Autor: Christophe

Klaus Merz wird mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2024 ausgezeichnet.

Mit dem Grand Prix Literatur 2024 würdigt das Schweizer Bundesamt für Kultur Klaus Merz für sein Lebenswerk und verleiht ihm damit die höchste literarische Auszeichnung des Landes.

„Innenschau und sprachliche Verdichtung prägen das Werk von Klaus Merz. Mit dem Aargauer Autor wird eine eher leise, jedoch umso eindringlichere und gewichtige Stimme ausgezeichnet, die einen Echoraum weit über die Schweizer Grenzen hinaus findet.“

 

Mit den 2012 eingeführten Schweizer Literaturpreisen ehrt das Bundesamt für Kultur jährlich Kulturschaffende und würdigt ihre Werke. Die Preise und Auszeichnungen berücksichtigen alle vier Sprachregionen der Schweiz und die verschiedenen literarischen Gattungen.

Die Preisverleihung findet am Freitag, 10. Mai 2024 um 18 Uhr im Stadttheater Solothurn, im Rahmen der Solothurner Literaturtage statt.

© Foto: David Zehnder

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012), Rainer-Malkowski-Preis (2016) sowie zuletzt Christine-Lavant-Preis (2018) und Schweizer Grand Prix Literatur (2024). Bei Haymon: Am Fuß des Kamels. Geschichten & Zwischengeschichten (1994, bei HAYMONtb 2010), Kurze Durchsage. Gedichte & Prosa (1995), Jakob schläft. Eigentlich ein Roman (1997, 6. Auflage, HAYMONtb 2013), Kommen Sie mit mir ans Meer, Fräulein. Roman (1998), Garn. Prosa & Gedichte (2000), Adams Kostüm. Drei Erzählungen (2001), Das Turnier der Bleistiftritter. Achtzehn Begegnungen (2003), Löwen Löwen. Venezianische Spiegelungen (2004), LOS. Erzählung (2005, HAYMONtb 2012), Priskas Miniaturen. Erzählungen 1978–1988 (2005), Der gestillte Blick. Sehstücke (2007), Der Argentinier. Novelle (2009, HAYMONTB 2016), Aus dem Staub. Gedichte (2010), Unerwarteter Verlauf. Gedichte (2013), Helios Transport. Gedichte (2016), zusammen mit Nora Gomringer, Marco Gosse, Annette Hagemann und Ulrich Koch Flüsterndes Licht. Ein Kettengedicht (2017) und der Prosa- und Lyrikband firma. Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung Im Schläfengebiet ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen. 2023 erweitert er seine Publikationen um Noch Licht im Haus.

Ein Alltag im Ausnahmezustand: Leseprobe aus „Im täglichen Krieg“ von Andrej Kurkow

Februar 2022: Der russländische Angriffskrieg auf die Ukraine beginnt. Beinahe zwei Jahre später stehen die Menschen in ihrem Land weiterhin unter Beschuss, haben unsägliche Verbrechen und Verluste erlebt. Wie macht man weiter, kämpft weiter, wenn sich alles verändert hat? Und ein Ende des Krieges nicht in Sicht ist?
Andrej Kurkows journalistische Texte, Notizen und Tagebucheinträge zeigen, was der Krieg, der sich immer mehr in den Alltag der Menschen integriert, mit ihnen macht. Die Diskrepanz einer jeden aufeinanderfolgenden Sekunde wird spürbar: Opernaufführungen bei Tageslicht – eine Bombe schlägt ein; Menschen schwimmen im Meer – eine Mine explodiert; eine Nacht durchschlafen – aber das feindliche Militär kennt die GPS-Daten eines jeden Schlafzimmers …
Wie formt sich ein Leben, ein Jahr, ein Tag, wenn die Sirenen niemals aufhören zu erklingen? Wenn Bienen fliehen, um dem Lärm des Krieges zu entkommen, weil der Blütenstaub nach Schießpulver riecht? Wie, wenn man nicht weiß, ob man Freunde und Familie wieder sieht?

22.08.2022

Luftalarm und Crowdfunding

Dieser Tage, wenn es Nacht wird in den Wäldern der Oblast Schytomyr, kann man oft Beilhiebe oder das schrille Surren einer Kettensäge hören. Nach Einbruch der Dunkelheit, spät am Abend und manchmal sogar mitten in der Nacht, vernimmt man vielleicht sogar das Rattern alter Autos, die Anhänger voller Holzscheite hinter sich herziehen, oder das Knattern riesiger Holzlaster, die frisch gefällte Kiefernstämme abtransportieren. Alle sind sie auf dem Weg aus dem Wald heraus.
Die alten Autos mit den Anhängern sind zumeist unterwegs in die umliegenden Dörfer. Das gleiche Bild wiederholt sich derzeit in der gesamten Ukraine: Die Landbevölkerung legt sich ihren Wintervorrat an Brennstoff zu. Natürlich ist diese Art der Brennholzgewinnung illegal, aber die Polizei schert sich nur selten um holzfällende Gelegenheitsdiebe. Früher wurden bisweilen Maßnahmen gegen rechtsbrecherische Waldarbeiter ergriffen, die nachts zugange waren, das Holz im großen Stil weiterverarbeiteten und an Bauunternehmer und Möbelhersteller verkauften. Diese rechtswidrige Holzernte bestückt zwar mittlerweile auch den Wintermarkt für Brennholz, doch die Polizei wird ihr nicht mehr Herr. Seit 2014, als der Krieg mit Russland ausbrach, haben viele Einwohner ukrainischer Dörfer und Städte den Glauben an gasbetriebene Heizkessel verloren. Sie haben ihre Heizsysteme umgesattelt, um sie mit anderen Brennstoffen befeuern zu können, insbesondere Holz.
Seither häufen sich die mit Wachstuch vor Regen geschützten Feuerholzstapel auf sämtlichen Dorfvorplätzen und sogar in den Höfen der Wohnhäuser in den Kleinstädten. Es würde mich nicht wundern, wenn man mir sagte, dasselbe ereigne sich derzeit in Polen, Tschechien oder sogar Österreich. In Europa wäre dieses Phänomen auf die in die Höhe geschnellten Gaspreise zurückzuführen. In der Ukraine sind die Preise für Gas und Gasheizungen weiterhin auf dem Vorkriegsniveau.
Erst vor Kurzem unterzeichnete Präsident Selenskyj ein Dekret, wodurch die Brennstoffpreise auf dem derzeitigen Stand festgelegt werden, um die Ukrainer angesichts des bevorstehenden Winters nicht zu beunruhigen. Dennoch ist die Gasrechnung für die Menschen, die noch im Land leben, jene, die am meisten schmerzt.
Selenskyj kann zwar die Preise für Gas, Wasser und Strom einfrieren, aber er kann nicht garantieren, dass die Versorgungsbetriebe ukrainische Haushalte diesen Winter tatsächlich beliefern können. Dies hängt nämlich von der russischen Artillerie ab. Es steht jetzt schon fest, dass mehrere ukrainische Städte, sowohl besetzte als auch freie, diesen Winter ohne Heizung auskommen werden müssen.
Während sich die Ukraine konsequent auf den Winter vorbereitet, ertönen die Luftalarmsirenen mehrere Male pro Tag und warnen vor russischen Raketen, die auf militärische und zivile Ziele zusteuern. Durch die Explosionen kommen unsere Mitbürger ums Leben und Gebäude sowie die umliegende Infrastruktur werden zerstört, darunter Gas- und Wasserleitungen, die Kanalisation, Stromnetze und Wärmekraftwerke. Die Monteure machen sich, soweit möglich, umgehend auf den Weg und fangen mit den Reparaturarbeiten an – das heißt, soweit die betroffene Stadt nicht vollständig in Trümmern liegt.
In Mariupol und Melitopol, Slowjansk und Soledar bleibt die Heizung in diesem Jahr aus. In Charkiw und Mykolajiw ist diese Frage noch offen. Vitali Klitschko, der Bürgermeister Kyjiws, hat die Bewohner der Stadt davor gewarnt, dass die Temperaturen in den Wohnungen in diesem Winter nicht über 18 Grad Celsius steigen werden. Dazu muss ich sagen, dass die Temperaturen in unserer Wohnung in der Innenstadt von Kyjiw im Winter noch nie 18 Grad überschritten haben. Ziemlich oft hingegen sanken sie auf 13 Grad ab. Wir sind die Kälte also gewöhnt.
Klitschko rät den Menschen, sich Trockenbrennstoff (für Campingkocher) zuzulegen, warme Kleidung auszumotten und zusätzliche Elektroheizgeräte aufzutreiben. Neulich erklärte der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, Folgendes: „Der Feind zerstört zwar unsere Heizanlagen, aber wir werden durch den Winter kommen.“ Rund um die Uhr werden Wartungsarbeiten am zentralisierten Heizsystem der Stadt unternommen, oftmals unter Bombenbeschuss. Damit das System in diesem Winter störungsfrei betrieben werden kann, muss das gesamte 200 Kilometer lange Netzwerk an unter- und oberirdischen Leitungen im Oktober erneuert werden, doch das lässt sich nur bewerkstelligen, wenn Russland die bereits reparierten Leitungen und Wärmekraftwerke nicht wieder demoliert.
Oleksandr Sjenkewytsch ist der Bürgermeister einer weiteren Stadt, die regelmäßig Bombenhagel erleiden muss: Mykolajiw. Er hat die Einwohner davor gewarnt, dass ihrer Stadt, was die Wärmeversorgung angeht, das Schlimmste noch bevorsteht. „Es kann zu Bombenangriffen kommen. Heute haben wir es noch warm, aber wenn die Heizinfrastruktur morgen bombardiert wird, müssen das Wasser aus dem Kreislauf abgelassen und kaputte Leitungen repariert werden, ehe das System wieder in Betrieb genommen werden kann. In diesem Zeitraum kann es bitterkalt für Sie werden.“
Sjenkewytsch sprach noch etwas Weiteres an, das sämtlichen Großstadtbewohnern Sorge bereitet: die Tatsache, dass die Evakuierung der Bewohner im Falle eines Heizsystemausfalls mit keiner Silbe erwähnt wird. Es wäre aber seltsam, wenn diese Frage nicht doch früher oder später angesprochen würde, zumal die absichtliche Zerstörung der Wärmekraftwerke durch russische Raketen, während Minusgrade herrschen, eine jedwede Stadt unbewohnbar machen würde. Das Wasser in den Leitungen der Gebäude würde gefrieren und die Rohre zum Bersten bringen. Elektroheizgeräte reichen da nicht aus, um eine Wohnung während eines ukrainischen Winters zu beheizen.
Doch wie kann man die Einwohner einer ganzen Stadt evakuieren und wohin bringt man sie? Die Rede ist hier von hunderttausenden Menschen, die alle gleichzeitig in Sicherheit gebracht werden müssen. Keine einfache Aufgabe also.
Die Sirenen, die die Ukrainer vor drohenden Luftangriffen warnen, haben seit Kurzem eine weitere Funktion bekommen: Sie sind zum Signal für spontane Spendenaufrufe für die ukrainische Armee geworden. Auf die Idee für das Crowdfunding kam Natalia Andrikanitsch, eine junge Frau, die in Uschhorod als freiwillige Helferin tätig ist. Ihr wurde bewusst, dass jeder Luftalarm über der Stadt sie wütend machte, also beschloss sie, ihre Einstellung zu ändern und die Sirenen zu einem Mahnruf an sich selbst zu machen, dass die ukrainische Armee Unterstützung braucht, damit mit dem Lärm ein für alle Mal Schluss ist. Seitdem begibt sie sich nun jedes Mal, wenn die Sirene ertönt, nach wie vor in den Luftschutzkeller, überweist aber auch eine kleine Spende – 10 bis 20 Hrywnja (15 bis 30 Eurocent) – auf das Bankkonto der Armee.
Die Idee hat sich in der Ukraine herumgesprochen und viele tun es ihr mittlerweile gleich. Seither lässt jeder Luftalarm in der Ukraine die Kassen der ukrainischen Streitkräfte klingeln. Der Großteil des so gespendeten Geldes kommt aus den Oblasten, die weiter von der Front entfernt sind. „In Charkiw verdient niemand genug, als dass er so oft spenden könnte!“ – so erklärte es mir der bekannte Charkiwer Fotograf Dmitri Owsjankin.
Tatsächlich gibt es Regionen und Städte, in denen die Sirenen ununterbrochen ertönen. So zum Beispiel in Nikopol und Derhatschi sowie in den Rajonen Donezk, Saporischschja, Odesa und Mykolajiw. Dort bleibt den Menschen schlichtweg keine Zeit, eine Internetseite aufzurufen, um zu spenden.
Es ist nicht ganz durchschaubar, was genau mit dem Geld, das auf das Spendenkonto der ukrainischen Armee fließt, geschieht. Diese Information fällt sicherlich unter die Rubrik „Militärgeheimnisse“. Die Ukrainer können hingegen mitverfolgen, wie und wofür die bekanntesten und tatkräftigsten freiwilligen Helfer gesammelte Spenden ausgeben. Der bis heute erfolgreichste freiwillige Spendensammler ist der berühmte Entertainer, Stand-up-Comedian und beliebte Fernsehmoderator Serhij Pritula.
Bis 2019 duellierten sich Serhij Pritula und der damals noch Komiker Wolodymyr Selenskyj in TV ComedyShows. Als Selenskyj dann zum Präsidenten gewählt wurde, entwickelte auch Pritula ein reges Interesse an der Politik. Er ließ sich als Kandidat der Partei „Stimme“ aufstellen, die vom ukrainischen Rocksänger Swjatoslaw Wakartschuk ins Leben gerufen wurde, schaffte den Einzug ins Parlament jedoch nicht. Außerdem nutzte Pritula das Podium, das ihm die „Stimme“-Partei bot, um für das Bürgermeisteramt von Kyjiw zu kandidieren.
Mittlerweile sehen ihn viele Ukrainer als möglichen Rivalen, der Selenskyj die nächste Wahl streitig machen könnte. Seinen Beliebtheitsgrad konnte Pritula bereits bei der Spendenaktion „Bayraktar des Volkes“ unter Beweis stellen. Er hatte sich vorgenommen, 500 Millionen Hrywnja (etwa 13 Millionen Euro) für drei Kampfdrohnen aufzutreiben. In nur wenigen Tagen hatte er dann bereits 600 Millionen Hrywnja beisammen und konnte seine Spendenaktion erfolgreich zum Abschluss bringen.
Als der türkische Hersteller der Bayraktar-Kampfdrohnen dann von Pritulas Spendenaktion erfuhr, gab er kurzerhand bekannt, der ukrainischen Armee die drei Drohnen kostenlos zu überlassen. Folglich entschloss sich Pritula, mit den Spendengeldern stattdessen einen finnischen ICEYE-Mikrosatelliten zu kaufen. Dieser ist in der Lage, selbst bei schlechter Witterung hochwertige Satellitenbilder der Erdoberfläche zu machen. Zusätzlich zu diesem Satelliten schloss er ein Jahresabonnement für eine weitere Satellitengruppe ab, die die Ukraine mit detaillierten Aufnahmen der Positionen des russischen Militärs in der Ukraine und auf der Krim versorgt.
Kurzum: Pritulas Freiwilligenarbeit und seine Beliebtheit haben ungeahnte Höhen erreicht. Nicht jeder freiwillige Helfer ist jedoch gleichzeitig eine TV-Persönlichkeit mit politischen Ambitionen, und das macht es für Normalsterbliche der ukrainischen Gesellschaft schwieriger, Spendengelder aufzutreiben. Der Charkiwer Kultlyriker Serhij Zhadan unterstützt bereits seit Beginn des totalen Krieges sowohl die Spendenkampagnen des Militärs als auch das kulturelle Leben seiner von Bombenanschlägen gerüttelten Stadt aktiv. Vor Kurzem gab er bekannt, Geld für einhundert gebrauchte Jeeps und Kleintransporter fürs Militär sammeln zu wollen. Zhadan hat bereits fünfzehn Fahrzeuge für die Armee beschaffen können.
Der Ushhoroder Kultautor Andrij Ljubka, den ich vor ein paar Monaten schon einmal erwähnt habe, hat bereits Geld für achtunddreißig Fahrzeuge aufgetrieben und diese selbst an die Front gebracht. In der Ukraine witzelt man bereits, dass in ganz Europa keine gebrauchten Jeeps und Kleintransporter mehr erhältlich seien. Bald, so sagt man, müsse man Fahrzeuge per Schiff aus dem fernen Australien kommen lassen. In jedem Witz steckt auch ein Fünkchen Wahrheit: Die Zahl der bis heute an die ukrainische Armee übergebenen Jeeps und Kleintransporter geht in die Tausende. Das Militär hat teilweise bereits Mini Artilleriesysteme auf den Fahrzeugen montiert und sie in den Kampf geschickt.
In den sozialen Netzwerken postet die Armee regelmäßig Fotos kürzlich erhaltener Wagen sowie von Fahrzeugen, die von der russischen Artillerie oder Panzern zerstört worden sind. Diese Bilder bezeugen den Bedarf an weiteren Gebraucht-Jeeps und -Kleintransportern und lassen darauf schließen, dass so lange Nachschub nötig ist, wie der Krieg andauert. Demnach werden ukrainische freiwillige Spendensammler mitunter noch lange die Hauptabnehmer dieser vielseitig einsetzbaren Nutzfahrzeuge aus ganz Europa bleiben.

