Autor: admin_sunlime

#MeToo und dann lang nix. Ein Gastbeitrag von Julia Pühringer

Stell dir vor, es ist Revolution und niemand geht hin: Haben internationale Bewegungen wie #MeToo und #TimesUp in der Filmbranche in Österreich umfassende Konsequenzen gehabt? Hat sich die Branche in den letzten vier Jahren verändert? Noch steht trotz einzelner bekannter Fälle der große Befreiungsschlag aus. Immerhin: Der Diskurs hat sich verändert. Und die Forderungen auch.

Große Umbrüche. Auch hierzulande?

Es gibt große Umbrüche, die sich erst in der Rückschau festmachen lassen und nicht, während sie passieren. Man erkennt sie daran, was nachher nicht mehr denkbar ist und was direkt davor noch als unumstößlich galt. #MeToo war so ein radikaler Umbruch. Doch während nach Alyssa Milanos Twitter-Aufruf, über erlebte sexuelle Belästigung und sexuelle Übergriffe zu reden, im Oktober 2017 die Hölle losbrach (der Hashtag stammte von Aktivistin Tarana Burke), während Produzent Harvey Weinstein, Schauspieler Kevin Spacey, Comedian Louis C.K. und Pixar-Gründer John Lasseter ihre Jobs – und den jahrzehntelangen Schutz eines stillschweigenden Umfelds – verloren, herrschte in Österreich betretenes Schweigen. Berühmte Männer, die ihren Job verloren? Nein. Weder im Filmbusiness, noch in der Politik, der Industrie. Schirennläuferin Nicola Werdenigg machte mutig Übergriffe im Sport in ihrer Jugend öffentlich, „alle haben von solchen Vorgängen gewusst. Man dachte, das sei normal“. Sie gründete 2018 den Verein #WeTogether zur Prävention von Machtmissbrauch im Sport und machte sich damit natürlich nicht nur Freunde.

Seltsame Interviews erschienen, in denen eine Schauspielerin bekannt gab, sie sei zwar zweimal vergewaltigt worden, aber trotzdem nicht dafür, jemanden „wie im Mittelalter“ öffentlich an den Pranger zu stellen. Die 2009 gegründete österreichische Filmakademie richtete eine „Vertrauensstelle für Betroffene“ ein, die sich an eine Schauspielerin, einen Schauspieler und Regisseur sowie ein Vorstandsmitglied wenden konnten. „Bei uns gibt es berufsbedingt Nacktheit und körperliche Nähe – und das ist ein guter Nährboden für Missverständnisse respektive Missbrauch“, erklärte der damalige Akademie-Präsident sein völliges Missverständnis der Ursachen von Missbrauch – nämlich Machtmissbrauch und nicht Nacktheit.

Julia Pühringer, Journalistin, schreibt für diverse Medien (nicht nur) über Bewegtbild, interviewt und moderiert. Beschäftigt sich mit Kino, Kanonbildung und dem Schreiben darüber als Abbild der Welt, wie wir sie sehen (wollen). Foto: privat

#MeToo vs. „Hexenjagd“: Täter-Opfer-Umkehr 

„Verzerrt die MeToo-Debatte den Blick auf die Qualität?“ wurde in Interviews gefragt, ein berühmter Regisseur verwendete den Begriff „Hexenjagd“, unterdessen sorgte eine weitere Schauspielerin für Furore, die auf Facebook betonte, sie fände sexuelle Annäherungsversuche grundsätzlich erfreulich, und wie weit Schauspielerinnen gingen, um Karriere zu machen, sei jeder Frau selbst überlassen. Dass Frauen, die in dieser Branche tätig sind, erst gar nie in die Situation kommen, überlegen zu müssen, „wie weit sie gehen müssen“, war offenbar nicht vorstellbar, viel deutlicher ließ sich das System denn auch im Widerspruch nicht bestätigen.

Die grüne Politikerin Sigi Maurer musste sich unterdessen jahrelang mit einem Wirt vor Gericht auseinandersetzen, sie hatte obszöne Nachrichten unter Namensnennung öffentlich gemacht, er bestritt, die Nachrichten verfasst zu haben.

Immerhin: Gustav Kuhn, der künstlerische Leiter der Festspiele Erl, musste, nachdem eine Gruppe von Künstlerinnen sich mutig darauf einigte, Übergriffe öffentlich zu machen, die Leitung der Festspiele Erl zurücklegen.

Dieses mediale Sittenbild der Verhöhnung von Übergriffsopfern, absurder Täter-Opfer-Umkehr und „ich kann dazu nichts sagen, ich war ja nicht dabei!“ macht Betroffenen bis heutig wenig Mut, sich öffentlich über geschehene Übergriffe zu äußern, geschweige denn, auch noch Gerechtigkeit zu erwarten: Während Konzerte von Plácido Domingo wegen der Vorwürfe sexueller Übergriffe weltweit abgesagt wurden: In Salzburg fand es natürlich statt.

Ein Museum der schlechten Argumente

Aus der Rückschau aus dem Jahr 2021 betrachtet wirkt vieles wie ein Museum der schlechten Argumente, blanker Inkompetenz und böser Klischees. Denn ganz so ahnungslos kann man sich nicht mehr geben, wenn es darum geht, wie Machtgefüge funktionieren, die Übergriffe erst ermöglichen.

Noch 2016 schickte ein Professor der Filmakademie ein langes E-Mail aus, in dem er seine Bedenken gegen eine Frauenquote erklärte. „Eine Quote würde, um erfüllt werden zu können […] Frauen besonders stark bevorzugen, Männer […] besonders stark benachteiligen müssen“. Heutzutage kann man sich immerhin darüber lustig machen, wie nahe er der Lösung des Problems gedanklich kam. Und wie schön die Argumentation, Frauen wollen vielleicht einfach nicht so gerne Filme machen und Drehbuch schreiben, auch zeigt, was die permanente gesellschaftliche und kritische Überhöhung von „Genies“ auch beim Anspruch an die eigene Deutungshoheit anrichtet.

Es zählen die Zahlen

Inzwischen hilft in Sachen Gerechtigkeit das simpelste wie effizienteste Werkzeug: Zählen. Der Genderreport des Österreichischen Filminstituts für die Jahre 2012 bis 2016, belegte eine enorme Schieflage. 80 % der Herstellungsförderungen wurden Projekten mit Männern in Regie, Produktion oder Drehbuch zugesprochen, nur 20 % der Fördermittel gingen an Projekte mit Frauen in diesen Funktionen, bei der Stoffentwicklung waren es 72 % an Männer und 28 % an Frauen, bei Fernsehfilmen sank der Frauenanteil der Förderung gar auf 16 %, bei Fernsehserien auf 8 %. Nein, die Frauen der österreichischen Filmbranche hatten sich nicht „eingebildet“, benachteiligt zu werden. Sie bekommen deutlich weniger Geld und Jobs, ihre Honorare sind auch niedriger (Frauen besetzten 34 % aller untersuchten Stabstellen, erhielten aber nur 29 % der Honorare), bei geförderten Fernsehfilmen und Fernsehserien war der Gender-Pay-Gap noch höher.

Hochspannend war auch eine weitere Erkenntnis des Genderreports: Je mehr Frauen an einem Film mitarbeiteten, desto höher war auch der Frauenanteil bei den Hauptdarsteller*innen, dasselbe galt umgekehrt. Und: Filme von Teams mit höherem Frauenanteil stellen – Überraschung! – sowohl weibliche als auch männliche Figuren differenzierter dar als jene mit hohem Männeranteil.

Das System muss nicht „so“ sein

Frauen erzählen Frauen und Männer also durch Sozialisation anders. Was hat das mit #MeToo zu tun? Gerade eine Branche, die Geschichten erzählt, bildet die Systeme ab, in denen wir leben. Und wenn sie das nur einer Gruppe von Menschen überlässt, dann reproduziert sie das System und prägt damit im Kino und im Fernsehen wie wir uns die Welt gemeinhin so vorstellen können und aus wessen Perspektive. Das gilt für’s Arthouse-Kino eben ganz genauso wie für den „Tatort“ am Sonntagabend (Stand 2020: Bei 1150 Folgen zwischen 1970 und 2020 führten nur 138-mal Frauen Regie). Es ist dieser Aspekt – wer kommt zu Wort und wie – den jene ignorieren, die sich von vermeintlichen „Genies“, deren Übergriffe halt der vorgebliche Preis gottbegnadeter Kunst sind, nicht verabschieden wollen. Dass ausgerechnet Dieter Wedel, der Regisseur, der sich im Zuge von #MeToo selbst zum Opfer erklärte, bevor zig Opfer ihm Vergewaltigung vorwarfen, auch noch diverser Plagiate überführt wurde, passt ins Bild. Von wegen, „das System ist so“: Es muss nicht so sein. Und es bringt auch noch lange nicht einmal die beste Kunst hervor – die Behauptung, große Kunst käme nur unter harten Rahmenbedingungen und unter großem persönlichen Leid zustande, ist genau das: eine Behauptung.

Alte Muster aufbrechen

Was also ist passiert, in Österreich, seither? Österreichs Filmschaffende treten lautstark für eine Filmförderung ein, die eine Geschlechterquote hat, die Initiative „No Change Without Change“ findet aktuell in einem Ausmaß Zustimmung, das vor vier Jahren noch undenkbar gewesen wäre – auch wenn hier jeder Meter in Richtung Gleichberechtigung von den Frauen der Branche erstritten wurde, allen voran dem Verband FC Gloria. Es sind Projekte wie „Diverse Geschichten“ zur Entwicklung von Filmstories für Autor*innen mit interkulturellem Hintergrund sowie der Drehbuchwettbewerb „If she can see it, she can be it. Frauen*figuren jenseits der Klischées“, die die alten Muster schrittweise aufbrechen und auch mit dramaturgischer Begleitung dabei helfen, neue Stimmen zu finden. Diversität hilft und sie bricht die alten Muster der Macht auf, auch der erzählerischen. Nicht mehr nur eine Stimme gilt, nicht mehr nur ein Frauenbild, nicht mehr eine Arbeitspraxis.

Denn das war die erste Reaktion auf Quotenforderungen: Aber dann bekommen ja die Frauen nur Geld für’s Frausein! Sie trifft daneben, aber beschreibt aus tiefster Überzeugung die aktuelle Situation, bei der angesichts der tatsächlichen Zahlen, wer Förderung, Sendeplatz und Budgets und Deutungshoheit bekommt, wenig Interpretationsspielraum bleibt: Bei den Förderzusagen 2021 (!) gehen für die Herstellung gesamt 3.592.327 Euro an die Filme von Frauen, 10.093.817 an die von Männern, das sind 74 %, bei der Projektentwicklung ist das Verhältnis 28 % zu 72 %.

„danach“ ist später

#MeToo ist nicht vorbei: In Frankreich und Griechenland ist die Abrechnung mit den Tätern fünf Jahre später in vollem Gange, viele Bücher wurden über Missbrauch veröffentlicht, Fälle gingen auch vor Gericht im Sinne der Opfer aus. Die menschenverachtende Arbeitspraxis von Scott Rudin wurde nach jahrelangem Schweigen in den USA geoutet. Harvey Weinstein sitzt längst schon im Gefängnis. Zahlreiche Dokus erzählen vom medialen Umgang mit Opfern und Tätern.

Österreich ist kein Hort der Gleichberechtigung, ist es nicht bei Geschlechtergerechtigkeit, nicht bei der sexuellen Orientierung, nicht bei Klasse, Herkunft, Vermögen, bei Leben mit Behinderung. Ungern stellt man sich hier die Frage, ob „es war immer so“ tatsächlich gleichbedeutend ist mit „es war immer richtig so“.
Aber nein, die Dinge sind nicht mehr, wie sie waren, jetzt schon nicht mehr. Irgendwann wird man uns fragen: Wirklich, es gab Menschen, die offene Briefe zur Rettung von Tätern unterschrieben? Ihr habt Opfern nicht geglaubt? Das war eure große „Kunst“? Eure Literatur? Euer Kino? Das waren eure Theater? Auf diese Stimmen habt ihr gehört und sonst keine? Acht Prozent eurer TV-Serien waren von Frauen? Spinnt ihr?

