Die Wiederholung der Urszene: eine Psychoanalyse des Krimis
Gastbeitrag von Edith Kneifl
Ist „Ödipus Rex“ von Sophokles eine Detektivgeschichte? Nein, und doch haben beide viel gemein. Die Kriminalliteratur beschäftigt sich mit ähnlichen Themen wie die klassische Psychoanalyse: mit dem ödipalen Verbrechen, seiner Aufdeckung und der damit verbundenen Entdeckung der Schuld und der Angst. „Kriminalschriftsteller sind die Psychoanalytiker der menschlichen Schattenseiten“ formulierte Janwillem van de Wetering.
Auch Sigmund Freud machte in einer Vorlesung für Jura-Studenten auf die Analogie zwischen dem Verbrecher und dem Analysierten aufmerksam: „Bei beiden handelt es sich um ein Geheimnis, um etwas Verborgenes. Aber beim Verbrecher handelt es sich um ein Geheimnis, das er weiß und verbirgt, beim Analysierten um ein Geheimnis, das auch er selbst nicht weiß. Die Aufgabe des Therapeuten ist aber die nämliche wie die des Untersuchungsrichters. Wir sollen das verborgene Psychische aufdecken und haben zu diesem Zwecke eine Reihe von Detektivkünsten erfunden, von denen uns also jetzt die Herren Juristen einige nachahmen werden.“
Aber nicht nur die Arbeit des Detektivs erinnert an die Arbeit des Psychoanalytikers. Jede Detektivgeschichte läuft ähnlich einer Psychoanalyse ab. Krimis bauen Ängste auf, die dann am Höhepunkt der Spannung aufgelöst werden, was dem Leser Entspannung und Erleichterung verschafft. Durch die Identifikation mit dem Täter, Opfer oder Detektiv kann der Leser seinen eigenen Impulsen nachgeben, seinem Voyeurismus freien Lauf lassen und seine infantile Neugier befriedigen.
Sollte sich der Leser mit dem Detektiv identifizieren, winkt ihm als Belohnung ein mächtiges und untadeliges Über-Ich. Durch die Identifikation mit dem Opfer lebt er seine masochistischen Tendenzen zumindest in der Phantasie aus. Manchmal wird ihm dabei sogar das seltene Vergnügen gewährt, seinem eigenen Begräbnis beizuwohnen. In der Rolle des Opfers wird er, je nach Plot, die alten Ängste wieder durchmachen. Als verfolgter Täter hingegen ist es ihm erlaubt, seine aggressiven und sadistischen Gelüste wenigstens in der Phantasie auszuleben.
Aber alles dies erklärt nicht hinreichend die Leidenschaft für Krimis. Der wesentliche Aspekt der Kriminalgeschichte ist ein anderer: Es wird eine intensive Neugier erweckt. Die menschliche Fähigkeit zur Neugierde erreicht laut Sigmund Freud ihren ersten und intensivsten Ausdruck anläßlich der „Urszene“, der Beobachtung sexueller Szenen zwischen Erwachsenen durch das Kind. Hier also findet sich das wichtigste Element der Detektivgeschichte wieder: das geheime Verbrechen!
Edith Kneifl ist die Grande Dame der österreichischen Krimiszene und prägt diese seit Jahrzehnten entscheidend mit.
Durch die aktive Wiederholung der realen oder phantasierten gefährlichen Situation, die das Kind einst passiv und sehr schmerzhaft erduldet hat, versucht es, diese zu bewältigen, das ursprünglich traumatische Erlebnis unter seine Kontrolle zu bringen, seine Neugier und die in der Wiederholung erneut ausgelöste Erregung dieses Mal zu befriedigen. Die unbewußt arrangierte Wiederholung der Urszene kann auch in sublimierter Form erfolgen, zum Beispiel im leidenschaftlichen Lesen von Kriminalliteratur. Auch der Liebhaber von Kriminalgeschichten versucht aktiv, erlittene Erfahrungen wiederzubeleben und sie dadurch zu meistern.
Bei kreativen Menschen findet dieser Wunsch oft Ausdruck in sublimierter Form, also in Form von künstlerischer Produktion. Marie Bonaparte wies in ihrer dreibändigen psychoanalytischen Studie über Edgar Allan Poe und seine Arbeit den enormen Einfluß des Urszenen-Traumas bei der Entstehung seiner Geschichten nach.
Der Detektiv befindet sich in der gleichen Lage wie das ödipale Kind. Er fiebert vor Neugier und projiziert seine eigene Erregung und seine Schuldgefühle auf das Objekt seiner Nachforschungen. Es ist kein Zufall, daß die großen Detektive dieses Genres, Sherlock Holmes, C. Auguste Dupin, Hercule Poirot und Lord Peter Wimsey unverheiratet sind. Selbst Miss Marple war eine alte Jungfer. Sie alle sind nichts anderes als fiktive Repräsentanten des ödipalen Kindes. Deshalb kann der Detektiv auch nicht als Familienoberhaupt dargestellt werden oder gar die herrschende Moral verkörpern. Das ödipale Kind ist nicht wirklich moralisch. Es ist nur clever. So clever wie eben ein Kind ist, bevor die Latenzzeit seine Neugier und seinen Wissensdrang dämpft.
