Zieh Leine, literarisches Patriarchat: Neue Stimmen und Perspektiven in die Bücherregale!
Ein Beitrag von Lisa-Viktoria Niederberger
In meinem Bücherregal, in meiner Social Media Bubble, herrscht eine Utopie der Vielstimmigkeit. Da ist die Welt bunt. Da habe ich mir ein Umfeld geschaffen aus queeren Buchhändler*innen, Feminist*innen, (Post-) Migrant*innen und trans Frauen und trans Männern. Viele von ihnen schreiben Bücher, noch mehr empfehlen sie. So haben im letzten Jahr neue Ideen und Träume, aber auch ein erweitertes Problembewusstsein für mangelnde Intersektionalität und cis-normative Hegemonien Einzug in meine Weltwahrnehmung gefunden.
Wie Lehrpläne denen die Lust am Lesen versauen, die keine cis Männer sind
Das war nicht immer so. Hätte man mich vor ein paar Jahren gefragt, die Antwort wäre klar gewesen: dass ich mehr Bücher von Männern lese, dass ich lieber Bücher von Männern lese. Was wie Antifeminismus klingt, war Unkenntnis, mangelnde Reflexion, war Gewohnheit. Ich gebe dem literarischen Kanon auf der einen Seite, und dem Literaturbetrieb auf der anderen Seite die Schuld. Meine Lieblingskinderbücher sind von Frauen geschrieben worden und die darin vorkommenden Held*innen waren auch nicht immer Buben. „Ja, die Zeit vergeht, und man fängt an, alt zu werden. Im Herbst werde ich zehn Jahre alt, und dann hat man wohl seine besten Tage hinter sich“, sagt Pippi Langstrumpf in „Pippi geht von Bord“, und zumindest was die schulische Pflichtlektüre betrifft, hat sie Recht. Da sind die besten Tage tatsächlich vorbei, denn: Zehn ist schon fast ein Teenie, und als Teenager in Österreich versucht der Lehrplan besonders denen, die keine cis Männer sind, nicht nur die Lust aufs Lesen, sondern auch aufs Leben zu versauen. Statt Pippi und der feuerroten Friederike werden uns nun „Heldinnen“ wie Goethes Gretchen und Lessings Emilia Galotti als Rollenmodelle angeboten. Am Schluss der reclamgelben Zwangslektüre ist die Frau meist unfreiwillig schwanger, im Irrenhaus, tot oder alles davon. Bürgerliches Trauerspiel indeed, aber leider noch immer das, was von vielen Menschen als Hochkultur bzw. Hochliteratur bezeichnet wird.
Wenn man nicht Germanistik studiert, endet diese Qual mit der Matura. Und selbst da tut sich was. Während ich mich 2006 noch mit einer Interpretation der Bergschluchten-Szene in Faust II abärgern durfte, konnten sich die Schüler*innen bei der Zentralmatura 2020 immerhin schon mit der Kolumne „Dieser Text ist reine Zeitverschwendung“ von Ronja von Rönne auseinandersetzen. Das hat auch zu einem wahnsinnig witzigen Video auf Instagram geführt, in dem die Autorin selbst die Interpretation ihres Textes übernimmt: „Die zentrale Aussage war, dass ich kein Kolumnenthema, aber eine Deadline hatte und mir dachte, es gibt immer Laberthemen, über die man schreiben kann. Zeit ist so eines.“, sagt sie da. Das ist etwas, das ich an Autorinnen, besonders an Autorinnen meiner Generation, unglaublich mag. Viele von ihnen schreiben grandiose Bücher, sind stilistisch, fachlich brillant, gleichzeitig witzig, haben einen trockenen, abgebrühten Humor. Genau den braucht man auch, um in der Literaturwelt zu überleben: Sie ist ein hartes Pflaster, ein sexistisches noch dazu. Und trotzdem gibt es diese grandiosen Frauen und ihre Texte.