Und dann wird wirklich danach sein. Und wir werden es wissen.

Zieh Leine, literarisches Patriarchat: Neue Stimmen und Perspektiven in die Bücherregale!

Ein Beitrag von Lisa-Viktoria Niederberger

In meinem Bücherregal, in meiner Social Media Bubble, herrscht eine Utopie der Vielstimmigkeit. Da ist die Welt bunt. Da habe ich mir ein Umfeld geschaffen aus queeren Buchhändler*innen, Feminist*innen, (Post-) Migrant*innen und trans Frauen und trans Männern. Viele von ihnen schreiben Bücher, noch mehr empfehlen sie. So haben im letzten Jahr neue Ideen und Träume, aber auch ein erweitertes Problembewusstsein für mangelnde Intersektionalität und cis-normative Hegemonien Einzug in meine Weltwahrnehmung gefunden.

Wie Lehrpläne denen die Lust am Lesen versauen, die keine cis Männer sind

Das war nicht immer so. Hätte man mich vor ein paar Jahren gefragt, die Antwort wäre klar gewesen: dass ich mehr Bücher von Männern lese, dass ich lieber Bücher von Männern lese. Was wie Antifeminismus klingt, war Unkenntnis, mangelnde Reflexion, war Gewohnheit. Ich gebe dem literarischen Kanon auf der einen Seite, und dem Literaturbetrieb auf der anderen Seite die Schuld. Meine Lieblingskinderbücher sind von Frauen geschrieben worden und die darin vorkommenden Held*innen waren auch nicht immer Buben. „Ja, die Zeit vergeht, und man fängt an, alt zu werden. Im Herbst werde ich zehn Jahre alt, und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich“, sagt Pippi Langstrumpf in „Pippi geht von Bord“, und zumindest was die schulische Pflichtlektüre betrifft, hat sie Recht. Da sind die besten Tage tatsächlich vorbei, denn: Zehn ist schon fast ein Teenie, und als Teenager in Österreich versucht der Lehrplan besonders denen, die keine cis Männer sind, nicht nur die Lust aufs Lesen, sondern auch aufs Leben zu versauen. Statt Pippi und der feuerroten Friederike werden uns nun „Heldinnen“ wie Goethes Gretchen und Lessings Emilia Galotti als Rollenmodelle angeboten. Am Schluss der reclamgelben Zwangslektüre ist die Frau meist unfreiwillig schwanger, im Irrenhaus, tot oder alles davon. Bürgerliches Trauerspiel indeed, aber leider noch immer das, was von vielen Menschen als Hochkultur bzw. Hochliteratur bezeichnet wird.
Wenn man nicht Germanistik studiert, endet diese Qual mit der Matura. Und selbst da tut sich was. Während ich mich 2006 noch mit einer Interpretation der Bergschluchten-Szene in Faust II abärgern durfte, konnten sich die Schüler*innen bei der Zentralmatura 2020 immerhin schon mit der Kolumne „Dieser Text ist reine Zeitverschwendung“ von Ronja von Rönne auseinandersetzen. Das hat auch zu einem wahnsinnig witzigen Video auf Instagram geführt, in dem die Autorin selbst die Interpretation ihres Textes übernimmt: „Die zentrale Aussage war, dass ich kein Kolumnenthema, aber eine Deadline hatte und mir dachte, es gibt immer Laberthemen, über die man schreiben kann. Zeit ist so eines.“, sagt sie da. Das ist etwas, das ich an Autorinnen, besonders an Autorinnen meiner Generation, unglaublich mag. Viele von ihnen schreiben grandiose Bücher, sind stilistisch, fachlich brillant, gleichzeitig witzig, haben einen trockenen, abgebrühten Humor. Genau den braucht man auch, um in der Literaturwelt zu überleben: Sie ist ein hartes Pflaster, ein sexistisches noch dazu. Und trotzdem gibt es diese grandiosen Frauen und ihre Texte.

Der Begriff „Frauenliteratur“ und was unsere verinnerlichte Misogynie damit zu tun hat

Hätte ich das früher gewusst. Ich hatte lange (da habe ich schon selbst geschrieben und war mit Autorinnen befreundet) eine schlechte Meinung von Büchern aus Frauenhand. Früher, als Thalia noch Landesverlag hieß, gab es dort eine Abteilung für „Frauenliteratur“. Semierotische Liebesromane, fast ausschließlich und bevor ich wusste, was „internalisierte Misogynie“ ist, führte ich gedanklich entweder das als Grund an – oder den Neid, den ich lange auf alle Frauen, die es (vor mir) geschafft hatten, erfolgreich Bücher zu veröffentlichen, warum ich doch immer wieder zu den Autoren griff.
Es ist nie zu spät, um sich zu ändern. Was wie eine Plattitüde oder ein Kalenderspruch klingt: Zumindest in Bezug auf mein Bücherregal stimmt es. Immer mehr Frauen sind da im Laufe der Jahre eingezogen, schnell gefolgt von LGBITQ+-Autor*innen und solchen, die außerhalb eurozentristischer Strukturen leben und schreiben.
Auch meine virtuelle Welt ist ein von mir liebevoll kuratiertes Matriarchat. Zwischen feministischen und gesellschaftskritischen Tweets und Statements auf meiner Timeline erklärt beispielsweise Mai Thi Nguyen-Kim leicht verständlich, was ein Brain Machine Interface ist, und Barbara Blaha, was es denn mit dem Schuldenmachen auf sich hat. Ich sehe massiv engagierte Frauen: für die Aufnahme von Menschen aus den griechischen Flüchtlingslagern, für eine gendergerechte Sprache. Dafür, dass der Bayerische Rundfunk in seinen Beiträgen endlich die Unterscheidung zwischen Vulva und Vagina hinkriegt, gegen die UG-Novelle. Die daran erinnern, dass black lives still matter.

Lisa-Viktoria Niederberger hat Kunstgeschichte und Germanistik studiert. 2014 bis 2020 war sie für editorische und veranstalterische Tätigkeiten bei der Salzburger Literaturzeitschrift erostepost zuständig. 2018 erschien ihr literarisches Debüt „Misteln“ (edition.mosaik). Sie veröffentlicht Kurzprosa, Rezensionen und journalistische Beiträge in diversen Zeitschriften und Anthologien. Foto: privat

Die Bubble dehnt sich aus – aber am Ziel sind wir noch längst nicht

Und obwohl zwar ich weitestgehend bestimme, was da reinkommt in meine schöne Social Media Bubble: Sie bildet ebenso die Außenwelt ab. Vielleicht noch nicht die Mehrheitsgesellschaft, aber ihre Diversifizierungstendenzen. Und wer die noch leugnet, tut das, weil er*sie die Augen verschließen möchte vor dem, was ganz eindeutig kommt: eine Zukunft der Vielfalt, der Vielstimmigkeit. Und je mehr wir bereit sind sie mitzugestalten, desto schneller kommt sie.
Manchmal aber fühlt diese Zukunft sich unerreichbar weit entfernt an: Am Weltfrauentag 2021 hatte ich einen wunderbaren Vormittag. Bei der feministischen Kundgebung am Linzer Hauptplatz tanzten und klatschten Frauen aller Ethnien und Altersgruppen miteinander, schrien, rissen die Fäuste in die Höhe, nickten zustimmend bei Redebeiträgen. Die Sonne schien, und obwohl wir von furchtbaren Dingen hörten, von Gewalt an Frauen und weiblicher Altersarmut, lag neben Frühling auch Liebe und Einigkeit in der Luft. Wir waren in einem Safe Space.

Später am selben Tag: ein Zoom Call, die erste Lehrveranstaltung des Semesters. Die Professorin trägt Referatsthemen vor und ein Kommilitone unterbricht sie mitten im Satz, meldet sich für das noch nicht vollständig vorgestellte Thema. Eine Kollegin äußert ihr Bedauern, denn das Thema hätte sie auch gerne bearbeitet. „Da war ich wohl nicht schnell genug“, fügt sie hinzu. „Nein!“, sage ich. „Deine Schnelligkeit ist nicht das Problem, das Problem ist, dass er sich vordrängt, nicht mal ausreden lässt, was echt nicht die feine englische Art ist meiner Meinung nach, und nicht das, wie ich mir ein akademisches Miteinander vorstelle!“
Und dann geht es los, die anderen Männer im Kurs kommen ihm zu Hilfe: wie „scharf“ meine Kritik gewesen wäre und „vorschnell“, dass das doch keine Absicht war, weil „Zoom oft zeitverzögert“ sei. Mich supportet hingegen keine der anwesenden Frauen, obwohl wir eindeutig in der Überzahl sind. Die Lehrende antwortet auch ausweichend. Die Atmosphäre im Kurs ist seltsam und ich fühle mich, als wäre ich das Problem. Dabei bin doch ich diejenige, die respektloses Verhalten aufgezeigt hat. Da drängelt sich ein Mann vor, da ist einer laut, wenn man eigentlich zuhören sollte, verschafft sich so einen Vorteil, und ich bin die Böse, weil ich das ankreide. Und nein, es geht hier nicht nur um ein Referat. Hier wird im Kleinen reproduziert, worunter Frauen (aber auch queere Menschen und/oder BiPoC) tagtäglich weltweit leiden: ein cis-männlicher Hegemonialanspruch, eine plumpe, rücksichtslose Selbstverständlichkeit Frauen gegenüber. Und die damit verbundene Dekonstruktion eines akademischen Umfelds, in dem alle gleichberechtigt sein sollten. Ich will nicht in einer Gesellschaft leben bzw. an einer Universität studieren, wo Frauen lernen: Wenn du dich gegen die Männer durchsetzen willst, musst du eben schneller schreien als sie, lauter sein.
Es sind genau diese meine „neuen“ Bücher, die mir aufgezeigt haben, dass es in solchen Situationen wichtig ist, den Mund aufzumachen. Auch wenn’s weh tut, auch wenn es sich manchmal anfühlt wie ein Schuss ins eigene Knie. Trotzdem: niemand – zumindest ich nicht – will die cis Männer jetzt vom Bücherschreiben abhalten oder ihnen dauerhaft den Mund verbieten, aber es wäre an der Zeit, dass Menschen lernen, respektvoll zu sprechen. Es ist nichts schlecht daran, ein cis Mann zu sein, einen zu lieben, einen zu erziehen. Aber: cis-Männlichkeit zur Norm zu machen, das ist schlecht, schlecht gewesen über die letzten Jahrhunderte, Jahrtausende, die wir Kulturgeschichte bzw. kulturelle Entwicklung nennen. Wir „verdanken“ ihr das Patriarchat, Misogynie und den Umstand, dass Frauen immer noch zu oft ihre Körper erklären müssen, ihre Gedanken, ihre Wünsche. Ihre Grundrechte auf ein sicheres Leben, ohne Bedrohungen, Belästigungen, die für viele eben noch nicht Lebensrealität sind.
Bis es so weit ist, ist es an uns selbst, den Mund aufzumachen, Unrecht anzuprangern. Und das ist ungewohnt, oft schwer und eine Überwindung. Die richtigen Bücher bzw. richtigen Vorbilder können da Gold wert sein. Das Private ist politisch. Dein Bücherregal auch.

Die Themen Selbstbestimmung, Empowerment und Feminismus treiben dich um? Dann könnte dich vielleicht auch Beatrice Frasls Beitrag über Frauen in Machtpositionen oder die Interviews mit Dr.in Bettina Zehetner und Mag.a Petra Schweiger zum Thema Schwangerschaftsabbruch interessieren.