In der inzwischen klassisch gewordenen Kriminalliteratur gibt es zwei verschiedene Arten von Detektiven. Die amerikanischen Kollegen S. F. Bauer, L. Balter und W. Hunt unterscheiden in „die Europäer“ und „die Amerikaner“. In den zwanziger und dreißiger Jahren entstand in den Vereinigten Staaten eine Version der Detektivgeschichte, die der europäischen, was Plot und Atmosphäre betrifft, durchaus ähnlich ist, auch wenn sie sozial engagierter und politisch korrekt sein mag. Daß sie einen wirklichen Neubeginn darstellte, liegt eher an der Figur des private-eye, der in diesen sogenannten „hard-boiled“ Krimis nicht nur zum zentralen Charakter wird, sondern auch für den Leser von enormer emotionaler Bedeutung ist. Mit Hammetts Sam Spade und Chandlers Philipp Marlowe betrat die USA das Parkett der Kriminalliteratur, auch wenn Poe in Boston geboren wurde.
Die europäischen Detektive sind eher asexuell. Sie verhalten sich schwer neurotisch. Holmes und Poirot sind nicht nur narzißtisch gestört, sondern sicherlich auch Zwangsneurotiker. Die amerikanischen Detektive, zum Beispiel die beiden, die Humphrey Bogart darstellte, sind dagegen sexuell aktiv oder zumindest sehr phallisch und vor allem für Frauen attraktiv. Außerdem neigen sie zu Brutalität und Gewalt, wissen, ihre Fäuste und – wenn nötig – auch ihre Schußwaffen zu gebrauchen. Tatsächlich besitzen sie eine gewisse Ähnlichkeit mit den Kriminellen, denen ihre eher intellektuellen europäischen Kollegen auf der Spur sind. Der amerikanische Detektiv bewegt sich selbst am Rande der Kriminalität und ist vielleicht gerade auch deswegen so faszinierend.
Die Krimi-Sucht der Europäer hat ihren Ursprung wohl eher in der Sucht nach Aufklärung. Im klassischen europäischen Kriminalroman steht immer das Rätsel und seine Lösung im Mittelpunkt – also das geheime Verbrechen.
Ebenso wie der europäische repräsentiert aber auch der amerikanische Detektiv das ödipale Kind. Da er seine Sexualität jedoch nicht sublimiert wie sein europäischer Kollege, befindet er sich in viel größerer Gefahr als dieser, zum Komplizen des Täters zu werden. Doch gerade diese Triebhaftigkeit macht die amerikanische Detektivgeschichte emotional erregender als die europäische. Auch der amerikanische Detektiv wird nicht wirklich zum Verbrecher. Würde er tatsächlich am ödipalen Verbrechen teilhaben, dann wäre die Geschichte nicht länger eine Detektivgeschichte, sondern eine Art „Ödipus Rex“.
Die Urszene ist die dramatische Quintessenz aller Ängste. Wie traumatisch sie erlebt wird, hängt davon ab, wie sie erfahren wurde: von der psychischen Entwicklung des Kindes zu dieser Zeit, von der Beziehung zwischen den Eltern und von der Beziehung zwischen Eltern und Kind.
Aber egal, wie die Reaktion des Kindes aussieht: Sie hat immer Angst zur Folge. Ob es die Urszene verleugnet, akzeptiert oder teilnahmslos reagiert – die verdrängte Erinnerung wird auf jeden Fall bis zu einem gewissen Grad mit einem schmerzvollen Effekt behaftet sein.
In der Kriminalliteratur wird dem Leser durch die graduelle Enthüllung der Indizien ein wesentliches Detail nach dem anderen dargeboten. Und schließlich wird das Verbrechen rekonstruiert, das Geheimnis gelüftet, das heißt: Die Urszene wird entlarvt. In einer Orgie von Nachforschungen kann das Kind im Leser, personifiziert durch den großen Detektiv, schauen, erinnern und zusammenfügen – ohne Furcht und ohne Schande, im Gegensatz zu dem erschrockenen Kind, das Zeuge der Urszene war.
Die Kriminalgeschichte versucht also vom Standpunkt des Unbewußten aus, weniger schmerzvolle Urszenen zu inszenieren. Diese fiktive Urszene befriedigt vor allem die „Voyeure“. Aber der Voyeur wird durch sein Zuschauen nie vollkommen zufriedengestellt. Er muß immer wieder hinsehen, so wie der Leser von Kriminalgeschichten unermüdlich dieselbe grundlegende mythische Erzählung von Mord, Schuld und Rache ohne Langeweile liest, um Befriedigung zu erfahren. Wirkliche Befriedigung erlangen dabei weder Schriftsteller noch Leser oder Voyeur. Der Schriftsteller besitzt zwar wenigstens die Kontrolle über das Geschehen, aber ebenso wie der Leser bleibt auch er immer nur Zuseher und nicht Teilnehmer an diesem spannenden Ereignis.
Dieser Beitrag ist erschienen in Die Furche Nr. 26, Rubrik: Dossier, 26.6.2003.
Als ausgebildete Psychoanalytikerin begleitet uns Edith Kneifl in ihrem neuesten Werk in die Wiener Seele und bringt Licht in deren dunkle, verborgene und auch beunruhigende Ecken. Wir versumpfen in gemütlichen Absteigen, lachen laut auf, wo es in der guten Gesellschaft verpönt ist, und halten die Luft an, wenn sich die Ereignisse überschlagen. Was auch nicht zu kurz kommt: Liebesgeschichten, Intrigen, Skandale, kurzum: alles, was man an dunklen Herbstabenden braucht. „Der Wolf auf meiner Couch“ ist ab dem 19. September 2024 überall, wo es Bücher gibt, erhältlich.