28.08.2022
Bienen und Verräter

Letzte Woche brachten freiwillige Helfer obdachlose und verwaiste Katzen aus den zerstörten Städten an der Front im Donbass, Bachmut und Soledar nach Kyjiw. Diese Katzen und Kätzchen brauchen ein Zuhause. Obwohl Nachrichten geretteter Haustiere aus den Kriegsgebieten schon lange nichts Ungewöhnliches mehr sind, hat mich die jüngste Meldung eines binnenvertriebenen Bienenvolks aus dem Rajon Bachmut doch aufhorchen lassen.
Vor dem Krieg lebten Tausende Bienenzüchter im Donbass, denn neben Kohle ist die Region seit jeher für ihren Honig bekannt. Noch vor zwei Jahren wurden trotz des Wegfalls der Krim und von Teilen des Donezbeckens immer noch über 80.000 Tonnen Honig pro Jahr aus der Ukraine ausgeführt. Leider kann man das mit dem lukrativen Honighandel die nächsten ein, zwei Jahre, vielleicht sogar noch länger, völlig vergessen.

Wir haben uns bereits an den Umstand gewöhnt, dass Haustiere infolge des Krieges heimatlos werden können. Jetzt müssen wir uns aber zusätzlich mit dem Gedanken abfinden, dass Zehntausende Bienenvölker ihre Heimat im Donbass und in der Südukraine verloren haben.
Wenn ein Bienenstock durch Geschützfeuer beschädigt wird, verwildern die Bienen in der Regel und kehren in die Natur zurück. Sie schwärmen dann von einem Ort zum anderen, lassen sich an Wänden zerfallener Gebäude oder in Baumkronen nieder, bis sie eine dauerhaftere Bleibe gefunden haben, in einer Baumhöhle oder auf dem Dachboden eines verlassenen Hauses. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause versuchen die Bienen auch, dem Lärm und der Zerstörung des Krieges zu entkommen. Sie fliehen nicht nur, weil Pollen, der nach Schießpulver riecht, nicht besonders gut schmeckt, sondern vor allem auch deswegen, weil Bienen Stille brauchen. Stille, um einander summen hören zu können.
An der Front bei Bachmut ließ sich zu Beginn des Sommers ein Bienenvolk in der Nähe der ukrainischen Militärstützpunkte nieder, weil es seinen vom Krieg beschädigten Bienenstock aufgeben musste. Unter den Soldaten gab es auch einen Imker, Oleksandr Afanassjew, der seine eigenen Bienenstöcke zu Hause in der Oblast Tscherkassy in die Obhut einiger freiwilliger Bienenzüchter gegeben hatte.
Als er den Schwarm fand, nahm Oleksandr eine leere Munitionskiste aus Holz, bohrte ein paar Löcher hinein und ließ das Bienenvolk darin unterkommen. Die Bienen gaben sich mit den beengten Bedingungen ihres neuen Heims zufrieden und, nachdem sie sich eingerichtet hatten, machten sie sich in ihrer neuen Umgebung auf zu einem Erkundungsflug auf der Suche nach Blüten.
Als der Sommer vorüber war, wurde Oleksandr einer neuen Einsatztruppe in einem anderen Frontsektor zugeteilt. Seine Waffenbrüder baten Oleksandr, den Bienenschwarm doch bitte mitzunehmen: Sie verstanden nichts von der Bienenzucht und hatten Angst davor, die Verantwortung für das Volk zu übernehmen. Zudem dürfen Soldaten keine Haustiere halten, schon gar keine Bienenschwärme. Wie es der Zufall aber so wollte, kam Ihor Ryaposchenko, ein freiwilliger Helfer aus der Oblast Tscherkassy, der alte Kleintransporter und Jeeps an die Front bringt, gerade zur rechten Zeit bei Oleksandrs Einheit vorbei und bot an, die Bienen mit zu sich nach Hause zu nehmen, obwohl auch er keinerlei Erfahrung mit der Bienenzucht hatte.
So reisten die Bienen über 700 Kilometer in der Munitionskiste, die zu ihrem neuen Bienenstock geworden war. Sie haben die Reise überlebt und machen es sich nun in Ihors Garten bequem. Um sie nicht weiter zu stören, beschloss Ihor, sie nicht in einen richtigen Bienenstock umzusiedeln, sondern sie in ihrem provisorischen Heim zu lassen.
Glücklicherweise gibt es in seinem Dorf mehrere Imker, die Ihor bei der Pflege der Bienen mit Rat und Tat zur Seite stehen können. Bald wird er sich eine Honigschleuder von seinen Nachbarn leihen müssen, um den Honig zu gewinnen und einen Teil davon an die Front zu schicken, wo die Bienen ihr erstes Zuhause beim Militär gefunden hatten.
Die Stellung der ukrainischen Militärposten hat sich in letzter Zeit nicht geändert, obwohl sich russische Truppen von Osten her Bachmut nähern und die Stadt jede Nacht mit Artilleriefeuer und mehreren Raketenwerfern beschießen. Vor dem Krieg hatte Bachmut mehr als 70.000 Einwohner; jetzt sind es noch etwa 15.000. Das ukrainische Militär hat wenig Vertrauen in die Bewohner, die trotz des Angebots der Evakuierung in der Stadt oder in den umliegenden Dörfern bleiben wollten.
Viele dieser „Zurückgebliebenen“ beharren darauf: „Wir warten erst einmal ab. Mal sehen, was als Nächstes passiert!“ Ukrainische Soldaten nennen solche Menschen „Abwartende“, weil sie scheinbar darauf warten, dass Russland das Gebiet erobert. Einige dieser „Abwartenden“ scheinen den ukrainischen Soldaten gegenüber positiv eingestellt zu sein und schenken ihnen manchmal Gemüse oder Obst. Dennoch besteht Zweifel an ihrer Vertrauenswürdigkeit. Schließlich kann es sein, dass sie die Soldaten nur deshalb aufsuchen, um ausfindig zu machen, wo ihre militärische Ausrüstung untergebracht ist; Informationen also, die sie an die russische Artillerie weitergeben können. Einige derjenigen, die in den besetzten Städten Melitopol und Mariupol geblieben waren, kollaborierten schlussendlich mit den russischen Besatzungsbehörden, darunter auch ehemalige Polizeibeamte.

Das Thema Verrat ist in der Ukraine kein beliebtes und wird definitiv nur ungern angesprochen. Doch in letzter Zeit hört man zunehmend Meldungen über Ukrainer in den verschiedenen Oblasten des Landes, sogar in Kyjiw, die der russischen Armee und den Geheimdiensten in die Hände spielen. Beamte des Ministerkabinetts und der Nationalen Wirtschaftskammer sowie Parteichefs des pro-russischen Oppositionsblocks, Staatsanwälte und Richter sind bereits verhaftet und wegen Hochverrats angeklagt worden. Aber diese Kreml-Spitzel sind gegenüber den Kollaborateuren in den besetzten Gebieten deutlich in der Unterzahl.
Die Ukrainer bekamen einen anfänglichen Schock, als bekannt wurde, wie viele Richter, Staatsanwälte, SBU und Polizeibeamte nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 in den Dienst der Russischen Föderation übergelaufen waren. Es handelte sich um einen Massenverrat, aber wie sich herausstellen sollte, war es auch das Ergebnis der langwierigen und akribischen Arbeit der russischen Geheimdienste auf der Krim.
Zudem war dieser Verrat auch dem Scheitern der ukrainischen Geheimdienste geschuldet, denn selbst jetzt ist Verrat im Donbass nicht so landläufig wie auf der Krim. Die meisten der verbliebenen Bewohner wollen zwar nicht mit den Besatzern kooperieren, doch Russland hat viele Waffen in seinem Arsenal, um Ukrainer zu zwingen, die Besatzer zumindest passiv hinzunehmen: Um humanitäre Hilfe zu bekommen, die Wasserversorgung wieder anschließen zu lassen oder jegliche Art von Zugriff auf die eigene Rente zu erhalten, muss man sich bei der Besatzungsverwaltung melden.
Wie eine Narbe prägt das Thema des Verrats die Dörfer und Städte rund um Kyjiw, die zu Kriegsbeginn unter russische Besatzung gefallen waren. In jedem Dorf, in jeder Stadt gab es Moskau-Treue, die für die Invasoren Listen pro-ukrainischer Aktivisten, der Anschriften der Teilnehmer an den Majdan-Protesten und der Veteranen der Anti-Terroroperation im Donbass erstellten.
In Andrijiwka, einem Dorf unweit von Borodjanka, nordwestlich von Kyjiw, stellte sich ein ehemaliger Mönch aus einem Kloster des Moskauer Patriarchats als eben solch ein Verräter heraus. Er bot nicht nur mehreren Invasoren in seinem Haus Unterschlupf, sondern zeigte ihnen auch prompt, in welchen Häusern im Dorf sich ein Einbruch lohnte und welche Bewohner entführt und gegen Lösegeldforderungen festgehalten werden könnten.
Als das Dorf dann befreit wurde, blieb dem Mönch keine Zeit zur Flucht. Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Eine weitere Familie hingegen – Migranten aus Donezk –, die sich nach 2014 in Andrijiwka niedergelassen und auch mit den russischen Besatzern kollaboriert hatte, verließ das Dorf zusammen mit der russischen Armee, als diese nach Belarus abzog. Mehr als dreißig Einwohner Andrijiwkas gelten weiterhin als vermisst. Mindestens siebzehn Menschen wurden von russischen Soldaten erschossen und viele Häuser liegen weiterhin in Trümmern.
Mykola Horobets, ein bekannter Germanist und pensionierter Akademiker, der den Großteil seines Lebens an der Staatlichen Wissenschaftlich-Technischen Bibliothek der Ukraine in Kyjiw angestellt war, kehrte in sein Sommerhaus in Andrijiwka zurück, sobald die russischen Truppen aus dem Dorf vertrieben worden waren. Vor dem Krieg hatte er noch jeden Sommer dort verbracht, aber letzte Woche war er erst das fünfte Mal seit der Befreiung des Dorfes in dem Haus, in dem er aufgewachsen war.
Es ist ihm gelungen, Kartoffeln zu stecken, aber nur in dem Teil des Gartens, der dem Haus am nächsten liegt. Er hat Angst davor, den Boden zu bestellen, der weiter weg liegt: Was, wenn dort Minen vergraben sind? Niemand hat den Garten auf Sprengkörper abgesucht. Trotz der geringeren Fläche seines Kartoffelackers ist Mykola einigermaßen mit der Ernte zufrieden und konnte eine ordentliche Menge Kartoffeln im Vorratskeller einlagern. Jetzt legt er sich Feuerholz für den Winter an. Er denkt oft an den verräterischen Mönch und die Kollaborateure, die aus Donezk umgesiedelt hatten.
Während der Besatzung bewohnten russische Soldaten Mykolas Sommerhaus. Sie waren sehr überrascht, so viele deutschsprachige Bücher in den Regalen vorzufinden und erkundigten sich bei den Nachbarn über den Hausbesitzer: Lebt hier etwa ein Deutscher? Sie ließen ein kaputtes Sofa, mehrere Ausgaben der Zeitung Krasnaja Swesda („Roter Stern“) des russischen Verteidigungsministeriums und viele persönliche Gegenstände zurück, darunter eine Mütze, Pulver zum Anrühren eines Energy Drinks und einen Campingtopf zum Kochen.
Als Mykola nach der Befreiung des Dorfes zum ersten Mal wieder zurückkehrte, betrat die ukrainische Polizei das Haus noch vor ihm. Die Polizisten schauten sich um und fragten Mykola, was die russischen Soldaten zurückgelassen hatten. Im Schuppen fand Mykola einen großen Behälter mit Maschinenöl, wahrscheinlich für den Motor eines Kettenfahrzeugs. Die Polizei war nicht an dem Öl interessiert, aber einem von ihnen gefiel der Campingtopf des russischen Soldaten und so beschlagnahmte er ihn für sich selbst.
Das Motoröl steht noch immer im Schuppen. Vielleicht hat das örtliche Geschichtsmuseum in Makariw, der nächstgelegenen Stadt, ja daran Interesse. Der Museumsleiter arbeitet an einer Ausstellung über die Besetzung des Rajons Makariw und hat sämtliche Bewohner gebeten, dem Museum „Artefakte“ des Angriffs Russlands zu spenden.
„Ich habe Angst und möchte nicht so oft nach Andrijiwka fahren“, gab Mykola mir gegenüber zu. „Abends betrinken sich viele Leute hier und ballern dann im Dunkeln mit Gewehren herum. Die Russen haben wahrscheinlich auch einige Waffen zurückgelassen!“
Die Polizei hat scheinbar keine Eile, die Waffen zu beschlagnahmen, die die Dorfbewohner als Kriegsbeute eingesackt haben. Und niemand will sich über Alkoholiker mokieren, die die Besatzung durchmachen mussten. Manche sind der Ansicht, dass sie wegen des erlittenen psychologischen Traumas zur Flasche greifen, aber das macht die Situation nicht weniger beängstigend.
Tatsächlich sind alle Bewohner Andrijiwkas mittlerweile zutiefst traumatisiert, auch diejenigen, die die Besatzung anderswo ausgestanden haben, so wie Mykola. Er verbrachte sie in Kyjiw mit seiner erwachsenen Tochter, die eine cerebrale Bewegungsstörung hat. Wegen ihr hatte er gar nicht erst in Erwägung gezogen, aus Kyjiw fortzugehen.
Auch sein Dorfnachbar Andrij, mit dem er schon seit seiner Kindheit befreundet ist, ist Alkoholiker. Manchmal stiehlt Andrij Gemüse aus Mykolas Garten und verkauft es, um sich dafür eine Flasche zu leisten. Seltsamerweise ist Andrij auch Bienenzüchter, oder vielmehr ehemaliger Imker, der eben noch Bienen hat. Eines seiner Völker „entwischte“ ihm kürzlich und ließ sich auf einem Kirschbaum in Mykolas Garten nieder. Andrij lehnte eine Leiter an den Baum und kletterte hinauf, wobei er mehrere Äste abbrach, es aber schaffte, den Schwarm wieder einzufangen.
Ich habe das schleichende Gefühl, dass die Bienen beim nächsten Mal viel weiter weg fliegen werden – an einen Ort, wo ihr betrunkener Besitzer sie nicht finden kann. Vernachlässigung ist auch eine Form des Verrats und genauso wie Menschen, tun sich Bienen schwer damit, Verrätern zu vergeben.

