja auch gut gegangen, da haben wir uns halt mit Händen und Füßen …“ „Franzosen waren auch schon da?“, staune ich. „Wie sind denn die hierhergekommen?“ Die Tante zuckt mit den Schultern. „Genauso wie die Engländer, nehme ich an. Mit dem Auto halt.“

Ich bin verblüfft. Dass man so weite Reisen mit dem Auto unternehmen kann! Wir haben zwar seit ein paar Jahren einen VW Käfer, den Papa günstig von einer Nachbarin gekauft hat, deren Mann an Lungenkrebs gestorben ist. Der VW steht aber meistens im Heustadel und Papa muss ständig daran herumschrauben oder -schweißen. Mama schimpft dann immer und erinnert Papa daran, dass sie lieber noch ein wenig gespart und dann einen Ford Cortina gekauft hätte. Weil der hätte wenigstens einen ordentlichen Kofferraum, und außerdem hat der Mann von einer ihrer Freundinnen einen Ford Cortina, und da ist nie etwas kaputt. Ich kenne die Streitereien meiner Eltern praktisch auswendig, weil sie sich immer um die gleichen Dinge drehen und immer gleich ablaufen. Enden tun sie meistens damit, dass Papa die Tür hinter sich zuschlägt, zum Kirchenwirt geht und spät nachts die Stiege hinaufpoltert.

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Ich hab schon den ganzen Tag gebettelt, dass ich heute Abend die Sondersendung über Apollo 15 sehen darf. Diesmal haben die Astronauten ein Mondauto mit an Bord gehabt und sind auf dem Mond herumgefahren. Sie sind zwar gestern schon wieder zurück zur Erde gestartet, aber heute soll es eben eine Sondersendung geben, mit Filmmaterial, das bisher noch nicht gesendet worden ist. Leider bin ich der Einzige, den die Mondlandungen noch interessieren, sie sind inzwischen zum Alltag geworden und bei weitem keine Sensationen mehr. Mit 15 km/h sind die da oben herumgefahren, und auf manchen Aufnahmen kann man sehen, dass das Mondauto richtig über die Hügel hüpft. Es ist ja auch viel leichter, als es auf der Erde wäre. Auf dem Rückflug wird es noch einen spannenden Moment geben, denn der Kommandant der Kapsel muss aussteigen, um Datenkassetten einzusammeln. Es wird der erste Raumspaziergang in Mondnähe sein. Ich erkläre das alles der Tante und dem Onkel, aber die gähnen leider nur. Es ist eine Tragödie, dass sich so wenige Leute bei uns für den Fortschritt in der Wissenschaft interessieren. In zehn Jahren, das versprechen die Wissenschaftler, wird es eine ständig bewohnte Mondbasis geben, und in 20 Jahren wird man als Tourist dorthin fliegen und dabei zuschauen können, wie die Marsrakete auf dem Mond zusammengeschraubt wird.

Später im Bett lese ich noch in meinem Thor Heyerdahl und staune über so viel Mut. Mit einem aus Schilfstengeln zusammengebundenen Boot nach Amerika zu fahren, das ist eine ganz unglaubliche Geschichte. Amerika, das ist überhaupt ein Zauberwort für mich. Die ganzen Wildwestgeschichten von Karl May spielen dort, und die Raketen zum Mond, die starten auch in Amerika. Ob ich einmal auf dem höchsten Wolkenkratzer der Welt, auf dem Empire State Building, stehen werde? Das wird wohl ein Traum bleiben, fürchte ich. Denn gegen Ende der Ferien fahren wir wieder nach Caorle, mit dem Bus, weil unser Käfer für eine so weite Reise nicht taugt, sagt Mama. Weiter bin ich in meinem Leben bisher nicht gekommen.
Den nächsten Tag verbringe ich in großer Anspannung, denn wir erwarten die Engländer. Ich halte mich meist auf der Terrasse auf, damit ich sie nicht übersehe. Leider vertreibt mich zu Mittag der Regen, und ich muss mit meinem Buch unter dem Balkon Schutz suchen. Aber ich will trotzdem der Erste sein, der sie begrüßt.

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Endlich, gegen halb vier am Nachmittag, taucht ein seltsames Auto in unserer Einfahrt auf. Es ist ziemlich groß, grün und von einer Marke, die ich nicht kenne. Das Kennzeichen hat viel dickere Buchstaben als unsere und endet mit einem „G“. Ein österreichisches Auto kann es also nicht sein. „Tante Hermi!“, schreie ich und stürme durch die Terrassentür in die Küche. „Sie sind da! Die Engländer sind da!“ „Mein Gott!“ Die Tante springt auf und streicht ihre Schürze glatt. „Hoffentlich geht das alles gut!“ „Welches Zimmer kriegen sie denn?“, frage ich. „Die Nummer drei! Das mit dem Eckbalkon!“ Die Tante rennt zur Haustür, ich in ihrem Schlepptau. Die Engländer stehen hinter dem geöffneten Kofferraumdeckel und haben Schirme aufgespannt. „Sag ‚Good afternoon‘“, flüstere ich Tante Hermi noch zu. Sie schüttelt schon Hände. „Good afternoon, Missis Langdon!“, sagt sie. Und „Good afternoon, Mister Langdon!“. Es werden Hände geschüttelt, die Ankömmlinge lächeln. Er hat rötliches Haar und einen ebenso rötlichen Vollbart, während die Frau dunkelhaarig ist und in einem recht eleganten grünen Kleid steckt, das ungefähr dieselbe Farbe wie das Auto hat.
„I am Sigi!“, dränge ich mich vor, weil die Tante vergessen hat, mich vorzustellen. „And I can speak English!“ Die beiden lachen. „Wonderful!“, sagt Mrs. Langdon. Ich hab mir natürlich schon zurechtgelegt, was ich sagen werde. „May I carry your suitcase?“, frage ich und greife nacheinem Koffer, der schon auf dem Boden steht. Er ist auch grün, genauso wie Auto und Kleid. Damit er nicht nass wird, schnappe ich ihn gleich, um ihn aufs Zimmer zu tragen. Mrs. Langdon duftet auch ganz wunderbar, was mich erstaunt, weil sie doch sicher stundenlang im Auto unterwegs waren.
Mr. Langdon wuchtet einen noch größeren braunen Koffer aus dem Auto. Hinten auf dem Auto steht „Rover P6“, und es ist auch ein internationales Kennzeichen angebracht, auf dem „GB“ steht. „You have room number three!“, erkläre ich und gehe voran. Den Engländern scheint das Zimmer zu gefallen, sie loben die Aussicht auf den Zwölferkogel und hinunter ins Dorf bis zur Kirche. „Marvellous!“, zwitschert Mrs. Langdon und schiebt den Vorhang zur Seite. Mr. Langdon kramt in seiner Hosentasche und drückt mir schließlich einen Zehner in die Hand. Zehn Schilling! Dafür muss ich normal Tante Hermi zehnmal beim Abtrocknen helfen! So viel Trinkgeld habe ich noch nie bekommen! „Aber das wäre doch gar nicht nötig!“, beeilt sich Tante Hermi, die ein bisschen rot geworden ist, weil sie außer Nicken und Mit-den-Händen-Deuten noch nichts gesagt hat, nachdem sie die Langdons begrüßt hat.

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„And now“, sagt Mrs. Langdon, „I’d like to take a bath. After that long drive.“ Ich verstehe jedes Wort, sie spricht sehr deutlich und fast genauso wie unser Englischlehrer. Oje, denke ich mir, da wird die Tante nicht so erfreut sein. Denn wenn zwei Leute baden, dann wird bei uns das warme Wasser knapp, und weil der Boiler bloß mit Nachtstrom aufheizt, der viel billiger ist, haben dann die anderen Gäste möglicherweise kein warmes Wasser mehr für ihre Waschbecken. „Sie möchte baden!“, erkläre ich der Tante. „Selbstverständlich!“, nickt sie. „I show you the bath!“ Leider sagt sie „Bass“, ohne das „th“. Aber immerhin hat sie sich getraut. Sie geht auf den Gang hinaus und zeigt Mrs. Langdon den Weg.
„Oje“, seufzt die Tante, als wir wieder unten in der Küche sind. „Wenn die womöglich jeden Tag baden wollen, dann gute Nacht!“ „Vielleicht können wir ihnen das mit dem Boiler erklären?“, schlage ich vor. Die Tante schüttelt den Kopf. „Jetzt schauen wir einmal. Man darf die Gäste schließlich nicht vergrämen. Vielleicht geht es sich ja eh aus mit dem Warmwasser. Müssen wir halt sparen, ich mach mir zum Abwaschen was auf dem Herd heiß.“ „Schließlich“, erinnere ich sie, „steht auf dem Schild auch ‚Warmwasser‘.“ Die Tante verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. „Schilder sind geduldig!“, sagt sie. „Die müssen Geld haben wie Heu!“, fügt sie hinzu. „Das Kleid, das Auto, zehn Schilling Trinkgeld … warum die nicht in ein Hotel gegangen sind?“, fragt sie mehr sich selbst als mich. „Vielleicht, weil’s ihnen mit Familienanschluss besser gefällt!“ Die Tante wiegt zweifelnd den Kopf.
Familienanschluss bedeutet, dass sich manche Gäste am Abend zu uns ins Wohnzimmer setzen und mit der Tante und dem Onkel Wein und Bier trinken. Manchmal spielt Onkel Fredi dann auf der Ziehharmonika und alle singen dazu. Der Fernseher bleibt natürlich ausgeschaltet. Ich selber halte nicht so viel vom Familienanschluss, ich lese lieber.
Ich schleiche mich noch einmal in die Pension hinüber. Vielleicht brauchen die Engländer ja was, und ich bekomme noch einmal ein Trinkgeld. Im ersten Stock höre ich es dann kichern und platschen. Anscheinend hat Mrs. Langdon schon ihr Bad einlaufen lassen. Aber hört man da nicht zwei Stimmen aus dem Bad? Natürlich! Ein gekichertes „No, Jim!“ verstehe ich, und dann höre ich auch Mr. Langdon grummeln. Sind die beiden miteinander in die Badewanne gestiegen? Davon habe ich überhaupt noch nie gehört, dass ein Mann und eine Frau sich eine Badewanne teilen. Und wahrscheinlich ist es sogar ein bisschen unanständig. Andererseits wird es die Tante freuen, wenn ich es ihr erzähle, denn so sparen die beiden wenigstens warmes Wasser. Ich verziehe mich, bevor mich noch jemand sieht und womöglich denkt, dass ich an der Badezimmertür lausche.
Weil es noch immer regnet, gehe ich in unser Zimmer, wo Uschi gerade damit beschäftigt ist, ihrer Puppe die Haare zu kämmen. „Ich hab schon Englisch geredet!“, prahle ich. „Und die beiden Engländer, die sitzen gerade miteinander in der Badewanne!“ Uschi klappt die Kinnlade hinunter. „In der Badewanne? Miteinander?“ Ich nicke. „Wahrscheinlich seifen sie sich gegenseitig ein.“ Meine Fantasie spielt mir gerade wilde Streiche. Mrs. Langdon ist eine sehr hübsche Frau. „Aber … darf man denn das?“, fragt Uschi. Ich zucke mit den Schultern. „Vielleicht macht man das in England so. Und vielleicht haben sie ja auch eine Badehose an, und einen Badeanzug.“ „Aber das … der Mitzi-Oma darfst du das nicht erzählen!“, flüstert Uschi. „Die schmeißt die zwei dann nämlich gleich hinaus!“