Der Begriff „Frauenliteratur“ und was unsere verinnerlichte Misogynie damit zu tun hat
Hätte ich das früher gewusst. Ich hatte lange (da habe ich schon selbst geschrieben und war mit Autorinnen befreundet) eine schlechte Meinung von Büchern aus Frauenhand. Früher, als Thalia noch Landesverlag hieß, gab es dort eine Abteilung für „Frauenliteratur“. Semierotische Liebesromane, fast ausschließlich und bevor ich wusste, was „internalisierte Misogynie“ ist, führte ich gedanklich entweder das als Grund an – oder den Neid, den ich lange auf alle Frauen, die es (vor mir) geschafft hatten, erfolgreich Bücher zu veröffentlichen, warum ich doch immer wieder zu den Autoren griff.
Es ist nie zu spät, um sich zu ändern. Was wie eine Plattitüde oder ein Kalenderspruch klingt: Zumindest in Bezug auf mein Bücherregal stimmt es. Immer mehr Frauen sind da im Laufe der Jahre eingezogen, schnell gefolgt von LGBITQ+-Autor*innen und solchen, die außerhalb eurozentristischer Strukturen leben und schreiben.
Auch meine virtuelle Welt ist ein von mir liebevoll kuratiertes Matriarchat. Zwischen feministischen und gesellschaftskritischen Tweets und Statements auf meiner Timeline erklärt beispielsweise Mai Thi Nguyen-Kim leicht verständlich, was ein Brain Machine Interface ist, und Barbara Blaha, was es denn mit dem Schuldenmachen auf sich hat. Ich sehe massiv engagierte Frauen: für die Aufnahme von Menschen aus den griechischen Flüchtlingslagern, für eine gendergerechte Sprache. Dafür, dass der Bayerische Rundfunk in seinen Beiträgen endlich die Unterscheidung zwischen Vulva und Vagina hinkriegt, gegen die UG-Novelle. Die daran erinnern, dass black lives still matter.
Lisa-Viktoria Niederberger hat Kunstgeschichte und Germanistik studiert. 2014 bis 2020 war sie für editorische und veranstalterische Tätigkeiten bei der Salzburger Literaturzeitschrift erostepost zuständig. 2018 erschien ihr literarisches Debüt „Misteln“ (edition.mosaik). Sie veröffentlicht Kurzprosa, Rezensionen und journalistische Beiträge in diversen Zeitschriften und Anthologien. Foto: privat
Die Bubble dehnt sich aus – aber am Ziel sind wir noch längst nicht
Und obwohl zwar ich weitestgehend bestimme, was da reinkommt in meine schöne Social Media Bubble: Sie bildet ebenso die Außenwelt ab. Vielleicht noch nicht die Mehrheitsgesellschaft, aber ihre Diversifizierungstendenzen. Und wer die noch leugnet, tut das, weil er*sie die Augen verschließen möchte vor dem, was ganz eindeutig kommt: eine Zukunft der Vielfalt, der Vielstimmigkeit. Und je mehr wir bereit sind sie mitzugestalten, desto schneller kommt sie.
Manchmal aber fühlt diese Zukunft sich unerreichbar weit entfernt an: Am Weltfrauentag 2021 hatte ich einen wunderbaren Vormittag. Bei der feministischen Kundgebung am Linzer Hauptplatz tanzten und klatschten Frauen aller Ethnien und Altersgruppen miteinander, schrien, rissen die Fäuste in die Höhe, nickten zustimmend bei Redebeiträgen. Die Sonne schien, und obwohl wir von furchtbaren Dingen hörten, von Gewalt an Frauen und weiblicher Altersarmut, lag neben Frühling auch Liebe und Einigkeit in der Luft. Wir waren in einem Safe Space.