„Was man im Gericht lernt, ist, WIE seltsam und abstoßend das alles sein kann.“ – Interview mit Gerichtsreporter Michael Möseneder

Michael Möseneder kennt Wiens Gerichtssäle in- und auswendig. Nicht, weil er selbst so ein schlimmer Finger ist. Es liegt einfach ganz in der Natur seines Berufs: Michael Möseneder ist Gerichtsreporter. Seit Jahren wohnt der Journalist den spannendsten, kuriosesten und erschütterndsten Verhandlungen bei. Manche Gerichtsprozesse sind so absurd wie das Leben: Da ist zum Beispiel der Fall von der untalentierten Betrüger-Omi, vom Mann, der eine Straßenbahn stahl, oder die trennungsbedingte Meerschweinchen-Vendetta. Ein Best-of versammelt Michael Möseneder in seinem Buch „Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof“. Wenn man einen guten Einblick in die Wiener Justizwelt bekommen möchte, fragt man also am besten ihn. Nina Gruber hat mit Michael Möseneder über den Alltag im Prozesssaal, Gerichtskibitze und Ermahnungen von der Richterschaft gesprochen.

Einen Gerichtssaal zu betreten, das ist den meisten von uns vermutlich ein wenig unheimlich. Dennoch: Was hinter verschlossenen Türen stattfindet, ist gleichzeitig doppelt interessant. Kann man als „Zuschauer*in“ einfach so an einer Verhandlung teilnehmen?

Ja, fast alle Gerichtsverhandlungen in Österreich sind öffentlich. Das bedeutet, man kann den Saal theoretisch jederzeit betreten und verlassen. Die so genannten Gerichtskibitze – vorwiegend pensionierte Männer – verbringen so ihre Freizeit. Nur manchmal, beispielsweise wenn Opfer von Sexualdelikten aussagen, kann die Öffentlichkeit zeitweise ausgeschlossen werden

Wie findet man spannende oder besonders kuriose Prozesse?

Die jeweiligen Verhandlungen, die an einem bestimmten Tag stattfinden, kann man bei Gericht erfragen, manchmal liegt auch eine Liste auf. Bei besonders spektakulären, so genannten clamorosen Prozessen gibt es bereits im Vorfeld entsprechende Medienberichte. Als Journalist oder Journalistin hat man natürlich Quellen, die Tipps geben. Und manchmal kann es auch Zufall sein, einen besonders aberwitzigen Prozess zu erleben.

Du warst im Rahmen deiner Funktion als „Blutchroniker“ für die Tageszeitung DER STANDARD schon bei zahlreichen Verhandlungen. Erinnerst du dich noch an deine erste?

Nein, leider, in meinem Alter bin ich froh, wenn ich mich noch an die Prozesse der vergangenen Woche erinnern kann. Wenn man täglich ein bis zwei Verfahren miterlebt, verschwimmt die zeitliche Erinnerung etwas. Die inhaltliche Erinnerung ist aber größtenteils glücklicherweise erhalten geblieben. Manche Geschichten bleiben aber einfach mehr im Gedächtnis, die sind mir bei der Auswahl für das Buch sofort wieder eingefallen.

In Gerichtssälen wird man naturgemäß nicht immer mit den positiven Seiten der Menschen konfrontiert. Hat dein Beruf deine Sicht auf die Menschheit mit den Jahren verändert?

Eigentlich nicht. Dass Menschen aus seltsamen Gründen noch seltsamere Dinge machen, ist mir bereits länger bekannt. Was man im Gericht lernt, ist, WIE seltsam und abstoßend das alles sein kann. Allerdings lernt man beispielsweise auch, wie unterschiedlich Menschen reagieren, wenn ihnen etwas Schlimmes passiert.

Nicht alle Fälle sind zum Glück bitterernst, manche sogar besonders kurios und die Verhandlung voller absurder Situationen. Gelingt es dir immer, in deiner möglichst neutralen, beobachtenden Rolle zu bleiben?

Ich bemühe mich in den meisten Fällen wirklich. Aber manchmal entkommt mir ein Lacher oder ich reiße ungläubig die Augen auf, da ich fast nicht glauben kann, was ich eben gehört habe. Von der Richterschaft ermahnt wurde ich bisher aber nur in zwei Fällen – völlig zu Recht, da Beifalls- und Missfallskundgebungen in Verhandlungssälen verboten sind.

 

 

Du siehst: Zum Glück musst du nicht erst ein Verbrechen begehen, um einen Einblick in die Gerichtswelt zu bekommen. Die kann unterhaltsam, tragisch, schauerlich, absurd sein. Ob du zum Verurteilen, Fremdschämen oder Mitfühlen tendierst, bestimmte Geschichten einfach überblättern musst oder alles fassungslos in dich aufnimmst, bei Michael Möseneders „Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof“ wirst du schmunzeln, grübeln, empört den Kopf schütteln und dich verstört fragen: „Ist das wirklich passiert?!“

Bungeejumping kann uns mal! So kannst du dein Leben wirklich bereichern.

Bucket Lists sind derzeit überall. Das Wort kommt vom englischen „kick the bucket“, also von „den Löffel abgeben“. Es ist eine Liste der Dinge, die man erleben möchte, bevor man diesen sprichwörtlichen Löffel eben irgendwann abgibt. Und von denen man instataugliche Selfies machen kann. Im Internet finden sich viele Vorschläge für Punkte, die man auf einer richtig coolen Löffelliste stehen haben sollte – Bungee Jumping, Selfie mit Känguru in Australien, Sex am Strand, Haus im Grünen, du weißt schon.
Die Paliativpflegerin Bronnie Ware begleitet täglich Sterbende und hat ein Buch darüber geschrieben, was Menschen am Ende ihres Lebens bewegt: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Und siehe da: Es sind vielmehr die scheinbar kleinen, auf den ersten Blick vielleicht wenig spektakulären Dinge, mit denen sie ihr Leben gerne erfüllt hätten: weniger über die Erwartungen der anderen nachdenken und einen eigenen Weg gehen, weniger arbeiten und mehr genießen, ehrlicher über Gefühle sprechen, Freundschaften pflegen und sich selbst Glücklichsein erlauben.

Wir haben einige Punkte gesammelt, die du auf deiner Bucket List abhaken solltest – und die dein Leben garantiert bereichern werden, auch wenn du den großen Löffel noch lange behalten willst.

Setz sie endlich um, diese eine verrückte Idee!

Immer diese Grußkarten, die man eigentlich nie mehr lesen wird, aber trotzdem in der Box unterm Bett aufbewahrt, weil sich der Absender richtig viel Mühe gegeben hat. Wie cool wäre es, wenn man wüsste, was man damit anfangen soll? Ja, das hat sich Michael Stausholm auch gedacht. Und dann Stifte, Gruß- und Businesskarten entwickelt, die man einpflanzen und als Dünger nutzen kann. Und schwups, sind aus den lieben Grüßen grüne Kräuter geworden. Wenn du eine Lieblingsidee seit Jahren mit dir herumträgst, dann lass sie jetzt raus. Kleiderkreisel, Fahrräder, Sandwiches: Alles begann irgendwann mit einem hellen Kopf, der sich getraut hat, es anzugehen.

Engagier dich!

Du kennst das bestimmt: Du scrollst durch deine Timelines, ärgerst dich über diesen und jenen gesellschaftlichen Missstand, über Ungerechtigkeit, über Politik. Du denkst dir, dass man da wirklich dringend was tun sollte, und dann verkriechst du dich im Lesesessel oder schaltest Netflix ein. Aber du hast ganz bestimmt auch schon gespürt, wie befriedigend es ist, sich selbst in den Hintern zu treten und es einfach zu tun: Geh demonstrieren, sag deine Meinung öffentlich und laut, melde dich im Tierheim als Gassigeher*in oder tritt endlich diesem Verein bei. Du wirst Leute kennenlernen, die dich inspirieren, du wirst erleben, dass du zwar nicht die Welt, aber viele kleine Welten ganz schön umkrempeln kannst, und du wirst das befriedigende Gefühl haben, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

Mach’s dir selbst!

Du hast den schwarzen Daumen, deine Basilikumpflanze lässt die Blätter schon hängen, wenn du sie nur anschaust, und statt Nägel in Wände haust du mit dem Hammer Löcher? Zugegeben, nicht jede*r ist das ganz große Bastel- oder Gartentalent. Aaaaber es kann trotzdem richtig Spaß machen, etwas selbst zu pflanzen, basteln, bauen, stricken oder häkeln. Und dieses Shirt, das du dir mit selbst ausgesuchtem Stoff nach deinem eigenen Muster genäht hast, wirst du völlig anders tragen als ein gekauftes. Und noch dazu wirst du die Arbeit, die auch im gekauften steckt, viel mehr schätzen können.

Halt, Stopp! Es bleibt alles so, wie es ist?

Nein, bitte nicht. Dazulernen ist schließlich etwas Schönes. Nicht jede Entscheidung, die du vor Jahren für dich getroffen hast, muss heute noch zu dir passen. Und dabei geht es nicht nur um die „großen“ Lebensbereiche wie etwa deinen Arbeitsplatz und ob der dich noch glücklich macht, sondern auch um feine Nuancen in deiner Haltung. Denn: Ist es nicht das Allerschönste, mit einem guten Buch eine neue Lebenswelt kennenzulernen – und damit auch die eigene Meinung zu einem Thema zu verändern? Und wie erfreulich ist es, zurückzublicken und zu erkennen, dass dein früheres Ich einfach noch ein bisschen weniger gewusst hat als dein heutiges, und das Ich von morgen zu highfiven, weil es die Dinge noch ein bisschen differenzierter sehen wird …

Sag’s ihnen!

Dass du sie liebhast, dass sie dich beeindrucken, dass du dankbar bist, sie zu haben, oder auch einfach nur, dass das neue (selbstgenähte?!) T-Shirt so richtig gut aussieht. Den Menschen in deinem Leben nämlich. Nichts versüßt den Tag mehr als ein ehrlich gemeintes Kompliment oder ein Lob, und manchmal sind wir damit einfach zu sparsam. Auf die Gefahr hin, ein bisschen kitschig zu klingen: Wir wissen nie, wie lange wir uns noch haben. Also sag den Menschen, die dir wichtig sind, dass das so ist – und freu dich an ihrem Lächeln.

Hör auf Pippi Langstrumpf!

Ganz klar: Pippi hat eigentlich immer recht, auch beim Thema Zeitmanagement: „Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen“, hat sie gesagt. Und recht hat sie! In der Hängematte liegen und die Wolken beobachten, barfuß durchs nasse Gras spazieren, den Hund kraulen, an der Schulter eines lieben Menschen liegen und gemeinsam schweigen, bis man eindöst: Nimm sie dir, diese Momente. Du hast sie dir verdient …

 

Ein Roman, der dich intensiv spüren lässt, dass es die kleinen, scheinbar alltäglichen Dinge sind, die wirklich zählen, ist „Immer noch wach“ von Fabian Neidhardt. Wie dich dein*e Freund*in weckt, wenn du schlecht träumst. Wie deine Lieblingsmenschen über deine Witze lachen, auch wenn sie sonst niemand versteht. Und wie sie dich im Arm halten, wenn die Tränen kommen.
In leiser, eindringlicher Sprache erzählt Fabian Neidhardt eine Geschichte von Liebe, Freundschaft und der Kraft des Zusammenhalts – tieftraurig, herzerwärmend schön und vor allem immer: Mut machend.

Natalka Sniadanko über unabhängige Frauen und Aristokraten – und die Spuren einer ukrainisch-österreichischen Geschichte.

In ihrem frisch aus dem Ukrainischen übersetzten Roman „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“ schildert Natalka Sniadanko den Kampf, sich im politischen und gesellschaftlichen Rahmen selbst zu verwirklichen und unabhängig zu werden: als Mensch – aber auch als Staat. Im Interview mit Nina Gruber erzählt sie von den Herausforderungen und patriarchalen Schranken, vor denen ukrainische Frauen stehen, die ein selbstbestimmtes Leben führen möchten. Von einer ukrainisch-österreichischen Geschichte, die nach vielen Jahren erst langsam wiederentdeckt wird. Und von der wunderbaren Freiheit in der Literatur, ein Gedankenexperiment zum Roman heranwachsen zu lassen.