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Zum Weiterhören: Sigis Hitparade

Danyel Gérard Butterfly
Michael Nesmith Silver Moon
John Lennon / Plastic Ono Band Power to the People
Georgie Fame & Alan Price Rosetta
T. Rex Get It On
Giorgio Son of my Father
Wolfgang Ambros Da Hofa
Rod Stewart Maggie May
Slade Coz I Luv You
The Cats One Way Wind
Can Spoon
The Beatles Lady Madonna
The Beatles All You Need Is Love
The Beatles Penny Lane
The Beatles Lucy in the Sky with Diamonds

 


Über die Kontrolle von Emotionen und die Emanzipation unserer Gefühle: Leseprobe aus „Chaos“ von Yassamin-Sophia Boussaoud

Je weniger man in gesellschaftliche Normen passt, desto größer ist es: das äußere und innere Chaos. Als Kind eines tunesischen Vaters und einer deutschen Mutter wird Yassamin-Sophia Boussaoud in Prien am Chiemsee geboren und spürt die Unterschiede der beiden Kulturen bereits früh auf sich einwirken. Yassamin-Sophia wird aufgrund des Aussehens anders behandelt, sieht sich mit Erwartungen und Konventionen konfrontiert, denen man kaum gerecht werden kann. Was folgt: Elternschaft im Teenageralter, ein von Ablehnung geprägtes Körperbild, das Unterdrücken der eigenen Gefühle. In „Chaos“ wird deutlich, welches Machtgefüge unserem System zugrunde liegt – und dass die Kontrolle von Emotionen ein Teil davon ist. Doch was geschieht, wenn wir uns diese Emotionen zurückholen? Mit dieser Leseprobe bekommst du einen Einblick in Yassamin-Sophia Boussaouds Buch, das mit einer literarischen und eindringlichen Stimme genau dort ansetzt, wo es wehtut, und uns aufhorchen lässt – Essays, die wir brauchen!

Epilog

Eine meiner merkwürdigsten Eigenschaften ist sicherlich die, dass ich bei jedem Buch das Ende zuerst lese. Ich kann einfach nicht anders. Schlage ich ein Buch auf, so überkommt mich die unbändige Sehnsucht, das Ende zu kennen.
Manch eine*r würde dies auf meine Ängste und meinen Hang zur Kontrolle schieben.
Ich hege diese Eigenschaft aber lieber als Besonderheit. Als wesentlichen Teil meiner Eigenheiten, von denen ich eine ganze Menge habe.
Das hier, das ist mein Buch.
Und ich wäre nicht ich, würde dieses Buch, diese Geschichte nicht mit dem Ende beginnen.

Ich schrieb dieses Buch im Frühling 2024 zu Ende – in einem für mich sehr aufregenden Jahr. Es ist das erste Jahr in meinem Leben, in dem die Sicherheit überwiegt. Ich bin 33 Jahre alt, verheiratet, lebe in finanziell einigermaßen sicheren Umständen und erwarte mein drittes Kind. Mein Leben ist gerade sehr simpel. Ich habe Armut und Wohnungslosigkeit überstanden, bin darüber hinweg, dass ich mein Studium abbrechen musste, und Heilung ist mittlerweile mehr als ein Ziel in weiter, weiter Ferne. Ich glaube, es ist das allererste Mal in meinem Leben, dass ich mit meinen vielen Gefühlen nicht mehr überfordert bin. Dass ich weiß, warum ich so fühle, so viel fühle. Und warum das in Ordnung ist.

Vor vielen Jahren, als ich ganz frisch begann, mich von meiner Herkunftsfamilie zu lösen und meine Traumata aufzuarbeiten, schrieb ich folgende Sätze:

“Ich bin zuweilen eine wirklich unmögliche Person! Ich halte mich selber für etwas ‚Besonderes‘, gehe davon aus, die Gefühlswelt anderer genau erfassen zu können und bade nur allzu gerne in Selbstmitleid und Melancholie. Von Kindesbeinen an hatte ich das Gefühl ‚Ich bin anders‘. Ich war neidisch, ohne es zu bemerken. Ich war eine Träumerin. Das Abwesende erschien mir so viel angenehmer als die Realität. Ich bin kleiner als diese Welt, ich verneige mich in Demut vor ihr und ihrer vollkommenen Schöpfung. Vollkommen bin ich wahrlich nicht. Davon war ich überzeugt.”

Wenn ich das heute lese, dann muss ich einerseits schmunzeln, andererseits habe ich Mitleid mit meiner jüngeren Version. Ich war früher schier besessen davon, mein Leben und meine Gefühle zu ordnen und „ein guter Mensch“ zu sein. Ich dachte, ich müsse meine Existenz rechtfertigen und „wieder gutmachen“.

Dabei war ich einfach ein sehr junger Mensch, dem in der Kindheit und im Jugendalter Gewalt angetan wurde. Der mit 16 plötzlich erwachsen werden musste.

Über die Jahre habe ich gelernt, dass meine Gefühle valide sind – die daraus folgenden Handlungen jedoch nicht immer.

Ich habe gelernt, dass der Schlüssel nicht darin liegt, das Chaos in mir aufzulösen, sondern es zu verstehen. Mich verstehen zu lernen. Und dass Selbstliebe keine Bedingung ist.

Ich würde heute nicht mehr behaupten, dass ich mich selbst liebe. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob dies jemals so sein wird. Aber ich bin mir heutzutage ein*e Freund*in. Was bedeutet, dass ich manchmal sanft zu mir bin und manchmal hart zu mir sein muss. Dass ich keine Ausreden wie „Nicht alle müssen mich mögen“ oder „Solange ich selbst weiß, was richtig ist“ nutze, sondern mich mitunter auch zwinge, zuzuhören, zu lernen und Veränderung zuzulassen. Denn ich bin nur ein einziger, letztendlich unbedeutender Mensch in diesem unendlich großen Universum. Und ich glaube, dass es mehr als genug Menschen gibt, die auf sich schauen. Ich möchte mich bewusst dazu entscheiden, auf andere zu schauen. Zusammenhalt, Care Arbeit und der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen den höchsten Stellenwert in meinem Leben zu geben. Ich möchte eine*r von Vielen sein. Mich selbst nicht zu wichtig nehmen und mir gleichzeitig meinen Raum nehmen und zugestehen. Das ist nicht einfach, und es ist nichts, was man einmal lernt und dann kann.

Ich glaube, es ist meine größte Erkenntnis, dass es kein Ende, kein Ankommen, keinen Zustand gibt, in dem wir als Menschen fertig sind. Dass unsere Gefühle keinen Anfang und kein Ende haben. Dass wir nicht allgemeingültig lernen können, wie wir zu welchem Zeitpunkt mit unseren Gefühlen umgehen. Dass Gefühle nicht linear sind, keine Einbahnstraße.

Ich und wir sind Wesen aus Sternenstaub. Wir sind alles, was gewesen ist, ist und sein wird.  Wir sind besonders und gewöhnlich zugleich. Wir sind Menschen. Nicht mehr und nicht weniger.

Von der Unruhe

Als ich noch nicht wusste, wie diese Welt sein kann,
da war es so viel einfacher zu sein.
Ohne nachzudenken.
Nur ich selbst. Getragen von Füßen,
die keine Angst davor hatten, Unbegangenes zu begehen.
Geleitet von Gedanken, die nicht davor zurückscheuen,
meine zu sein.

Als ich noch nicht wusste, wie viel Schmerz möglich ist,
da war es so viel einfacher zu lieben.
Ohne nachzudenken.
Einfach zu fühlen.
Geleitet von einem Herzen, das keine Angst kennt,
das zu erkunden, was man* Leben nennt.

Als ich noch nicht wusste, wie unschön es sein kann,
sich zu erinnern, da war es noch wichtig,
immer alles zu erleben. Nichts auszulassen.
Um jeden Preis dabei zu sein.

Als ich noch nicht wusste, wer ich bin, war ich traurig.

Ich wusste nicht, dass der Kummer die Freude umarmen kann.

Und dass sie für immer verbunden meinen Weg mir weisen.

Vielleicht weiß ich manches.
Vielleicht weiß ich nichts.
Aber doch, dass meine Füße mich auch tragen, wenn die Angst mich überkommt.
Dass mein Herz so vieles verstehen und vergeben kann, aber nicht muss.
Ich weiß, dass all meine Fehler mir zeigen, dass es das ist, was wir Leben nennen.
Dieses Chaos aus Versuchen, Fehlern und Gefühlen.

Unter dem Begriff Unruhe verstehen wir einen Zustand, in dem Ruhe fehlt oder auch ein Zustand ständiger Bewegung. Unruhe kann innerlich stattfinden oder äußerlich sichtbar sein.

Die Unruhe, die ich meine, ist jene, die sicherlich viele Menschen mit Migrationshintergrund kennen und ebenso wie viele marginalisierte Menschen, Menschen, die in der Gesellschaft Diskriminierung erfahren, sie kennen. Die unruhige Suche nach Antworten, nach einem Zuhause. Die Sehnsucht danach, Boden unter den Füßen spüren zu können.