 

20.10.2022
Zwischen Nationalismus und Patriotismus

Seit Februar dieses Jahres beschäftigt mich die Frage der Identität inständig. Das Thema wird täglich bei meinen Vorträgen und Veranstaltungen in verschiedenen europäischen Städten angestoßen. Ich versuche dann, den Europäern den Unterschied zwischen der russisch-sowjetischen und der ukrainischen Mentalität begreiflich zu machen. Sobald ich diese Differenzierung verdeutlicht habe, fällt es mir viel leichter, über die Ursachen dieses Krieges zu sprechen. So kann ich zudem meine eigene Identität erklären, die meiner Verständigung mit Russland schon lange im Wege steht und mir auch in der Ukraine viele Unannehmlichkeiten bereitet.
Tatsächlich gehörte mein Ich-Bewusstsein bis vor Kurzem zu den akzeptierten Formen der ukrainischen Identität und stand in keinerlei Widerspruch zu den wichtigsten Wertmerkmalen dessen, was einen „echten Ukrainer“ ausmacht. Es gibt jedoch einen Aspekt meiner Identität, der auf einige meiner intellektuellen Mit-Ukrainer ebenso wirkt wie ein rotes Tuch auf einen Stier: Ich bin ethnischer Russe und meine Muttersprache ist Russisch.
In allen anderen Wesensarten bin ich ein typischer Ukrainer. Ich höre nicht auf die mehrheitliche Meinung, sondern vertrete meine eigenen Ansichten. Für mich ist Freiheit – vor allem Redefreiheit und die freie Kreativitätsausübung – mehr wert als Geld und Stabilität. Ich unterstütze nur selten die Politik der machthabenden Regierung und bin stets bereit, sie zu kritisieren.
Kurzum: Ließe sich die Tatsache meiner Muttersprache und russischen Herkunft aus der Liste meiner Eigenschaften streichen, wäre ich der Prototyp eines Ukrainers, der mit Kusshand in den Schoß der „idealen Ukrainer“ aufgenommen würde. Die derzeitigen Mitglieder eben dieser Gruppe verbringen aber viel Zeit damit, auf Facebook öffentlich zu bestimmen, wer ein „waschechter Ukrainer“ ist und wer nicht, und wer partout nicht als Ukrainer gelten kann.
Ich betrachte mich selbst als Ukrainer – als Ukrainer russischen Ursprungs. Und mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich lebe in einem wunderschönen Land mit einer komplexen Wesensart und einer komplizierten Geschichte, in dem jeder Bürger seine ganz eigene Vorstellung davon hat, was den ukrainischen Staat ausmacht, und dabei sein Bild für das richtige hält. Anders ausgedrückt sind wir eine Gesellschaft bestehend aus Individualisten.
Diese Art der Gesellschaft ist durch unsere historisch bedingte Erfahrung der organisierten Anarchie entstanden, welcher die Ukraine über die Jahrhunderte mehrmals verfallen ist. Es verwundert also nicht, dass Europas größtes Anarchistenheer – Nestor Machnos revolutionäre aufständische Armee – in der Ukraine gegründet wurde und dort, und nicht in Russland, kämpfte, einem Land, das traditionell im Kollektiv denkt. Im Bürgerkrieg von 1918 bis 1921 besiegte die Machno-Bewegung sogar sämtliche ihrer Kontrahenten!
Wenn ich mir die Ukraine von heute so ansehe, liefert mir die Tatsache, dass hier über vierhundert Parteien offiziell beim Justizministerium zugelassen sind, den Beweis für den ukrainischen Individualismus. Ich verstehe und respektiere die ukrainische Gesellschaft so, wie sie ist, mit all ihren Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten.
Im Laufe der vergangenen dreißig Jahre haben mich Bekannte und Unbekannte aus den Rängen ukrainischer Nationalisten immer und immer wieder angehalten, ich solle doch auf Ukrainisch schreiben. Manche unter ihnen akzeptieren meine Begründung, dass ich eben in meiner Erstsprache schreibe – auf Russisch – und dass ich ein Anrecht auf meine Muttersprache habe. Manchmal stößt diese Erklärung aber auch auf Unverständnis und sogar Missfallen. Die Gespräche, die ich über dieses Thema geführt habe, sind aber bislang größtenteils freundlich abgelaufen.
Es kam aber auch schon vor, dass Anonyme, die gegenteiliger Meinung sind, in den sozialen Netzwerken posten, ich sei kein ukrainischer, sondern ein russischer Schriftsteller. Ich gehe darauf einfach nicht ein. Jeder Mensch in der Ukraine hat das Recht auf eine eigene Meinung sowie auf die freie Meinungsbildung und ‑äußerung. Und jeder hat zudem das Recht, die Meinung eines anderen nicht zu teilen.
In der Ukraine gibt es übrigens viele russischsprachige ukrainische Nationalisten. Ein Großteil der Mitglieder der bekannten rechtsextremen Organisation Prawyj Sektor („Rechter Sektor“), die 2014 an Bedeutung gewann, sind russischsprachige Ukrainer. Die ukrainische Sprache war also nicht immer eine Grundvoraussetzung für ukrainischen Nationalismus. Hier sollte ich anmerken, dass es in der Ukraine dutzende verschiedener nationalistischer Gruppierungen gibt, und dass diese oftmals aneinandergeraten, wenn es darum geht, die „korrekte“ Form des Nationalismus zu definieren. Selbst Stepan Bandera, eine Berühmtheit der ukrainischen Geschichte, geriet bereits beim Kampf für die Unabhängigkeit der Ukraine in den 1930er- und 1940er-Jahren mit seinen Genossen in Zwist.
Unterdessen sind derzeit keine Nationalisten in der Werchowna Rada vertreten, weil keine einzige der nationalistischen Parteien es geschafft hat, bei den letzten Parlamentswahlen die 5-Prozent-Hürde zu nehmen.
Eine Bewegung, die den Einzug ins Parlament nicht schafft, ist keine reale politische Macht. Im Gegensatz dazu schließt der ukrainische Patriotismus mehr Menschen mit ein. Die Grundbedingung besteht hierbei darin, das Land zu lieben, wobei niemand ein Interesse daran hat, Ausschlusskriterien aufzustellen. Von den krimtatarischen Aktivisten – die von den russischen Geheimdiensten schonungslos angegriffen werden – sprechen die wenigsten Ukrainisch. Die meisten beherrschen Russisch und ihre Muttersprache Krimtatarisch, doch niemand stellt deswegen ihren ukrainischen Patriotismus infrage.
Auch ich bin ukrainischer Patriot. Ich habe miterlebt, wie die Ukraine, als unabhängiger Staat, erwachsen wurde. Dreißig Jahre lang lebte ich in der Sowjetrepublik Ukraine und seit einunddreißig Jahren ist nun die unabhängige Ukraine mein Zuhause. Seit der Unabhängigkeit sind die ukrainische Literatur und Kultur zu neuem Leben erwacht und eine neue, ganz andere Generation europäischer Ukrainer ist herangewachsen, für die alles Sowjetische durch und durch fremd ist. Diese Generation hat die ukrainische Sprache und ukrainischsprachige Literatur populär gemacht. 2012 wurden die russisch und ukrainischsprachigen Ausgaben meines Romans Jimi Hendrix live in Lemberg gleichzeitig in der Ukraine veröffentlicht. Da ist mir zum ersten Mal klar geworden, dass sich ein Buch auf Ukrainisch in der Ukraine besser verkauft als dasselbe Buch in russischer Sprache. Seither haben die ukrainischen Übersetzungen meiner Bücher stets höhere Verkaufszahlen erzielt als die russischen Fassungen. Ich erlebe mit, wie die russische Sprache langsam ihre Stellung in der Ukraine einbüßt und, um ehrlich zu sein, echauffiert mich das nicht einmal. Junge Ukrainer lesen immer seltener auf Russisch.
Im Februar habe ich mich dazu entschlossen, meine Bücher nicht mehr in ihrer Originalsprache, auf Russisch, herauszugeben. Sollen die Bücher in der Ukraine auf Ukrainisch, in Frankreich auf Französisch, in Großbritannien auf Englisch verlegt werden. Russischsprachige Leser brauchen meine Bücher nicht. Die Publikation meiner Bücher in Russland wurde erstmals 2005 unterbunden, nach der Orangen Revolution, an der ich teilnahm. Nach einer kurzen Zeit des „Tauwetters“, während der meine Romane neu aufgelegt worden waren, wurde 2008 zum zweiten Mal ein Verbot verhängt.
Seit 2014 ist es russischen Buchhandlungen untersagt, meine Bücher aus der Ukraine einzuführen. Ich habe mich an den Gedanken gewöhnt, dass es mich als Schriftsteller in Russland nicht gibt. Ich habe dort keine Leserschaft und es tut mir auch nicht um sie leid. In letzter Zeit wird Russisch von ukrainischen Facebook- Nutzern immer häufiger als „Sprache des Feindes“ bezeichnet. Der Kreml hat Himmel und Hölle – wortwörtlich – in Bewegung gesetzt und russischsprachige Ukrainer letztendlich dazu bewegt, ins Ukrainische zu wechseln. Dennoch hört man auf der Straße, wo sich die Menschen sowohl auf Russisch als auch auf Ukrainisch unterhalten, nur selten Auseinandersetzungen über die Sprache und beide Sprachen bestehen friedlich nebeneinander.
Die Sprachenfrage und Streitereien rund um dieses Thema waren früher einmal auf die politische Arena beschränkt, wo vor dem Ausbruch des Krieges 2014 die Verteidiger der ukrainischen Sprache gegen die Verfechter der russischen antraten – oder vielmehr gegen die Verfechter des russischen Einflusses auf die Ukraine. Der andauernde Militärangriff hat die Verteidiger der russischen Sprache jedoch aus der Politik verdrängt. Viele von ihnen haben sich als Verräter, Kollaborateure oder sogar russische Spitzel mit russischen Pässen herausgestellt.
Unter solchen Umständen geben manche ukrainische Intellektuelle sämtlichen russischsprechenden Ukrainern teilweise die Schuld für den Krieg. Es stimmt schon, dass Putin russischsprachige Ukrainer zum scheinbaren Auslöser für diesen Krieg erklärt hat, indem er darauf beharrt, dass seine „militärische Spezialoperation“ notwendig ist, um sie zu beschützen. Weil er diese Idee ständig wiederholt, wurden manche ukrainische Nationalisten zu der Aussage verleitet, dass es nicht zum Krieg gekommen wäre, gäbe es keine russischsprachigen Ukrainer!
Manche Nationalisten, darunter Iryna Farion, scheinen sich damit schwerzutun, sich ein objektives Bild der ukrainischen Gesellschaft zu verschaffen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass die Ukraine ein multikultureller Staat mit über zwei Dutzend nationalen Minderheiten ist. Glücklicherweise gibt es nur wenige Aktivisten, die die Realität in der ukrainischen Gesellschaft derart ausblenden, und jene, die sie vehement verleugnen, wirken keinerlei Einfluss auf die Staatspolitik aus. Trotzdem nutzen sie jede Gelegenheit, ihre polarisierende Meinung kundzutun und eine Spaltung zwischen Idealisten und Realisten unter der ukrainischen Bevölkerung zu bewirken.

Aus dem Englischen von Rebecca DeWald

 

©Haymon Verlag/Fotowerk Aichner

Andrej Kurkow wurde in St. Petersburg geboren und lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, vom Liebenswürdigen und Rätselhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet. 2022 erschien sein „Tagebuch einer Invasion“ bei Haymon, in dem er sich den ersten Monaten des Angriffskrieges widmete und für das er den Geschwister-Scholl-Preis 2022 erhielt. Kurkow schreibt weiterhin gegen die Zerstörung – und für die Zukunft der Ukraine.

Warum wir 2023 noch über die Protagonistinnen der 1848er-Revolution diskutieren müssen und wie sich Geschichtsvernebelung aus dem 19. Jahrhundert bis in unsere Zeit fortschreibt. Ein Interview mit Andreas Kloner

Der Zauberer vom Cobenzl“ von Bettina Balàka ist eine mitreißende und kuriose Geschichte von einem schillernden Wissenschaftler und Entdecker, der dem Altersstarrsinn anheim fällt und sein Denkmal beschädigt. Der Roman ist auch ein lebendiges Epochenbild, das uns Leser*innen aus einer weiblichen Perspektive heraus eintauchen lässt in eine Zeit der Umbrüche, in eine Zeit des erwachenden Widerstands und die Geburtsstunde der ersten politisch organisierten Gruppe, die sich im Kaiserreich der Gleichstellung von Frauen und Männern verschrieb.

Während so manche Begegnung und Bekanntschaft in Bettina Balàkas fiktivem Roman geschichtlich nicht belegbar ist, fußen viele Begebenheiten auf breitem historischen Konsens: Etwa die Rolle der ersten Wiener Frauendemonstration 1848 kurz vor der sogenannten Praterschlacht, oder der solidarische Einsatz des „Ersten Wiener Demokratischen Frauenvereins“

Der Journalist und Autor Andreas Kloner arbeitet seit 2003 als Sendungsgestalter für den Österreichischen Rundfunk, Deutschlandradio Kultur, Radio France und andere europäische Kultursender.
Fotocredit: privat

Obwohl die Ereignisse des Revolutionsjahrs gut dokumentierter Gegenstand geschichtlicher Forschung sind und sich auch im Stadtbild verschiedentlich manifestieren (so gibt es etwa einen Platz der Erdarbeiterinnen im 2. Bezirk), kamen schon während der Recherche am Roman und nach der Veröffentlichung Widersprüchlichkeiten und weit verbreitete Fehlannahmen ans Tageslicht.

Immer wieder wurden wir zum Beispiel mit dem Wikipedia-Eintrag des Protagonisten Karl von Reichenbach konfrontiert, der eine der Hauptfiguren, Ottone, fälschlicherweise nicht anführt. Wo liegt die Ursache für faktische Fehlinformationen, fehlende Quellen und offensichtliche Geschichtsklitterung, die anscheinend unwidersprochen kursieren?

Wir haben Andreas Kloner interviewt, um das herauszufinden, der Journalist und Schriftsteller forscht aktuell selbst für ein Buch über Karoline Perin. Über die 1848-er Revolution, Stolpersteine bei der Recherche und patriarchale Traditionen der Geschichtsschreibung haben wir uns mit ihm unterhalten.

Lieber Herr Kloner, Bettina Balàkas Roman versetzt seine Leser*innen in eine bewegte Epoche. 1848 wurde das Kaiserreich von Aufständen erschüttert, neben Autonomiebestrebungen einzelner Kronländer hatte die Revolution auch eine Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerung zum Ziel. Lassen Sie uns kurz in den historischen Kontext eintauchen:

Um die Zusammenhänge während der europäischen Revolutionszeit 1848/49 einordnen zu können, empfehle ich das neue Buch von Christopher Clark „Frühling der Revolution“, in dem der Autor den Leser*innen auf mehr als tausend Seiten eine Gesamtschau der Ereignisse und Beweggründe bietet. In Österreich brach sich die Revolution Bahn von etwa Mitte März 1848, mit der Forderung nach einer Verfassung und nach Pressefreiheit, im Mai 1848 folgte der Studentenaufstand und der damit verbundene Bau zahlreicher Barrikaden innerhalb der Wiener Stadtmauern. Die Geschehnisse gipfelten in der Demonstration der Erdarbeiter*innen und dem Pratermassaker vom 23. August. Die Ermordung des verhassten Kriegsministers Latour, am 6. Oktober 1848, bildete Argument und Auftakt zur Konterrevolution, die den Aufstand Ende Oktober 1848 blutig niederschlagen ließ. Zart gesprossene liberale und demokratische Pflänzchen wurden zertreten. Das nachhaltigste Ergebnis der Wiener Revolution 1848 war die Bauernbefreiung unter der Ägide von Hans Kudlich.

In dieser turbulenten Zeit kommen zwei Protagonistinnen des Romans – Hermine und Ottone – mit revolutionären Kreisen in Berührung und wir erfahren viel über das Engagement von Teilen der Aristokratie und des Bürgertums. Wir lernen im Roman auch Protagonistinnen der entstehenden Frauenbewegung kennen. Welche Rolle spielte etwa der „Erste Wiener Demokratische Frauenverein“ in dieser Zeit?