Erzherzog Wilhelm von Habsburg-Lothringen – bei diesem Namen klingelt bei den meisten von uns vermutlich noch nichts. Dabei fügt sich der aristokratische Outlaw neben Kaiserin Sisi und Kronprinz Rudolf ausgezeichnet in die Reihe seiner erlesen exzentrischen Verwandtschaft. Welche Rolle spielt er für die ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts?

Es gibt nicht viele Habsburger außer Kaiser Franz Joseph, die in der Ukraine bekannt sind. Es ist eine lang vergessene Geschichte. Nicht mal die schöne Sisi wird man heute in der Ukraine kennen. Erzherzog Wilhelm aber ist eine Ausnahme. Er hat sogar einen ukrainischen Namen: Wasyl Wyschywanyj, was so viel wie „der Bestickte“ heißt und sich auf ein traditionell besticktes ukrainisches Hemd bezieht, einer Art von Tracht, die immer noch sehr populär ist.
Natürlich war Wilhelms Geschichte zur sowjetischen Zeit aus den Geschichtsbüchern völlig ausradiert. Erst in den 1990ern, als die Ukraine nach dem Zerfall der UdSSR unabhängig wurde, erfuhr man vom ihn und von den Plänen ukrainischer Politiker nach dem ersten Weltkrieg, ihn zum König der Ukraine zu machen. Die Ukraine hatte damals gute Chancen, einen unabhängigen Staat zu bilden. Und für eine kurze Zeit kam es sogar dazu. Dann aber wurde das Land – wie schon so oft in den Jahrhunderten davor – zwischen Russland und Polen geteilt. Eine romantische Vision der Westukrainischen Republik unter Führung der Habsburger klang auch in den 1990ern für viele recht attraktiv. Es gab sogar Gerüchte, dass Wasyl Wyschywanyj nicht gestorben war, sondern immer noch lebte. Man wollte ihn in Sibirien gesehen haben, unter anderen sowjetischen Dissidenten, und dann wieder zur Zeit der Unabhängigkeit in Lwiw (Lemberg).
Diese Gerüchte habe ich zum ersten Mal in meiner ersten Zeit als Studentin der ukrainischen Philologie gehört, als ich zu den ersten Student*innen gehörte, die ukrainische Geschichte nicht mehr nach dem sowjetischen Lehrplan gelernt hatten, sondern ganz anders. Danach gab es immer wieder Bücher über Wilhelm. Eines der besten Sachbücher über ihn hat ohne Zweifel Timothy Snyder geschrieben: „The Red Prince“ (dt. Übersetzung: „Der König der Ukraine“). Und so kam ich auf die Idee, Erzherzog Wilhelm tatsächlich im sowjetischen Lwiw weiterleben zu lassen

Wilhelm spielt eine besondere Rolle in der Beziehung der Ukraine mit Österreich. Aber auch über ihn hinaus wird diese Verbindung lebendig und zeigt sich in vielen deiner Figuren und Schauplätze. Was sind deine Lieblingsspuren dieser gemeinsamen, dieser europäischen Geschichte?

Nicht weit von meiner Wohnung in Lwiw gibt es einen Wyschywanyj-Platz. Es ist ein winziges Viereck mit einem Kinderspielplatz und einigen Bänken. Meine Kinder gehen täglich über diesen Platz in die Schule, wo sie einen verstärkten Deutschunterricht haben und samt Abitur auch die Prüfung für das deutsche Sprachdiplom ablegen müssen. Es gibt nur zwei solche Schulen in Lwiw, und bald werden sie keine Sprachdiplomprüfung mehr ablegen können, denn das System wird abgeschafft. Der Platz aber bleibt, hoffe ich, wobei es außer diesem Platz kaum Andenken an Wilhelm in der Ukraine gibt. Es gibt noch eine Wyschywanyj-Straße in Tscherniwzi (Czernowitz), und das war es auch schon.
In Wien wurde ich auch nicht fündig. Ich habe einmal vergebens eine Erinnerungstafel auf dem Haus gesucht, in dem er zuletzt in Wien lebte und das letzte Mal ausgegangen ist, bevor er auf der Straße vom sowjetischen Geheimdienst gekidnappt wurde, um für immer zu verschwinden. So viel zur gemeinsamen ukrainisch-österreichischen Geschichte und zu ihren Spuren in Lwiw, die in der sowjetischen Zeit fast völlig ausradiert wurden. Nur die Architektur hat teilweise überlebt. Sonst nicht viel.
Es blieb nur eine gewisse nostalgische Sehnsucht nach Franz Joseph und der k.u.k-Zeit. Diese Zeit blieb als eine Art goldene Ära in der Erinnerung der Ukrainer*innen. Galizien, die ärmste Provinz der Monarchie, war natürlich kein Vielvölkerparadies, wie es in der nostalgischen Version dargestellt wird. Aber die Zeit steht im Vergleich mit den Jahren des sowjetischen Terrors natürlich viel besser da. Man lernte mehrere Fremdsprachen und durfte überall in Europa studieren, was für junge Ukrainer*innen erst seit Kurzem wieder möglich ist und mit vielen Hindernissen verbunden ist. Man hatte bessere Verbindungen nach Europa als jetzt, Reisefreiheit, schöne Kaffeehäuser, schöne Häuser, man fühlte sich als Teil Europas. Das durfte man später Jahrzehnte lang nicht mehr. Selbst heute fühlt man sich in der Ukraine nicht so.

Den Geschichtsbüchern zufolge geht Erzherzog Wilhelms Leben 1948 zu Ende. Aber du lässt ihn in deinem Roman wiederauferstehen. Mit dem Leben eines reichen Aristokraten hat sein Dasein anschließend aber nichts mehr gemeinsam. Gewinnt Wilhelm damit auch ein Stück Autonomie?

Lwiw:Lemberg im Westen der Ukraine

Lwiw/Lemberg im Westen der Ukraine war knapp 150 Jahre lang bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das multiethnische Zentrum des Habsburger Königreichs Galizien und Lodomerien.

Dieses Buch war für mich ein Versuch mir vorzustellen, wie z. B. das Leben meiner Großeltern aussehen könnte, wenn diese alte Welt immer noch existieren würde, unzerstört vom sowjetischen Totalitarismus. Die Hauptfiguren dieses Buches würden in der sowjetischen Realität zugrunde gehen, selbst wenn sie den Krieg überlebt hätten. Sie würden nicht in dieser Realität überleben können, rein psychisch nicht. Aber dafür ist die Literatur da: Sie erlaubt es, das Unmögliche zu beschreiben und zu genießen. Wilhelms Leben in meinem Roman ist seinem Leben in meiner Fantasie ähnlicher als seinem Leben in der Realität. Ihn in einer sowjetischen Umgebung zu zeigen, würde seine Persönlichkeit um eine Dimension erweitern. Ich habe mir Wilhelm als sehr anpassungsfähig an das neue System vorgestellt. Der Roman ist für mich wie eine virtuelle Realität, eine Erweiterung der Realität.

Natalka Sniadanko kennt in Lwiw jede Ecke und hat ein Herz für exzentrische Figuren. Als Autorin spielt sie gerne Zeitmaschine und mixt historische Fakten und literarische Fiktion kräftig durch, um uns Geschichte mal ganz anders erleben zu lassen. Foto: Kateryna Slipchenko

Als junger Mann treibt sich Wilhelm in Hafenkneipen rum, lässt sich tätowieren, in der Zwischenkriegszeit lässt er sich von seiner reichen Verwandtschaft ein ausschweifendes Leben im verruchten Paris finanzieren, er verbringt Jahre als Spion im Untergrund. Seine Enkelin Halyna erlebt eine im Vergleich mit Wilhelm sicherere Jugend- und Erwachsenenzeit. Als ihr Sohn zur Welt kommt, passiert aber etwas: Anders als beim Lebemann Wilhelm ist Halynas Dasein nun geprägt von dieser einen Erwartung an sie – die perfekte Mutter zu sein. Woher kommt diese Ungleichheit in Freiheit und Unabhängigkeit der beiden?

Die Ukraine von heute ist ein tief patriarchaler Staat und Halyna fühlt sich als Frau dementsprechend diskriminiert. Alle ihre Erwartungen und Pläne muss sie zurückstecken, weil die Gesellschaft von ihr nur eine, ihre „Hauptrolle“ erwartet – die Mutterrolle. Und diese Erwartungen hat sie schon als Kind verinnerlicht, sie versucht nicht mal, dagegen zu kämpfen, sie leidet nur darunter.

Die sowjetische Version einer unabhängigen Frau lautete: Die Frauen dürfen berufstätig sein, denn es macht sie unabhängig. Aber sie dürfen ihre Familie nicht „vernachlässigen“, was im Alltag eine doppelte oder sogar dreifache Belastung bedeutet – nach der Arbeit muss die Frau noch die gesamte Hausarbeit leisten und sich um die Kinder und ihren Mann kümmern.

Halyna ist nicht berufstätig, was ihr teilweise den Alltag entlastet, sie ist aber auch nicht frei und nicht glücklich in ihrer Rolle. Man kann sie natürlich schwer mit Wilhelm vergleichen. Trotz Halynas Zeitvorsprung hat Wilhelm als Mann und Aristokrat viel mehr Freiheiten, aber auch nicht alle. Sein Wunsch, sich die ukrainische Identität anzueignen, wurde nicht akzeptiert. Er wurde deshalb aus der Familie ausgeschlossen. Auch seine Lebensweise wurde nicht geduldet. Das zeigt nur, wie langwierig und schwer der Weg zur individuellen Befreiung ist. Aus Sicht der anderen ukrainischen Frauen ist Halyna privilegiert: Als Hausfrau, die zumindest kein Geld verdienen muss, ist sie von einem wesentlichen Teil der ihr auferlegten Pflichten befreit. Genauso ist Wilhelm privilegiert und wird dafür beneidet. Beide aber leiden unter dem Mangel an persönlichen Freiheiten und ihrem Recht auf Selbstverwirklichung.

 

Bist du jetzt neugierig geworden auf diesen Generationenroman über (persönliche) Unabhängigkeit und über eine aus heutiger Sicht überraschend gemeinsame, europäische Geschichte? Hier findest du mehr Informationen zum Roman, in der Persönlichkeiten die Hauptrolle spielen, die aus der Reihe tanzen: in einem Reigen aus Lwiw und Wien, aus Habsburger Monarchie, Sowjetunion und 21. Jahrhundert.

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?

Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Natalka Sniadanko haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Maria Matios, Oleksij Tschupa, Kateryna Babkina, Jurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!

Die österreichische Demokratie ist nicht demokratisch genug – Beatrice Frasl über Frauen in Machtpositionen

Über 100 Jahre sind vergangen, seit Frauen in Österreich zum ersten Mal wählen durften. Wie schaut es heute aus mit der politischen Repräsentation im Nationalrat und den Gemeindeämtern? Was hat sich wirklich getan? Und welchen Weg haben wir noch vor uns? – Beatrice Frasl setzt sich in ihrem Beitrag mit den Baustellen der österreichischen Demokratie auseinander, stellt inspirierende Frauen vor und zeigt, warum Quoten keine kosmetische Beschönigung, sondern ein wichtiges Instrument zur demokratischen Qualitätssteigerung sind.

Quoten für Qualität

Anna Boschek, Hildegard Burjan, Emmy Freundlich, Adelheid Popp, Gabriele Proft, Therese Schlesinger, Amalie Seidel und Maria Tusch. Das sind die Namen der acht Frauen, die als erste Frauen überhaupt 1919 in den österreichischen Nationalrat einzogen. Mit dem passiven Wahlrecht für Frauen, dessen Jubiläum wir 2019 feierten, kam nämlich auch das aktive – Frauen durften von nun an wählen und gewählt werden. So fanden sich also unter den 170 Abgeordneten zur konstituierenden Nationalversammlung 1919 erstmals auch acht Nationalrätinnen: eine Vertreterin der Christlichsozialen Partei (der Vorgängerpartei der heutigen ÖVP) und sieben der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (der Vorgängerpartei der heutigen SPÖ). Mit den Frauen zogen auch neue Perspektiven und Forderungen ins Parlament.