Kantaoui, Osttunesien, 1. August 2022

Die Sonne ist vor wenigen Minuten erst aufgegangen, die Hitze jedoch bereits deutlich zu spüren. Ich laufe die wenigen Meter von meinem Zimmer zum Strand. Da liegt es vor mir. Das glänzende Mittelmeer: sanft, regelmäßig atmend. Der salzige Duft neckt mich.
Ich schlüpfe aus meiner Jibba, lege meine Chleka ab und gehe ins Wasser. Es empfängt mich, umhüllt mich, trägt mich. Ich muss aufpassen, denn hier in der Bucht gibt es jede Menge dieser kleinen, durchsichtigen, harmlos wirkenden Quallen, deren Stiche so brennen. Seit ich hier bin, hat mich die ein oder andere schon erwischt. Ich schwimme ein Stück weiter hinaus, wo es weniger werden. Wie lange ich nicht mehr hier war, kann ich kaum fassen. Mehr als 15 Jahre. So viele heimatlose Jahre. Ich versuche, nicht so viel nachzudenken. Nur zu fühlen. Das salzige Wasser auf meinen Lippen, den angenehmen Druck auf meiner Haut, die Morgensonne auf meinen raspelkurzen Haaren. Mein Atem in meinen Lungen. Meine Schwimmbewegungen. Das hier, ja, das ist der Ort, an dem ich gerade sein soll.
Das letzte halbe Jahr war ein Auf und Ab, wie ich es noch nie erlebt habe.
Ich musste mein Studium abbrechen. Meine Kinder mussten zu ihrem Vater ziehen. Ich war wohnungslos.
Wir hören sehr häufig, dass wir alles schaffen können – wenn wir es nur wirklich wollen. Und daran habe ich geglaubt. An dieses grausame Märchen. Ich war sehr ehrgeizig, machte mit 25 mein Abi nach und wollte mit zwei Kindern, alleinerziehend, in eine neue Stadt ziehen und studieren. Zu Beginn schien alles gut zu funktionieren. Wir hatten eine bezahlbare, kleine Wohnung in einem Studierendenwohnheim, mein Studium lief gut an, wir fanden schnell Anschluss. Nach einigen Monaten begannen die Schwierigkeiten. Ein BAföG-Antrag, dessen Bearbeitung sich über acht Monate zog und nicht voran ging, keine Unterstützung von meiner Herkunftsfamilie, keine Ersparnisse. Ich musste während des Studiums bis zu 35 Stunden die Woche in meinem alten Beruf als Kinderpfleger*in arbeiten, wenig später die Pandemie. Ich wollte all das schaffen. Denn weder wollte ich den Rest meines Lebens unter den schlechten Bedingungen und unterbezahlt als pädagogische Hilfskraft arbeiten, noch wollte ich die Person sein, die so früh Kinder bekommen hatte und es dann nicht geschafft hat. Ich wollte es unbedingt schaffen.
Aber in dieser Gesellschaft schaffen es nur jene mit ausreichenden und vor allem den richtigen Privilegien. Dazu gehörte ich auf jeden Fall nicht.

Ich will nicht zu viel darüber nachdenken. Die Angst nicht zu viel Raum einnehmen lassen. Denn diese Gedanken machen mich unruhig, rufen die Rastlosigkeit in mir hervor, der ich versuche zu entkommen. Nicht zu viel darüber nachdenken. Einfach schwimmen. Hier, an diesem Ort, den ich nicht kenne, der aber meine Heimat ist. Mehr als jeder andere Ort auf der Welt vielleicht. Langsam füllt sich der Strand. Menschen nutzen hier die Morgen- und Abendstunden zum Schwimmen, tagsüber ist es zu heiß. Daran lassen sich Tourist*innen erkennen. Wenn sie in der Tageshitze am Strand liegen, dann gehören sie eigentlich nicht hierher.
Ich schwimme zurück, gehe aus dem Wasser und ziehe meine Jibba wieder an, schlüpfe in meine Chleka und wünsche ein paar bekannten Gesichtern einen guten Morgen: „Sbeh el – khair“.
Diese Sprache, die irgendwo in meinem Kopf wohnt. Ich konnte sie sprechen, sie ist Teil von mir, aber ich kann sie nicht greifen. Alles was ich heute noch hinbekomme, sind ein paar einfache Floskeln, simple Sätze. Wie ein kleines Kind, das gerade sprechen lernt. Ich hasse das. Zurück am Haus wasche ich meine Füße in den Eimern, die hier vor jedem Eingang stehen. So halten sich die Menschen den Sand aus ihren Häusern. Ich bin darin aber ziemlich schlecht. In meinem Bett findet sich stets Sand. Nach einer kurzen, kalten Dusche hänge ich meine Sachen zum Trocknen auf, ziehe mir ein Kleid über und mache mir etwas zu essen. Ich röste Baguette über der Gasflamme, dazu gibt es Chamia – eine Paste aus Sesam, Zucker, Mandeln und Pistazien – und Feigenmarmelade. Es gibt hier noch keinen Kaffee in dieser Ferienwohnung. Ich schenke mir ein Glas Birnensaft ein und nehme eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Als Kind habe ich Wasser aus der Leitung getrunken. Nun geht das hier nicht mehr. Ich setze mich auf die hölzerne Couch, ziehe den Fliesentisch zu mir hin und frühstücke. Die Süße macht mich glücklich. Es schmeckt besser als in meiner Erinnerung. Erinnerungen. Sie schießen hier aus dem Boden wie kleine Pilze. Und ich kann sie nicht alle einordnen. Zu lange ist es her. Zu viel ist geschehen. Ich versuche mich auf mein Frühstück zu konzentrieren. Aber es geht nicht. Meine Gedanken wandern in eine Welt, die ich so lange verdrängt habe…

Der Duft von heißen Steinen und Brot umhüllt das kleine Haus, in dem meine Familie lebt. Es gibt ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eines für die Kinder, ein spärlich ausgestattetes Bad und eine Küche. Im Hinterhof steht eine Tabouna. Dort wird das Brot gebacken, das ich so gerne zum Frühstück esse. Meine Tante nimmt dicke Teigkugeln aus einer metallenen Schüssel, zieht sie in gleichmäßigen Bewegungen auseinander und wirft sie gegen die Wände des rundlichen Lehmofens. Es duftet so gut – nach Zuhause.
Wir Kinder sitzen alle um den weißen Plastiktisch in der Küche. Es gibt Saft, Fladenbrot, Chamia und Feigenmarmelade. Abends liegen wir alle zusammen im Wohnzimmer auf dünnen Matten, in bunte Decken gekuschelt. Ich darf neben meiner Ommi schlafen. Sie riecht nach Henna und Weihrauch, Knoblauch und Tomaten. Niemand muss alleine schlafen. Die Nächte sind kalt, aber hier in diesem Zimmer ist es warm. Ich kenne viele der Familienmitglieder nicht gut. Die meisten über Jahre nur vom Telefon. Meine Ommi kenne ich einerseits so gut und andererseits kaum. Mein Baba hat mir von klein auf all die Geschichten aus seiner Familie erzählt. Sie alle lebten, bis ich sie dann besuchen konnte, in dieser Utopie in meinem Kopf. Eine Familie, in der alle so aussehen wie ich. Mit brauner Haut, dunklen Augen und Locken. Eine Familie, in der ich einfach nur ich sein kann.
Mein Baba holt mich ab. Wir fahren nach Sidi Bou Saïd. Das ist die Stadt mit den blauen Fenstern und dem Café, das meinen Namen trägt. Yassamin. Überall blüht Jasmin. Die kleinen weißen Blüten zieren die Gassen und Gehwege. Die salzige Meeresluft kitzelt meine Nase. Ich war das Kind, das mein Baba immer in Cafés mitgenommen hat. Vielleicht, weil er meine Gesellschaft genoss. Vielleicht, weil ich in der Hinsicht recht unkompliziert war. In meiner Kindheit verbrachte ich viele Stunden mit meinem Baba in Cafés, lauschte seinen Gesprächen mit Freunden, beobachtete Menschen um uns herum und trank Pago Säfte aus kleinen, grünen Flaschen oder aß ein Mickey-Maus-Eis mit zwei kreisrunden Waffelblättern als Mäuseohren. Ich mag diese Erinnerungen. In Sidi Bou Saïd saßen wir in diesem Café, in das man nur über viele Treppen kam und von dem aus man das Meer sehen konnte. Ich trank dort Citronnade, die typisch tunesische Zitronenlimonade und Minztee mit Mandeln. Mein Baba trank wie immer Espresso. Manchmal rauchte er. Manchmal nicht. Manchmal redeten wir. Manchmal war die Stille zwischen uns der sicherste Ort auf dieser Welt.

Ich nehme einen kräftigen Schluck kalten Birnensaft.
Diese Erinnerungen schmerzen.
Sie erinnern mich an das, was ich so lange vermisste. Wärme. Diese Art von Wärme, die mir in Deutschland stets verwehrt blieb.



Gespräch mit Alexander Graeff von der Queer Media Society: „Unsere Sprache transportiert so oft vermeintliche Selbstverständlichkeiten, Unverrückbarkeiten. Damit blenden wir den Blick darauf aus, dass wir in mehrerer Hinsicht vage Wesen sind, unsere Identitäten sind porös und wandeln sich ständig.“

Die Queer Media Society, kurz QMS,  ist eine ehrenamtlich organisierte Initiative von Medienschaffenden, die sich gegen Diskriminierung von queeren Personen in allen Mediensparten einsetzt und sich für eine offene Gesellschaft engagiert. Es ist bisher das einzige Netzwerk dieser Art im gesamten deutschsprachigen Raum – und womöglich darüber hinaus. Wir haben uns mit Alexander Graeff, Leiter der Sektion „Literatur/Graphic Novel/Verlagswesen“ über die Notwendigkeit queerer Initiativen und Bücher unterhalten. 

Lieber Alexander, fangen wir am besten am Anfang an: Wer und was ist die QMS, wie ist sie organisiert?
Die QMS ist mehr eine soziale Bewegung, als eine Organisation im engeren Sinne. Wir sind keine NGO oder ein Verein, haben keine Rechtsform. Die QMS existiert allein durch das individuelle und kollektive Engagement unserer ehrenamtlichen Mitstreiter*innen. Jenseits dieser selbst verwalteten Gruppenstruktur gibt es keine übergeordneten Gremien, keinen Vorstand oder Ähnliches. Es gibt Aktive und Menschen, die durch ihre Stimme dem Kollektiv eher passiv Gewicht geben.

Welche Veränderungen hat die QMS bisher vorangetrieben? Wo tritt die QMS auf und mischt sich ein?
Wir versuchen, branchenpolitisch auf die unzureichende Repräsentation queerer Medienschaffender und ganz allgemein auf queere Sichtbarkeit im Hinblick auf produzierte und rezipierte Medien aufmerksam zu machen. Dabei verfallen wir nicht in den binären Modus, dass wir als marginalisierte Personen moralin auf die Mehrheitsgesellschaft zeigen. Wir kooperieren mit den Brancheninstitutionen, mit Verbänden, Produktionsfirmen, Verlagen, um gemeinsam mit den Machtzentren im Medienbereich über Machtverhältnisse und -strukturen zu sprechen. Ergebnisse sind zum einen Aufklärungsarbeit und Beratung, etwa durch Trainings zu relevanten Themen der Diversität, zum anderen möglichst pressewirksame Aktionen, Diskussionspanels, Debatten- und Diskursbeiträge sowie Veranstaltungen, die möglichst hohe queere Sichtbarkeit und Öffentlichkeit im Medienbereich generieren.