Ob Hermine und Ottone Reichenbach definitiv mit den revolutionären Kreisen in Berührung gekommen sind, dazu sind die Quellen zurzeit nicht ausreichend. Die literarische Freiheit Bettina Balàkas, die Schwestern Reichenbach als Mitglied des „Ersten Demokratischen Frauenvereins“ aufscheinen zu lassen, könnte allerdings von der Realität durchaus overruled werden, falls in einer Petition des Frauenvereins an den am 17. Oktober 1848 tagenden Reichstag auch die Unterschriften von Hermine und Ottone auftauchen sollten. Da bin ich noch auf der Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. An einer kleinen, inneren Revolution haben Hermine und Ottone ohne Zweifel teilgenommen, nämlich die Entscheidung, ihren despotisch-psychopathischen Vater in einer regelrechten Nacht- und Nebelaktion zu verlassen.

Was den „Ersten Wiener demokratischen Frauenverein“ betrifft, bin ich mir nicht sicher, ob sich dieser die politisch heißen Themen, wie Gleichberechtigung oder gleiche Bildung für Frauen, von Anfang an auf die Fahnen geheftet hat. Gegründet wurde der Verein, nachdem ein Protest von Erdarbeitern, aber vor allem auch Erdarbeiterinnen, die wegen einer einschneidenden Lohnkürzung protestiert hatten, von der Exekutive brutal niedergeschlagen wurde. Es gab eine große Anzahl an Toten und Verletzten. Für diese Arbeiterinnen und deren Kinder wollte sich der Frauenverein – so ist es in einem ersten handgeschriebenen Entwurf der Statuten noch zu lesen! – ausschließlich karitativen Angelegenheiten widmen. Wenige Tage später erschienen die Statuten gedruckt. Der karitative Inhalt war jedoch in den Hintergrund gerückt. Plötzlich dominierten die brisanten politischen Forderungen, um offenbar dem Demokratiegedanken dieser Tage Rechnung zu tragen.

Was wurde aus den Forderungen des Frauenvereins und was geschah nach der Niederschlagung der Revolution?

Die Forderungen des 1848er-Frauenvereins, wie Gleichberechtigung und Schulbildung für alle, wurden, wie es bei uns so schön heißt, nicht einmal ignoriert. Allein bei dem Begriff „Gleichberechtigung“ dürften die Männer (aber auch ein Großteil der Frauen) tief nach Luft gerungen haben. – Transferieren wir eine derartig unmögliche Möglichkeit in die heutige Zeit: Vor wenigen Jahren wäre es völlig unvorstellbar gewesen, von rauchfreien Lokalen zu träumen! Heute ist es – zumindest aus meiner persönlichen Erfahrung heraus – eine Selbstverständlichkeit. – Gehen wir einen Schritt weiter, in unsere Tage: Hier wird das Anliegen, neben der männlichen stets auch die weibliche Form zu schreiben und auszusprechen, mehrheitlich noch immer als „Genderwahn“ wahrgenommen. So manchem graut vor einem Gender-Doppelpunkt, -Sternchen, -Binnen-I, -Unterstrich noch immer derartig, als wären sie der in diakritische Zeichen gegossene Gott-sei-bei-uns höchstpersönlich. Die Rede vom alten, weißen Mann ist jetzt zwar auch nur ein Klischee und Narrativ (auch ich bin alt und weiß), aber es gibt ihn immer noch. – Ob die damaligen Forderungen des Frauenvereins nach Gleichberechtigung im Heute des 21. Jahrhunderts bereits zur Gänze angekommen sind, darf sich jede*r selbst ausrechnen.

Bei den Nachforschungen zu ihrem Roman stieß Bettina Balàka auf Ungereimtheiten und Hindernisse. Zur Existenz Ottones von Reichenbach gibt es wohl widersprüchliche Darstellungen, zum demokratischen Frauenverein gibt es noch nicht einmal einen deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag (Anm.: Stand 18.10.2023). Sie recherchieren aktuell an einem Buch über Karoline von Perin, die unter anderem die Vorsitzende des ersten politischen Frauenvereins in Österreich war.  Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Errungenschaften dieser mutigen Frauen im öffentlichen Diskurs so wenig präsent sind. (Ganz zu schweigen vom hohen Preis, den sie für ihren Einsatz bezahlen mussten.)

Eine sehr komplexe Frage, die einer komplexen Antwort bedarf. Was die Existenz Ottones betrifft, wäre diese gar nicht so widersprüchlich, wenn nicht der Name „Wurzbach“, der Verfasser des „Biographischen Lexikons des Kaiserthums Österreich“, nicht derartig wuchtig nachwirkte. Im konkreten Fall geht es um seinen 150 Jahre alten Eintrag, es habe einen „Otto Eugen“ (Reichenbach) gegeben, während Bettina Balàka in ihrem Roman „behauptete“, es handle sich um eine „Ottone Eugenie“. So.

Wenn nun die in der Gegenwart lebende (weibliche!) Bettina Balàka, die einen historischen Roman geschrieben hat, dem historisch-biographisch arbeitenden (männlichen) Konstantin von Wurzbach – eine beinahe sakrosankt wahrgenommene Institution in der Wiener Geschichtsforschung – gegenübergestellt wird, wem wird letztlich das bessere Wissen zugeschrieben werden? – Richtig! Dann sehen wir, wie tiefgreifend das patriarchiale System in uns allen weiterhin funktioniert. Und wir sehen auch gerade in diesem Fall, wie schwerfällig moderne Enzyklopädien, wie in diesem Fall Wikipedia, darauf reagieren. Offenbar gilt noch immer das Zitat aus dem Western-Klassiker „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“: „Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende!“

Fundstück: Auszug aus dem Blansker Geburtenregister. „Otto Eugen“ war demnach tatsächlich „Ottone Eugenie von Reichenbach”.
Konstantin von Wurzbachs Lebenswerk, das Biographische Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, gilt als einzigartige und wirkmächtige historische Referenz und scheint auch hier ursächlich für die nachhaltige Löschung Ottones aus den Enzyklopädien zu sein.
Das Register liegt öffentlich zugänglich im Mährischen Archiv zu Brünn auf. (Moravian Provincial Archives – Book #51, Blansko region, Births 1805-1839). Dig. Archivlink.

Kurios: Ausgerechnet Karoline von Perin erlitt ebenfalls ein „Wurzbach-Schicksal“. Bei den Einträgen unter „Pasqualati“ findet sich auch Andreas Joseph Pasqualati, der Vater von Karoline. Allerdings werden lediglich seine Söhne Joseph und Moritz erwähnt. Die Tochter wird totgeschwiegen.
Gedenkstein im Volksgarten
Credit: Geolina163, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Was den noch nicht vorhandenen Wikipedia-Eintrag zum ersten politischen Frauenverein in Österreich betrifft, bin ich schon froh über den Wikipedia-Eintrag, der Karoline von Perin vor wenigen Jahren gewidmet worden ist. Was die historische Faktizität betrifft, möchte ich den gut versteckten, nicht einmal kniehohen Gedenkstein im Wiener Volksgarten als Beispiel nehmen, auf dem sich eine Minimalstbiographie von Karoline von Perin befindet, der sage und schreibe in einem einzigen Satz gleich drei grobe Fehler beinhaltet: Nein, Karoline von Perin wurde nicht 1808 geboren; nein, sie ist nicht die Gründerin des Vereins gewesen; nein, die Vereinsversammlungen fanden nicht regelmäßig im Volksgarten-Café statt.

Die Errungenschaften des Vereins lagen vor allem darin, etwa zwei Wochen nach seiner Gründung ein Statut herausgegeben zu haben, das seiner Zeit um Jahrzehnte voraus war. Die Zeit war einfach noch nicht reif dafür. Um es auf den Punkt zu bringen: Es waren die Menschen, sowohl Männer als auch Frauen, die noch nicht reif dafür waren. Den im Raum stehenden psychoanalytischen Ansatz möchte ich nur andeuten: Wie schützen sich Männer vor starken Frauen? Indem sie etwas per Gesetz verbieten oder gesetzliche Vorgaben ohnehin an der Praxis scheitern lassen! Mit letzterem könnten wir gar in der Jetztzeit gelandet sein.

Sind Sie bei der Recherche zu Ihrem Buch ebenfalls auf Lücken oder gar tätige Geschichtsklitterungen und Hindernisse gestoßen?

Häufig ergeben sich historiographische Fehler aus unabsichtlichen Schlampereien, Missverständnissen, Abschreibfehlern und und und. Klassische Geschichtsklitterungen, im Sinne von absichtlichen Irreführungen, sind mir während meiner Recherche immer wieder untergekommen.

Zwei Beispiele möchte ich nennen, die unterschiedlich motiviert waren: Zum einen hat Karoline von Perin vermutlich selbst geschichtsgeklittert, als sie in ihrem Bericht über ihre Flucht, Gefangennahme und Gefängniszeit dem revolutionären Gedanken abschwor, um durch diese Abbitte wieder Teil der Gesellschaft zu werden. Der Treppenwitz daran: Die Rückkehr in die Gesellschaft wurde ihr zeitlebens nicht mehr gewährt. Man hat an ihr – vermutlich zur Abschreckung – ein Exempel statuiert.

Zum anderen gibt es einen bösartigen Nekrolog auf sie, der – bis auf die Einleitung – im völlig gleichen Wortlaut in zwei unterschiedlichen Tageszeitungen erschienen war. Das Bemerkenswerte daran: Einmal erschien der Artikel bereits vor, im anderen Fall nach dem Begräbnis. Die Einleitung in der ersten Zeitung wurde auf die Zukunft hin formuliert, in etwa: „Kaum jemand wird an ihrem Begräbnis teilnehmen …“, während in der zweiten Zeitung geschrieben stand: „Kaum jemand nahm an ihrem Begräbnis teil …“. Hier wird das ursprünglich noch nicht stattgefundene Ereignis in ein historisches Faktum umgeschrieben. Das ist zutiefst infam und beschämend.

Haben Sie zum Abschluss vielleicht einen Tipp für unsere Leser*innen, die mehr über die Zeit und das Schicksal der ersten politisch organisierten Frauenbewegung erfahren möchten?

Über den ersten demokratischen Frauenverein während der Revolutionszeit sind die Bücher und Artikel von der Historikerin Gabriella Hauch zu empfehlen. Das Schicksal des ersten politisch organisierten Frauenvereins war mit der Niederschlagung der Revolution derartig rasch besiegelt, dass der Verein nach nur zwei Monaten Geschichte war. Spannend wäre es – neben Karoline von Perin – weitere Mitstreiterinnen ausfindig zu machen und deren Lebensläufe nach der Revolution weiterzuerzählen. Etwa jene von der Nichte eines Vereinsmitglieds, die einen Vater hatte, der sich zeit seines Lebens für die Frauenrechte einsetzte, und die als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität promovieren konnte: Dr. Isabella Eckardt: „Der Romzug Kaiser Sigmunds (1431-33)“ aus dem Jahr 1902.

 

Möchtest auch du mehr erfahren über eine Zeit im Umbruch, einen Roman, der einen Wissenschaftskrimi beinhaltet und der erlebbar macht, wie Frauen in Wien zum ersten Mal organisiert für bessere Lebensbedingungen auf die Barrikaden gehen? „Der Zauberer vom Cobenzl“ ist in deiner Lieblingsbuchhandlung erhältlich. Alle Infos zum Buch findest du hier!

„Es sind die Tiefen und die Wahrhaftigkeit der Personen, die mich interessieren.“ – Theresa Prammer im Interview

Auf der Bühne verkörpert Theresa Prammer die Charaktere anderer und inszeniert Geschichten. In ihren Büchern erweckt sie ihre eigenen Figuren zum Leben. Buch oder Bühne? Für Theresa Prammer ist klar, es muss kein Entweder-Oder sein. Nach wie vor ist die Autorin auch als Schauspielerin und Regisseurin tätig. Für ihre Leser*innen öffnet sie, vor allem durch die Schauspielschülerin Toni in „Schattenriss“, weit den Theatervorhang und lässt hinter die Kulissen blicken.

Du erzählst nicht nur in deinen Büchern, sondern auch auf der Theaterbühne Geschichten. Welche Gemeinsamkeiten gibt es bei den verschiedenen Erzählarten und welche Unterschiede? Welche Herausforderungen begegnen dir dabei und wie gehst du damit um?

Ich liebe beides, beim Roman entstehen die Bilder im Kopf, im Theater auf der Bühne. Beim Schreiben sehe ich die Szene immer vor mir – beim Buch eher wie im Film, die fünf Sinne der Protagonisten, ihr Innenleben und die Umgebung/Atmosphäre spielen eine große Rolle. Beim Schreiben eines Stücks ist das zwar auch wichtig, aber da fokussiere ich mich mehr auf die Interaktionen und den Dialog.

Die Herausforderungen sind immer die gleichen – die Seele und das Hirn beim Schreiben auf einen Nenner zu bringen.

Wie bereitest du dich für die Verkörperung von Rollen vor und wie gehst du bei der Erschaffung von Figuren vor?

Theresa Prammer, fotografiert von Janine Guldener.

Das Wichtigste in beiden Fällen, egal ob Rolle oder Figur, ich muss sie verstehen. Und zwar richtig verstehen, ihre Geschichte, ihre Vergangenheit, ihre Beweggründe. Im Theater kann ich den Subtext nur zeigen – das, was die Rolle vielleicht überspielt, nicht zugeben will, während sie mit dem Text etwas anderes sagt. Im Roman habe ich mehr Freiheit, ich kann die Leser ganz nah an die Person heranführen, sie in die Seele hineinführen und diese Ambivalenz direkt miterleben lassen. Ob Theater oder Buch, in beiden Fällen sind die Tiefen und die Wahrhaftigkeit der Personen das, was mich interessiert. Und ich bin sowohl beim Schreiben als auch auf der Bühne immer ein bisschen verliebt in meine Figuren.

Inspirieren dich Theater und Film für deine eigenen Geschichten als Autorin?

Unbedingt. Und auch Musik und Bücher (ich könnte ohne Buch nicht einschlafen).

Helfen dir deine Erfahrungen als Schauspielerin und Regisseurin als Autorin oder greifen diese Tätigkeiten sogar ineinander?

Auf jeden Fall. Ich glaube generell, die eigene Kreativität ist wie eine große üppige Torte. Und alles, was man kreativ tut, dekoriert diese Torte. Da kommen brennende Kerzen dazu, eine weitere Cremeschicht, Zuckerguss, Marzipan, etc. Diese Torte gehört gepflegt und beschützt, sonst schmilzt sie dahin.

Einen Einblick in ein Leben auf der Bühne erlaubst du deinen Leser*innen mit der Schauspielschülerin Toni, welche Edgar Brehm bei seinen Ermittlungen unterstützt. Wie entscheidest du, wie weit du den Vorhang für deine Leser*innen lüftest?

Ich schreibe immer mit ganz weit geöffnetem Vorhang 🙂 .

Zum Mitfiebern: „Schattenriss” von Theresa Prammer.

Decken sich Tonis Erfahrungen als Schauspielschülerin mit deinen eigenen?

Was die Schauspiel-Übungen betrifft – alles was Toni macht, habe ich auch gemacht. Und da mein Mann und ich seit sieben Jahren eine Schauspielakademie für Jugendliche leiten, bin ich da auch recht nah dran. Tonis direkte Erfahrungen decken sich vielleicht manchmal mit meinen eigenen, aber in ganz anderer Form.

Welche Tipps würdest du Toni und anderen angehenden Schauspieler*innen für ihren Traumberuf geben?