Es ist keineswegs irrelevant, wer die Interessen der Bevölkerung im Nationalrat vertritt, denn: Frauen und Männer finden auch in Österreich und auch im Jahr 2021 oft weitgehend unterschiedliche Lebensrealitäten vor, das zeigt die Corona-Krise eindrücklich. Frauen arbeiten mehr als Männer und werden dafür im Falle von Haushalts- und Kindererziehungsarbeit nicht bezahlt, im Falle von Erwerbsarbeit signifikant schlechter als Männer. Sie haben aufgrund dieser Mehrfachbelastung weniger Freizeit und Erholungszeit, bekommen 40% weniger Pension, sind öfter von Armut im Allgemeinen und Altersarmut im Besonderen betroffen. Sie werden, anders als Männer, nach einengenden und psychisch belastenden Schönheitsnormen bewertet, werden objektifiziert und sind öfter von Gewalt zuhause oder sexueller und sexualisierter Gewalt betroffen als Männer. Sie haben im Berufsleben schlechtere Aufstiegschancen, arbeiten öfter in prekären Beschäftigungsverhältnissen und erkranken, auch als Folge der Summe all jener Umstände, doppelt so häufig an Depressionen.
Der immer noch geringe Anteil an Frauen im Parlament bedeutet also auch: Diese Lebensrealitäten werden nicht ausreichend abgebildet. Interessen und Bedürfnisse, die Frauen aufgrund ihrer spezifischen Lebenssituation mitbringen, werden nicht annähernd ausreichend vertreten. Von den 183 Abgeordneten des Nationalrats sind derzeit lediglich 73 Frauen – das sind 39,89%. Die schlechteste Geschlechterquote hat die FPÖ mit 16,67%, die beste die Grünen mit 57,69%.
Frauen sind also im österreichischen Parlament nicht annähernd ausreichend repräsentiert; das wären sie mit einem Abgeordnetenanteil von 50,8% – das ist der prozentuelle Anteil von Frauen an der österreichischen Bevölkerung.

Auch andere Gruppen sind denkbar schlecht vertreten: So finden sich unter den Abgeordneten nur 9 mit Migrationshintergrund – das sind 5%, während Menschen mit Migrationshintergrund 23% der österreichischen Bevölkerung darstellen. Klassen und Berufsgruppen sind ebenfalls sehr ungleich repräsentiert: Es gibt verhältnismäßig wenige Abgeordnete aus der Arbeiter_innenklasse, aber weit überdurchschnittlich viele Akademiker_innen und Bäuer_innen. Im österreichischen Nationalrat sitzen aktuell mehr Landwirt_innen (nämlich 14) als Menschen mit Migrationshintergrund (nämlich 9).

Beatrice Frasl ist Kulturwissenschafterin mit Fokus auf Geschlechterforschung, Podcasterin (Große Töchter), Universitätslehrende und Kolumnistin. Sie forscht und schreibt und lehrt zu feministischen und Gleichbehandlungsthemen und lebt und arbeitet in Wien. Foto: Michael Würmer

Repräsentation ist keineswegs eine ausschließlich kosmetische Frage

Wissenschaftliche Studien belegen, dass Frauen eher von im Parlament beschlossenen Gesetzen profitieren, wenn Frauen auch maßgeblich an diesen Gesetzen mitarbeiten und mitentscheiden. Wenn Frauen und Marginalisierte nicht gleichberechtigt an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben, gehen wichtige Perspektiven verloren. Perspektiven, die die beschlossenen Gesetze erst zu guten (weil umsichtigen) machen. Wir lassen uns also viele Ideen und Innovationen entgehen, die sich aus marginalisierten Perspektiven ergeben. Ideen, die gesamtgesellschaftlich von großem Nutzen sein könnten.

Das zeigen auch die ersten acht Frauen, die in den Nationalrat einzogen. Sie machten tatsächlich andere Politik als die Männer vor ihnen – und schrieben damit Geschichte. Die Christlichsoziale Hildegard Burjan forderte beispielsweise bereits 1917 gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Adelheid Popp wurde 1895 wegen ihrer Kritik an der traditionellen Ehe zu einer Arreststrafe verurteilt. Auch im Parlament war sie mit ihren Forderungen ihrer Zeit (und ihrer Partei) voraus:

Schon 1896 forderte sie eine Quotenregelung, Karenzzeiten für Mütter und Gleichstellung von Frauen sowohl im Beruf als auch in der Ehe – und stieß dabei auf großen Widerstand der männlichen Parteispitze. Therese Schlesinger machte sich innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterpartei ähnlich unbeliebt, denn sie forderte gleichen Lohn für gleiche Arbeit, gleiche politische Rechte für beide Geschlechter, Arbeitszeitverkürzung für Mütter und eine staatliche Mutterschaftsversicherung. Zudem kämpfte sie, gemeinsam mit Maria Tusch, für die Straffreiheit der Abtreibung. Die Sozialdemokratin Anna Boschek setzte sich unter anderem für den Achtstundenarbeitstag und für das Nachtarbeitsverbot für Frauen ein. Auch ihre parlamentarische Mitarbeiterin, Käthe Leichter, war keine Unbekannte. Das Hausgehilfinnengesetz, an dem die beiden federführend beteiligt waren, war das erste von weiblichen Abgeordneten geschriebene und eingebrachte Gesetz und verbesserte die Situation von Hausangestellten maßgeblich. Ohne Frauen im Parlament wäre dieses Gesetz vermutlich nicht geschrieben worden.

Ich würde diese sehr langsame Fortschrittserzählung an der Stelle gerne weiterschreiben. Allerdings: Boschek, Burjan, Freundlich, Popp, Proft, Schlesinger, Seidel und Tusch wären vermutlich enttäuscht und schockiert, wenn sie wüssten, dass Österreich 2021 noch nie eine gewählte Bundeskanzlerin gesehen hat, wenngleich Brigitte Bierlein von Juni 2019 bis zum Januar 2020 vom Bundespräsidenten als Übergangskanzlerin bestellt wurde. Frauen, so scheint es, werden in Österreich lieber für provisorische Ämter einberufen als mit bleibender Macht in bleibenden Ämtern ausgestattet. Auch gab es noch nie eine Bundespräsidentin.
Um dieses Missverhältnis zu illustrieren: 50,8% der Bevölkerung Österreichs war im Jahr 2020 laut Statistik Austria weiblich. 100% aller Bundespräsidenten waren bislang Männer. Ebenso 100% aller gewählten Bundeskanzler. Das generische Maskulinum ist an der Stelle ausnahmsweise eine Tatsachenbeschreibung. Übrigens: Es gab auch noch nie einen Bundeskanzler oder einen Bundespräsidenten mit Migrationshintergrund.

Damit Frauen gleichberechtigt an politischen Entscheidungsfindungsprozessen teilnehmen können, müssen sich die Umstände ändern. Aufgrund der ungleichen Verteilung von Arbeit, vor allem unbezahlter Arbeit, zuungunsten von Frauen und der Tatsache, dass sie immer noch die Mehrheit der Reproduktionsarbeit, Haushaltsarbeit, Kindererziehung und Angehörigenpflege übernehmen, bleibt wenig Zeit für alles andere – auch, um sich politisch zu engagieren. Dies zeigt sich vor allem auf lokalpolitischer Ebene: Nur 9,4% der Bürgermeister_innen in Österreich sind Frauen, oder andersrum gerechnet, 90,6% der Bürgermeister_innen sind Männer. Zudem wird Männern nach wie vor eher Führungsqualität und Expertise zugeschrieben als Frauen (weswegen sie für geeigneter für politische Ämter gehalten werden).

Das ist nicht „nur“ ein frauenpolitisches Problem. Das ist vor allem auch ein demokratiepolitisches Problem. Eine Quotenregelung könnte insofern Abhilfe schaffen, als man so das Versprechen der repräsentativen Demokratie auch wirklich ernst nimmt: jenes Versprechen nämlich, die Wahlbevölkerung auch tatsächlich zu repräsentieren. Die Forderung nach Quoten auf allen politischen Ebenen ist also nicht nur eine frauenpolitische, sondern eine demokratiepolitische.
Auch das Frauenvolksbegehren 2.0 forderte eine Quotenregelung, und damit die Hälfte aller Plätze auf Wahllisten, in Vertretungskörpern, auf Gemeinde-, Landes-, und Bundesebene für Frauen, sowie wirksame Sanktionen bei Nichterfüllung der Quote.
Quoten können nicht nur den Zugang zu Entscheidungsmacht demokratisieren und zu einer gerechteren Repräsentation führen – sie sind auch ein Mittel zur Qualitätssteigerung. Der österreichische Nationalrat und die Regierungsämter haben die besten Köpfe verdient – nicht nur jene, die weiß, autochthon österreichisch, männlich und überdurchschnittlich gut vernetzt sind.

Auch drei Jahre nach dem Frauenvolksbegehren bleiben diese Forderungen unerfüllt. Auch 102 Jahre nach dem Einzug von Boschek, Burjan, Freundlich, Popp, Proft, Schlesinger, Seidel und Tusch in den Österreichischen Nationalrat ist das Thema der Repräsentanz von Frauen und ihrer gerechten Ausstattung mit Entscheidungsmacht also nicht vom Tisch.
Es hat hundert Jahre gedauert bis Österreich seine erste (nicht gewählte) Bundeskanzlerin bekam. Weitere hundert Jahre bis zur ersten gewählten Bundeskanzlerin werden wir nicht vergehen lassen.

Ein Sticker stellt sich vor – Publikumsliebling Siegfried Seifferheld ergreift das Wort

Tatjana Kruse, auch bekannt als: ‚Die mit dem Gartenzwerg tanzt‘, hat rund um den stickenden Ex- Kommissar aus Schwäbisch Hall einen unvergleichlich komischen Kosmos geschaffen. Wir haben Siggi Seifferheld gebeten, sich selbst vorzustellen.

Die Meisterin der Krimödie herself: Tatjana Kruse versteht es wie keine zweite deutsche Autorin, Spannung und Lachtränen zu verquicken und in Buchform zu gießen. Foto: © Jürgen Weller

Mit Nadel und Faden gegen das Böse

Grüß Gott, mein Name ist Siegfried Seifferheld, aber nennen Sie mich ruhig Siggi, mit Förmlichkeiten hab ich’s nicht so. Ich bin Kommissar – na ja, Ex-Kommissar, seit mich bei einem Banküberfall eine Kugel in der Hüfte traf, die nicht herausoperiert werden konnte.

Jetzt führe ich meinen Hund Onis mit der Gehhilfe Gassi. Aber man kann nicht einfach von 100 auf 0 zurückfahren, wenn man vierzig Jahre lang gegen das Böse gekämpft hat. Also zuckt meine Ermittlernase auch weiterhin, wenn in Schwäbisch Hall, wo ich wohne, ein Kapitalverbrechen geschieht. Was zugegebenermaßen nicht oft vorkommt, weshalb ich in meiner Freizeit angefangen habe zu sticken. Sticken, ohne r. Wie in Sinnsprüche-auf-Kissenbezüge-Sticken. Anfangs habe ich das noch heimlich getan, weil da, wo ich herkomme, gilt das Sticken immer noch als Frauensache. Mittlerweile habe ich aber sogar meine eigene, interaktive Radiosendung „Sticken für Männer – echte Kerle sticken ohne Fingerhut“.