Später am selben Tag: ein Zoom Call, die erste Lehrveranstaltung des Semesters. Die Professorin trägt Referatsthemen vor und ein Kommilitone unterbricht sie mitten im Satz, meldet sich für das noch nicht vollständig vorgestellte Thema. Eine Kollegin äußert ihr Bedauern, denn das Thema hätte sie auch gerne bearbeitet. „Da war ich wohl nicht schnell genug“, fügt sie hinzu. „Nein!“, sage ich. „Deine Schnelligkeit ist nicht das Problem, das Problem ist, dass er sich vordrängt, nicht mal ausreden lässt, was echt nicht die feine englische Art ist meiner Meinung nach, und nicht das, wie ich mir ein akademisches Miteinander vorstelle!“
Und dann geht es los, die anderen Männer im Kurs kommen ihm zu Hilfe: wie „scharf“ meine Kritik gewesen wäre und „vorschnell“, dass das doch keine Absicht war, weil „Zoom oft zeitverzögert“ sei. Mich supportet hingegen keine der anwesenden Frauen, obwohl wir eindeutig in der Überzahl sind. Die Lehrende antwortet auch ausweichend. Die Atmosphäre im Kurs ist seltsam und ich fühle mich, als wäre ich das Problem. Dabei bin doch ich diejenige, die respektloses Verhalten aufgezeigt hat. Da drängelt sich ein Mann vor, da ist einer laut, wenn man eigentlich zuhören sollte, verschafft sich so einen Vorteil, und ich bin die Böse, weil ich das ankreide. Und nein, es geht hier nicht nur um ein Referat. Hier wird im Kleinen reproduziert, worunter Frauen (aber auch queere Menschen und/oder BiPoC) tagtäglich weltweit leiden: ein cis-männlicher Hegemonialanspruch, eine plumpe, rücksichtslose Selbstverständlichkeit Frauen gegenüber. Und die damit verbundene Dekonstruktion eines akademischen Umfelds, in dem alle gleichberechtigt sein sollten. Ich will nicht in einer Gesellschaft leben bzw. an einer Universität studieren, wo Frauen lernen: Wenn du dich gegen die Männer durchsetzen willst, musst du eben schneller schreien als sie, lauter sein.
Es sind genau diese meine „neuen“ Bücher, die mir aufgezeigt haben, dass es in solchen Situationen wichtig ist, den Mund aufzumachen. Auch wenn’s weh tut, auch wenn es sich manchmal anfühlt wie ein Schuss ins eigene Knie. Trotzdem: niemand – zumindest ich nicht – will die cis Männer jetzt vom Bücherschreiben abhalten oder ihnen dauerhaft den Mund verbieten, aber es wäre an der Zeit, dass Menschen lernen, respektvoll zu sprechen. Es ist nichts schlecht daran, ein cis Mann zu sein, einen zu lieben, einen zu erziehen. Aber: cis-Männlichkeit zur Norm zu machen, das ist schlecht, schlecht gewesen über die letzten Jahrhunderte, Jahrtausende, die wir Kulturgeschichte bzw. kulturelle Entwicklung nennen. Wir „verdanken“ ihr das Patriarchat, Misogynie und den Umstand, dass Frauen immer noch zu oft ihre Körper erklären müssen, ihre Gedanken, ihre Wünsche. Ihre Grundrechte auf ein sicheres Leben, ohne Bedrohungen, Belästigungen, die für viele eben noch nicht Lebensrealität sind.
Bis es so weit ist, ist es an uns selbst, den Mund aufzumachen, Unrecht anzuprangern. Und das ist ungewohnt, oft schwer und eine Überwindung. Die richtigen Bücher bzw. richtigen Vorbilder können da Gold wert sein. Das Private ist politisch. Dein Bücherregal auch.
Die Themen Selbstbestimmung, Empowerment und Feminismus treiben dich um? Dann könnte dich vielleicht auch Beatrice Frasls Beitrag über Frauen in Machtpositionen oder die Interviews mit Dr.in Bettina Zehetner und Mag.a Petra Schweiger zum Thema Schwangerschaftsabbruch interessieren.