Glaub an dich. Hör nie auf zu lernen und dich weiterzuentwickeln.
Sei mutig und radikal ehrlich zu dir selbst. Finde etwas an jeder Rolle, das du liebst.
Geh mit ganzem Herzen rein, riskiere es, Fehler zu machen und zu scheitern.
Wenn du mit Rückschlägen kämpfst, frage dich: Warum geschieht das FÜR mich?
Hör dir Kritik von den für dich richtigen Leuten an. Wenn sie dich trifft, schlaf drüber, schreib deine Gedanken dazu am nächsten Morgen auf und entscheide dann, ob sie (oder welcher Teil davon) berechtigt ist. Und vergiss nie, alle „kochen nur mit Wasser“.

Edgar Brehm, ehemaliger Kommissar und jetzt Privatdetektiv, verschlossen und mürrisch, aber mit einem riesigen Herz, und Toni Lorenz, Schauspielschülerin am Konservatorium in Wien, offen, mutig und mit ihrem persönlichen Rucksack voller negativer Erfahrungen beladen: ein Ermittlerteam, das ungleicher nicht sein könnte. Und dabei doch so gut zusammenpasst.
Wenn Toni und Edgar an einem Fall arbeiten, gönnt uns Theresa Prammer keine Atempause: auf Theaterbühnen und Filmsets, auf den Straßen Wiens, von der Donau bis in den Prater lösen die beiden Fälle, die unter die Haut gehen. Emotional, aufwühlend und mitreißend bis zum letzten Wort.

Mehr Infos zum Buch gibt es hier!

„Im Krankenhaus sind wir Nebenfiguren in der Lebensgeschichte unserer Patient*innen“ – David Fuchs im Interview

Sechs Nächte, vier Wände, zwei Unbekannte, eine Frage: Haben alle Menschen das gleiche Maß an Fürsorge verdient, ganz ungeachtet ihrer Vergangenheit? Dieses moralische Dilemma steht in David Fuchs’ neuem Buch „Zwischen Mauern“ im Mittelpunkt. Wir haben uns mit dem Schriftsteller, der auch als Palliativmediziner in Linz arbeitet, über die Arbeit an seinem dritten Roman, das Krankenhaus als „Bouillonwürfel des Lebens“ und schrullige Kuriositäten des Ärztealltags unterhalten.

In deinem neuen Roman spielt eine sogenannte Sitzwache eine zentrale Rolle. Worin besteht die Aufgabe einer Sitzwache?

Eine Sitzwache ist eine Person, die z.B. in einem Krankenhaus dafür da ist, am Bett eines/einer Kranken – häufig Menschen mit Demenz – zu wachen, d.h. daneben zu sitzen, sich – wenn möglich und gewünscht – mit den Menschen zu unterhalten; vor allem aber, um dafür zu sorgen, dass niemand stürzt oder sich anderweitig in Gefahr bringt.

Warst du selbst schon einmal Sitzwächter?

Nein, war ich nicht, aber ich hätte mir nicht selten gewünscht, dass es eine Sitzwache gegeben hätte. An der Palliativstation haben wir viel Personal, auch Ehrenamtliche, aber z.B. an internistischen oder neurologischen Stationen ist die Betreuung von verwirrten Patient*innen oft eine große Herausforderung.

Welche Bücher würdest du dir für eine Nachtwache in den Rucksack packen?

David Fuchs
David Fuchs, geboren 1981 in Linz, ist Autor und Palliativmediziner. Mit schnörkelloser Sprache lenkt er unseren Blick auf die Dinge, die sich zwischen und in uns abspielen. Sensibel zeichnet er uns in unseren menschlichsten Momenten: in unserer unfreiwilligen Komik, in unseren einschneidendsten Augenblicken, in unserer tiefsten Nähe zueinander. Portrait: © Haymon Verlag / Fotowerk Aichner

Es müssten Bücher sein, in denen man immer wieder kurz lesen kann, die man weglegen und wieder zur Hand nehmen kann, wenn es passt. Neben mir liegt z.B. gerade „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“ von Nick Cave und Sean O’Hagan, das sich gut eignen würde – eine Serie von wunderbaren Gesprächen über Kunst, Musik und das Leben. Einen Lyrikband hätte ich sicherlich auch mit dabei: einen, den ich schon gut kenne, den ich einfach irgendwo aufschlagen und in dem ich mich sofort zu Hause fühlen kann: „im felderlatein“ von Lutz Seiler oder „Die Worte, die Worte, die Worte“ von W.C. Williams.

In „Zwischen Mauern“ meldet sich die Protagonistin Meta ehrenamtlich für die Aufgabe. Warum, glaubst du, entschließt sie sich dazu?

Es gibt viele Motive, um ehrenamtlich tätig zu werden, wahrscheinlich so viele, wie es Ehrenamtliche gibt. Meta hat sich wahrscheinlich dazu entschieden, weil sie hofft, Sinn in dieser Tätigkeit zu finden, den sie in ihrem Beruf nicht findet. Sie geht das durchaus naiv an – im positiven wie im negativen Sinn.

Metas Vorstellungen über ihren freiwilligen Dienst ändern sich nach wenigen Nächten zwangsläufig. Kommen ähnliche Situationen in der Praxis oft vor?

Viele Menschen beginnen mit hohem Idealismus im Gesundheitsbereich zu arbeiten oder starten eine Ausbildung. Dass es dann zu einer Konfrontation mit der Realität kommt und diese hohen Erwartungen bis zu einem gewissen Grad gedämpft werden, liegt in der Natur der Sache. Wichtig ist in der Praxis, diesen Idealismus behutsam auf den Boden der Realität zu bringen – die Personen sollen ja viele Jahre hier arbeiten. Andererseits kann natürlich ein bestehendes Team profitieren, wenn alte Gewohnheiten hinterfragt und neue Möglichkeiten aufgezeigt werden.

Der Roman dreht sich auch um ein moralisches Dilemma. Warum zweifelt sie letztendlich daran, in das Pflegeheim zurückzukehren?

Metas Weltbild ist zu Beginn des Romans recht schwarz/weiß. Was sie sich letztlich erkämpfen muss, ist ein Gefühl für die Graustufen dazwischen, für einen gangbaren Weg in einer nicht idealen Situation. Das ist übrigens auch etwas, was vielen Leuten in aktuellen aufgeheizten Diskussionen gut zu Gesicht stünde.

Es gibt eine illustre „Ahnenreihe“ von Ärzt*innen, die sich erfolgreich schriftstellerisch betätigten, mit William Carlos Williams hast du deinem Roman auch die Lyrik eines „Ärztedichters“ vorangestellt. Geht mit dem Arztberuf ein besonderer Blick auf unser Dasein einher?

Menschen gewähren uns Zugang zu intimen und entscheidenden Momenten ihres Lebens, auch zu ihren Körpern, zu ihrer Psyche, und das bedingt einen besonderen, einen im besten Sinn privilegierten Blick auf unser Dasein, der nicht ohne Einfluss auf das eigene Leben bleibt. Das betrifft natürlich nicht nur Ärzt*innen, sondern gleichermaßen die Pflege und andere Gesundheitsberufe.

In einem Interview hast du einmal eine Schriftstellerin zitiert, die schrieb: „Ein Text sollte sein wie ein Bouillonwürfel. So konzentriert und eingekocht und der Leser gibt dann sein Wasser dazu.“ Ist das Krankenhaus als Ort konzentrierter existentieller Erfahrungen manchmal wie ein Bouillonwürfel des Lebens?

Im Krankenhaus sind wir Nebenfiguren in der Lebensgeschichte unserer Patient*innen, und das sehr oft an entscheidenden Wendepunkten in ihrer Existenz, z.B. am Beginn oder eben, wie in meinem Fall, am Ende des Lebens. Diese hohe Dichte an schönen, an schrecklichen, jedenfalls aber wichtigen Momenten, die wir miterleben, ist schon sehr besonders und ein großer Schatz.

 

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David Fuchs im Haymon- Videointerview 2018

Du wirst bestimmt häufig gefragt, ob und wie dein Ärztedasein dein Schreiben beeinflusst. Wie verhält es sich umgekehrt, hat die Schriftstellerei deinen Alltag im Krankenhaus verändert?

Ich glaube, dass ich durch das Schreiben mehr Bewusstsein für die Geschichten meiner Patient*innen entwickelt habe, auch für die Sprache, in der sie diese Geschichten erzählen. Es tut auch gut, diesen zweiten Beruf zu haben, diese ganze andere Welt zu kennen, um nicht aus dem Blick zu verlieren, dass das Krankenhaus, wenn es auch einen großen Teil meines Lebens bestimmt, nicht mein ganzes Leben ist.

Auch in deinem letzten Roman „Leichte Böden“ geht es – neben einigen anderen – um die Frage, ob jedem Menschen ungeachtet seiner Vergangenheit gleich viel Fürsorge zusteht. Ist dein Schreiben auch ein Weg, einen Umgang mit dieser Frage zu finden, die sich in deiner Rolle als Arzt eigentlich gar nicht stellen darf?

Es ist eine wichtige und vor allem eine sehr alltägliche Frage, die mich deswegen auch schriftstellerisch beschäftigt. Jeder Mensch verdient die gleiche Fürsorge, und wir urteilen nicht; allerdings geht es nicht spurlos an uns vorüber, welches Verhalten Patient*innen zeigen, welche Vergangenheit sie haben oder wie sympathisch sie uns sind. Alle Menschen werden krank, und so sind wir eben mit einem Querschnitt der Gesellschaft konfrontiert.

Spannend finde ich, wie es uns gelingen kann, damit umzugehen und wichtig ist mir, dass wir uns auch eingestehen dürfen, dass es bei manchen Menschen einfach sehr schwierig ist, das Maß an Fürsorge und Professionalität aufrechtzuerhalten, das wir uns wünschen.

Was Außenstehenden oft als kalte, sterile Institution erscheint, wird in deinem Roman trotz des etwas verlassenen Settings als facettenreicher und menschelnder Lebensraum gezeichnet. Wir lernen eine interessante Parallelwelt kennen, die von strengen Routinen, aber auch von schrulligen Kuriositäten geprägt ist. Ist die landläufige Vorstellung, die wir uns von Gesundheitseinrichtungen (und deren Angestellten!) machen, oft zu abstrakt und unpersönlich?

Ja klar. 😊 Der Alltag ist menschelnder, auch humorvoller und schrulliger, als man sich das vielleicht gemeinhin vorstellt. Ich behaupte ja immer, dass „Scrubs“ die Krankenhausserie mit dem vielleicht höchsten Grad an Realismus war.

Hallende menschenleere Gänge, vereinzeltes Schnarchen, Ächzen, Rascheln hinter den Türen, allein klackern wir durch das nächtliche Pflegeheim: Der Handlungsort von „Zwischen Mauern“ versprüht eine einzigartige Atmosphäre, die einen in ihren Bann zieht. Und einen ein bisschen auf sich selbst zurückwirft. Fällt in der Nacht das Abstreifen des privaten Menschen für die Rolle, die man als Personal einnimmt, schwerer?

Ich arbeite selbst schon seit einigen Jahren nicht mehr nachts, habe die besondere Atmosphäre aber immer gemocht. Die Arbeitsdichte ist in der Nacht meist nicht geringer als untertags, aber der Grad der Erschöpfung ist bei allen Berufsgruppen höher. Da mag es schon oft schwerer fallen, gut in der Rolle zu bleiben und Grenzen zu spüren.

 

Bist du neugierig geworden? „Zwischen Mauern“ findest du ab 19. September in deiner Lieblingsbuchhandlung . Alle Infos zum Buch findest du hier!

„Ich lese täglich Lyrik. Wie andere morgens ihre Yoga-Übungen machen, ziehe ich einen Band mit Gedichten aus dem Regal“ – Sabine Gruber im Interview

Über Lesen als Yoga, Schreiben als Bedürfnis, Recherche als diffuses Schnüffeln und was es eigentlich bedeutet, den Nachlass einer Autorin zu betreuen. Über diese Dinge haben wir mit der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin Sabine Gruber gesprochen, die gerade ihren 60. Geburtstag gefeiert und ihren neuen Roman „Die Dauer der Liebe“ veröffentlicht hat. Im folgenden Interview gibt sie uns einen spannenden Einblick in ihre literarische Arbeit, ihre Inspirationen und ihren kreativen Prozess.

Wir gratulieren Ihnen  ganz herzlich zu Ihrem 60. Geburtstag dieses Jahr. Im Laufe Ihres erfolgreichen literarischen Schaffens haben Sie Erzählungen, Romane, Gedichte, Hörspiele, Theaterstücke und Essays veröffentlicht und waren zudem als Universitätslektorin tätig. Gab es gewisse Meilensteine oder Herausforderungen, die Sie als Schriftstellerin besonders geprägt haben? Und: Was hat Sie ursprünglich zu dieser Berufswahl inspiriert?

Vielen Dank für die Glückwünsche!

Mit Sicherheit war der RAI-Kurzgeschichten-Preis 1985 eine Ermunterung weiterzuschreiben. Und als ich nach dem Studium als Lektorin an der Universität Venedig tätig war, stellte mir mein ehemaliger Diplomarbeit-Betreuer, Professor Sigurd Paul Scheichl, die richtigen Fragen, ob ich denn die Universitätslaufbahn einschlagen oder doch lieber schreiben wolle. Er verstand früher als ich, daß beides gleichzeitig nicht möglich ist.

An einem der ersten Schultage im Gymnasium wurden wir gefragt, warum wir uns für das Humanistische Gymnasium (mit Latein und Altgriechisch) entschieden hätten. Meine Antwort war damals schon, im Alter von 14 Jahren, ich wolle Journalistin oder Schriftstellerin werden. Es gab keine „Inspiration“ zu dieser Berufswahl, es war auch keine „Wahl“, es war vielmehr ein Bedürfnis, ein Verlangen, mich auszudrücken, zu lesen, die eine Welt, aus der ich kam, zu überwinden, neue auszudenken, mich in anderen, mir fremden Bücher-Welten aufzuhalten.

Welche Bücher oder Autor*innen haben Sie in den Anfängen Ihres Schreibens besonders fasziniert? Welche tun es heute? (Wie) Hat sich Ihre Einstellung zum Schreiben verändert?

Ich komme aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, ich las, was ich zwischen die Finger bekam: Bücher aus der Schulbibliothek und Pfarrbücherei, Bücher von meinem Vater (Karl May, Ernst Hemingway, Joseph von Eichendorff usw.), Zeitschriften und Magazine, auch die Regenbogenpresse, da meine Großmutter einen Zeitungsladen besaß und bei uns von der Illustrierten Quick (gibt es seit 1992 nicht mehr) bis zu den Comic-Heften alles herumlag. Heute lese ich nur mehr Bücher, die literarisch wertvoll sind. Sobald ich sprachliche und/oder formale Mängel bemerke, lege ich ein Buch weg. Mit 60 gilt es keine Zeit zu verlieren. Zuletzt hatte ich fast alle Bücher von Anne Carson und Maggie Nelson gelesen, aber auch die Essays von Lukas Bärfuss, der sich den radikalen Blick „von unten“ bewahrt hat.

 

Foto von Till Raether

© privat

Trauer, Verlust und Schmerz sind zentrale Motive in Ihrer Lyrik. Finden Sie, die Lyrik eignet sich besonders gut dafür, mit diesen Themen umzugehen und diese Emotionen zu verarbeiten? Wo liegen Ihrer Meinung nach die Stärken (oder auch Schwächen) der Lyrik im Vergleich zu anderen literarischen Gattungen?

Vor allem der vorletzte Lyrikband war eine Art Requiem auf meinen verstorbenen Lebensgefährten Karl-Heinz Ströhle. Der letzte Band „Am besten lebe ich ausgedacht“ besteht auch aus Reisegedichten, die sich mit bestimmten Orten, Bauten etc. auseinandersetzen.  Ob ich Lyrik oder Prosa schreibe, hat meist profane Gründe: Für die Romane bedarf es eines langen Atems, der Konzentration, der ökonomischen Sicherheit – Lyrik entsteht meist zwischen größeren Projekten. Ich möchte die Gattungen gar nicht gegeneinander ausspielen. Die Themen der Literatur ändern sich nicht, es gilt neue Formen zu finden, sowohl in der Lyrik, wo ich für mich zuletzt die Zwischenform „Journalgedicht“ gefunden habe, als auch in der Prosa, in der ich mich schon lange vom chronologischen, auktorialen Erzählen entfernt habe.