Einmal Schnüffler, immer Schnüffler

Meine Leidenschaft gehört immer noch dem Aufklären von Straftaten, kurzum: dem Schnüffeln. Auch wenn die Frauen in meinem Leben mir das ausreden wollen – ich sei zu alt und nicht mehr fit genug. Aber man ist nie zu alt für das, was man mit Herzblut macht. Das binde ich meiner Frau Marianne (taff), meiner Tochter Susanne (auch taff, Managerin bei der Bausparkasse Schwäbisch Hall) und meiner Schwester Irmi (noch viel tafferer, Spitzname: die Admiralin) dann natürlich nicht auf die Nase. Meistens, wenn ich die Fährte eines Verbrechers aufnehmen will, erzähle ich ihnen, ich würde mit den Jungs von der Männerkochkursgruppe der Volkshochschule grillen. Oder etwas in der Art. Unglücklicherweise kommen sie mir immer auf die Schliche. Denn ich bin zwar ein alter Hase, aber manchmal glaube ich, das Hobby der Schicksalsgöttinnen ist es, mir Knüppel zwischen die Beine zu werfen …

In „Stick oder stirb!“ will Seifferheld den Insassen der Justizvollzugsanstalt Schwäbisch Hall das Sticken beibringen, gerät indes aber mitten in den Erbfolgekrieg einer russischen Mafiafamilie und wird bei einer spektakulären Flucht als Geisel genommen. Diesmal geht es nicht nur darum, einen Fall zu lösen, dieses Mal geht es um sein Leben!

Schrullig, liebenswert, Seifferheld: Zum bereits siebten Mal ist Siggi Seifferhelds Spürnase gefragt, um in Baden-Württemberg wieder Recht und Ordnung zu installieren. Das Must-have für alle Freund*innen der Krimikömodie!

 

Der Club der toten Sticker“ fällt ein Männerstickkränzchenmitglied nach dem anderen tot um, gemeuchelt mit einer Präzisionsschleuder. Wer tut sowas? Ein Stricker mit rrr, also einer aus dem gegnerischen Lager? Oder ein Traditionalist, der es nicht erträgt, wenn Männer diese ehemalige Frauen-Domäne für sich erobern? Und wird er erst aufhören, wenn auch Siggi Seifferheld, der prominenteste unter den Männer-Stickern, tot ist? Oder ist Siggi selbst größenwahnsinnig geworden und will die Konkurrenz ausschalten?
Von Letzterem gehen leider die Ex-Kollegen von der Mordkommission aus, weil: Alle Indizien sprechen gegen Siggi. Herrje! Da muss er den Täter wohl wieder einmal selbst aufspüren …

 

„Das Akzeptieren der Endlichkeit unseres Lebens gibt uns jeden Tag von Neuem die Chance, unser Leben bewusst und hoffnungsvoll zu gestalten.“ – Ein Gespräch mit der Vorsitzenden der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft Marina Baldauf

Nichts im Leben ist so sicher wie der Tod. – Uns mit dieser Tatsache nicht auseinanderzusetzen, uns vom Altern und von Krankheit möglichst fernzuhalten, darin sind wir Menschen sehr geschickt. Aber was, wenn wir uns nicht mehr davor drücken können? Weil eine*r unserer Liebsten betroffen ist oder gar wir selbst? Die Konfrontation mit unserer Endlichkeit schmerzt. Dennoch kann eine offene Auseinandersetzung lohnend sein – bereichernd, sogar beglückend! Klingt auf den ersten Blick seltsam. Aber der Einblick, den uns Marina Baldauf in ihre Erfahrungswelt im Hospiz gibt, zeigt: Dort, wo der Tod allgegenwärtig ist, offenbart das Leben seine intensivsten und menschlichsten Momente. Nina Gruber hat sich mit der Vorsitzenden der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft über den Alltag im Hospiz, über Abschied und das Schöne im Traurigen unterhalten.

Als Außenstehende haben wir oft keine richtige Vorstellung davon, was ein Hospiz oder eine Hospiz-Betreuung eigentlich genau sind. Welche Idee steckt dahinter?

„Nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben geben.“ – Das ist das Motto der Hospizbewegung. Hospize nannte man im Mittelalter jene Herbergen, die den Pilgern auf ihrer Reise Unterkunft, Rast und Pflege boten. Das hat auch heute noch Gültigkeit. Seit fast 30 Jahren ist die Tiroler Hospiz-Gemeinschaft bemüht, Menschen mit einer fortgeschrittenen Erkrankung sowie deren Angehörige zu begleiten. Auch wenn eine Heilung der Krankheit nicht mehr möglich ist, kann viel getan werden, um die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien zu erhalten und zu verbessern.

Wie läuft eine Betreuung ab? Ist sie immer an einen bestimmen Ort, eine Station oder ein Heim gebunden? Welche Menschen arbeiten mit?

Ein multiprofessionelles Team von diplomierten Pflegekräften, Ärzt*innen, Seelsorger*innen und Sozialarbeiter*innen unterstützt zu Hause, in Heimen, auf unserer Palliativstation und im Tageshospiz schwer kranke Menschen und deren Angehörige. Dazu braucht es viel fachliche Kompetenz und eine menschliche, hospizliche Haltung, um in vielen Gesprächen und im täglichen Ablauf auf die verschiedenen Wünsche und Bedürfnisse eingehen zu können. Um mit Fürsorge und Achtsamkeit Menschen auf ihrer „letzten großen Reise“ beizustehen, sind auch viele ehrenamtliche Hospizteams in ganz Tirol tätig. Sie schenken Zeit und Zuwendung und tragen wesentlich zu einer Hospizkultur bei. In Zeiten der Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen versuchen wir beratend zu helfen. Das erforderliche Fachwissen und viel Information bieten wir über unsere Bildungsakademie an. All unsere Angebote finden sich unter dem Dach unseres Hospiz-Hauses in Hall.

In einem Hospiz kommen die unterschiedlichsten Menschen zusammen, sie eint das Bewusstsein des bevorstehenden Todes. Welche Art des Zusammenlebens findet dort statt? Viele Menschen haben, wenn sie an ein Hospiz denken, das Bild eines traurigen, stummen Ortes vor sich. Ist das wirklich so?

Um die Kraft zu haben, sich jeden Tag auf das Leiden, die Hinfälligkeit und die eigene Endlichkeit des Lebens einzulassen, brauchen unsere Mitarbeiter*innen viel tägliche Kommunikation, Informationsaustausch und gelebte Rituale. Und der Humor kommt bei uns nicht zu kurz. In unserem Hospiz-Cafe, und auch mit unseren Gästen finden oft berührende, fröhliche Gespräche statt über Erlebtes und vergangene Zeiten. Unser Haus ist ein Ort der Lebendigkeit und der Begegnung auch in Zeiten des Abschieds.
Eine Sozialarbeiterin hat uns einmal diese schöne Geschichte erzählt: „Als Frau A. zu uns auf die Hospiz- und Palliativstation kam, war sie in großer Not. Schmerzen plagten sie und beeinträchtigten ihre Lebensqualität. Sie war Zeit ihres Lebens eine Kämpferin gewesen. Sie war eine kluge, faszinierende Persönlichkeit. Charakterstark, aber unaufdringlich nahm sie bei uns ihren Platz ein und stellte sich den neuen Herausforderungen. – Dass sie bald sterben würde, hatte sie schon lange erkannt. Als sie uns von ihrem Garten erzählte, reifte in uns der Plan, ihn zusammen mit Frau A. zu besuchen. An einem strahlend schönen Nachmittag fuhr sie im Kreise ihrer Familie in ihren Wohnort, um ein paar Mitarbeiter*innen der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft in ihrem Garten zu empfangen. Wir bestaunten den Magnolienbaum und die knorrigen Apfelbäume – angestrahlt von Frau A. wurde uns bewusst, wie schön das Leben sein kann. Fasziniert erlebten wir mit, wie sie im Garten, umgeben von ihren Lieben, noch einmal so richtig aufblühte. – Vier Wochen später starb Frau A. Was blieb, ist eine kostbare Erinnerung.“

Der Tod bzw. die Auseinandersetzung damit steht in einem Hospiz an der Tagesordnung. Ganz anders als im Alltag, wo wir uns meist vor einem bewussten Umgang mit dem Tod und dem Sterben drücken. Oft sprechen wir nur darüber, wenn wir beruflich oder persönlich davon betroffen sind. Welche Fragen trauen sich die Menschen – die Patient*innen, aber auch die Angehörigen – erst euch zu stellen?

Ich selbst habe meinen Mann in den letzten Lebensjahren betreut. Vor vier Jahren ist er verstorben. Dank der Erfahrungen, die ich in der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft sammeln durfte, hatten wir den Mut, uns auf den letzten gemeinsamen Lebensabschnitt bewusst einzulassen. Trotzdem war es nicht immer einfach. Kein Tag glich dem anderen und beide wussten wir nicht, wann der letzte große Abschied da sein würde. Wir wussten nur, dass er sich unaufhaltsam näherte. In der Auseinandersetzung mit dem Tod müssen wir lernen, uns gegenseitig immer wieder zuzumuten – gesund, alt, krank oder sterbend. Auf Hinfälligkeit und Kontrollverlust versuchen wir in der Hospiz-Gemeinschaft mit einem Angebot an Schutz und Geborgenheit zu antworten. Dass uneingeschränkte Autonomie am Lebensende schwer möglich ist, lässt sich auch an verschiedenen Fragen erkennen, die immer wieder ganz individuell gestellt werden:
Wer hilft mir bei Schmerzen und Angst?
Wer begleitet mich?
Wer hilft meinen Angehörigen in derartig einschneidenden, angstbesetzten Lebenssituationen?
Wie kann ich meine Würde bewahren?

Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Leben. Inwieweit hat das Engagement deine Sicht auf das Leben verändert? Gibt es vielleicht etwas, dass du uns an Anregung mitgeben möchtest?

Immer wieder braucht es das ganz persönliche Gespräch. Nicht wegzuschauen und eigene Grenzen und Unzulänglichkeiten anzuerkennen, benötigt Selbstreflexion, Einfühlungsvermögen und Menschlichkeit. Mir ist in den letzten Jahren bewusst geworden, dass diese Haltung nicht nur am Lebensende Gültigkeit hat, sondern uns täglich fordert. Eigene Ängste und Nöte, die uns immer wieder begleiten, lassen sich nicht verhindern. Aber das gemeinsame Ringen im Sinne einer gewissenhaften Hospiz- und Palliativbetreuung schweißt zusammen und ermöglicht oft im Leid unvorhersehbare und auch beglückende Lebenssituationen für alle. Das Akzeptieren der Endlichkeit unseres Lebens gibt uns jeden Tag von Neuem die Chance, unser Leben bewusst und hoffnungsvoll zu gestalten, auch in schwierigen Zeiten. Hilfe und Unterstützung anbieten und annehmen schafft Vertrauen und Nähe, auch wenn nicht immer alles möglich ist.

Im Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens kann es nur heißen: Feiere das Leben! Reite diese Welle mit all ihren schönen, traurigen, beglückenden, komplizierten, überraschenden Momenten. Nimm die Menschen um dich herum wahr, die Natur, sei offen für Neues, sei achtsam für deine Gefühle, schreib deine eigene Geschichte und lass dich von anderen inspirieren.

Marina Baldauf war am Aufbau der Tiroler Hospiz-Gemeinschaft beteiligt, hatte von 2001 bis 2011 den Vorsitz inne. Diese Funktion erfüllt sie seit 2019 wieder ehrenamtlich.

„Die Fälle werden nicht innerhalb einer Dreiviertelstunde gelöst“ – Gespräch mit Landeskriminalbeamtin Franziska Tkavc

Auch, wenn sie uns zuweilen schlaflose Nächte bescheren und uns nach Luft schnappen lassen: Wir lieben sie, die spannenden Fälle unserer Protagonist*innen. Doch wie realistisch ist eigentlich die Polizei- und Ermittlungsarbeit, in die uns Kriminalromane mitnehmen? Und was empfiehlt eine Kriminalbeamtin, damit wir uns im Alltag sicher fühlen können? Linda Müller hat sich mit Franziska Tkavc über ihre Arbeit unterhalten.

Franziska Tkavc beschäftigt sich im Landeskriminalamt Wien unter anderem mit Gewaltprävention und Frauensicherheit. (c) privat

Liebe Franziska, so einen Tag am Landeskriminalamt stelle ich mir sehr aufregend vor – entspricht das der Wirklichkeit? Wie kann man sich so einen klassischen Arbeitstag von dir vorstellen, falls es so einen überhaupt gibt?