Eine große erfolgreiche Aktion der Vergangenheit war z. B. die Vorbereitung der #ActOut-Kampagne 2021 innerhalb der Film-Sektion. Allerdings hölt auch hier steter Tropfen den Stein. Ich denke, kontinuierliche Angebote sind wirksamer, weil sie regelmäßig und dauerhaft an die Schieflagen innerhalb unserer Kultur erinnern, und so die Effekte nicht nach einem Aktionsjahr wieder verpuffen. Nur so viel: Trotz #ActOut ist für 2023 ein Rückgang queerer Figuren in deutschen Filmproduktionen zu verzeichnen.
Mit der Literatur-Sektion veranstalten wir außerdem jährlich zur Buchmesse in Leipzig ein Panel zu relevanten Themen. Der Haymon Verlag ist ja unser Kooperationspartner bei diesem Projekt. Ebenso kooperieren wir auch jährlich mit dem Börsenverein des deutschen Buchhandels für die #PrideBuch-Social-Media-Aktion im Pridemonth Juni.

Alexander Graeff ist Schriftsteller, Philosoph und Literaturvermittler. Er schreibt Lyrik, Prosa sowie biografisch-philosophische Essays – und mischt die Gattungen ganz gern. Er ist Leiter des Programmbereichs Literatur im Berliner Kunst- und Kulturzentrum Brotfabrik sowie Initiator der Lesereihe „Schreiben gegen die Norm(en)?“. In der Queer Media Society setzt er sich für mehr Sichtbarkeit queerer Personen und Stoffe im deutschsprachigen Literaturbetrieb ein. Graeff engagiert sich kulturpolitisch, u. a. in der Berliner Literaturkonferenz (BLK), im Netzwerk Freie Literaturszene Berlin (NFLB) und im PEN Berlin.

Foto: Sarah Berger

Johannes Kram, Autor, Blogger und QMS-Mitstreiter sagte in seinem Vortrag bei der Kick-Off-Veranstaltung der QMS im Februar 2019 in Berlin, es sei wichtig, dass sich mehr queere Medienschaffende outen würden. Gleichzeitig räumte er ein, dass das Coming-Out insbesondere für Schauspieler*innen eine Belastungsprobe für die Karriere sei. Hieraus ergeben sich gleich mehrere Fragen: Was denkst du, warum halten sich ausgerechnet in der Kulturszene solch starre Strukturen so hartnäckig? Und: Wie schätzt du den Stellenwert des Outings ein für das übergeordnete Ziel, eine offenere und bessere Kreativlandschaft zu erreichen? Sollten sich in einer gerechteren Welt nicht alle Menschen outen müssen – oder niemand? Anders ausgedrückt: Ist diese Erwartungshaltung an ein Outing nicht eine weitere Zumutung für queere Personen, die Ungerechtigkeit zementiert?
Wir wissen ja aus der Geschichtswissenschaft, dass Kunst und Kultur zentrale Parameter einer Aktualisierung gesellschaftlicher Normen waren und sind. Romane, Theaterstücke, Gemälde, Opern usw. waren immer schon Sprachrohre mehrheitsgesellschaftlicher Lebensideale. Die frühe bürgerliche Gesellschaft wäre ohne die Ideologisierung ihrer Werte nicht ausgekommen, Stichwort: Dialektik der Aufklärung. Die Kunst half genauso mit wie die Erziehung. Ein prominentes Beispiel ist die Romantik als Kunstströmung um 1800. Ohne sie hätte sich die heteronormative Matrix mit binärer Geschlechterhierarchie, romantischer Zweierbeziehung und Reproduktionszwang nie so nachhaltig in unsere Hirne und Herzen einpflanzen können.
Die Notwendigkeit eines Outings ist in sozialwissenschaftlich-kritischer Perspektive natürlich immer ein Problem. In lebensweltlicher Hinsicht oft auch. Ich muss mir das Coming-out als notwendigen Entwicklungsschritt schönreden. Emanzipation innerhalb einer Gesellschaft ist nie erreicht, wenn die Markierung von Personen, Perspektiven und Identitäten als Erwartungshaltung existiert. Einfach, weil die Abweichung von der Norm die hegemoniale Norm bestätigt. Nur in einer idealen Gesellschaft braucht es kein Coming-out. Wir leben aber leider nicht im Wolkenkuckucksheim, sondern in einer durch und durch hierarchischen, patriarchalen und von Machtinteressen gesteuerten Kultur mit problematischer, meist unreflektierter Geschichte. In der realistischen Perspektive also ist das Outing immer noch wichtig, um den ersten Schritt der Markierung abweichender Positionen zu machen. Die traditionell nicht markierte Norm folgt dann im Prozess der historischen Emanzipation. Das hat auch viel mit Sprachfindung zu tun, denn Markierung heißt ja nichts anderes als Zustände via Sprache bezeichnen zu können. Zur Erinnerung, das Wort „trans“ ist älter als das Wort „cis“.

Im Oktober 2021 veröffentlichte die Universität Rostock die Fortschrittsstudie „Sichtbarkeit und Vielfalt“. Die Leiterin der Studie, Prof. Dr. Elizabeth Prommer, bilanzierte: „Die Ergebnisse zeigen, dass unser Fernsehprogramm noch nicht die Vielfalt der Bevölkerung abbildet.“ Bei queerer Repräsentation wird festgestellt, dass „nur rund 2 Prozent der im Beobachtungszeitraum erfassten Personen nicht heterosexuell waren.“ Sichtbar wurden nur homosexuelle (0,9%) und bisexuelle (1,3%) Charaktere. Bei 27,4% war die sexuelle Orientierung „nicht erkennbar“.
Weiterführende Erhebungen und repräsentative Zahlen für alle anderen Medienbereiche im deutschsprachigen Raum gibt es bisher nicht. Das möchte die Queer Media Society unter anderem ändern.

Du selbst bist Schriftsteller, Philosoph und Literaturvermittler – und du leitest die Sektion „Literatur/Graphic Novel/Verlagswesen“ bei der QMS. Kannst du uns ein bisschen was darüber erzählen, wie du zur QMS gekommen bist und wie deine Netzwerk-Arbeit aussieht?
Ich war 2019 beim Kick-Off der Film-Sektion dabei. Dort lernte ich den QMS-Initiator und Regisseur Kai S. Pieck kennen. Gemeinsam mit einer Gruppe von ungefähr zwölf Autor*innen und Comic-Zeichner*innen baute ich dann die Literatur-Sektion auf. Es gab regelmäßige Treffen, bei denen wir über mögliche Aktionen brainstormten. Daraus sind dann die aktuellen Dynamiken erwachsen. Leider hatte uns die Corona-Krise stark getroffen und in Sachen Engagement sehr viel Wind aus den Segeln genommen. Viele ehemals Aktive sind dadurch leider in der Versenkung verschwunden.

Heute koordiniere ich die Aktionen, die wiederum andere, neue Aktive realisieren. Dazu zählen die Panels im Rahmen der Leipziger Buchmesse und die #PrideBuch-Kampagne. Wir arbeiten so, dass jede*r das macht, was sie*er machen kann. Unsere Arbeit ist immer ehrenamtlich, d. h. angesichts der prekären beruflichen Situation vieler Autor*innen und anderer Personen, die im Literaturbetrieb arbeiten, muss die aktivistische Mehrarbeit gut geplant und effizient realisiert werden.

Welche persönlichen Beweggründe gab und gibt es für dein Engagement für die QMS? 
Für mich ist mein Engagement für die QMS bis heute eine Konsequenz meiner eigenen Politisierung seit 2014. In dieser Zeit wurde mein Schreiben insgesamt politischer, und ich auch mutiger. Das war der innere Beweggrund. Es gab auch einen äußeren. Die gesellschaftlichen und wenig später parlamentarischen Veränderungen in Deutschland machten für mich die Sache dringlich. Soviel wusste ich nämlich aus der Geschichte dieses Landes: Die bürgerliche Gesellschaft mit ihrer Tendenz, abweichende Teile des sozialen Miteinanders unsichtbar zu machen, ermöglichte erst den Aufstieg rechtsnationalistischer und faschistischer Projekte und Parteien. Es war fast so, als ob der immer dringlicher werdende Kampf gegen die politischen Unsäglichkeiten der letzten zehn Jahre in meine Literatur und in mein Handeln innerhalb der Branche drängte.

Was würdest du dir für die Zukunft der Buchbranche wünschen? Wo siehst du besonderen Handlungsbedarf?
Handlungsbedarf sehe ich vor allem da, wo unter Diversität ein eigenartiges Neben- und Herausstellen von vermeintlichen Werten betrieben wird. Verlage etwa, für die Queerness bloß ein mehr oder minder abstraktes Thema ist und dieses breitenwirksam verkaufen wollen, beschädigen die Emanzipationsbewegung. Queere Sichtbarkeit ist auf jeden Fall nicht, dass im selben Verlagsprogramm rechtspopulistische Propaganda neben dem Coming-of-Age-Roman eines trans Autors steht, nur weil sich damit mittlerweile auch Geld verdienen lässt. Einige konservative Verlage gehen immer noch so vor. Sie verändern ihr Programm nicht, weil sie sich ihrer Verantwortung als Kulturinstitution und gegenüber einer Gesellschaft, die sich emanzipiert, bewusst werden, sondern weil sie neue Marktanteile gewinnen wollen. Noch enttäuschender finde ich es allerdings, wenn vermeintlich progressive Autor*innen in exakt diesen paternalistischen und konservativen Institutionen ihre Bücher veröffentlichen.

Woran liegt es deiner Meinung nach, dass echte Diversität und Stimmenvielfalt am Buchmarkt scheinbar so schwer zu erreichen sind?
Ich traue Echtheit nicht über den Weg. Wann ist Echtheit erreicht? Wann ist Diversität echt? Unsere Sprache transportiert so oft vermeintliche Selbstverständlichkeiten, Unverrückbarkeiten. Damit blenden wir den Blick darauf aus, dass wir in mehrerer Hinsicht vage Wesen sind, unsere Identitäten sind porös und wandeln sich ständig. Diesen Sachverhalt durch Literatur in die Hirne und Herzen zu bringen, ist mir wichtiger, als Begriffe exakt definieren zu können.

Aber zum Inhalt deiner Frage: Es liegt an einem insgesamt prekären Betrieb, in dem sich bildungsbürgerliche Ideale verknoten mit einem beruflich bedingten Konkurrenzkampf um Honorare, Preise, Kritiken, Programmplätze usw. All das ist begrenzt und unsere Branche ist finanziell schlecht ausgestattet. Der Druck, Literatur als hehres demokratisches Instrument sehen zu wollen bei gleichzeitig unauskömmlicher Finanzierung der Sparte, macht etwas mit seinen Akteur*innen. Offenheit für Diversität jenseits des oben erwähnten Tokenismus ist also nach wie vor schwer herzustellen. Der Literaturbetrieb hat ganz grundlegend ein Verteilungs- und ein Solidaritätsproblem.