Unterscheiden sich Ihr kreativer Prozess, Ihre Herangehensweise oder Ihre Schreibroutine, je nachdem, ob Sie Gedichte oder Romane verfassen?

Ich lese täglich Lyrik. Wie andere morgens ihre Yoga-Übungen machen, ziehe ich einen Band mit Gedichten aus dem Regal, das ist eine gute Einübung ins Schreiben, ich werde beim Lesen mit dem Wesentlichen konfrontiert. Ich glaube, dass es eine Möglichkeit ist, Konzentration zu üben. Dieses Ritual bleibt gleich, egal ob ich Lyrik oder Prosa schreibe. Und sowohl der Prosa, aber auch einigen Gedichten, gehen Recherchen voraus.

Gemeinsam mit Renate Mumelter verwalten Sie den literarischen Nachlass der Meraner Schriftstellerin Anita Pichler, zu deren Werk Sie auch Anthologien und Bücher herausgegeben haben. Welche Bedeutung hat das Konservieren und Aufbewahren von Erinnerungen bzw. das Erinnern in Ihrer literarischen Arbeit und für Sie selbst?

Nachlassarbeit bedeutet vor allem, die Bücher lieferbar zu halten. Eine Autorin existiert nur, wenn ihr Werk vorhanden ist. Deswegen ist es für Autorinnen und Künstlerinnen wichtig, dass sie zu Lebzeiten entscheiden, wer sich darum kümmern soll, dass sie die entsprechenden Personen gesetzlich dazu berechtigen.

Ich notiere viel, sammle Dokumente, Bücher, nutze Fotos als Erinnerungsspeicher. W.G. Sebald sagte einmal in einem Interview, man müsse auf eine diffuse Weise recherchieren, so wie ein Hund sucht, also in alle Richtungen, rauf und runter, langsam, schnell. Meine abgelegten Notizen und Bilder können zu einem späteren Zeitpunkt alte Erinnerungen freisetzen, sie enthalten Reste von Geschichten, die sich neu formulieren lassen. Den eigenen Erinnerungen ist nicht zu trauen, aber das spielt für die Literatur keine Rolle, denn es gilt ohnehin, das Eigene zu verfremden und sich das Fremde einzuverleiben.

Woran arbeiten Sie aktuell?

Ich sammle Material für einen neuen Roman, aber darüber detailliert zu sprechen,  ist noch zu früh. Mein Großonkel Luis Gruber (1919-1944) hat ein interessantes Tagebuch hinterlassen, das er vom Tag der Einberufung durch die Deutsche Wehrmacht bis wenige Tage vor seinem Tod in der Nähe von Witebsk/Belarus geführt hat, das wird möglicherweise eine Rolle spielen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Behauptetes Klassikertum: Warum deine Leseliste ein diskriminierender Boys-Club ist und wie wir das jetzt ändern!

Literaturklassiker“– das klingt nach einer überzeitlichen, objektiven, allgemeingültigen Auswahl. Bücher, die so eingeordnet sind, sind über jede Kritik erhaben, schließlich haben sie sich über viele Jahre bewährt und – so sagt man – stehen beispielhaft für ganze Literaturepochen und Gesellschaften. Sie bieten Orientierung, nach der wir uns alle sehnen und können uns Wissen über Herrschaftsverhältnisse, ästhetische Werte, geschichtliche Entwicklungen vermitteln. So weit, so gut – aber stimmt das überhaupt?

Teresa Reichl ist Germanistin (inkl. Staatsexamen fürs Lehramt), Literaturnerd, Kabarettistin mit Solo-Programm, Youtuberin – und: Autorin. Auf Instagram (@teresareichl), Tiktok und Youtube wird sie von mehreren Tausend Menschen gefeiert. Denn: Teresa Reichl geht den Erzählungen auf den Grund, die wir rund um die großen Autoren und ihre Bücher erschaffen haben. Ihr Ziel: Jugendlichen die Freude am Lesen zu vermitteln. Den literarischen Kanon diverser zu gestalten. Lehrkräfte dabei zu unterstützen, neue und andere Bücher in den Unterricht zu bringen. Und vor allem: Literatur endlich feministisch zu machen.
Foto: © Lolografie

Teresa Reichl hat sich durch die Deutsch-Lehrpläne für die Oberstufen aller deutschen und österreichischen Bundesländer geackert und kommt zum Schluss, dass auf den Leselisten fast ausschließlich Werke von Menschen versammelt sind, die in die Kategorien männlich, weiß, christlich, cis, nicht-behindert, aus der „Oberschicht“ und hetero fallen. Und weil Klassiker nicht nur für die Lehrpläne, sondern für sehr viele Lebensbereiche den (zumindest behaupteten) Qualitätsstandard setzen, sieht es in Zeitungen, Buchhandlungen, Uni-Bibliotheken und vielleicht auch in deinem Regal genauso wenig divers aus.

Aber können solche Listen, in denen immer wieder der gleiche kleine Ausschnitt einer Gesellschaft zu Wort kommt, wirklich die Realität ihrer Zeit abbilden und für ihre Gesamtheit sprechen? Ist es wirklich so, dass Frauen oder migrantifizierte Menschen nichts geschrieben haben? – Bullshit!, sagt Teresa Reichl und zeigt auf, wie über viele Jahrhunderte Stimmen bewusst verdrängt und unsichtbar gemacht wurden. Und dass wir deswegen heute nicht so tun dürfen, als wüssten wir nichts von patriarchalen, klassistischen, rassistischen, ableistischen Strukturen, die den Großteil der Menschen von Teilhabe und Kanonisierung ausgeschlossen haben und dies bis heute tun.

Es ist deshalb Zeit für den nächsten logischen feministischen Schritt: Die Literatur und ihre Geschichte werden umgeschrieben. Werden divers. Werden endlich korrigiert. Teresa Reichl hat einen ausgewachsenen Alternativ-Kanon zusammengestellt. Um zu zeigen, dass es Bücher (ja, auch alte!) von Autor*innen gibt, von denen immer behauptet wird, sie hätten nichts geschrieben.

Ihr Buch “Muss ich das gelesen haben?” und die folgende Liste sollen dabei nur ein Anfang sein. Du kennst Bücher, die auf dieser Liste fehlen und die unbedingt ergänzt gehören?

Reiche deine Must-Reads unter www.mussichdasgelesenhaben.com ein! Holen wir die verdrängten Stimmen zurück in die Literaturgeschichte und bauen wir gemeinsam einen Alternativ-Kanon, der viele Perspektiven kennt!

Komödien

  • Dürrenmatt, Friedrich: Der Besuch der alten Dame, 1956
  • Fleißer, Marieluise: Pioniere in Ingolstadt, 1928 (oder 1929 oder 1968)

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Das Testament, 1745

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Der Witzling, 1745

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die Hausfranzösinn oder die Mammsell, 1744

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke, 1732

  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Die ungleiche Heyrath, 1743

  • Hauptmann, Gerhart: Der Biberpelz. Eine Diebskomödie, 1893

  • Hauptmann, Gerhart: Schluck und Jau, 1899

  • Lessing, Gotthold Ephraim: Minna von Barnhelm, 1767

  • Viebig, Clara: Pharisäer, 1899

Frauen [1]

  • Fleißer, Marieluise: Fegefeuer in Ingolstadt, 1924
  • Goethe, Cornelia: Briefe und Correspondance Secrete 1767-–1769, 1990
  • Gottsched, Luise Adelgunde Victorie: Panthea, 1744 (oder 1772)
  • Haushofer, Marlen: Die Mansarde, 1969
  • Haushofer, Marlen: Die Wand, 1963
  • Haushofer, Marlen: Eine Handvoll Leben, 1955
  • La Roche, Sophie von: Geschichte des Fräuleins von Sternheim, 1771
  • Reuter, Gabriele: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens, 1895
  • Schwarz, Sibylla: Gesang wider den Neid. Sibylla Schwarz – Barockdichtung aus Greifswald, 2013
  • Schwarz, Sibylla: Ich fliege Himmel an mit ungezähmten Pferden, 2021
  • Viebig, Clara: Wildfeuer, 1896

Judentum

  • Becker, Jurek: Jakob der Lügner, 1969
  • Frank, Anne: Tagebuch, 1947
  • Kerr, Judith: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, 1971
  • Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen, 1975
  • Levoy, Myron: Der gelbe Vogel, 1977
  • Seghers, Anna: Das siebte Kreuz, 1942
  • Seghers, Anna: Transit, 1944
  • Tergit, Gabriele: Effingers, 1951

Islam

  • Abdel-Samad, Hamed: Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland, 2019
  • Daas, Fatima: Die jüngste Tochter, 2021
  • El Masrar, Sineb: Muslim Girls. Wer wir sind, wie wir leben, 2010
  • El Masrar, Sineb: Muslim Men. Wer sie sind, was sie wollen, 2018
  • Jagiella, Leyla: Among the Eunchs. A Muslim Transgender Journey, 2021
  • Yaghoobifarah, Hengameh und Aydemir, Fatma: Eure Heimat ist unser Albtraum, 2019
  • Yaghoobifarah, Hengameh: Ministerium der Träume, 2021

Sinti*zze und Rom*nja

  • Müller, Josef „Muscha“: Und weinen darf ich auch nicht … Ausgrenzung, Sterilisation, Deportation – eine Kindheit in Deutschland, 2002
  • Reinhardt, Dotschy: Gypsy. Die Geschichte einer großen Sinti-Familie, 2008
  • Stojka, Ceija: Meine Wahl zu schreiben – ich kann es nicht. Gedichte (Romanes, deutsch) und Bilder, 2003
  • Stojka, Ceija: Reisende auf dieser Welt. Aus dem Leben einer Rom-Z, 1992
  • Stojka, Ceija: Wir leben im Verborgenen. Erinnerungen einer Rom-Z, 1988
  • Tschawo, Latscho: Die Befreiung des Latscho Tschawo. Ein Sinto-Leben in Deutschland, 1984
  • Tuckermann, Anja: „Denk nicht, wir bleiben hier!“ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner, 2005
  • Tuckermann, Anja: Muscha, 1994

Behinderte Autor*innen [2]

  • Aguayo-Krauthausen, Raúl: Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Das Leben aus der Rollstuhlperspektive, 2014
  • AWO-Kreisverband Siegen-Wittgenstein/Olpe (Hrsg.): Bei Hörgeschütz: Ruhig Blutdruck, Geschichten aus dem echten Leben, 2013
  • Barroso, Carlos: Mein Leben und ich, 2010
  • Ebner, Amelie: Willkommen im Erdgeschoss: Wie ich mich mit 17 im Rollstuhl wiederfand, 2017
  • Feldwieser, Sabine (Hrsg.): Das Leben ist, bevor man stirbt. Texte und Bilder zu Sterben, Tod und Jenseits von Menschen mit geistiger Behinderung, 2011
  • Fohrmann, Petra: Ein Leben ohne Lügen! Die Tagebücher der Dagmar B., 2005
  • Fraas, Christine (Hrsg.): ICH kann schreiben. Briefe, Bilder und Geschichten von Hermine, 1999
  • Hanousek-Mader, Iris (Hrsg.): Es war die Eule in mir, 2014
  • Herbrand, Monika (Autorin) & Can Gercekoglu (Co-Autor): Wenn ich tanzen will. Autismus zum Anfassen, 2012
  • Huainigg, Franz-Joseph (Hrsg.): Kann nicht schlafen. Literaturpreis Ohrenschmaus: die besten Texte, 2012
  • Keller, Christoph: Jeder Krüppel ein Superheld. Splitter aus dem Leben in der Exklusion, 2020
  • Koenig, Michaela: Traust du mir das zu, 2000
  • Krieger, Armin: Einsamer Junge, 2005
  • L’Audace, Luisa: Behindert und stolz: Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht, 2021
  • Melle, Thomas: Die Welt im Rücken, 2018
  • Mevissen, Katharina: Ich kann dich hören, 2019
  • Paulmichl, Georg: Ins Leben gestemmt. Neue Texte und Bilder, 1994
  • Paulmichl, Georg: Verkürzte Landschaft. Texte und Bilder, 1990
  • Paulmichl, Georg: Vom Augenmass überwältigt. Briefe, Glossen und Bilder, 2001
  • Reeh, Alexander: Immer nach den Sternen greifen, 2009
  • Russ, Michael et al.: Special poetics. Neue Texte, 2005
  • Stabenow, Peter: Fantasie und Wirklichkeit, 2013
  • Tucker, Bonnie Poitras: Der Klang von fallendem Schnee. Leben ohne zu hören, 2018

Queere Autor*innen

  • Amborn, Erich: Und dennoch Ja zum Leben: die Jugend eines Intersexuellen in den Jahren 1915–1933, 1981
  • Anonym: Der Liebe Lust und Leid der Frau zur Frau, 1895
  • August Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg: Ein Jahr in Arkadien – Kyllenion, 1805
  • Conradi, Lou: Baby Butch, 2019
  • De l’Horizon, Kim: Blutbuch, 2022
  • Elbe, Lili: Ein Mensch wechselt sein Geschlecht. Eine Lebensbeichte, 1932
  • Giese, Linus: Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war, 2020
  • Kühnert, Phenix: Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau, 2022
  • Pelny, Marlen: Liebe / Liebe, 2021
  • Russo, Meredith: Als ich Amanda wurde, 2016
  • Schaefers, Marius: In den buntesten Farben, 2022
  • Slater, Dashka: Bus 57. Eine wahre Geschichte, 2017
  • Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen, 1891
  • Weirauch, Anna Elisabet: Der Skorpion (Band 1, 2 und 3), 1919, 1921, 1931

Bi_PoC [3]

  • Ayim, May: blues in schwarz-weiss, 1995
  • Ayim, May: Weiter gehen. Gedichte, 2020
  • Aziz, Amina et al.: Encyclopaedia Almanica: Diese neue deutsche Enzyklopädie ist eine Verweigerung, 2020
  • Götting, Michael: Contrapunctus, 2015
  • Ha, Kien Nghi: Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond, 2021
  • Hagen, Zoe: Tage mit Leuchtkäfern, 2016
  • Hasters, Alice: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten, 2019
  • Hierse, Lin: Wovon wir träumen, 2022
  • Hügel-Marschall, Ika: Daheim unterwegs. Ein deutsches Leben, 1998
  • Khabo Koepsell, Philipp (Hrsg.): Afro Shop, 2014
  • Michael, Theodor: Deutsch sein und schwarz dazu. Erinnerungen eines Afro-Deutschen, 2013
  • Obulor, Evein; RosaMag (Hrsg.): Schwarz wird großgeschrieben, 2021
  • Ogette, Tupoka: exit racism. rassismuskritisch denken lernen, 2019
  • Oguntoye, Katharina; Opitz, May; Schultz, Dagmar: Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, 1986
  • Otoo, Sharon Dodua: Adas Raum, 2021
  • Otoo, Sharon Dodua: Die Dinge, die ich denke, während ich höflich lächle … und Synchronicity. Zwei Novellen, 2017
  • Park Hong, Cathy: Störgefühle. Über anti-asiatischen Rassismus, 2022
  • Phạm, Khuê: Wo auch immer ihr seid, 2021
  • Thomae, Jackie: Brüder, 2019
  • Thomas, Angie: The Hate U Give, 2017
  • Wenzel, Olivia: 1000 Serpentinen Angst, 2020
  • Zöllner, Abini: Schokoladenkind. Meine Familie und andere Wunder, 2013

„Arbeiter*innenklasse“

  • Baron, Christian: Ein Mann seiner Klasse, 2020
  • Baron, Christian; Barankow, Maria (Hrsg.): Klasse und Kampf, 2021
  • Darer, Harald: Blaumann, 2019
  • Gluchowski, Bruno: Der Honigkotten, 1969
  • Helms, Karl Heinrich: Krupp & Krause, 1965
  • Hüser, Fritz; Von der Grün, Max (Hrsg.): Aus der Welt der Arbeit – Almanach der Gruppe 61 und ihrer Gäste, 1966
  • Johnson, Uwe: Mutmassungen über Jakob, 1959
  • Mayr, Anna: Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht, 2020
  • Strittmatter, Erwin: Ole Bienkopp, 1963
  • Sudermann, Hermann: Die Ehre, 1889
  • Sudermann, Hermann: Frau Sorge, 1887
  • Sudermann, Hermann: Im Zwielicht, 1887
  • Von der Grün, Max: Irrlicht und Feuer, 1967
  • Von der Grün, Max: Männer in zweifacher Nacht, 1962
  • Wolf, Christa: Der geteilte Himmel, 1964

[1] Vieles aus Frauenliteratur von Nicole Seifert

[2] Vieles von diewortfinder.com

[3] Vieles von eulemagazin.de

Podiumsdiskussion: „Queere Sichtbarkeit – Trendiges Nice-to-have oder Ausdruck gesellschaftspolitischer Wertedebatten?“

Im Rahmen der Leipziger Buchmesse diskutierten Verlagsleiterin Katharina Schaller, Netzwerker der Queer Media Society Alexander Graeff und Lektor Christian Lütjens mit Kabarettistin und YouTuberin Teresa Reichl über queere Sichtbarkeit in den deutschsprachigen Verlagsprogrammen. Hier ein Auszug aus der Paneldiskussion:

Teresa: Mein erster Gedanke, als ich den Titel dieses Panels gelesen habe, war: Was glaubt ihr denn, woher kommt der Gedanke, dass das alles ein Trend sein könnte, wenn’s das doch schon seit immer gibt?