Ach, der klassische Arbeitstag im LKA ist genauso geprägt von viel Administration und manchmal gefühlter „Eintönigkeit und Unaufgeregtheit“, wie in jedem anderen Job auch. Was für viele Außenstehende spannend ist, ist wie in jedem anderen Beruf auch, Routine. Natürlich lassen einen die menschlichen Schicksale nie emotional unberührt, nur sind sie für uns halt unser täglich Brot, wir müssen sie „abgeklärt“ betrachten, um gute Arbeit leisten zu können, und sind daran gewöhnt.

Gewaltprävention zum Beispiel ist ein breites Betätigungsfeld meinerseits, und im Zuge von Sicherheitsschulungen für Institutionen, die mit gewaltbereitem und aggressivem Klientel zu tun haben, muss ich mich immer wieder mit verschiedenen Situationen dieser Art auseinandersetzten – aber da ich mich regelmäßig damit beschäftige, bin ich darin routiniert.

Hast du viele Kolleginnen*, oder bist du eher von Kollegen* umgeben? Braucht man als Frau* beim LKA besonders viel Durchsetzungsvermögen?

In der Gruppe Kinderschutz wie auch in der Opferschutzgruppe sind sogar mehr Kolleginnen* tätig als Kollegen*. Generell hält sich aber die geschlechterspezifische Aufteilung in der gesamten Kriminalprävention so ziemlich die Waage. Und was das Durchsetzungsvermögen betrifft, so kommt es – wie überall anders ja auch – auf die eigene Persönlichkeit an

Eines der Spezialgebiete ist Sicherheit für Frauen*. Würdest du aufgrund deiner Erfahrung sagen, man muss sich vor dem Unbekannten in der Dunkelheit fürchten, oder lauern die Gefahren ganz woanders?

Jede Frau* (wie aber auch jeder Mann*) hat ein individuell empfundenes Sicherheitsgefühl. Dadurch machen uns verschiedene Dinge/Situationen/Menschen/Umgebungen unterschiedlich unangenehme Gefühle, bis hin zur Angst. Natürlich ist die Angst vor dem „Fremden“ oftmals erheblich größer als vor der unmittelbaren Umgebung. Was sehr trügerisch sein kann, da es gerade auch in unserem näheren Umfeld oder in unserem Privatbereich zu gefährlichen Situationen/Unsicherheiten kommen kann. Nur nimmt man es leider oftmals viel zu spät wahr oder ist man sich dessen nicht so bewusst.

Kriminalprävention ist ein wichtiger Bestandteil deines Arbeitsfeldes. Wenn du unseren Leser*innen einen Tipp geben könntest, wie sie sich im Alltag vor gefährlichen Situationen schützen können, welcher wäre das?

  • Aufmerksam sein!
  • Auf sich und sein eigenes Bauchgefühl vertrauen, es nicht als „mimosenhaft“, „überempfindlich“ oder gar „unmännlich“ abtun. Dieser natürliche Instinkt ist aufgrund von verschiedenen Einflüssen im Laufe der Jahrhunderte immer weiter degeneriert, früher jedoch hat er unseren Vorfahren das evolutionsbedingte Überleben gesichert …
  • Sich mit sich selbst gut auseinandersetzen und dadurch präventive Voraussetzungen schaffen. Dies kann ganz profan sein: zum Beispiel eine Situation, die eigenen Möglichkeiten nur einmal gedanklich durchgehen (wie würde ich agieren, was könnte ich da tun); den Platz in der U-Bahn anders wählen; auf die eigene Körperhaltung, das „richtige“ Tragen der Handtasche etc. achten; im Freundeskreis lernen, NEIN zu sagen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben …

Du kommst zwangsläufig mit Gewaltverbrechen in Kontakt und hast sicherlich schon viel Furchtbares gesehen. Würdest du sagen, das hat dich privat vorsichtiger gemacht, weil du weißt, was passieren kann?

Vorsichtiger vielleicht nicht. Ich würde eher sagen, bewusster.

Kannst du uns verraten, was sich an der Polizeiarbeit in Kriminalromanen und der echten am meisten unterscheidet?

  • Die Fälle werden nicht innerhalb einer Dreiviertelstunde gelöst.
  • Das berühmte und oft zitierte Massenspektrometer bietet nicht auf alle technischen Fragen die ultimative Antwort.
  • Anders als die Protagonist*innen in einem Kriminalromanen erledigen die ermittelnden Beamt*innen nicht nebenbei auf eigene Faust Wohnungsöffnungen oder entschärfen Bomben (dafür gibt es Sonderkommandos bzw. den Assistenzbereich).

Auch wenn es noch so vergnüglich sein kann, einem literarischen Verbrechen nachzuspüren: In der Realität können die Ratschläge von Franziska extrem hilfreich sein, um unangenehme Situationen zu vermeiden. Also: Nicht fürchten, aber aufmerksam sein, sich selbst präventiv auf angsteinflößende Situationen vorbereiten, möglicherweise Vorkehrungen treffen, zum Beispiel einen Taschenalarm einstecken oder einen Selbstverteidigungskurs besuchen. Damit gefährliche Momente dort bleiben, wo einem maximal Schlafmangel wegen durchlesener Nächte passieren kann: zwischen schön gestalteten Buchdeckeln!

„Mein Bauch gehört mir!“ – Ist das so? Selbstbestimmung auf dem Prüfstand.

Im Leben eines jeden Menschen werden Kinderwunsch (oder eben keiner) und Schwangerschaft irgendwann einmal Thema. Ob als hypothetische Frage an sich selbst bei einem verspäteten Eintreten der Regelblutung, als Frage zur Familienplanung in einer Partner*innenschaft, als gesellschaftliche Erwartung von außen an uns herangetragen – oder als ganz konkrete Situation: als positiver Schwangerschaftstest. Für einige wird ein positiver Test die Erfüllung eines langgehegten Traumes sein. Für andere hingegen ein großer Schock. Ob als Frau, weiblich gelesene Person oder Partner*in. Jede*r wird für sich abwägen: Wie geht es mir damit? Wie geht es uns damit? Können wir einem (weiteren) Kind ein gutes Leben bieten? Und: Möchten wir das überhaupt, schwanger sein und ein Kind bekommen? Wenn wir uns dagegen entscheiden: Wie lange ist ein Schwangerschaftsabbruch möglich? Wo kann ich ihn vornehmen lassen und wo finde ich Unterstützung? Nina Gruber hat mit Dr.in Bettina Zehetner von der Beratungsstelle Frauen* beraten Frauen* und mit der Klinischen Psychologin und Gesundheitspsychologin Mag.a Petra Schweiger darüber gesprochen, welchen Zugang Frauen zu Schwangerschaftsabbrüchen haben und vor welchen Herausforderungen sie stehen, haben sie sich einmal für einen Abbruch entschieden.

Dr.in Bettina Zehetner ist Philosophin und Lehrbeauftragte an der Universität Wien, wo sie u. a. zu feministischen Themen mit Schwerpunkt auf psychosozialer Beratung lehrt, forscht und publiziert. Seit 2003 ist sie außerdem in der Konzeption und Leitung von Seminaren, Workshops und Trainings für den psychosozialen Beratungsbereich tätig. Sie berät Frauen in Krisensituationen, u. a. in der Beratungsstelle der Wiener Frauenhäuser und bei Frauen* beraten Frauen*. Für ihre Arbeit und ihr Engagement wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem C&A-Inspiring-Women-Award (2017/2018) und dem Preis der Dr.-Maria-Schaumayer-Stiftung (2011). (Foto: Stockhammer)

Liebe Bettina, an euren Verein wenden sich immer wieder Ratsuchende zum Thema Schwangerschaftskonflikt. Oft sind Initiativen wie eure die erste Anlaufstelle außerhalb des Familien- und Freundschaftskreises sowie der Partner*innenschaft der Frauen, wenn Unsicherheit darin besteht, wie mit der Schwangerschaft umgegangen werden soll. Mit welchen Fragen und Sorgen wenden sich die Frauen an euch?

Die Fragen und Sorgen der Ratsuchenden, die sich im Zusammenhang mit dem Thema Schwangerschaftskonflikt an uns wenden, sind vor allem folgende: Entscheidungskonflikt – das Kind bekommen oder einen Abbruch durchführen lassen? Potenzielle Schuldgefühle beim Gedanken an einen Abbruch: die Angst, nicht damit leben zu können, immer daran denken zu müssen, ein Leben beendet zu haben. Sehr religiös sozialisierte Frauen dürfen sich oft gar nicht den Gedanken an diese Option zugestehen. Gleichzeitig Sorgen und Ängste, das Leben mit Kind nicht gut zu bewältigen, ihm kein gutes Leben bieten zu können, keine ausreichenden finanziellen Mittel zu haben. Angst, die eigene Freiheit aufgeben zu müssen, den Berufseinstieg oder die eigene berufliche Laufbahn abbrechen zu müssen, die nächsten Jahre keinen Tag frei zu haben, keine Nacht durchschlafen zu können.
Auch die rechtliche Situation mit dem Kindesvater ist oft ein schmerzhaftes Thema: Manche der potenziellen Väter wollen die Frauen zur Abtreibung überreden oder zwingen. Sie drohen entweder mit völligem Kontaktabbruch und damit, keine Alimente zu zahlen oder das Sorgerecht für das Kind zu erstreiten und der Mutter das Leben schwer zu machen.

Wenn schon vor und während der Schwangerschaft das Kontrollverhalten des Kindesvaters ein Problem ist, wird dieses mit einem Kind noch quälender, oft aufgrund der schlechten finanziellen Situation bzw. Abhängigkeit der Frau oder aufgrund von destruktiven Machtdemonstrationen bezüglich Kontaktrecht nach einer Trennung.
Viele Frauen sind auch schwer enttäuscht über die fehlende Bereitschaft der potenziellen Väter zur partnerschaftlichen Teilung der Sorgearbeit, etwa wenn er das Gespräch darüber völlig verweigert („Das wird sich dann schon ergeben.“) oder deutlich macht, dass er „sicher nicht“ in Karenz gehen, Teilzeit arbeiten oder regelmäßig die Betreuung übernehmen wird, um die Mutter zu entlasten.

Die Frage danach, ob man ein Kind austrägt oder die Schwangerschaft abbricht, ist also in einen größeren Zusammenhang gebettet, der auch die Frage einer gleichberechtigten Partner*innenschaft betrifft. Spiegelt sich dieses Gefühl des Alleingelassen-Seins bei der Schwangerschaft und der Kinderbetreuung auch in der Abwicklung eines Schwangerschaftsabbruchs wieder? Gibt es eine Form der psychologischen Nachbetreuung für Frauen, die in einem Konflikt mit sich standen, aber schlussendlich einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen haben lassen?

Ja, dieses Gefühl des Unterstützt-Werdens bzw. Alleingelassen-Seins spiegelt sich auch im Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch wider. Frauen, die auf die Unterstützung durch ihre*n Partner*in zählen können, fällt die Verarbeitung meiner Erfahrung nach deutlich leichter. Die Entscheidung und die Trauer – auch die Erleichterung – gemeinsam zu tragen, hilft sehr beim guten Verabschieden-Können dieser Lebensmöglichkeit. Umgekehrt kann fehlende Unterstützung die Verarbeitung und den Trauerprozess erschweren. Fehlende gemeinsame Trauerarbeit führt oft zu Trennungen.
Wir bestärken die Ratsuchenden, sich auch nach einem erfolgten Abbruch wieder zu melden, und stehen gerne für die Nachbetreuung, Reflexion, Trauerarbeit und alles, was damit zusammenhängt, zur Verfügung. Ebenso wie für die partner*innenschaftliche Aufteilung der Sorgearbeit, wenn die Frau sich für das Kind entschieden hat – Stichwort mental load.

Liebe Petra, wohl jede Frau hat sich in ihrem Leben – rein hypothetisch oder ganz konkret – mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch schon einmal auseinandergesetzt. Große Fragen tun sich da auf, wie etwa ab wann man das, was da im Bauch wächst, „Leben“ nennt.

