„Die Zukunftsgestaltung ist davon abhängig, wie wir die Vergangenheit interpretieren.“ Christoph W. Bauer im Videointerview

Es sind Niemandskinder ganz unterschiedlicher Art, denen Christoph W. Bauer in seinem Roman nachspürt – verdrängt aus der Ordnung der Welt, gebunden an eine fremde Vergangenheit, vergessen für eine lebenswerte Zukunft. Ein Reigen von Abwesenden, während im Hintergrund sich eine weitere Hauptfigur erhebt: ein Paris zwischen dem Glanz seines Zentrums und der Düsternis seiner Peripherie, gezeichnet von der Bedrohung des Terrors im Alltag.

Wie war es für dich, den Roman in Paris, einem so illustren Schauplatz der Weltliteratur, anzusiedeln?

Foto: Fotowerk Aichner

Im Wissen, dass es natürlich eine der in der Literatur am meisten besprochenen Städte ist, war das schon eine Herausforderung, gerade Paris als Hauptschauplatz zu nehmen. Aber es war natürlich auch ein Reiz, das zu machen, und ich habe mich da auch gar nicht so sehr orientiert an anderen, die ebenfalls Paris als Hauptschauplatz haben, sondern ich habe versucht, meine Sicht auf diese Stadt eben in diesen Roman einfließen zu lassen.

Hat sich die Stadt – und dein Bild von ihr – im Zuge deiner Reisen und Recherchen gewandelt?

Es hat sich komplett geändert eigentlich. Ich war ja seit 2015 meist dann fast monatlich unterwegs, immer ein paar Tage in Paris. Und dann hatte ich die Möglichkeit, 2019 zwei Monate am Stück dort zu leben. Und zwar wirklich mitten im Zentrum der Stadt, also fünf Minuten von Notre-Dame entfernt. Und da hat sich der Blick dann schon geändert, weil ich dann nicht mehr so sehr Gast war in einem Hotelzimmer, sondern ich hatte ein kleines Atelier, ich musste selbst einkaufen gehen. Und das hat sich dann verändert, und vor allem wurde mir – das ist mir schon in den letzten Jahren aufgefallen – bewusst, wie groß die Armut auch in der Stadt ist, also wie viele in Zelten übernachten oder in Schlafsäcken, mitten im Zentrum der Stadt. Und das ist mir in den früheren Jahren so sehr nicht aufgefallen.

Der zaudernde Protagonist, der sich zu keiner Haltung durchringen kann – Ist das ein unbesungener Held unserer Zeit, ein Symptom unserer Gesellschaft?

Ja, je nachdem, wie man ihn interpretiert natürlich. Er zaudert, er zaudert aber vor allem auch aus dem Grund, weil er sich gegen alle Zuschreibungen und Mutmaßungen und zu raschen Meinungen verwehrt. Das will er nicht. Ich weiß nicht, ob das typisch ist für diese Zeit, weil wir ja doch in einer Zeit der Meinungsmache leben und er will eigentlich aus dem ausscheren. Insofern wird es wahrscheinlich einige geben, die das auch machen. Und, der unbesungene Held, das gefällt mir eigentlich gut, ja.

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Spiegelt sich dieses Zögerlich-Tastende des Zauderers auch in der sprachlichen Gestaltung des Romans?

Das, glaube ich, spiegelt sich jetzt schon im Aufbau des Romans und in der Sprache des Romans wider. Da kommen ja mehrere Sprachebenen aufeinander. Aber das zeigt schon auch die Charakteristik der Figur und die Figur ist ja der Ich-Erzähler auch. Deswegen habe ich das schon versucht, im Aufbau, in der Struktur, in diesen Suchbewegungen, in diesem Sich-voran-Tasten, irgendwie wirklich auch manifest zu machen und die Figur dadurch eigentlich noch stärker zu verbildlichen; vor Augen zu führen, wie er da durch die Stadt geht und wie er von einem Archiv ins andere geht und so weiter.