Christian: Ich glaube, Alexander kann am besten anfangen, weil wir uns ein bisschen auch aufgehängt haben an dem Erfolg von Kim de l’Horizon letztes Jahr mit „Blutbuch“ und dem Deutschen Buchpreis. Das wurde ein bisschen auch so verkauft, als ob jetzt auf einmal große Verlage – es war der Dumont Verlag, das ist ein großer Mainstream-Verlag – queere Stoffe entdecken würden, was natürlich Unsinn ist.

Teresa (zum Publikum): Komplettes Novum, es gibt nicht-binäre Menschen, habt’s ihr das gewusst?

Alexander: So haben sie’s aber in den Medien auch dargestellt. So als hätten sie jetzt die nicht-binäre, queere Literatur erfunden. Da haben wir dieses Trend-Problem, dass große Verlage jetzt aufspringen, wo sie merken, dass die Leser*innennachfrage steigt, was queere Literatur anbelangt – vor allem im Jugendbuch-Bereich. Die [großen Verlage] wollen halt jetzt ein Stück vom Kuchen abhaben und machen damit aber wiederum Independent-Verlage, die seit Jahrzehnten eben in diesem Feld tätig sind und auch diese Kämpfe leisten – die Autor*innen und auch die Verleger*innen – unsichtbar. Also nicht nur im ökonomischen Sinne, auch in einem symbolischen Sinne, im kulturellen Sinne, werden die unsichtbar gemacht.

Katharina: Ich glaub auch, dass das ein grundsätzliches Thema ist, das die Literaturbranche ja immer wieder diskutiert. Also bei allem, wo Verlage merken, dass sie Geld machen können, steigen sie mit ein. Seien das jetzt rassismuskritische Literatur oder queere Literatur, also alles wo sie das Gefühl haben, das könnte jetzt kurzzeitig ein Trend werden, versuchen sie natürlich, die Hand drauf zu legen und deshalb kommt es auch immer wieder auf, ob das ein Trend ist oder nicht.

Teresa: Queere Literatur kann natürlich alles sein – angefangen von den Themen bis hin zu den Leute, die sie schreiben. Und vor allem da ist ja das Defizit da. Es ist halt, finde ich zumindest, gefährlich, wenn dann Leute, die gar keine Ahnung haben und die selber gar nicht queer sind, anfangen, queere Literatur schreiben zu wollen. Weil dann kommen wir wieder in Stereotype rein, die wir eh schon alle kennen und die es wirklich nicht mehr braucht. Was kann man denn da tun, als Verlagsmensch, als Pressesprecher*in, als Netzwerker*in?

Christian: Also man kann einfach dazu beitragen, dass queere Menschen, die schreiben und bereit sind, ihre Geschichten zu erzählen, sichtbar gemacht werden. Das ist ja erstmal auch noch ein Schritt, die queere Sozialisation zu erleben, da gibt’s ja wirklich sehr unterschiedliche Biographien. […] Das mit dem Trend ist ja auch ein bisschen ambivalent, man muss jetzt sagen, dass „Blutbuch“ ein großer Erfolg war und deswegen ist das Queer-Thema in die Debatte gekommen, aber es gab ja vorher schon Ocean Vuong und Bryan Washington, das waren ja erfolgreiche Bücher, die auch im Feuilleton besprochen wurden. Das Ding ist nur, dass oft das Queere dann nicht so benannt wird. Es wird so ein bisschen umgangen, genau wie es mit Sexualität generell oft ist in der allgemeinen Debatte. In der Geschichte, in der wir uns als Verlag befinden, dadurch, dass wir aus der queeren Bewegung kommen und immer queere Autor*innen und Stoffe verlegt haben, muss man immer aufpassen, dass diese Schieflage nicht reinkommt, dass eben diese Sicht von außen aufgrund eines Trends überhandnimmt. Also, die Aufgabe wäre: queere Menschen zu Wort kommen zu lassen, denen Sichtbarkeit und eine Stimme zu geben als Autor*innen.

Teresa: Wie würdest du denn das machen im Verlag, Katharina, wenn ein Hans-Peter Müller kommt, der ein Buch geschrieben hat und da sind sehr stereotype Dinge drin und dann stehst du da als Lektorin und sagst „Naaa ugh“?

Katharina: Als Verlagsleiterin ist das Schöne natürlich, dass ich das Buch gar nicht annehmen würde. Aber man hat ja nicht immer die Chance, auch als Lektor*in, sich gegen die Bücher aufzulehnen, die in einem Verlag veröffentlicht werden. Aber bei uns im Haymon Verlag ist es schon so, dass wir sehr daran arbeiten, das Verlagsprogramm zu diversifizieren, in jeder Hinsicht, und auch bei unseren Büchern, die wir dann machen, Sensitivity Readings durchführen zu lassen, also uns wirklich dafür einzusetzen, das entsprechend auf den Markt zu bringen. Das Wichtigste ist, glaube ich auch, wie du jetzt gesagt hast, die Sichtbarkeit der Autor*innen zu gewährleisten, sich die Geschichten zu suchen. Man spürt ja auch bei diesen Geschichten, dass das ganz andere Perspektiven sind, dass da ganz was anderes reinkommt, und ganz andere Lebensrealitäten drin stecken, als wenn Hans-Peter Müller versucht, eine queere Geschichte zu erzählen.

Teresa: Ganz kurz als Erklärung: Sensitivity Readings werden außerhalb vom Verlag gemacht. Es gibt extra Agenturen, die das anbieten. Da wird über den Text, wenn der fertig ist und bevor der rauskommt, nochmal drüber gelesen von Leuten, die von verschiedenen Diskriminierungen betroffen sind und die Expert*innen sind. Die schauen dann nochmal, wo etwas unsensibel ausgedrückt ist. In meinem Manuskript habe ich zum Beispiel ein paar Mal African-American Language benutzt und hab das einfach nicht gewusst, weil das in der Pop-Kultur so drin ist. Dann schauen die da nochmal drüber, damit jede Person dieses Buch lesen kann, ohne verletzt zu werden, was ein Wahnsinns-Konzept ist – mega geil!

Alexander: Stichwort Sensitivity: ich würde nicht so weit gehen, dass man vielleicht einem Hans auch nicht zutrauen kann, dass er queere Figuren baut, die sensitiv oder sensibel mit Verletzungen und queerer Geschichte umgehen […] Nein, ich würde nicht so weit gehen, ich würde das nicht kausal verketten, dass das per se so ist. Ein bi-sexueller Autor kann auch über Monosexualität schreiben, monosexuelle Figuren kreieren, wenn er es eben sensibel tut und wenn er sich damit beschäftigt. Und, da kommen wir wieder zum Trend, es nicht als einen Trend begreift. Da war mir jetzt wichtig, an der Stelle die Ambivalenz zwischen Stoff, Figur und Autor*innenschaft nochmal darzustellen.

Teresa: Da hast du voll Recht! Ich bin wahrscheinlich ein bissl voreingenommen gegen Hans-Peters. Das kann ich durchaus zugeben. Das ist mein großer Fehler.

Christian: Ich wollt auch schon sagen, wir wollen ja nicht Hans-Peter Müller diskriminieren, der kann ja auch ein ganz netter Kerl sein.

Teresa: Insgesamt, wenn es um Diskriminierung geht und auch wenn’s um queere Diskriminierungen geht, dann ist immer ganz viel die Rede von Repräsentation. Dass es eben wichtig ist, dass wir sichtbar gemacht werden, dass wir zu sehen sind und dass sich, ein so ein Stück weit hab ich zumindest das Gefühl, die Leute an uns gewöhnen und dann nicht mehr so reagieren: „Ahh, a gay!“ sondern es einfach irgendwie normal wird. Was ist denn der Sinn von Repräsentation, was bringt es denn in der Literatur?

Christian: […] Im Grunde ist der Auftrag queerer Literatur der gleiche, den Literatur generell hat: nämlich, dass die Leute sie als Zufluchtsort begreifen und als Erfahrungsraum, in den sie vielleicht selbst gar nicht reingucken können. Insofern hat das schon einen aufklärerischen Effekt, wenn queere Menschen ihre Geschichten erzählen und sich anhand eines Romans oder eines Memoirs oder Bildbänden da rantasten können. Das ist eine eigene [queere] Kultur, das muss man immer sagen, deswegen ist das mit dem Trend ja ganz falsch und ganz zynisch.

Katharina: Ich glaub auch, die Repräsentation ist am Ende wichtig, weil es die Literatur zur Aufgabe hat, ein Literaturverlag zur Aufgabe hat, die verschiedenen Teile der Gesellschaft abzubilden und denen eine Stimme zu geben. Und das funktioniert nur, wenn man nicht nur den weißen cis-hetero Männern, die vorherrschend sind – überall, aber auch in der Literatur und in den Büchern – eine Stimme gibt, sondern das sukzessive erweitert oder sich überhaupt als Verlag zur Gänze dafür einsetzt. Ich glaub nur, wir müssen aufpassen bei der Erwartung, dass queere Menschen, Schwarze Menschen, People of Color auch nur Literatur und Texte zu diesen Themen schreiben. Weiße cis-Männer sind die, die dazu befähigt sind, über alles zu schreiben, sich immer gesellschaftspolitisch, immer wertvoll, überall hineinversetzen zu können. Das spricht man anderen Autor*innen ganz selten zu und ich glaube, da müssen wir aufpassen.

Christian: Schön, das Positiv-Klischee.

Katharina: Genau!


 

 

„Queere Sichtbarkeit – Trendiges Nice-to-have oder Ausdruck gesellschaftspolitischer Wertedebatten?” Von links nach rechts: Alexander Graeff, Katharina Schaller, Christian Lütjens und Teresa Reichl.

 


Über die Mitwirkenden:

Teresa Reichl
Germanistin, Autorin, Kabarettistin, YouTuberin

Katharina Schaller
Verlagsleitung & Programmleiterin Haymon Verlag

Alexander Graeff
Autor, Literaturvermittler und QMS-Netzwerker

Christian Lütjens
Lektor und Pressesprecher der Salzgeber Buchverlage

„Weil ich vom zugleich berührenden und subversiven Potential der Lyrik zutiefst überzeugt bin.” – Barbara Hundegger im Interview

Pünktlich zum Erscheinen ihres Gedichtbandes [ in jeder zelle des körpers wohnt ein gedächtnis ] und zu ihrem 60. Geburtstag haben wir mit der Autorin Barbara Hundegger über ihr politisches und gesellschaftskritisches literarisches Schaffen gesprochen. Im Interview erzählt sie uns, wie der Feminismus sie und ihre Arbeiten prägt, was sie an österreichischer Literatur fasziniert und wie Kunst im Allgemeinen und Lyrik im Speziellen zugänglicher gemacht werden können.

Deine Lyrik zeichnet sich durch einen starken gesellschaftskritischen Zugang aus. In deinem neuen Gedichtband [ in jeder zelle des körpers wohnt ein gedächtnis ] thematisierst du unter anderem die Auswirkungen der Corona-Pandemie, die Erinnerungen jüdischer Frauen, die als Kinder vor dem Holocaust fliehen mussten, den Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche oder den Brenner-Basistunnel. Warum funktioniert für dich Lyrik so gut als literarische Gattung, um gesellschaftspolitische Themen kritisch zu beleuchten?

Weil ich vom zugleich berührenden und subversiven Potential der Lyrik zutiefst überzeugt bin. Die Lyrik ist ja eine der ältesten Künste der Menschheit, die sich über Jahrtausende gehalten hat: etwas zwischen Mensch und Lyrik muss also so gut klappen, dass wir so lange an ihr festgehalten haben. Die komplexe Wirkung oft nur weniger – gut gemachter! − Zeilen ist ja wirklich erstaunlich.

© Fotowerk Aichner

Mehr als um die Benennung gesellschaftlicher Missstände – das wäre ein zu banales lyrisches Unterfangen − geht es mir in meiner Arbeit aber um die Atmosphären, die dadurch erzeugt werden, und um die Ankunft dieser Umstände und Zustände im konkreten Leben von Menschen. Diese permanent vorhandenen gesellschaftspolitischen Vorgaben in mein Schreiben nicht miteinzubeziehen wäre für mich: literarische Ungenauigkeit. Und die Lyrik lebt ja auch davon, im Gesagten das Mitschwingende, die Unter- oder Nebentöne mit abzubilden – das allerdings nicht als ein bei Lyrik ganz gern aufgerufenes Nebulöses, sondern eben im Sinne von Genauigkeit.

Du engagierst dich seit Jahren für die autonome Frauenbewegung in Österreich, inwiefern ist das feministische Prinzip der Politisierung des Privaten für dein künstlerisches Schaffen ausschlaggebend?

Nicht (nur) dieses Prinzip, das ja den problematischen und dehnbaren Begriff des „Privaten“ enthält, der vom Patriarchat je nach eigener Interessenslage verwendet wird (z.B. scheint ja der männliche Körper ein Anrecht auf Privatheit zu haben, während der weibliche als öffentliches Gemeingut gehandhabt wird und das Patriarchat von dessen Kontrolle geradezu besessen ist), sondern der Feminismus insgesamt war lebensprägend für mich – auch im Sinne einer umfassenden „Gerechtigkeitsbewegung“: Die Verwüstung von Weiblichkeit durch das Patriarchat ist markerschütternd, die Gewalt von Männern gegen Frauen sowie gegen andere abgewertete Gesellschaftsgruppen ein abgekartetes brutalstes Herrschaftsinstrument, der unverhohlene Frauenhass auch im Netz sichtbares Zeichen der Vulgarität des Patriarchats, die Verteilung von Ressourcen, Macht, Geld usw. spricht eine eindeutige Sprache. Die Abwertung alles Weiblichen (da hilft auch Mutter-sein, Schön-sein, sexuelles Verfügbar-Sein nicht!) und alles Non-Binären, das nicht der primitiven Definition von Männlichkeit entspricht, ist eine Tiefenstruktur des Patriarchats. Wie Frauen angesichts dieser Lage nicht Feministinnen sein können, ist mir ein Rätsel.
Und über seine analytische und gesellschaftspolitische Kraft hinaus hat der Feminismus mir herzerwärmende individuelle und kollektive Erlebnisse und Abenteuer geschenkt: hochinteressante Debatten, lebensverändernde Begegnungen, mutige und witzige Aktionen, rauschende Feste − und tiefe Frauen-Freundschaften, die ein Leben lang gehalten haben und eine unglaubliche Bereicherung waren und sind.