Es ist nicht möglich, den Augenblick genau festzulegen, von wo an menschliches Leben beginnt, denn Leben ist ein Prozess. Es beginnt nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern wird von Generation zu Generation weiter gegeben. Jede reife menschliche Ei- bzw. Samenzelle ist „lebendig“ und enthält je die Hälfte der Erbanlagen eines eventuell daraus entstehenden Embryos. Klar definiert ist, dass ein Fötus bzw. Embryo keinen Rechtsstatus als „Person“ hat. Dieser tritt erst nach der Geburt ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgehalten, dass der Ausdruck „jeder Mensch“ den Fötus nicht einschließt. Im gleichen Sinn haben die Verfassungsgerichte in Österreich, Frankreich und Holland entschieden. Insofern ist der heranwachsende Fötus in der Gebärmutter zwar etwas Eigenständiges, gleichzeitig jedoch auch ein Teil des Körpers der Frau und in seiner Entwicklung vollkommen davon abhängig. Der Embryo in der Gebärmutter hat demnach sein eigenes genetisches Entwicklungspotential – jedoch als Teil des Körpers der Frau bestimmt sie über dessen weitere Entwicklung. Der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft ist – aus dieser Perspektive betrachtet – das geplante Beenden einer Entwicklungsmöglichkeit.

Ein Teil des Körpers – eigenständig und doch abhängig. Auf einmal ist man nicht mehr allein in seinem Körper. Gehören Körper – allen voran der Bauch – wirklich noch der Frau alleine? Oder hört diese Selbstbestimmung nach der Befruchtung etwa auf – nicht nur im Hinblick auf das, was da wächst, sondern auch vor dem Gesetz, in den Augen der Gesellschaft?

Mag.a Petra Schweiger ist Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin. Sie ist an der Gynmed Salzburg, einem Ambulatorium für Schwangerschaftsabbruch und Familienplanung tätig. Dort berät sie Frauen, die sich für einen Abbruch entschieden haben. (Foto: Thom Eichinger)

Mit dem Slogan „Mein Bauch gehört mir!“ machten politisch engagierte Frauen in den 70er-Jahren öffentlich, dass niemand anderer über die weibliche Fruchtbarkeit bestimmen kann, als die betroffene Frau selbst. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass das Private immer auch politisch ist und insbesondere Entscheidungen zu Beginn und am Ende des Lebens häufig heftige gesellschaftliche und religiöse Debatten auslösen. Trotz der mittlerweile fast selbstverständlich gewordenen Botschaft des Slogans gilt es, wachsam und politisch aktiv zu bleiben, denn immer wieder bringen konservative Parteien und Bürger*inneninitiativen das Thema Schwangerschaftsabbruch aufs Tapet, mit dem Ziel, die geltenden liberalen rechtlichen Bestimmungen durch Zugangsbeschränkungen zu verschlechtern (z. B. „Zwangsberatungen“, „verpflichtende Bedenkzeit“, „Verbot von Spätabbrüchen“ etc.).
Die Selbstbestimmung der Frau endet nicht nach dem Eintreten einer (ungewollten) Schwangerschaft, aber sie kann unter restriktiven gesellschaftlichen Rahmenbedingungen deutlich eingeschränkt werden.

Deshalb ist es nach wie vor politisch relevant, dass Frauen (und auch Männer!) sich ihrer sexuellen Rechte bewusst sind und diese auch einfordern. Es gilt immer wieder zu verdeutlichen, dass die Selbstbestimmung als ein sexuelles Recht ein Menschenrecht ist – genauso wie das Recht auf sexuelle Gesundheit, sexuelle Freiheit sowie der Schutz vor Diskriminierung, sexueller Gewalt, Zwangsheirat und Genitalverstümmelung. Die International Planned Parenthood Federation (IPPF) verabschiedete eine Charta der Sexuellen und Reproduktiven Rechte. Artikel 9 der Erklärung beschreibt das Recht auf freie Entscheidung für oder gegen die Ehe und für oder gegen die Planung einer Familie sowie das Recht zu entscheiden, ob, wann und wie viele Kinder geboren werden sollen.

Die Themen Schwangerschaft und Kinderkriegen bewegen uns. Zum Thema Schwangerschaft wird viel berichtet, es gibt zahlreiche Beratungsangebote, Kurse, Austauschmöglichkeiten, (medizinische) Versorgungsmöglichkeiten. Anders sieht es aus, wenn es um die Entscheidung geht, die Schwangerschaft zu beenden. Das Thema bewegt, gleichzeitig wird es verschwiegen, kocht nur manchmal hoch. Was macht dieses Tabu mit Betroffenen: mit Frauen, die einen Abbruch vornehmen lassen haben; mit Frauen, die sich dafür entscheiden?

Wir leben im digitalen Zeitalter und ich denke, Abtreibung bzw. der Schwangerschaftsabbruch sind nicht mehr „tabu“. Google gibt uns auf Knopfdruck zu beiden Begriffen fast 5 Millionen Informationen und der Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft ist weltweit mit jährlich 73 Millionen Eingriffen eine durchaus häufige gynäkologische Behandlung. In Anbetracht dieser Fakten ist jedoch die Qualität der Informationen näher zu betrachten. Nicht ein vermeintliches „Tabu“ macht die Situation für Frauen schwierig, sondern dass es nach wie vor so viele falsche Informationen und Mythen über den Abbruch gibt und viele dieser Informationen von persönlich nicht Betroffenen und beruflich mit dem Thema Unerfahrenen kommen. Deshalb ist es auch in den Beratungsgesprächen vor einem Abbruch wichtig, allfällige Falschinformationen und Mythen richtig zu stellen und betroffene Frauen darin zu stärken mit ihrer Entscheidung gut zu leben. Wichtig sind also: gute Informationen und eine selbstbestimmte Entscheidung.
Der Wertkonflikt, in dem sich Frauen befinden, die zum Abbruch entschieden sind, ist ein interpersonaler Konflikt zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und den gesellschaftlichen Interessen. Wertschätzung erfahren diejenigen, die sich für die Mutterschaft entscheiden, und Ablehnung diejenigen, die einen Abbruch durchführen lassen. Viele Frauen erleben im Zusammenhang mit ihrer ungewollten Schwangerschaft auch Informationskonflikte (falsche oder ungenügende Informationen zum Abbruch) oder Machtkonflikte (gesetzlich verordnete Pflichtberatungen und Wartefristen), die sie als nicht hilfreich in der Bewältigung der aktuellen Situation erleben.

Vor welchen psychologischen Herausforderungen stehen Frauen, die sich für einen Abbruch entschieden haben?

Für viele Frauen bedeutet ein Abbruch, dass sie ihr bisheriges Leben fortsetzen und ihrer Verantwortung sich selbst, ihren Familien und der Gesellschaft gegenüber weiter gerecht werden können. Die Gefühle nach einem Abbruch schwanken zwischen Schuldgefühlen und Traurigkeit über den Verzicht auf eine Lebensmöglichkeit und Erleichterung. Für viele Frauen wird die Zeit bis zum Termin des Abbruchs wesentlich belastender erlebt, als der Eingriff selbst oder die Zeit danach. Sehr wenige Frauen haben nach einem Schwangerschaftsabbruch anhaltende psychische Probleme, sofern sie vorher gut informiert wurden, die Entscheidung selbstbestimmt getroffen haben, eine wohlwollende, soziale Akzeptanz ihrer Entscheidung in ihrem persönlichen Umfeld vorhanden ist und in einer angenehmen Atmosphäre optimal medizinisch und menschlich betreut wurden.
Dennoch ist ein Schwangerschaftsabbruch nichts, worüber betroffene Frauen gerne sprechen, und wenn, dann meist nur mit wenigen vertrauten Personen. Die Mehrheit der Frauen, die mit ihrer Entscheidung gut lebt, äußert dies nicht in der Öffentlichkeit, und das gibt Raum für vereinzelte dramatische Fallgeschichten und Propaganda religiöser Fanatiker*innen. Ein „Post Abortion Syndrom“ wurde von „Anti-Choice“- Anhänger*innen mit der Absicht konstruiert, dass das psychische Gesundheitsargument Frauen noch stärker verunsichert als das moralische Argument. Es existiert in keinem Diagnosemanual und wirkt dennoch in vielen Köpfen, obwohl die internationale Studienlage bestens belegt, dass es kein nachhaltiges Risiko für die psychische Gesundheit von Frauen in Folge eines freiwilligen Abbruchs einer Schwangerschaft im ersten Trimenon gibt.
Im Wesentlichen hat das vorbestehende psychische Befinden den größten Einfluss darauf, wie sich Frauen nach einem Schwangerschaftsabbruch fühlen. Besondere Aufmerksamkeit brauchen Frauen* mit psychischen Vorerkrankungen, Frauen mit starken Ambivalenzen bei der Entscheidung, Frauen*, die eine ursprünglich gewünschte Schwangerschaft abbrechen, und Frauen, die mit niemandem über ihre Entscheidung sprechen konnten. Als Gesellschaft können wir viel dafür tun, dass es Frauen damit gut geht: die Akzeptanz der Selbstbestimmung ist wesentlich, eine kostengünstige, wohnortnahe medizinische Versorgung in einer angenehmen Atmosphäre stärkt und unterstützt.

„Mein Bauch gehört mir!“ – Die Gespräche mit Dr.in Bettina Zehetner und Mag.a Petra Schweiger haben gezeigt, wie wichtig es ist, dieses Thema immer wieder in den Raum zu stellen. Denn die Frage danach, ob das in der Praxis tatsächlich so ist, steht in einem größeren Kontext: Wer entscheidet über den Körper der Frauen? Wer macht die Gesetze, die ihren Handlungsspielraum bestimmen? Welchen kulturellen, wirtschaftlichen und medizinischen Zugang gibt es zu Verhütungsmitteln? Und welchen Zugang zu medizinischer und psychologischer Beratung und Behandlung haben Frauen?* Es geht auch darum, wie Familien- und Erziehungsarbeit aufgeteilt werden, wie gleichberechtigt wir tatsächlich leben. Und welchen Weg wir als Partner*innen, Familie, Gesellschaft und Staat noch vor uns haben, um Menschen ein tatsächlich selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

* Wie lange ist ein Schwangerschaftsabbruch möglich? Kurz zusammengefasst ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz der Schwangerschaftsabbruch bis zu einer bestimmten Frist straffrei möglich (in der Schweiz bis zur zwölften, in Deutschland bis zur vierzehnten und in Österreich bis zur sechzehnten Schwangerschaftswoche). In Österreich stellt eine vorherige Beratung keine Zwangsmaßnahme dar. Ebenso gibt es keine vorgeschriebene Wartezeit zwischen erster Beratung und Abbruch. Anders als in Deutschland, wo eine Verpflichtung zum Nachweis einer Beratung durch eine zugelassene Stelle herrscht und drei volle Tage zwischen Beratung und Abbruch liegen müssen. Ein strafloser Schwangerschaftsabbruch ist auch in der Schweiz möglich – vorausgesetzt die Frau macht schriftlich geltend, dass sie sich „in einer Notlage“ befindet. Die Betroffenen müssen ein eingehendes Gespräch mit den Ärzt*innen führen, von denen ihnen ein Leitfaden mit einem Verzeichnis von Beratungs- und Hilfsstellen ausgehändigt werden muss. Die geltenden Regeln zu Schwangerschaftsabbrüchen gehen in Österreich auf Kaiserin Maria Theresia zurück, in Deutschland auf Kaiser Wilhelm I. Außerhalb großer Städte ist es für Frauen schwer, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. In Deutschland war es Ärzt*innen, die selbst Abbrüche durchführen, bis vor kurzem verboten, über die Möglichkeit zu informieren – dieses Recht oblag nur Ärzt*innen und Krankenhäusern, die selbst keine Abbrüche durchführen. 2022 wurde die Abschaffung dieses in §219a verankerten Werbeverbot vom Deutschen Bundestag beschlossen. Unter besonderen Umständen besteht für Frauen* auch nach Ablauf der Wochen-Fristen die Möglichkeit eines straffreien Abbruchs.