Als abschließende Frage: Wer kann Teil des QMS-Netzwerks werden und wie geht das?
Jede*r, die*der professionell im Medienbereich tätig ist, kann mitmachen. Um sich der sozialen Bewegung anzuschließen und einem wachsenden Kollektiv Nachdruck zu verleihen, sind zwei Dinge nötig: Gesicht zeigen und Stimme erheben. Auf der Internetseite der QMS kann man sich mit seinem persönlichen Foto-Statement anmelden.

 

Du arbeitest im Medienbereich und hast Lust, Teil der Queer Media Society zu werden?
Hier findest du alle Infos, die du brauchst!

Ein Essay, der die Dämmerung unserer Zeit durchbricht: Leseprobe aus „Über das Helle“ von Stefanie Jaksch

Krisen, Kriege, Klimawandel – sie haben die Welt fest im Griff, das wird uns Tag für Tag vor Augen gehalten. Beim Scrollen durch Social-Media-Feeds, in den Abendnachrichten, im Podcast, der uns eigentlich Zerstreuung versprach. Wenn wir ehrlich sind, faszinieren und beschäftigen uns Katastrophenmeldungen mehr als die guten Neuigkeiten – so funktioniert die Aufmerksamkeitsökonomie. Und wir haben uns in gewisser Weise an das apokalyptische Dauerfeuer und die alltäglichen Untergangsfantasien gewöhnt. So sehr, dass wir auf das Helle in unserem Leben vergessen. Tatsächlich ist unsere Gegenwart nicht dazu angetan, uns Mut zu machen und den Optimismus nicht zu verlieren. Doch die Autorin Stefanie Jaksch begibt sich auf die Suche: nach dem Licht in dunklen Zeiten.

Mit dieser Leseprobe bekommst du einen Einblick in Stefanie Jakschs „Über das Helle“,  ein Buch, das uns Hoffnung gibt und den Widerstand in uns erweckt.

Notizen aus dem Dunkeln

Out of the dark
And into the light
I give up and you
Waste your tears
To the night
Falco

Nur ein bisschen noch. Fünf Minuten. Drei Minuten. Eine vielleicht? Vorbei, seufze ich in die Kissen und kneife meine Augenlider noch einmal trotzig wie ein Kind zusammen, bevor ich aufgebe. Ich starre in die Nacht, in den lichtlosen Raum über mir, nichts ist zu hören außer dem leisen Luftholen und unrhythmischen Schnarchen des Wolfs, mit dem ich seit einigen Jahren zusammenlebe. In unserem Schlafzimmer gibt es keine Uhr, aber mein Körper braucht auch keine, um zu wissen, dass es eigentlich zu früh ist, um aufzustehen. Was ich ebenfalls weiß: Dass ich, einmal wach, nicht mehr in den Schlaf finden werde, dass mein Gehirn nun anspringt, dass es mich geweckt hat, weil seit gestern Abend zu viele unterschiedliche Baustellen in mir arbeiten. Weil ich wieder einmal nicht dafür gesorgt habe, vor dem zu Bett gehen ein bisschen Ruhe einzuplanen, zu lange noch erst auf meinen Laptop gestarrt habe, dann doch noch schnell einen Blick aufs Smartphone gewagt habe – und natürlich prompt hängengeblieben bin an einigen Desaster-News, die sich etwas unscharf in meine Träume geschlichen haben. Schemenhaft erinnere ich mich daran, dass ich durch eine wirre Abfolge von Actionszenen gejagt wurde und ich dabei penibel darauf achten musste, eine neon-orange Aktentasche nicht zu verlieren und mir das sogar gelang, nur um am Ende auf den billigsten Taschenspielertrick hereinzufallen, mich kurz von einer Frage ablenken ließ und mir das kostbare Gut entwendet wurde, als ich mich zu der Person umdrehte, die die Frage an mich gerichtet hatte. Der Stich in der Magengrube, als mir mein Fehler bewusst wurde, und der leere Fleck, an dem die Tasche gestanden hatte, den ich nun anstarrte, sind mir im Aufwachen realer als der Rest der Welt, der nur unscharf und in Graustufen an mich heranschwappt. Keinen Schlaf finden zu können, verdunkelt alles, besonders aber das Gemüt und ist, hält der Zustand länger als ein paar Tage an, mit einer eigenartigen Versagensangst verbunden. Warum ich? Warum fällt mir das vermeintlich Einfachste zurzeit nicht leichter? Wut gesellt sich dazu, Ungerechtigkeit, eine der dunkelsten Empfindungen, auch und vor allem dem Wolf an meiner Seite gegenüber. Was erlaubt er sich eigentlich, so ohne Probleme in den Schlaf zu finden, einen eigenen Rhythmus zu haben, der ihm erlaubt, sich hinzulegen und sofort in tiefen Schlummer zu finden? Als wäre Schlaf ein Hochleistungssport.

Die längste Zeit, die ein Mensch offiziell dokumentiert ohne Schlaf verbracht hat, beträgt 264 Stunden, das sind elf Tage, und bis heute hält diesen zweifelhaften Rekord aus dem Jahr 1964 der damals 17-jährige Randy Gardner aus San Diego, USA. Aus einem Grund, der sich mir nicht erschließt, zumindest nicht in meinem leicht angeschlagenen Zustand, hat ein Brite aus Penzance im Jahr 2007 einen weiteren Weltrekordversuch gestartet, den er per Video dokumentierte. Er überbot Gardners Leistung um zwei Stunden, darf sich aber bis heute nicht über die Nennung als Rekordhalter freuen, da die Kategorie „Längste Zeit ohne Schlaf“ schon längst nicht mehr existierte im Guinness Buch der Rekorde: „aus gesundheitlichen Bedenken“.1 Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen: In Laborversuchen, bei denen man Mäuse wachhielt und weckte, sobald sie einschliefen, starben die Versuchstiere nach durchschnittlich sieben Tagen. Grund dafür: vermutlich multiples Organversagen.2

Wie ich da so liege, frage ich mich, wie lange ich es wohl aushalten könnte ohne Schlaf, vermutlich keine 48 Stunden, und mir läuft bei dem Gedanken ein Schauer über den Rücken. Ich kenne mich, innerhalb weniger Tage ohne meine normale Dosis Schlaf von sieben bis acht Stunden werde ich zu einem kränklichen, weinerlichen Etwas, bin unkonzentriert, breche schnell in Tränen aus und glaube, dass die Welt dem Untergang nahe ist. Ich finde mich selbst lächerlich, wie ich mir das so überlege, im Warmen, in der Sicherheit meiner Wohnung, in einem insgesamt recht aufgeräumten Leben. Ja, ich habe eine Phase des beruflichen Komplettumbruchs hinter mir, habe mir manche Sicherheiten selbst unter den Füßen weggezogen in einem Mix aus Vertrauen und Wagemut, und sicher, die letzten Jahre mit Pandemie, näher rückenden Kriegen und sich immer mehr radikalisierender Weltpolitik sind nicht spurlos an mir vorbeigegangen, wie auch, wenn erstmals Menschen rund um den Globus gleichzeitig in eine grundlegende Verunsicherung geworfen waren, die man nicht mehr von sich weghalten konnte, sich eben nicht mehr sicher fühlen konnte, sich nicht mehr zurückziehen konnte auf ein „Ach, zu uns kommt das schon nicht“. Es ist alles zu uns gekommen: das Virus, die Krankheit, die Angst, die Einsamkeit, die Verletzlichkeit, der Tod. Und auch die Erkenntnis: Wir Menschen sind nur bedingt solidarisch, ich erinnere an die allwöchentlichen Demonstrationen der „Querdenker:innen“, eine Petrischale für das Anmischen einer reaktionären, von Wut und Hass getriebenen Soße, in der es sich besorgte Bürger:innen nicht nehmen ließen, mit Rechtsradikalen zu marschieren. Ich erinnere mich an meinen Unglauben, an meinen mir ebenfalls gerecht vorkommenden Zorn auf Menschen, die ich nicht mehr verstand und die mich wohl umgekehrt auch nicht verstanden. Und auch der Krieg steht wieder vor unseren Toren. Ich lebe in Wien, das sind gerade einmal 1.000 Kilometer entfernt von Kiew, für jeden Sommerurlaub nehmen wir gern größere Entfernungen in Kauf, und während ich also hier liege und nachdenke, kämpfen Menschen in der Ukraine um ihr Leben. In vielen Teilen der Welt leiden Menschen Hunger, werden ihre Grundrechte mit Füßen getreten, müssen Frauen, queere Personen, Personen mit anderer Hautfarbe oder anderem Glauben sowie viele andere marginalisierte Gruppen um ihre Unversehrtheit fürchten, sitzen Journalist:innen und unliebsame Regimegegner:innen für kritische Berichterstattung in Isolationshaft oder werden dort „weißer Folter“ unterzogen, der Schlafdeprivation, rund um die Uhr dem Licht ausgesetzt.

Ich setze mich auf und bin wütend, auf mich, weil ich mir wieder selbst auf den Leim gegangen bin. Weil ich mein Gedankenkarussell nicht rechtzeitig gestoppt habe, und noch viel mehr, weil ich klein beigegeben habe und mich in die Negativspirale, die wir alle kennen, hineingedreht habe. Ich bin wütend, weil es so viel schwerer scheint, so viel mehr Energie braucht, sich dem Hellen zuzuwenden, als sich von Negativität fressen zu lassen. Es reicht, und ich steige vorsichtig aus dem Bett, der Wolf grummelt undeutlich, bevor er sich umdreht und weiterschläft, während ich auf Zehenspitzen ins Arbeitszimmer schleiche, die dunklen Gedanken abzuschütteln versuche und mich auf das Jetzt zu besinnen.

Seit ich denken kann, bin ich eine Frühaufsteherin. Meine produktivste Zeit des Tages ist sein Anbruch, wenn (fast) alles noch schläft, vor dem Fenster sich noch keine Auto­lawinen durch die Stadt wälzen, wenn die meisten Woh­nungen noch nicht von Lichterschein erhellt sind, wenn die Nacht noch ihre letzten Ausläufer verteidigt. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, im Dunkeln zu sitzen und einfach nur zu schauen, dabei den einen oder ande­ren Gedanken kommen und gehen zu lassen: Gedanken zum sich anbahnenden Tag, Gedanken zu alten und neuen unbeantworteten Fragen, Gedanken, die mich manchmal schrecken und manchmal ermutigen. Für die erste vor­sichtige Phase der Wachheit schalte ich keine Lampe ein, lasse mich von der Dunkelheit umhüllen und empfinde das als erstaunlich tröstlich, imaginiere sie mir als eine Decke, die mich wärmt mit vorläufiger Gleichgültigkeit gegenüber allen Bemühungen, die wir mit einem erfolg­reichen Tag verbinden. Die Abwesenheit von Licht signa­lisiert mir in diesen Stunden: Du musst nichts, nimm dir noch Zeit, bleib noch ein Weilchen, die meisten sind noch nicht wach, das Zeichen, das Tagwerk zu beginnen, ist noch nicht gekommen (oder ich habe es übersehen).