Österreich ist dieses Jahr Gastland der Leipziger Buchmesse. Eine der bekanntesten Autorinnen Österreichs ist ganz sicher Elfriede Jelinek, der du dein Gedicht [ angst-partie ] widmest. Was fasziniert dich an Jelineks Werk und was macht für dich österreichische Literatur aus?

Jelinek ist eine Sprach-Göttin: wie keine andere bringt sie in ihren Textflächen ans grelle Licht, was in der Sprache steckt, sich in ihr versteckt! In jeder einzelnen Wendung, in jedem Wort, den Floskeln, den Parolen, den Slogans, den Alltagssprachen, Wissenschaftssprachen, Tätersprachen usw. Ihre Arbeiten sind einzigartig! Und in ihrer messerscharfen, verspielten, doppelbödigen usw. organischen Verbundenheit mit „Sprache an sich“ österreichisch in dem Sinn, dass eine der literarischen Traditionslinien österreichischer Literatur keine Berührungsängste mit dem sprachspielerischen Aspekt des Schreibens kennt und ihn nutzt. Das und den oft recht harmlos daherkommenden strizzi-artigen, abgründigen, schlampigen, mieselsüchtigen, entlarvenden, lavierenden, bitteren, bodenlosen Humor – das ist es, was ich an der österreichischen Literatur besonders schätze. Ich sage z.B. nur: „Der Herr Karl“. Oder: Sargnagel.

Du feierst dieses Jahr deinen 60. Geburtstag (Gratulation!) und veröffentlichst nun seit 25 Jahren vielfach ausgezeichnete Lyrik. Was würdest du Autor*innen mit auf den Weg geben, die gerade am Anfang ihrer schriftstellerischen Karriere stehen?

Das mit den Ratschlägen an nächste Generationen ist so eine Sache – denn jede Generation lebt unter anderen und sich ändernden Bedingungen, und das Nervende an vielen Ratschlägen von Altvorderen ist ja, dass sie mit alten Rastern und Bestecken auf neue Probleme zugreifen wollen, auch als eine Art Bestätigung für das Unvergängliche der eigenen, aber eben verglimmenden Lebensphilosophie. Diese Renitenz ist mir aus eigener Erfahrung noch zu gut in Erinnerung − und ich möchte nur ungern zu jenen Boomern gehören, die sich selbst bis zum letzten Atemzug für den Inbegriff von Coolness halten. Die Devise sollte deshalb wohl eher sein: was sagen, wenn man von den Jungen gefragt wird, aber sie mit ungefragten Zurufen tunlichst verschonen.

In ihrem Nachwort bezeichnet Daniela Strigl deine Gedichte als „Lyrikangst-Desensibilisierungstherapie“ und bewundert deine demokratische Sprachkunst, die trotz komplexer Inhalte niemanden ausschließt. Braucht es in unserer Gesellschaft generell einen inklusiveren und niederschwelligeren Zugang zu Kunst, und hättest du konkrete Ideen, wie man den Berührungsängsten mit Lyrik entgegenwirken könnte?

Ja, den Zugang braucht es auf alle Fälle – und weil ich aus sogenannten „kleinen Verhältnissen“ stamme und aus dem ganz und gar Unintellektuellen, weiß ich von daher, dass die Kunst in solchem Umfeld gar nicht als relevantes „Lebens-Mittel“ wahrgenommen und davon eine Bereicherung fürs eigene Sein erwartet wird. Und das liegt neben anderen Faktoren auch daran, dass diese Bevölkerungsgruppen so mit Existenziellem eingedeckt sind, dass sie für Kunst schlicht keinen Nerv mehr haben. Es liegt an den Künstlern und Künstlerinnen, ihren Themenentscheidungen und Bearbeitungsweisen, und aus welchen Soziotopen Künstler:innen kommen – denn man muss es sich zunehmend leisten können, Künstler:in überhaupt zu sein. Und es liegt am Kunstbetrieb, wo „niederschwellig“ mit minderer Qualität assoziiert wird.
Das gilt auch für die Lyrik: sie hat sich sehr in die Unzugänglichkeit verabschiedet – und davon nehme ich mich nicht aus. Die Randexistenz der Lyrik innerhalb des Literaturbetriebes hat sie sich zu einem gewissen Teil also auch selbst zuzuschreiben – verschärft dadurch, dass sie in unseren Breiten vom Monopol des Romans (der auch leichter zu rezensieren ist!) − erdrückt wird. In anderen Kulturen oder zu anderen Zeiten war die Lyrik aber: das höchste der Gefühle! Auch meine eigene Bereitschaft, mich durch sehr gut gemachte, sehr hochwertige Lyrik zu kämpfen, von der man ohne intertextuelles Wissen sehr wenig versteht, ist gesunken. Und ich habe deshalb innerhalb meiner eigenen Arbeit einen gewissen Schwenk in Richtung mehr Zugänglichkeit gemacht – z.B. bei meinem [ anich.atmosphären.atlas ] und auch beim aktuellen Buch.
Vielleicht müssen wir Lyriker:innen einfach wieder etwas verständlicher schreiben und uns anderen Themen widmen – denn verstanden zu werden ist kein Makel, verstanden werden ist auch schön.
Und vielleicht müssen wir uns solche Gedanken bald gar nicht mehr machen – wenn die KI uns atemberaubende Gedichte schreibt . . .

„… manchmal haben Frauen Angst vor beidem: vor der Gewalt, in der sie leben, und vor dem Urteil der anderen.” – Natalja Tschajkowska im Interview

Autorin Natalja Tschajkowska hat mit uns im Interview über ihren neuen Roman „All die Frauen, die das hier überleben” und über Gewalt in Beziehungen gesprochen.

Dein Roman beginnt am Grab von Martas verstorbenen Ehemann Maksym. Marta nimmt Beileidsbekundungen entgegen, was sie selbst aber im Innersten spürt, ist keine Trauer, sondern Erleichterung. Was bedeutet es für einen Menschen, die eigene persönliche Freiheit erst durch den Tod einer anderen Person zurückzuerlangen? Was leitest du daraus über zwischenmenschliche Abhängigkeit ab?

Bevor ich mit dem Schreiben dieses Romans begann, hatte ich mir genau so einen Anfang ausgedacht. Mit der Szene auf dem Friedhof wollte ich zeigen, wie müde und erschöpft ein Mensch durch das Leben mit jemandem, der einen missbraucht, sein kann. So erschöpft, dass im Herzen kein Mitgefühl und kein Schmerz mehr vorhanden sind. Da sind nur noch Leere und eine gewisse Erleichterung. Das zeigt, dass Frauen wie Marta im Allgemeinen vieles in der Beziehung nicht erfahren – keine Liebe, keine Fürsorge, keine Freude. Sie sind abhängig von der Stimmung ihres Mannes. Sie haben sich selbst verloren. Manchmal geschieht das ganz leise, Tag für Tag, und dann ist es zu spät. Und diese Szene ist wie eine Befreiung, aber ohne zu solchen Taten zu verleiten. Dies ist nur ein Buch, kein Handbuch, wie man aus einer missbräuchlichen Beziehung herauskommt.

Der Roman liest sich streckenweise wie ein Thriller – da gibt es diesen mysteriösen Tod und diese untergründige Spannung, die die Leser*innen durch das ganze Buch trägt. Wie lebensnah, wie realistisch ist dein Buch?

Grundsätzlich ist das Buch nur eine Fiktion, aber es wurde aufgrund von Beobachtungen von Menschen, die ich kenne, geschrieben. Leider haben viele dieser Frauen unter häuslicher Gewalt gelitten. Zum Beispiel ist die Szene, in der der Ohrring in Form eines Rings durch den Aufprall zusammengedrückt wird, wirklich passiert. Ich habe also viele Momente aus dem Leben von Frauen, die ich kenne, übernommen, natürlich mit ihrem Einverständnis.

 

© Volodymyr Tschajkowsky
Natalja Tschajkowska ist eine ukrainische Autorin. Sie hat mehrere Kurzgeschichten und Romane verfasst. Neben dem Schreiben arbeitet sie in der Kommunikationsbranche. Mit „All die Frauen, die das hier überleben“ erscheint das erste Mal eines ihrer Werke auf Deutsch.

Anhand der Geschichte von Marta und ihrem verstorbenen Mann Maksym sezierst du die vermeintlich unergründlichen Prozesse, die eine liebevolle Beziehung zur wahrhaften Hölle werden lassen. Eine Thematik, die in der Literatur kaum bis gar nicht behandelt wird. Was denkst du, woran liegt das?

Nach der Veröffentlichung des Romans bin ich erneut zu der Überzeugung gelangt, dass solche Literatur wirklich notwendig ist. Der Grund dafür ist einfach: Nicht jeder versteht die Tiefe des Schmerzes, der manchmal hoffnungslos ist, mit dem eine Frau konfrontiert wird. Man hört oft den Satz: „Warum ist sie nicht gegangen?”, aber manchmal haben Frauen Angst vor beidem: vor der Gewalt, in der sie leben, und vor dem Urteil der anderen. Und aus diesem Grund schweigen sie. Und aus demselben Grund ist dieses Thema ein Tabu. In der Belletristik habe ich Bücher über häusliche Gewalt gelesen, manche sorgfältig geschrieben, manche ergreifend. Ich bin mir nicht sicher, aber mir scheint, dass Autor*innen, die ein solches Thema anschneiden, auch mit Kritik rechnen müssen. Vielleicht ist das der Grund, warum dieses Thema oft umgangen wird.

Häusliche Gewalt, psychische und physische Gewalt gegen Frauen, toxische Beziehungen, Machtmissbrauch, Misogynie … das alles sind Themen, die gerade mehr und mehr in der Öffentlichkeit thematisiert werden. Häufig verfällt die Debatte aber in eine Richtung, in der die Schuldzuweisungen verdreht werden. Wie siehst du diese Form der Auseinandersetzung mit dem Thema? Wie war dein Ansatz in dieser Hinsicht beim Schreiben deines Romans?

Ich wollte das Bild einer Frau mit Schwächen schaffen, die Angst hat, besorgt und nicht immer in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen. Eine gewöhnliche Frau mit gewöhnlichen Gefühlen, die nicht weiß, wie sie sich aus der Situation befreien kann. In der Literatur sehen wir oft starke Frauen, aber nicht jeder ist im Leben stark. Marta hat Angst, bereut viele ihrer Handlungen, redet sich manchmal ein, dass alles gut werden würde und dass man einem Menschen eine zweite Chance geben sollte. Der Roman will zeigen, wie Marta aus ihrer Schwäche stärker wird, wie sie lernt, Entscheidungen zu treffen, zu kämpfen, wie sie ihre Angst Schritt für Schritt überwindet.
Sie kämpft allein. Denn oft haben solche Frauen Angst, dass sie nicht gehört werden und die Pfeile der Anschuldigungen nicht in Richtung ihres Mannes fliegen, sondern in ihre eigene. Sie ist auch vorsichtig, weil sie die ihr nahestehenden Menschen nicht gefährden will.

Marta versucht nach Kräften, sichtbare Male, die von der Gewalt Maksyms zeugen, vor ihren Freund*innen, ihrer Familie zu verbergen. Was denkst du, warum Marta das macht, warum sie sich niemandem anvertraut?

Es sieht nicht so aus, als könne sie niemandem vertrauen, es ist eher so, dass sie sich für die Situation schämt, in der sie sich befindet. Ich treffe oft Frauen, denen von Kindheit an beigebracht wurde, über Probleme in der Familie zu schweigen, zu ertragen, nichts und niemandem etwas zu erzählen, weil die Gesellschaft die Tatsachen verurteilen und verdrehen kann. Auch auf gesetzlicher Ebene ist es nicht immer möglich, Gewalt zu ahnden. Einem Mann mag es verboten sein, sich einer Frau zu nähern, aber würde das einen Mann wie Maksym aufhalten? Nicht unbedingt. Marta schweigt, weil sie Angst hat. Und wie ich schon sagte, ist sie besorgt über das Schicksal der Menschen, die ihr nahe stehen.

„Gaslighting“ oder „Love Bombing“ sind Begriffe, die man immer öfter hört. Immer mehr Menschen, besonders auch jüngere, tauschen sich auf Social-Media-Plattformen über Phänomene wie diese und auch über ihre eigenen Erfahrungen aus. Auch du bist auf deinem Instagram-Account sehr aktiv. Was ist deine Einschätzung: Werden wir sensibler, feinfühliger bezüglich toxischen Verhaltens in der Partnerschaft und anderen Beziehungs-Themen, die lange Zeit tabuisiert wurden und als „privat“ galten?

Es ist traurig, das zugeben zu müssen, aber ich habe den Eindruck, dass wir an diesem Thema noch arbeiten müssen. Ich bin davon überzeugt, dass in allen Gewaltsituationen der Vergewaltiger die Schuld trägt und das Opfer der Gewalt leidtragend ist. Und der Vergewaltiger kann keine Ausreden finden. Aber es kommt oft vor, dass die Opfer beschuldigt werden, es provoziert zu haben, man hört den formelhaften Spruch „selbst schuld”. Das ist erschreckend. Deshalb dürfen diese Themen kein Tabu sein, die Menschen müssen darüber sprechen. Auf Instagram sieht man unterschiedliche Positionen – von Verständnis für das Thema bis hin zur vollständigen Verurteilung von Marta. Daher fällt es mir schwer zu sagen, dass wir sensibler geworden sind und bereit sind, Unterstützung zu leisten.
Nach der Veröffentlichung des Buches erhielt ich viele Nachrichten von Leser*innen, die entweder selbst etwas Ähnliches erlebt hatten oder jemand aus ihrer Familie. Es waren zu viele Nachrichten und da wurde mir wieder einmal klar, dass wir über dieses Thema sprechen müssen. Die Menschen wollen gehört werden. Aber manchmal haben sie Angst, ihre Meinung und ihren Standpunkt zu äußern. Ich sage immer, dass manchmal die beste Unterstützung darin besteht, nicht zu urteilen. Wenn die Menschen aufhören, die Opfer häuslicher Gewalt zu verurteilen, wenn sie aufhören, Mutmaßungen anzustellen und die Situation in Frage zu stellen – „wer auch immer sie festgehalten hat, ich wäre entschlossener gewesen”, „ich hätte das nicht zugelassen”, „sie ist schwach, ich bin stark” –, werden die Opfer selbstbewusster werden. Sie werden keine Angst haben, aus toxischen Beziehungen auszusteigen und allgemeine Verurteilung zu erfahren. Es hängt viel von der Gesellschaft ab. Das ist zumindest meine Überzeugung.

Jede*r von uns hat eine individuelle Lebensrealität, unterschiedliche Einflusssphären, Talente, Fähigkeiten, Möglichkeiten. Jede*r von uns hat eine Stimme. Und jede einzelne Stimme ist entscheidend, um der Gewalt ein Ende zu bereiten. Es gibt zahlreiche Initiativen und Plattformen, die über häusliche Gewalt informieren und Hilfe bieten. Hier ein paar davon:

Das Start-Up Frontline entwickelt Trainings und digitale Tools für Betroffene und jene, die mit Opfern häuslicher Gewalt in Kontakt stehen.

In Deutschland: Das bundesweite Hilfetelefon richtet sich an Frauen*, die Gewalt erfahren haben, aber auch an Angehörige sowie Freund*innen werden anonym beraten. Es ist jederzeit und kostenfrei unter +49(0)8000 116 016 erreichbar.

In Österreich: für (akute) Hilfe: frauenhelpline.at

Frauenhäuser bieten Frauen*, die häusliche Gewalt erleben, und ihren Kindern eine sichere Wohnmöglichkeit. Frauenhäuser sind für alle Gewaltopfer offen, unabhängig von Nationalität, Einkommen oder Religion.

SOS@Home bietet Aufklärungsarbeit sowie ein Netzwerk aus Hilfeleistenden und Initiativen.