Das Erforschen der eigenen Erinnerung ist ein treibender Motor in „Niemandskinder“. Kann der Blick in die Vergangenheit zur Gestaltung unserer Zukunft beitragen?

Davon gehe ich aus. Ich glaube, die Zukunftsgestaltung ist davon abhängig, wie wir die Vergangenheit interpretieren und was wir aus der Vergangenheit für Lehren ziehen. Ich weiß schon, da gibt es immer dieses „Man lernt nichts aus der Vergangenheit“. Aber ich glaube schon, dass uns das weiterhelfen kann im Miteinander und wie wir einfach miteinander umgehen. Also, ich kann ja nur von mir selbst sprechen, ich lerne aus einem Blick in die Vergangenheit für die Gegenwart etwas, aber auch für die Zukunft, für das Kommende.

Wer sind diese „Niemandskinder“, nach denen der Protagonist forscht?

In erster Linie – er ist ein Historiker – und in erster Linie forscht er nach – und zwar sind das Kinder, die während der Besatzungszeit aus Verbindungen hervorgegangen sind, also ob das jetzt französische Soldaten waren oder amerikanische – Ich habe mich hier auf die französischen konzentriert. Und diese Kinder sind ohne ihre Väter aufgewachsen. Oft wussten die Väter gar nicht, dass sie Väter sind. Ja, die wurden gleich an den nächsten Kriegsschauplatz weitertransferiert. In der Nachkriegsgesellschaft war das natürlich sehr schwierig für diese Kinder. Sie haben dunklere Hautfarbe gehabt mitunter. Und der Allgemeinbegriff hat sich dann durchgesetzt: Das sind „Niemandskinder“. Die Niemandskinder der anderen Art, die im Roman auch eine Rolle spielen, haben ja auch – es geht ja in diesem ganzen Roman um Kindheiten und um Verlust und um Sehnsucht, um Liebe auch – die haben ebenfalls ihre eigene Geschichte zu tragen, ihre eigene Kindheit zu tragen, und deswegen sind es Niemandskinder unterschiedlicher Art. Aber eigentlich habe ich den Begriff hergeleitet eben von den Kindern der Besatzungssoldaten, die man damals „Niemandskinder“ genannt hat.

Österreich scheint sich kaum an die Niemandskinder zu erinnern. Wie gestaltet sich die Aufbereitung ihrer Schicksale in Frankreich?

Eigentlich ist es in Frankreich ganz ähnlich. Also diese Besatzungs- oder Befreiungszeit, diese Jahre in Österreich, diese zehn, die haben überhaupt keine Spuren im Gedächtnis hinterlassen. Und mir ist das aufgefallen, oft, wenn ich dort auch gefragt habe, wenn ich recherchiert habe, dass mich wirklich manche erstaunt angeschaut und gesagt haben: „Und warum – Warum waren die in Tirol? Warum waren die in Vorarlberg?“ Und das ist auch bei uns so in Österreich. Und was die Niemandskinder angeht, hat man sich da eher immer konzentriert so auf Wien, auf die Kinder russischer Soldaten, auch auf die Kinder von GIs in Deutschland vor allem. Und die Kinder der französischen Soldaten, die sind irgendwie in Tirol ganz wenig thematisiert worden, mehr schon in Vorarlberg, wo die Truppen auch länger waren als in Innsbruck oder in Tirol.

 

Das Jahr 2015 ist wenige Tage alt, als Paris von einem Terroranschlag erschüttert wird, der die Seele der Stadt über Nacht verändert. Mittendrin ein junger Historiker, auf der Suche nach einer vergangenen Liebe. Es ist über zehn Jahre her, dass Samira und er getrennte Wege gegangen sind. Wohin er auch kommt, erfassen ihn Erinnerungen an die gemeinsame Zeit. Dabei ist es vordergründig eine andere Frau, der er auf der Spur ist – Marianne, Kind einer österreichischen Mutter und eines marokkanischen Vaters, seit bald vier Jahrzehnten vermisst. Eine Zeitungsmeldung mit ihrem Bild hat ihn elektrisiert: Ihr Gesicht ähnelt dem Samiras frappierend …

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