Dieser paradiesische Zustand ändert sich schlagartig, sobald sich – je nach Jahreszeit früher oder später – der erste Silberstreif am Horizont erblicken lässt. Nichts verheißt uns Geschäftigkeit oder ist uns so sehr Gebot, endlich mit dem Tun zu beginnen, den Müßiggang sau­sen zu lassen, wie der Anfang eines neuen Tages. Carpe diem!, schallt es uns, die wir unsere eigenen gelernten Motivationstrainer:innen sind, immer wieder entgegen, sitze nicht auf der faulen Haut, mach etwas aus dem Tag, aus dem Monat, dem Jahr, deinem Leben! Daran lässt sich grundsätzlich nichts ändern, Lebewesen sind so gepolt, Pflanzen recken sich gottergeben dem Licht entgegen. In Ländern, die dem Polarkreis näherliegen, tut man sich im Sommer mitunter schwer, Schlaf zu finden, wenn die Sonne nicht untergeht, und es muss zu fast gewaltsamen Verdunkelungsmethoden gegriffen werden. Am Ende einer durchtanzten Nacht unter Stroboskoplicht erntet meist eine überrascht hochgezogene Augenbraue, wer sich verabschiedet, bevor die Party zu Ende ist und die letzten Scheinwerfer im Club gelöscht sind. Solange Licht ist, gehen wir nicht heim!

„Mehr Licht!“, so will es die Legende, war Goethes letzte Forderung auf dem Sterbebett, und auch wenn ich bezweifle, dass es ausgerechnet diese zwei Worte waren, die dem Dichtergenie entfuhren, bevor er sein Lebens­licht aushauchte, so verstehe ich doch den Zweck ihrer mythischen Überhöhung: Auch wenn wir noch so viel geschafft haben, auch wenn wir noch so erfolgreich sind, es gibt wohl keinen Menschen, der trotz aller Mühsal die Möglichkeit, einen weiteren Tag zu erleben, ausschlagen würde. Mehr Licht, mehr Möglichkeiten, mehr Beweise für die eigene Existenz und ihre Gewichtigkeit, ihre Rele­vanz, ihre Wirkmächtigkeit. Denn die im Dunkeln sieht man nicht; gesehen werden wollen wir aber alle.

Zugegeben, das klingt ein wenig, als sei ich auf der dunklen Seite der Macht zuhause oder zumindest deren Sympathisantin, als verstünde ich einen Text über das Helle als ein Vehikel, um eine Lanze für das Dunkle zu brechen. Mitnichten. Dass ich mich im lichtlosen Raum ab und an sehr wohl fühle, heißt nicht, dass ich dies generell vorzöge oder frei von Geltungsdrang wäre, der das Aus­leuchten der eigenen, sonst verborgen bleibenden Winkel zulässt; wir alle streben letztendlich dem Hellen entge­gen, und ich möchte glauben, das ist gut so.

1 Vgl. https://www.derstandard.at/story/2000082079528/wie-lange-ueberlebt-ein-mensch-ohne-schlaf

2 https://www.spektrum.de/frage/wie-lange-kann-man-wach-bleiben/1321562

„Es mag Sie irritieren, Herr Inspektor, dass weibliche Gehirne manchmal dem männlichen überlegen sind, doch Sie müssen sich nun leider damit abfinden.“

Dieses Zitat stammt von Miss Marple, mit der Agatha Christie schon in den 90ern zeigte, dass Frauen* das Krimigenre meisterhaft beherrschen. Trotzdem blieben die ermittelnden Figuren oft Cis-Männer: alternde, allmächtige Polizisten oder Detektive mit Genieanwandlungen; eine einzelne, mächtige Figur, die mehr oder weniger im Alleingang ihre Fälle löst, „die Bösen“ bekämpft und für die Sicherheit aller verantwortlich ist. Heute kommen uns aus Krimis dagegen Figuren mit vielen Facetten entgegen, mit denen wir nicht nur deshalb mitfiebern können, weil uns ihr aktueller Fall in Atem hält, sondern auch, weil ihre Haltungen, ihre alltäglichen Probleme und ihr Privatleben uns einen direkten Blick in eine andere Lebenswelt ermöglichen. Sie reflektieren autoritäre Strukturen, sie haben Team- und Kampfgeist, sie haben eine Meinung, die sie uns auch wissen lassen, sie nehmen sich selbst nicht so ernst. Und häufig sind sie: Frauen*. Ein guter Krimi ist immer mehr als ein spannender Plot: Er ist Sprachkunst, Gesellschaftssatire, Systemkritik, Empowerment – oder alles gleichzeitig. Deshalb stellen wir euch nun die Protagonistinnen unserer Krimi-Autor*innen vor.

 

Astrid findet heraus, dass ihr Partner sie betrügt, und will ihren Herzschmerz in Venedig kurieren, einem Sehnsuchtsort auf ihrer Bucketlist. Nichts lenkt besser von einer traumatischen Trennung ab als die wunderschöne Serenissima. Denkt Astrid. Aber: Statt romantischem Dolce Vita und köstlichem Vino findet sie in der Stadt der Gondeln und Kanäle vor allem Hitze. Und Leichen. Jede Menge Leichen. Astrid gerät unversehens in mafiöse Verstrickungen. Entführungsversuche, Verfolgungsjagden in Motorbooten, Schläger und Schmuggler – immerhin wird Astrid dadurch von ihren privaten Kümmernissen abgelenkt. Aber wird sie diese ungeplanten Abenteuer auch überleben?

 

Ellen Dunne und ihre Patsy Logan sind ein kriminalliterarisches Dreamteam. Patsy, Kriminalhauptkommissarin aus München, steht ein paar Monate vor ihrem 40er und ist frisch getrennt, in Dublin, während einer beruflichen sowie privaten Auszeit. Sie hat sich den Kopf an der gläsernen Decke gestoßen – und hat damit zu kämpfen. Doch nicht nur beruflich, sondern auch privat geht es drunter und drüber, ihr Mann hat sich eine Ältere gesucht, und was das mit dem Liebhaber werden soll … das weiß Patsy selbst auch nicht so genau. Wie gut, dass Patsy von ihrer Schöpferin Ellen Dunne jede Menge Entschlossenheit, Selbstironie und schwarzen Humor mitbekommen hat, sodass sie sich dennoch mit voller Energie in die Suche nach der verschwundenen Stella stürzen kann.

 

Auch im Vorgängerband „Boom Town Blues“, mit dem Ellen Dunne den Glauser-Preis gewonnen hat, braucht Patsy Logan schwarzen Humor und Selbstironie, um den Herausforderungen zu begegnen, die das Leben ihr entgegenwirft. Ihre Ehe kriselt, der unerfüllte Kinderwunsch belastet sie schwer und der verdiente Karrieresprung wird ihr zugunsten eines männlichen Kollegen verwehrt. Doch Patsy will in Irland nicht nur Abstand von ihrem Alltag gewinnen. Sie möchte auch Hinweisen von Menschen nachgehen, die ihren Vater lebend in Dublin gesehen haben wollen. Das ist einigermaßen verwirrend, denn: Patsys Vater ist seit vielen Jahren tot. Wir fiebern mit Patsy mit, als deren private Situation sich zuspitzt und die Vergangenheit beängstigend lebendig wird.

 

Nach einem Gefängnisaufenthalt versucht Kiki, zurück in ein geregeltes Leben zu finden. Als ihre unheilbar kranke Freundin Olga rund um die Uhr Pflege benötigt, zieht sie zu ihr und kümmert sich aufopfernd. Das neuartige Viennese Weed, ausnahmslos tödlich, ist für Olga eine Möglichkeit zur Flucht, die sie ergreifen möchte. Kiki ist bereit, für ihre Freundin die tödlichen Blätter zu beschaffen, selbst wenn sie weiß, dass das für sie den ultimativen Abschied von Olga bedeuten wird. Auch die dreizehnjährige Jasse treibt es in den Wald. Sie möchte ihrem Leben ein Ende setzen. Als plötzlich Aufseher auftauchen, fliehen Kiki und Jasse zusammen – und knüpfen eine vorsichtige Verbindung, eine Freundschaft, die sich aus Unglück speist. Das hält Jasse nicht davon ab, den Bärlauch, den sie gesammelt hat, zum Einsatz zu bringen – allerdings nicht an sich selbst …

 

Börnie, gewesene (und jetzt verwesende) Marketingexpertin bei Schön Cosmetics, wacht auf dem Büroboden auf und merkt, dass sie ermordet wurde. Wer zum Aasgeier hat ihr das angetan? Weil die Polizei keinen leichenblassen Schimmer hat, muss frau selber ran. Sterben ist eben auch nicht mehr das, was es mal war! Als Geist Ermittlungen aufzunehmen, ist aber leichter gesagt als getan. Stell dir vor, du bist tot und keiner hört zu. Weil dich überhaupt keiner hören kann! Naja, fast: Auf die kürzlich bei Schön wegrationalisierte Reinigungskraft Jenny und Medium Kai-Uwe ist immerhin Verlass. Wird es dem etwas anderen Ermittlertrio gelingen, Börnies Mörder dingfest zu machen, ehe der gesamte Personalstamm von Schön Cosmetics ein unschönes Ende nimmt?

 

Marias Mutter stirbt und sie genießt die Ruhe, endlich nicht mehr gebraucht zu werden, endlich einen Moment für sich selbst zu haben. Sie fährt los, gönnt sich zuerst ein Sektfrühstück, dann eine Nacht mit einem Fremden im Hotel. Als sie am nächsten Morgen in die Einfahrt biegt, steht die Polizei vor ihrem Haus. Maria bekommt Panik – und verschwindet. Sie wechselt ihre Identitäten und immer wieder wird ihre prekäre Situation schamlos ausgenutzt. Sie sucht den Weg des geringsten Widerstandes, fügt sich und passt sich ihrer Umwelt geschmeidig an … so lange, bis es ihr reicht. Die Flucht vor ihrer eigenen Identität hinterlässt blutige Spuren. Marias Wechselspiel aus Passivität und radikalen Befreiungsschlägen lässt sie dich spüren: die Hilflosigkeit und den lodernden Zorn, die aus Ungerechtigkeit und Unterdrückung entstehen.

 

Toni Lorenz, Schauspielschülerin am Konservatorium in Wien, ist offen, mutig und mit ihrem persönlichen Rucksack voller negativer Erfahrungen beladen. Während der Sommerferien arbeitet sie mit Privatdetektiv Edgar Brehm. Ein junger Mann verschwindet und Toni und Edgar merken, dass es ganz schön schwierig wird, alle Beziehungswirren, die den Vermissten und seine Familie verbinden, im Blick zu behalten. Wenn zumindest das Privatleben von Toni super unkompliziert wäre, aber nix da: Neben ihren Ermittlungen versucht Toni auch noch einen Sommerkurs an der Schauspielschule zu absolvieren. Blöd nur, dass ihr Dozent ein junger Filmstar ist (und sie ziemlich ablenkt). Toni hat wirklich schon genug miserable Erfahrungen mit Männern gemacht und versucht, vorsichtig zu bleiben – so gut das eben geht …

 

Philomena Schimmer liebt ihre beiden Schwestern, die ihr aber zuweilen auch ganz schön auf die Nerven gehen – vor allem der Nachwuchs. Sie hassliebt ihren Exfreund, von dem sie sich nicht lösen kann, obwohl er längst eine Neue hat. Sie hat Ideale, die sie auch verkündet, selbst wenn sie dafür zur Spraydose greifen muss. Als Polizistin sieht sie Dinge, die sonst niemand sieht: Sie sucht vermisste Personen und entdeckt selbst kleinste Hinweise und unscheinbarste Spuren. Und: Philomena sieht Menschen, die sonst niemand wahrnimmt. Seit einer traumatischen Erfahrung schickt Philomenas Unterbewusstsein ihr regelmäßig mysteriöse „Besucher“. Auf der Suche nach der jugendlichen Karina fällt es ihr immer schwerer, die professionelle Distanz zu wahren, je länger das Mädchen verschwunden bleibt.

 

Laura Mars wird aus ihrem Leben in Wien gerissen, als ein Notar aus Kroatien ihr mitteilt, dass sie die Alleinerbin ihrer gerade verstorbenen Großmutter ist – obwohl Laura schon vor Jahren deren Sterbeanzeige bekommen hat. Und damit nicht genug: Als Laura im Notariat in Pula ankommt, findet sie dort den Notar ermordet vor. Vom Testament fehlt jede Spur. Dafür entdeckt sie das Tagebuch ihrer Großmutter und erfährt mit jeder Seite mehr über die vertrackte und düstere Vergangenheit ihrer Familie. Eines hat sich Laura aber fest vorgenommen: keine komplizierten Männergeschichten mehr. Doch der ermittelnde Kommissar macht es ihr immer schwerer, an ihrem Vorsatz festzuhalten … Und die Zeit drängt: Während Lauras Nachforschungen immer mehr Fragen aufwerfen, taucht ein weiteres Mordopfer auf.

 

Miss Marple heißt jetzt Madame Beaumarie. Florence Beaumarie war Zeit ihres Berufslebens die Seele eines Pariser Kommissariats – jetzt möchte sie eigentlich entspannen. Doch das Verbrechen scheint ihr selbst im Ruhestand an den Fersen zu kleben. Das örtliche Kommissariat freut sich über die Unterstützung durch Madame Beaumarie, denn sie hat sich als findige Ermittlungshelferin weit über Paris hinaus einen Namen gemacht. Abgelenkt wird sie allerdings durch einen besonders charmanten Galan: Charles Florentin, ein attraktiver Antiquar, bringt Florence mit seiner liebevollen Aufmerksamkeit ein wenig durcheinander …

Begleite Astrid auf ihrem ungeplantem Abenteuer nach Venedig, Laura Mars in die düstere Vergangenheit ihrer Familie und Börnie in die Nachwelt. Fliehe mit Kiki und Jasse sowie mit Maria vor den Behörden und der unangenehmen Realität. Patsy Logan und Toni Lorenz nehmen dich mit auf ihre Ermittlungen und Philomena Schimmer sowie Madame Beaumarie kommen von den Verbrechen nicht los. Lies dich rein in die Geschichten unserer Ermittlerinnen!

Historische Erbschaften – Interview mit Hannes Leidinger und Lenz Mosbacher

Wie ging die Geschichte des k.u.k.-Doppelstaates und der Entwicklungen nach 1918, die im Grunde bis heute andauern, weiter? Wie betrachten wir das habsburgische Erbe? Wie steht es um seine Relevanz, nicht nur für Österreich, sondern für ganz Europa? Hannes Leidinger, Historiker und Autor, und Lenz Mosbacher, Illustrator von „Habsburgs langes Sterben“ erzählen vom Ausverkauf der österreichischen Identität, von der Romantisierung und den hartnäckigen Mythen der Geschichte und von den Schlüsselmomenten der Habsburgerzeit.

Offiziell endete die Zeit der Habsburger 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Trotzdem sind die Habsburger noch tief im nationalen Gedächtnis der Österreicher*innen verwurzelt, sie leben weiter „in den Köpfen und Herzen, in den Empfindungen und Vorlieben, in den Sitten und Normen seiner ehemaligen Bewohner“, wie Sie in Ihrem neuen Buch erklären. Hat sich das nationale Selbst- und Fremdbild in den letzten Jahren gewandelt und wenn ja, wie?

Hannes Leidinger: Entscheidend ist nach 1918 das Lagerdenken, das sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Grob gesagt geht es vor allem um die Stellung der Kirche, um den Kampf zwischen antiklerikalen und klerikalen Kräften. Letztere tendieren – vereinfacht gesagt – schon aus weltanschaulichen bzw. konfessionellen Gründen zum katholischen „Erzhaus“. Hinzu kommt eine eigene Mentalität, die dem Herrscher verpflichtet war, auch ohne religiöse Gefühle. Beamte, städtisches Bürgertum oder „mittelständische Gruppen“ gehören hier dazu. Ein klar republikanisches Bekenntnis legt die organisierte Arbeiterbewegung. Der Nationalsozialismus wird darüber hinaus zu einer eigenen antihabsburgischen Kraft, vor allem im Laufe der 1930er Jahre. Politisch haben Monarchisten bzw. Legitimisten keine Massenbasis. Sympathien beschränken sich vor allem auf eine prohabsburgische Geschichtspolitik und entsprechende (erinnerungs-)kulturelle Initiativen, insbesondere während des „Austrofaschismus“ bzw. des sogenannten „Ständestaates“.
Diese durchaus einflussreiche Strömung hat aber keine Chance, zur Restaurationsbewegung zu werden. Die Wiedererrichtung einer Monarchie ist auch aufgrund internationaler Kräfteverhältnisse kein Thema, trotz gelegentlicher Tendenzen innerhalb konservativer österreichischer Eliten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lösen sich dann nach und nach die älteren Gesellschaftsstrukturen auf. Ideologische Lager, traditionelle Berufsgruppen und soziale Milieus erodieren, in den 1980ern ändert sich auch die Geschichtsbetrachtung. Die dunklen Kapitel der Vergangenheit rücken in den Mittelpunkt der Betrachtung, tendenziell auch eine kritische Betrachtung der k.u.k.-Monarchie. Österreich rückt mehrheitlich, wenn auch nicht vollständig, von seinem bisherigen Selbstbild ab, von älteren Stereotypen und Geschichtsklitterungen. Eine über Dekaden anhaltende Liberalisierungstendenz drängt hierarchische Denkweisen teilweise zurück, der fortgesetzte Säkularisierungsprozess trennt die Gegenwart von der Religiosität früherer Epochen. Das alles kann sich mit autoritären Trends und neuen Glaubensvorstellungen auch wieder ändern. Im Augenblick aber ist das Thema Habsburg vor allem ein klischeebesetztes Stück Kultur und vor allem Tourismus – und in diesem Sinne mehr nach außen als nach innen, also auf das Fremdbild und nicht auf das Selbstbild, gerichtet.

Weshalb ist ein besseres Verständnis der Habsburger wichtig für ein besseres Verständnis der Gegenwart?

Hannes Leidinger: Wer Geschichte als Erklärung zum besseren Verständnis der Gegenwart begreift, wird die heutige Alpenrepublik nicht zuletzt auch aus der Perspektive der jahrhundertelangen Habsburgerherrschaft betrachten. Die Prägung durch Gegenreformation, Administration, Kultur, Gesellschaftsstrukturen, Feindbilder, Geschlechter- und Eigentumsverhältnisse, beginnende Demokratisierung bei gleichzeitiger Autoritätsgläubigkeit und hierarchischem Denken erfolgt in hohem Maße unter dem „Doppeladler“, ist in gewisser Weise also eine „lange Zeitgeschichte“.

Die Habsburgerfamilie und monarchische Strukturen allgemein sind häufig Gegenstand von Romantisierung und Kommerzialisierung. Welche Probleme können durch diese Verklärung oder Idealisierung entstehen?

Hannes Leidinger: Die Auseinandersetzung mit einer Romantisierung der Geschichte könnte man als eher „akademisches Geschäft“ der HistorikerInnen verstehen. Eine Verklärung monarchischer Strukturen steht aber oft der kritischen Beurteilung von Verantwortlichkeiten und Machtfragen generell im Weg.
Mit Gegenwartsbezug geht es dabei etwa um den Umgang mit Schwächeren und Minderheiten, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Entscheidung über Krieg und Frieden. Die Imagebildung der Monarchie geht auch gerne über das Thema Privilegien und Geburtsrechte hinweg. Sie widersprechen demokratischen Prinzipien, die sich letztlich nur in einer Republik zur Gänze verwirklichen können.

Und wie sehen Sie den Ausverkauf der Identität, der durch Tourismus und Souvenirs nicht nur in Österreich gang und gäbe ist?

Hannes Leidinger: Gewiss hat der Tourismus gerade die österreichische Republik sowohl mit Blick auf Fremd- als auch auf Selbstbilder sehr stark geprägt. Der „Doppeladler“ hat da oft für Ausblendungen herhalten müssen, Kriege der Habsburger waren eher kein Thema. Eine Art Eskapismus, die Flucht in idyllische Phantasiewelten der Könige, Kaiser, Prinzessinnen, Reichen und Schönen, ist gerade nach dem Zweiten Weltkrieg ein Instrument der Geschichtsvergessenheit und der Verdrängung von Schuld und Traumata gewesen. Das war ein internationales Phänomen, ebenso wie die spätere kritische Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg und den NS-Verbrechen.
Seit der Waldheim-Affäre hat sich die Wahrnehmung Österreichs im Ausland stark geändert, parallel zu den internen Transformationen. Ebenso grenzüberschreitend bleibt aber auch das Bedürfnis nach harmonischen Scheinwelten bestehen. Wenngleich mit Augenzwinkern, konsumieren doch viele die Produkte einer Art Sisi-Industrie weiterhin gerne. Persönliche Nöte und Beschwerden der HerrscherInnen werden dabei gelegentlich als Hinweise auf die Schattenseiten der „guten alten Zeit“ präsentiert und empfunden.

Kann eine nationale und kulturelle Identität der Österreicher*innen getrennt von den Habsburgern existieren?

Hannes Leidinger: Habsburg war das „(Erz)Haus Österreich“. Für viele MitteleuropäerInnen gab es lange keinen anderen Österreich-Begriff. Ansonsten definierte man sich über Nation und Sprachgemeinschaft, Religion, Berufe, Gesellschaftsschicht, Regionen und Kronländer. Habsburg, der Kaiser, war die gemeinsame Klammer. Das Übrige waren „Trümmer“, würde die verklärende Literatur sagen. Es dauerte lange, bis sich gerade die Menschen in der Alpenrepublik vom großen Reich verabschiedeten. Über den tragischen und schuldbeladenen Umweg des Nationalsozialismus, des „völkischen Ungeistes“ und der gewaltsamen Expansion gelangte man zur Kleinstaatsidentität und damit zu einem neuen, weithin anerkannten Österreich-Begriff. Dieser verliert allerdings im Rahmen der Europäischen Union, der Globalisierung, internationaler Militärbündnisse und einer schwelenden Neutralitätsdebatte bereits wieder an Strahlkraft und wirkt gelegentlich außerdem chauvinistisch und realitätsfremd.

Hannes Leidinger erzählt in seinem neuen Buch „Habsburgs langes Sterben – Eine kurze Geschichte vom schleichenden Untergang der Donaumonarchie“ vom habsburgischen Erbe und dessen Relevanz für Österreich und Europa. Die Publikation dient als Portal, als Eintritt in die Welt der Habsburger lange nach dem Einläuten der Republik. Mit Illustrationen von Lenz Mosbacher.

Sie sind ein langjähriger Experte auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie. Haben Sie bei Ihren Recherchen für dieses Buch vielleicht doch etwas Überraschendes entdeckt?

Hannes Leidinger: Wenn man sich schwerpunktmäßig mit dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang Österreich-Ungarns befasst, stößt man erwartungsgemäß auf Zeichen des Zerfalls, auf Zentrifugalkräfte, Erklärungen für das Auseinanderbrechen der Doppelmonarchie – sowohl international als auch innerhalb der Grenzen des Habsburgerreiches. Bekannt war seit Langem, dass sich die Großmächte eine „Desintegration“ des Donauraumes nur bedingt oder gar nicht wünschten. Daher gab es selbst bei den feindlichen Mächten noch bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Befürworter des k.u.k.-Doppelstaates. Überraschend war die Haltung der Menschen in der Monarchie, der habsburgischen „Untertanen“, das Ausmaß und die Dauerhaftigkeit der Zustimmung und der Loyalität gegenüber dem Herrscherhaus. Der Einfluss mehr oder minder nationaler und nationalistischer Geschichtsinterpretationen hat dieses Phänomen oft wirkmächtig marginalisiert oder verschwiegen. Da habe auch ich gängige Darstellungen hinterfragen und revidieren müssen.

Es gibt viele weitverbreitete Fehlannahmen über die Habsburger. Welche hartnäckigen Mythen sind falsch, lassen sich aber einfach nicht abschütteln?

Hannes Leidinger: Die Reformen unter Maria Theresia und Joseph II. werden gerne als fortschrittliche Maßnahmen gesehen, gerade wenn es sich um Maßnahmen im Justiz- und Bildungswesen oder um Lockerungen von feudalen Bindungen handelte. Das ist zumindest nur die halbe Wahrheit. Erstens wirkten sich viele Regelungen nicht auf sämtliche Reichsteile aus und zweitens ging es vielfach um die Schaffung eines Machtstaates, der effizientere Verwaltungsstrukturen und eine schlagkräftige Armee mit besser ausgebildeten „Untertanen“ brauchte. Die starke, homogene „Monarchia Austriaca“ blieb jedoch eher ein Wunschgebilde. Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass die Meinungen darüber in der Forschung auseinandergehen.

Dass das „Haus Österreich“ eher eine friedliebende Heiratspolitik betrieben hat und Kriege eher vermeiden wollte, ist sicher ein weitverbreitetes Klischee. Vor allem wird außer Acht gelassen, dass dynastische Ehen und militärische Auseinandersetzungen einander vielfach bedingten und miteinander verbunden waren. Überdies suchte gerade Kaiser Franz Joseph die Entscheidung im Konfliktfall mehrmals auf dem Schlachtfeld. Das passt freilich nicht so ganz zu den Verniedlichungsversuchen einer prohabsburgischen Historiographie. Franz Joseph muss eher als Wiederholungstäter unter widrigen politischen und militärischen Rahmenbedingungen angesehen werden, mit einem gerade selbstmörderischen Prestigedenken. In „Ehren unterzugehen“ hieß dann auch, die Welt oder wenigstens Europa mit in den Abgrund zu reißen. Auch unter HistorikerInnen wird immer wieder betont, dass er keinen „Flächenbrand“ auslösen wollte und nur auf eine Abrechnung mit Serbien abzielte. Durch die Bündnissysteme bis 1914 wurde eine Eingrenzung des Konflikts aber unmöglich. Franz Joseph und seine engsten Berater wussten nachweislich von den Gefahren, die mit ihren Entscheidungen verbunden waren.

Die Illustrationen öffnen einen weiteren Gedankenraum zu Hannes Leidingers Einordnungen. Wie drücken Sie, als Illustrator, die Gefühle einer Zeit, die Sie nicht persönlich erlebt haben, in Ihren Bildern aus?

Lenz Mosbacher: Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es eine anwachsende Fülle an Zeitungen und Zeitschriften, die vielzählig in Archiven erhalten sind. Um ein Gefühl für eine Zeit zu bekommen, lassen sich Tageszeitungen – mit Vorsicht genossen – als gesellschaftliches Barometer verwenden. Für mich als Zeichner war zusätzlich noch interessant, dass bis in den Ersten Weltkrieg hinein der Großteil an Nachrichten illustriert war. Hierbei handelt es sich teils um idealisierte oder verzerrte Illustrationen von Tagesthemen oder um politische Cartoons und Karikaturen. Im Buch bemühte ich mich daher um einen Stil, der über das Dargestellte hinausweist, aber im Gegensatz zu den historischen Zeitungsillustrationen keine idealisierten Szenen darstellt.
Mir war deshalb wichtig, einen sinnlichen Zugang zur Zeit und den jeweiligen Situationen zu bekommen. Wie fühlt es sich an? Wie riecht die Luft? Welche Geräusche hört man auf der Straße? Auch wenn ich um die Jahrhundertwende nicht am Leben war, suchte ich nach Parallelen zu meinem eigenen Erfahrungsschatz. Erst dann konnte ich Zeichnungen machen, die sich (für mich) anfühlen, als wäre ich vor Ort gewesen.

War hierfür eine besondere Recherche notwendig oder ist die Ikonografie der Zeit ohnehin sehr präsent in unserem kollektiven Gedächtnis? Ist das vielleicht sogar eine besondere Herausforderung an der Arbeit mit einer Epoche, deren Bildsprache in unseren Köpfen so allgegenwärtig scheint?

Lenz Mosbacher: Eine ausgedehnte Recherche und Beschäftigung mit der Zeit war notwendig, um mich vom Kitsch des Heimatfilms zu befreien, der das kollektive Bild der Habsburgermonarchie seit den 1950ern stark verfärbt. Meine Recherche beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Bildsprache. In einer Zeit, in der visuelle Medien noch nicht so allgegenwärtig verbreitet waren wie heute, kam der Sprache mehr Bedeutung zu. Einige Monate las ich intensiv Literatur um die Jahrhundertwende herum. In ihr konnte ich die Aufbruchs- und Umbruchstendenzen, die sich durch die Gesellschaft zogen, weit besser nachvollziehen und auch emotional in meinen Zeichnungen verbildlichen.

Im Laufe Ihrer Zusammenarbeit musste eine Auswahl der Motive getroffen werden, die Sie ausdrucksvoll illustriert haben. Wie haben Sie diese Wahl getroffen? Wie haben sich diese Schlüsselmomente herauskristallisiert?

Lenz Mosbacher: Der Niedergang der Habsburgermonarchie lässt sich kaum in einen dramatischen Handlungsbogen pressen – diese Vereinfachung wird dem komplexen Sachverhalt nicht gerecht und steht auch quer zum Inhalt des Buchs. Trotzdem sollten die Zeichnungen einen Strang durch das Buch bilden, entlang dessen man sich hanteln kann. Unterstützend sind die Bildtexte, die ich gemeinsam mit Hannes geschrieben habe und die sozusagen das Bindeglied zwischen Buchtext und Zeichnungen sind. Idealerweise soll das Lesevergnügen so sein, dass die Zeichnungen den Text mit Emotion und der Text die Zeichnungen mit Information auflädt. Zusammen ergibt sich dann ein Bild.

Noch eine kleine Frage zum Schluss an Sie beide: Haben Sie einen Lieblingshabsburger?

Hannes Leidinger: Hagiographien sind grundsätzlich meine Sache nicht. Es darf als Gemeinplatz gelten, dass Menschen nicht selten zu widersprüchlichen Handlungen neigen und sehr verschiedene Charaktereigenschaften entwickeln. Lassen wir einmal unbeantwortet, was darunter wiederum genau zu verstehen ist und wie die Beurteilungskategorien für diverse Wesenszüge festgelegt werden. Es gibt immerhin Momente, in denen mir überlieferte Verhaltensweisen, wenn sie denn so stimmen, sympathisch erscheinen. Im Augenblick des Reichszerfalls und drohender gewaltsamer Konfrontationen will Karl, der letzte Kaiser und König, kein Blut mehr vergießen. Das darf nicht unerwähnt bleiben. Auch die eher moderate Denkweise Leopolds II. nach dem Reformeifer seines stürmischen Bruders Joseph ist von tieferen Einsichten geprägt. Kronprinz Rudolf hätte vielleicht das Potenzial zu zeitgemäßen Liberalisierungen und einer offeneren Politik gegenüber maßgeblichen europäischen Mächten gehabt, wäre er nicht Opfer seiner psychischen Leiden geworden.
In Summe geht es wohl um System- und Gesellschaftsanalysen, weniger um persönliche Vorlieben. Lediglich bei besonderen Machtpositionen und größeren Handlungsspielräumen stellt sich in einem gewissen Maße die Frage der individuellen Verantwortung mehr als sonst.
„Habsburg-Kannibalismus“ ist jedenfalls ebenso wenig am Platz wie die Idealisierung oder die kollektive Be- und Aburteilung einer Familie, die unter den Herrschaftsverhältnissen gelegentlich selbst gelitten hat und manchmal auch daran zerbrochen ist. Nicht nur die Tragödie von Mayerling und der Thronfolger Rudolf erinnern uns daran.

Lenz Mosbacher: Der Hof der Habsburgermonarchie war schrecklich repressiv und starr. ZeitzeugenInnen berichten etwa immer wieder, wie stinklangweilig es im engeren Familienkreis um Franz Joseph gewesen sei: Betretenes Schweigen, niemand traut sich, offen miteinander zu reden. Da halte ich zu den AußenseiterInnen des Hofs, wie etwa Kaiserin Sisi oder Kronprinz Rudolf, die wenigstens versuchten, auszubrechen – und daran leider schlussendlich zerbrachen.